Schreiben ist im Wesentlichen eine einsame Beschäftigung. Der Schriftsteller kann sich glücklich schätzen, der Menschen um sich hat, die ihn auf seinem Weg unterstützen und ermutigen. Wenn ich eine neue Geschichte anfange, werde ich nach wie vor von meinem langjährigen Lektor Michael V. Korda und Cheflektor Chuck Adams ermuntert und mit Ratschlägen bedacht. Mein Dank gilt, wie immer, ihnen und Lisl Cade, meiner Pressereferentin, meinem Agenten Sam Pinkus sowie der stellvertretenden Leiterin der Satzredaktion, Gypsy da Silva, und ihrem Spezialteam: Joshua Cohen und Jonathan Evans.
Hochachtung und Dank an meine Familie, Kinder und Enkel, an »Ihn«, den stets perfekten John Conheeney, an meine fest zusammenhaltenden Mitstreiterinnen Agnes Newton, Nadine Petry und Irene Clark. Ihr seid eine großartige Truppe, und ich liebe euch alle.
Es ist jetzt ein Jahr her, dass Peter im Gerichtssaal stand und hörte, wie die Staatsanwältin beantragte, alle Anklagen gegen ihn fallen zu lassen. Für die Menschen, die dafür verantwortlich waren, dass Peter durch diese Hölle gehen musste, hat sich das Räderwerk der Justiz weiterbewegt.
Richard Walker bekannte sich schuldig für die Morde an Susan Althorp, meinem Vater, Grace Carrington und Alexandra Lloyd. Er wurde sowohl in New Jersey als auch in New York zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hat mir versichert, dass er nie mehr freikommen wird.
Vince Slater übergab Peters Smokinghemd der Staatsanwaltschaft. Dort wurde festgestellt, dass sich der Blutfleck, der sich darauf befand, vereinbaren ließ mit Richards Darstellung, was sich in der Nacht der Dinnerparty abgespielt hatte. Richard sagte aus, er habe Susan versprochen, sich um halb zwei mit ihr vor dem Haus zu treffen. Er sollte so spät kommen, weil sie sicher sein wollte, dass ihr Vater schlief. Als sie sich zur verabredeten Zeit getroffen hatten, habe sie ihm beteuert, sie wolle von den Drogen wegkommen, und es sei das letzte Mal, dass sie Geld von ihm fordere. Doch er habe ihr nicht geglaubt. Er habe Angst gehabt, dass sie seinen Betrug mit den Bildern verraten würde, und deshalb beschlossen, sie zu töten. Um sie vom Schreien abzuhalten, habe er ihr mit der Faust auf den Mund geschlagen, sodass sie geblutet habe und Blut auf ihr Abendkleid getropft sei. Dann habe er sie erwürgt. Bevor er sie zum Kofferraum seines Wagens tragen konnte, sei Peters Wagen aufgetaucht und vor dem Haus der Althorps stehen geblieben.
In Panik habe er sich hinter Büschen versteckt. Dann habe er beobachtet, wie Peter ausgestiegen sei, etwas vom Beifahrersitz geholt habe und über den Rasen auf die Stelle zugelaufen sei, an der Susan lag. Er habe sein Smokinghemd getragen, jedoch kein Jackett. Er habe gesehen, wie Peter einen Gegenstand fallen ließ – wie sich herausstellte, war es eine Damenhandtasche –, dann auf die Knie sank und den Kopf an Susans Brust legte, anscheinend, um nach ihrem Pulsschlag zu lauschen. In diesem Moment sei das Blut an sein Hemd gekommen. Danach sei Peter zu seinem Wagen zurückgekehrt und weggefahren.
Richard bestätigte, dass Peter während der gesamten Szene wie ein Schlafwandler gewirkt habe.
Elaine Carrington bestritt, von Richards Absicht, Susan zu töten, vorher Kenntnis gehabt zu haben. Allerdings gab sie zu, dass er ihr seine Tat nur wenige Stunden danach gestanden habe. Er habe das ihr gegenüber so erklärt, dass er Susan im Streit getötet habe, weil sie sich gegen seine Avancen gewehrt habe, obwohl sie sich aus dem Haus geschlichen habe, um sich mit ihm zu treffen.
Elaine gab zu, Richard geraten zu haben, die Leiche in seinem Fischerhäuschen im Norden des Staates New York zu verstecken. Später habe sie ihm dann geholfen, sie auf dem Gelände hinter der Umzäunung zu vergraben, nachdem sie sicher waren, dass die Polizei die Suchaktionen eingestellt hatte. Ihre Idee sei es auch gewesen, dass Richard unter einem falschen Namen meinen Vater zu einem zum Verkauf stehenden Anwesen im Norden des Staates New York gelockt hatte, unter dem Vorwand, ihn dort als Landschaftsgärtner anzustellen.
Nachdem Richard meinen Vater ermordet hatte, half Elaine ihm wiederum beim Verscharren der Leiche auf dem Grundstück. Richard fuhr den Wagen meines Vaters an die Stelle über dem Hudson, wo er später gefunden wurde, und Elaine folgte ihm in ihrem eigenen Auto. Danach fuhr sie ihn wieder nach Hause.
Elaine bestritt jede Verwicklung in die Morde an Grace Carrington und Alexandra Lloyd. Sie behauptete auch, nichts von den Kunstdiebstählen gewusst zu haben.
Gary und Jane Barr sind mittlerweile geschieden, und ich bin sehr froh, dass Jane weiterhin für unsere Familie arbeitet.
Nicholas Greco ist jetzt regelmäßig als Experte für Kriminalistik auf Fox News zu sehen. Ich schulde ihm unendlich viel für seine Beharrlichkeit bei der Suche nach der Wahrheit.
Vince Slater und ich haben eingesehen, dass wir beide, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, verzweifelt versucht haben, Peter zu schützen. Nie werde ich vergessen, wie er sich vor mich stellte, als Richard die Waffe auf uns richtete. Vince wirkt weiterhin als Peters engster Mitarbeiter und ist auch für mich zu einem teuren Freund geworden.
Der jüngste Peter Carrington ist jetzt ein halbes Jahr alt. »Junior« kann man nicht sagen, denn eigentlich ist er Peter Carrington der Fünfte. Er ist das getreue Abbild seines Vaters und das Licht in unserem Leben.
Maggie ist entzückt über ihre Rolle als Urgroßmutter. Sie und Peter stehen sich inzwischen sehr nahe. Sie ist mittlerweile sogar überzeugt, dass sie in ihrem Innersten immer an Peters Unschuld geglaubt hat.
Peter ist wieder Vorstandsvorsitzender der Carrington Enterprises, und das Unternehmen floriert nach wie vor. Er wird sein Leben lang vorbeugende Medikamente gegen das Schlafwandeln einnehmen müssen, aber es hat bisher keine weiteren Episoden gegeben.
Ein wichtiger Faktor beim Schlafwandeln ist Stress, und ich sehe es als meine Aufgabe an, unser Haus für Peter in jeder Hinsicht zu einem Ort der Geborgenheit zu machen. Wenn er abends zur Tür hereinkommt und ich ihm mit dem Kind im Arm entgegentrete, dann sehe ich an seinem Blick und an seinem Lächeln, die sein Gesicht zum Leuchten bringen, dass mir das ganz gut zu gelingen scheint.
Schlafen! Vielleicht auch träumen! Ja, da liegt’s …
Schlafen! Vielleicht auch schlafwandeln! Ja, da liegt’s …
Shakespeare möge mir diese Paraphrase verzeihen, aber die Idee, eine Geschichte über einen chronischen Schlafwandler zu schreiben, der in diesem Zustand vielleicht ein Verbrechen begangen hat, hat mich so sehr fasziniert, dass ich sie eines Tages verwirklichen musste.
Mein Dank geht an Krankenschwester Jane O’Rourke, die mich freundlicherweise durch das Zentrum für Schlafstörungen des Pascack Valley Hospital geführt und mir die verschiedenen Einrichtungen erklärt hat. Zu großem Dank bin ich den Zeitschriften und Webseiten verpflichtet, die viele Informationen zum Thema Schlafwandeln anbieten, und insbesondere folgenden Autoren von Artikeln über dieses Thema: Marion Howard, Dr. phil. Rosalind Cartwright und Fumiko Konno.
MEINE KINDHEIT STAND IM Zeichen der Entführung des Lindbergh-Babys.
Damit meine ich, dass ich in Englewood, New Jersey, geboren und aufgewachsen bin. Im Jahr 1932 wurde der Enkel von Englewoods bekanntestem Einwohner, Botschafter Dwight Morrow, gekidnappt. Außerdem traf es sich, dass der Vater des Babys der damals wohl berühmteste Mann auf der ganzen Welt war, Colonel Charles Lindbergh, der als Erster im Alleinflug den Atlantik überquert hatte, in seiner einmotorigen Maschine, der Spirit of St. Louis.
Meine Großmutter, die damals acht Jahre alt war, kann sich gut an die Schlagzeilen erinnern, an die Massen von Reportern, die sich vor Next Day Hill drängten, dem Anwesen der Morrows, und an die Verhaftung von Bruno Hauptmann und den nachfolgenden Prozess.
Viel Zeit ist seitdem vergangen, Erinnerungen sind verblasst. Heute ist das Herrenhaus der Carringtons das bekannteste Anwesen von Englewood, jenes schlossartige Gebäude aus Naturstein, in das ich mich als Kind heimlich eingeschlichen hatte.
All diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich zum zweiten Mal in meinem Leben das Eingangstor zum Carrington’schen Anwesen passierte. Zweiundzwanzig Jahre, dachte ich und sah das neugierige sechsjährige Mädchen vor mir, das ich damals gewesen war. Vielleicht weil ich daran denken musste, dass mein Vater nur wenige Wochen später von den Carringtons entlassen worden war, fühlte ich mich mit einem Mal befangen und unbehaglich. Der freundliche Oktobermorgen war in einen windigen, feuchten Nachmittag umgeschlagen, und ich bereute, dass ich keine dickere Jacke angezogen hatte. Diejenige, die ich gewählt hatte, schien mir sowohl zu dünn als auch zu hell in der Farbe zu sein.
Automatisch parkte ich meinen Gebrauchtwagen seitlich von der imposanten Auffahrt, denn ich wollte vermeiden, dass er die Aufmerksamkeit auf sich zog. Über hunderttausend Meilen auf dem Tacho lassen einen Wagen ziemlich alt aussehen, selbst wenn er kürzlich erst gewaschen wurde und durch glückliche Fügung von Beulen verschont geblieben ist.
Ich hatte meine Haare zu einem Knoten zusammengebunden, doch der Wind zerzauste sie, als ich die Stufen zum Eingang hinaufschritt und klingelte. Ein Mann, den ich auf Mitte fünfzig schätzte, mit hohem Haaransatz, schmalen Lippen und herabgezogenen Mundwinkeln, öffnete mir. Er trug einen dunklen Anzug, und ich war mir nicht sicher, ob er ein Butler oder ein Sekretär war. Doch bevor ich etwas sagen konnte, teilte er mir, ohne sich vorzustellen, mit, dass Mr. Carrington mich erwarte, und bat mich einzutreten.
Die weite Eingangshalle erstrahlte in dem Licht, das durch bunte Bleiglasfenster fiel. Vor einer Wand ragte die Statue eines Ritters in voller Rüstung auf, daneben hing ein mittelalterlicher Wandteppich, auf dem eine Schlachtszene abgebildet war. Gern hätte ich den Teppich näher betrachtet, doch der Mann forderte mich auf, ihm zu folgen, und führte mich durch einen Flur zur Bibliothek.
»Miss Lansing ist eingetroffen«, sagte er. »Ich werde im Büro sein.« Aus dieser Bemerkung schloss ich, dass er vielleicht ein Assistent war.
Als ich klein war, habe ich oft Häuser und Räume gezeichnet, in denen ich gern wohnen würde. Am liebsten dachte ich mir ein Zimmer aus, in dem ich ganze Nachmittage sitzen und lesen würde. In diesem Zimmer gab es immer einen offenen Kamin und Bücherregale. Meistens stand dort auch ein gemütliches Sofa, und ich zeichnete mich, eingeigelt in die Sofaecke, mit einem Buch in der Hand. Ich möchte keinesfalls behaupten, dass diese Zeichnungen irgendeinen künstlerischen Wert für sich in Anspruch nehmen könnten. Ich zeichnete Strichmännchen, die Bücherregale waren schief, und der Teppich war eine bunt gekleckste Kopie nach dem Vorbild eines prächtigen Stücks, das ich einmal im Schaufenster eines Antiquitätengeschäfts gesehen hatte. Ich war weit davon entfernt, ein genaues Abbild meiner Vorstellung auf dem Papier zustande zu bringen, doch ich wusste genau, was ich mir wünschte. Ich wünschte mir ein Zimmer, das ziemlich genau so aussah wie das, in dem ich jetzt stand.
Peter Carrington saß in einem breiten Ledersessel, die Füße auf einen gepolsterten Fußschemel hochgelegt. Die Lampe auf dem Tisch neben ihm beschien nicht nur das Buch, in dem er las, sondern warf auch ein Schlaglicht auf sein ansprechendes Profil.
Er trug eine Lesebrille, die auf seinem Nasenrücken hinunterrutschte, als er aufsah. Er nahm sie ab und legte sie auf den Tisch, dann schwang er die Füße von dem Schemel und erhob sich. Ich hatte ihn ein paar Mal flüchtig in der Stadt gesehen, und in den Zeitungen war sein Foto abgebildet gewesen, daher hatte ich eine gewisse Vorstellung von ihm. Doch jetzt im selben Raum vor ihm zu stehen, war etwas ganz anderes. Peter Carrington strahlte eine ruhige Autorität aus, auch als er lächelte und mir die Hand entgegenstreckte.
»Sie scheinen über sehr viel Überredungskunst zu verfügen, Kathryn Lansing. Ihr Brief zeugt davon.«
»Ich danke Ihnen, dass Sie mich empfangen, Mr. Carrington.«
Sein Händedruck war fest. Ich sah, dass er mich musterte, genauso wie ich ihn musterte. Er war größer, als ich vermutet hatte, und besaß den schmalen Körperbau eines Langstreckenläufers. Seine Augen waren eher grau als blau. Sein schmales, ebenmäßiges Gesicht wurde von dunkelbraunen Haaren umrahmt, die vielleicht eine Kleinigkeit zu lang waren, was ihm jedoch gut stand. Er trug eine dunkelbraune Strickjacke, durch deren Muster sich ein rostroter Faden zog. Wenn man mich aufgefordert hätte, allein aufgrund seiner äußeren Erscheinung seinen Beruf zu erraten, hätte ich auf College-Professor getippt.
Ich wusste, dass er zweiundvierzig Jahre alt war. Das bedeutete, dass er ungefähr zwanzig gewesen sein musste, als ich mich in dieses Haus eingeschlichen hatte. Ich fragte mich, ob er bei dieser Party anwesend gewesen war. Das war durchaus möglich – Ende August war er vielleicht noch nicht nach Princeton zurückgekehrt, wo er damals studierte. Oder falls die Vorlesungen doch bereits begonnen hatten, war er über das Wochenende nach Hause gekommen. Von Princeton waren es nur eineinhalb Stunden Fahrt.
Er lud mich ein, in einem der beiden Sessel neben dem offenen Kamin Platz zu nehmen. »Ich hatte mir kühle Witterung gewünscht, um einen Grund zu haben, Feuer zu machen«, sagte er. »Heute Nachmittag hat der Wettergott mitgespielt.«
Mehr denn je war ich mir bewusst, dass meine lindgrüne Jacke eher für einen August- als für einen Herbstnachmittag gepasst hätte. Ich spürte, dass sich eine Haarsträhne gelöst hatte und über meine Schulter fiel, und versuchte, sie wieder in den Haarknoten zu winden.
Ich besitze ein Master-Diplom in Bibliothekswissenschaft. Da ich so ein Büchernarr war, schien dieser Berufswunsch nahezuliegen. Seitdem ich vor fünf Jahren mein Studium abgeschlossen habe, arbeite ich in der öffentlichen Bücherei von Englewood, außerdem bin ich sehr aktiv im Rahmen des Alphabetisierungsprojekts unserer Gemeinde tätig.
Nun stand ich in dieser beeindruckenden Bibliothek und fühlte mich »wie ein armer Hausierer«, wie meine Großmutter gesagt hätte. Ich hatte mir vorgenommen, eine Benefizveranstaltung für das Alphabetisierungsprogramm auf die Beine zu stellen, und das Ganze sollte möglichst spektakulär sein. Die Leute wären sicherlich bereit, so hatte ich mir gedacht, dreihundert Dollar für einen Cocktailempfang zu zahlen, wenn er in diesem Haus stattfinden würde. Das Herrenhaus der Carringtons war zu einem Teil der Folklore von Englewood und den umliegenden Gemeinden geworden. Jeder kannte seine Geschichte, wusste, dass es Stein für Stein aus Wales importiert worden war. Ich war überzeugt, dass die Aussicht, das Innere zu Gesicht zu bekommen, ein entscheidender Anreiz für die potenziellen Teilnehmer sein würde und wir damit unser Ziel – eine ausverkaufte Veranstaltung – erreichen könnten.
Normalerweise fühle ich mich recht wohl in meiner Haut, doch als ich in diesem Raum saß und spürte, wie diese grauen Augen mich prüfend taxierten, war mir beklommen und unbehaglich zumute. Plötzlich fühlte ich mich wieder wie die Tochter des Landschaftsgärtners, der zu viel trank.
Reiß dich zusammen, ermahnte ich mich im Stillen, und lass diesen Quatsch mit der Ehrfurcht. Ich gab mir einen Ruck und begann meine wohleinstudierte Ansprache. »Mr. Carrington, wie ich Ihnen schon geschrieben habe, gibt es viele gute Gründe, weshalb Menschen bereit sind, einen Scheck auszustellen. Natürlich kann man von niemandem erwarten, dass er alles unterstützt, was ihm unter die Nase gehalten wird. Und es scheint so zu sein, dass heutzutage selbst bei wohlhabenden Leuten das Portemonnaie nicht mehr so locker sitzt. Deshalb ist es für unsere geplante Veranstaltung von entscheidender Bedeutung, dass wir etwas finden, womit wir die Menschen dazu bewegen können, für unseren Zweck zu spenden.«
An dieser Stelle trug ich die Bitte vor, er möge uns gestatten, die Cocktailparty in seinem Haus stattfinden zu lassen. Ich bemerkte, wie sich sein Gesichtsausdruck änderte und das Wörtchen »nein« sich auf seinen Lippen bildete.
Doch er blieb mir gegenüber freundlich. »Miss Lansing …«, begann er.
»Bitte nennen Sie mich Kay.«
»Ich dachte, Ihr Name sei Kathryn.«
»So steht es in meiner Geburtsurkunde, meiner Großmutter zuliebe.«
Er lachte. »Ich verstehe.« Dann setzte er zu einer höflichen Ablehnung an: »Kay, ich bin gerne bereit, Ihnen eine Spende zukommen zu lassen …«
Ich unterbrach ihn. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Doch wie ich Ihnen bereits geschrieben habe, es geht hier um mehr als nur um Geld. Wir brauchen freiwillige Helfer, um den Menschen das Lesen beizubringen, und der beste Weg, sie zu bekommen, ist, sie auf eine Veranstaltung zu locken und sie dort anzuwerben. Eine große Catering-Firma hat mir bereits einen Preisnachlass zugesichert, falls die Veranstaltung hier stattfindet. Das Ganze würde nur für zwei Stunden sein, und es würde so vielen Menschen unendlich viel bedeuten.«
»Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen«, sagte Peter Carrington und erhob sich.
Das Gespräch war beendet. Ich dachte fieberhaft nach und entschied, es noch mit einem letzten Argument zu versuchen. Schließlich hatte ich nichts zu verlieren: »Mr. Carrington, ich habe sehr viel über Ihre Familie recherchiert. Viele Generationen lang war dies eines der gastfreundlichsten Häuser in Bergen County. Ihr Vater, Ihr Großvater und Ihr Urgroßvater haben Wohltätigkeitsveranstaltungen der Gemeinde unterstützt. Es wäre für Sie ein Leichtes, uns Ihrerseits zu helfen, und Sie könnten sehr viel Gutes damit bewirken.«
Ich hatte kein Recht, so furchtbar enttäuscht zu sein, doch ich konnte nicht anders. Er reagierte nicht auf meine letzten Worte, und ich verließ das Zimmer und ging zur Haustür, ohne darauf zu warten, dass er oder sein Assistent mich hinausbegleitete. Nur einmal blieb ich kurz stehen und warf einen Blick in den hinteren Teil des Hauses, weil ich an die Hintertreppe denken musste, die ich vor so vielen Jahren hinaufgeschlichen war. Dann trat ich hinaus mit dem Gedanken, das Herrenhaus zum zweiten und vermutlich letzten Mal betreten zu haben.
Zwei Tage später prangte Peter Carrington auf der Titelseite von Celeb, einer wöchentlich erscheinenden Klatschzeitschrift. Das Bild zeigte ihn zweiundzwanzig Jahre zuvor beim Verlassen der Polizeistation, nachdem er wegen des spurlosen Verschwindens der achtzehnjährigen Susan Althorp verhört worden war. Diese war zuletzt auf einer festlichen Dinnerparty im Herrenhaus der Carringtons gesehen worden. Die riesige Schlagzeile lautete: IST SUSAN ALTHORP NOCH AM LEBEN?, und unter dem Bild von Carrington stand: »Industrieller gilt immer noch als verdächtig im Fall des Verschwindens der jungen Susan Althorp, die in dieser Woche ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert hätte.«
Das Magazin breitete noch einmal genüsslich die Details der Suche nach Susan aus, und da ihr Vater Botschafter gewesen war, wurde der Fall mit der Entführung des Lindbergh-Babys verglichen.
Der Artikel enthielt auch eine kurze Schilderung der Umstände, unter denen Peter Carringtons schwangere Frau Grace vor vier Jahren umgekommen war. Grace Carrington, die als starke Trinkerin bekannt war, hatte eine Geburtstagsfeier für Carringtons Stiefbruder Richard Walker gegeben. Als Carrington nach einem dreiundzwanzigstündigen Flug aus Australien zurückkehrte und ihren Zustand bemerkte, hatte er ihr das Glas aus der Hand gerissen, den Inhalt auf den Teppich geleert und sie zornig zur Rede gestellt: »Kannst du nicht wenigstens an das Kind denken, das du im Bauch trägst?« Darauf hatte er gesagt, er sei sehr müde, und war zu Bett gegangen. Am Morgen hatte die Haushälterin die tote Grace Carrington, noch mit dem Satinabendkleid bekleidet, auf dem Grund des Pools gefunden. Die Autopsie hatte ergeben, dass sie den gesetzlichen Alkoholgrenzwert um das Dreifache überschritten hatte. Der Artikel schloss mit den Sätzen: »Carrington gab an, er habe sich sofort schlafen gelegt und sei erst durch die Ankunft der Polizei geweckt geworden. Möglich, dass es so war. Wir führen dazu eine Meinungsumfrage durch. Besuchen Sie unsere Website und sagen Sie uns, was Sie davon halten.«
Eine Woche später erhielt ich in der Bücherei einen Anruf von einem gewissen Vincent Slater, der mir mitteilte, dass wir uns bei meiner Verabredung mit Peter Carrington begegnet seien.
»Mr. Carrington hat beschlossen, sein Haus für Ihre Benefizveranstaltung zur Verfügung zu stellen«, sagte er. »Er schlägt vor, dass Sie die weiteren Details für den Ablauf des Abends mit mir besprechen.«
VINCENT SLATER LEGTE DEN Telefonhörer auf und lehnte sich zurück, ohne das leise Quietschen seines Bürostuhls zu beachten, das ihn seit Längerem störte. Schon öfter hatte er sich vorgenommen, die Sache endlich beheben zu lassen. Sein Büro im Herrenhaus hatte er in einem der selten benutzten Wohnräume an der Rückseite eingerichtet. Er hatte das Zimmer nicht nur wegen seiner relativen Abgeschiedenheit, sondern auch wegen der Glastüren gewählt, die auf die Gartenterrasse hinausgingen und ihm als Privateingang dienen konnten, durch den er unbemerkt aus- und eingehen konnte.
Das Problem war, dass Peters Stiefmutter Elaine, die in einem eigenen Haus auf dem Grundstück wohnte, sich nichts dabei dachte, urplötzlich aufzutauchen und, ohne anzuklopfen, sein Büro zu betreten. Genau das hatte sie in diesem Moment wieder getan.
Sie hielt sich nicht lange mit einer Begrüßung auf. »Vincent, gut, dass ich Sie antreffe. Vielleicht fällt Ihnen etwas ein, wie man Peter davon abbringen könnte, diesen Benefizempfang hier abzuhalten? Eigentlich sollte man doch meinen, dass er nach dem Riesenwirbel, den diese Schmierfinken von Celeb mit ihrem Artikel über Susans Verschwinden und Graces Tod veranstaltet haben, klug genug sein würde, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu lenken.« Vincent erhob sich, eine Höflichkeitsgeste, die er am liebsten unterlassen würde, wenn Elaine einfach bei ihm hereinplatzte. Doch auch jetzt musste er, obwohl ihn ihr Eindringen maßlos ärgerte, widerstrebend anerkennen, dass sie unerhört elegant aussah. Trotz ihrer sechsundsechzig Jahre war Elaine Walker Carrington mit ihrem aschblonden Haar, ihren saphirblauen Augen, ihren klaren Gesichtszügen und ihrer gertenschlanken Figur eine Erscheinung, die die Blicke auf sich zog. Graziös wie ein Fotomodell, das sie tatsächlich früher gewesen war, setzte sie sich in einen der antiken Sessel, die vor Vincents Schreibtisch standen.
Sie trug einen schwarzen Hosenanzug von Armani, wie Vincent vermutete, der wusste, dass sie diesen Modeschöpfer bevorzugte. Als Schmuck hatte sie mit Brillanten besetzte Ohrringe angelegt, eine dünne Perlenkette und den Ehering mit dem großen Brillanten, den sie immer noch trug, obwohl ihr Ehemann, Peters Vater, schon vor fast zwanzig Jahren gestorben war. Dass sie ihm so treu ergeben geblieben war, hatte, wie Vincent sehr wohl wusste, in erster Linie mit den Bestimmungen ihres Ehevertrages zu tun, der ihr ein lebenslanges Wohnrecht auf dem Anwesen einräumte, sofern sie nicht wieder heiratete, und ihr darüber hinaus eine jährliche Rente von einer Million Dollar zusicherte. Und natürlich gefiel es ihr, als Mrs. Carrington angeredet zu werden, mit allen sich daraus ergebenden Privilegien.
Das gibt ihr trotzdem nicht das Recht, hier hereinzuplatzen und so zu tun, als ob ich nicht sorgfältig das Für und Wider einer öffentlichen Veranstaltung in diesem Haus abgewogen hätte, dachte Vincent. »Elaine, Peter und ich haben die Sache eingehend besprochen«, begann er, ohne seine Irritation zu verbergen. »Natürlich ist diese ganze Medienaufmerksamkeit schädlich und bringt uns in Verlegenheit, doch genau deswegen ist Peter gezwungen, etwas zu unternehmen. Um damit dem Eindruck entgegenzuwirken, er habe etwas zu verbergen. Das ist genau die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, die wir unbedingt vermeiden müssen.«
»Glauben Sie wirklich, dass sich die Wahrnehmung der Öffentlichkeit ändert, wenn hier Fremde durch das Haus rennen?«, fragte Elaine mit sarkastischem Unterton.
»Elaine, ich schlage vor, Sie halten sich aus dieser Sache heraus«, gab Slater zurück. »Darf ich Sie daran erinnern, dass unser Familienunternehmen vor zwei Jahren an die Börse gegangen ist, was den Nachteil hat, dass man den Aktionären Rede und Antwort stehen muss. Auch wenn Peter bei Weitem den größten Anteil an den Aktien hält, bleibt die Tatsache bestehen, dass eine wachsende Zahl von Aktionären der Meinung ist, er sollte als Vorstandsvorsitzender zurücktreten. Wenn man nach wie vor in zwei ungeklärten Fällen, dem Verschwinden einer Frau und dem Tod einer weiteren, als Verdächtiger gehandelt wird, so ergibt das nicht gerade ein gutes Image für den Chef eines international tätigen Unternehmens. Peter spricht zwar nicht darüber, aber ich weiß, dass er sich große Sorgen macht. Deshalb ist es äußerst wichtig, dass man ihn von nun an als jemanden wahrnimmt, der sich für die Anliegen der Gemeinde einsetzt, und auch, selbst wenn ihm das eigentlich zuwider ist, dass seine vielen Aktivitäten im Bereich von wohltätigen Stiftungen in der Öffentlichkeit bekannt werden.«
»Ist das Ihr Ernst?« Elaine erhob sich. »Vincent, Sie sind ein Dummkopf. Das funktioniert nicht, das kann ich Ihnen gleich sagen. Sie sorgen lediglich dafür, dass Peter der Öffentlichkeit preisgegeben wird, aber Sie schützen ihn nicht damit. Bei gesellschaftlichen Anlässen macht Peter doch eine äußerst klägliche Figur. In geschäftlichen Dingen mag er ein Genie sein, doch Smalltalk ist nicht gerade seine Stärke, das müssen Sie zugeben. Wenn er nicht in seinem Büro sitzt, schließt er sich doch tausend Mal lieber mit einem Buch in seiner Bibliothek ein, als dass er sich bei irgendwelchen Cocktailpartys oder Dinners blicken lässt. Er ist wirklich der geborene Einzelgänger. Wann soll diese ganze Sache über die Bühne gehen?«
»Am Donnerstag, dem sechsten Dezember. Kay Lansing, die Frau, die das Ganze organisiert, braucht ungefähr sieben Wochen Vorlauf, um die Sache genügend in der Öffentlichkeit bekannt zu machen.«
»Gibt es eine Begrenzung für die Zahl der Teilnehmer?«
»Zweihundertfünfzig.«
»Ich werde mir jedenfalls eine Eintrittskarte sichern. Für Richard auch. Ich muss jetzt in die Galerie. Dort findet gerade ein Empfang für einen seiner neuen Künstler statt.« Mit einer beiläufigen Geste verabschiedete sie sich, öffnete die Gartentür und ging hinaus.
Slater blickte ihr nach, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Und der ganze Empfang wird von ihr bezahlt, dachte er. Seit seinem zwanzigsten Lebensjahr hat sie ihren Sohn, diesen Versager, mit dem Geld der Carringtons ausgehalten. Er musste daran denken, dass es Grace immer zur Weißglut gebracht hatte, wenn Elaine das Haupthaus, wann immer es ihr gerade passte, betreten hatte. Wenigstens hatte Peter klugerweise zu verhindern gewusst, dass Elaine nach Graces Tod wieder hier einzog.
Es war nicht das erste Mal, dass Vincent Slater sich fragte, ob nicht mehr hinter der auffälligen Toleranz steckte, die Peter Carrington gegenüber seiner Stiefmutter an den Tag legte, als auf den ersten Blick zu erkennen war.
VINCENT SLATERS ANRUF erreichte mich bei der Arbeit in der Bücherei. Es war am späten Mittwochvormittag, und ich hatte mich schon fast damit abgefunden, unsere Benefizparty im Glenpointe Hotel in Teaneck abzuhalten, einer Nachbargemeinde von Englewood. Ich hatte dort bereits Veranstaltungen durchgeführt, die sehr zufriedenstellend verlaufen waren, aber dennoch enttäuschte mich Peter Carringtons Absage. So war ich natürlich hocherfreut, als mir Slater die große Neuigkeit mitteilte, und ich beschloss, meine Begeisterung sofort mit Maggie zu teilen, der Großmutter mütterlicherseits, die mich großgezogen hat und die immer noch in demselben bescheidenen Haus in Englewood lebt, in dem ich aufgewachsen bin.
Ich bin eine umgekehrte Pendlerin. Ich wohne in der West Seventy-ninth Street in Manhattan, in einer kleinen Wohnung im ersten Stock eines umgebauten Stadthauses. Die Räume sind wirklich winzig, doch es gibt einen offenen Kamin, hohe Zimmerdecken, ein Schlafzimmer, in das ein Bett und eine Kommode passen, und einen vom Wohnzimmer getrennten Küchenbereich. Die Möbel habe ich mir bei Garagenverkäufen in den besseren Vierteln von Englewood besorgt, und ich bin mit dem Ergebnis meiner Einrichtungsbemühungen sehr zufrieden. Außerdem liebe ich meine Arbeit in der Bücherei von Englewood, und das bedeutet natürlich auch, dass ich viel Gelegenheit habe, meine Großmutter Margaret O’Neil zu besuchen, die mein Vater und ich von jeher Maggie genannt haben.
Ihre Tochter, meine Mutter, starb, als ich gerade zwei Wochen alt war. Es passierte an einem Spätnachmittag. Sie lag gerade mit mir auf dem Bett und stillte mich, als eine Embolie auftrat und sie einen Herzinfarkt erlitt. Mein Vater rief kurze Zeit später an und war besorgt, als sie nicht ans Telefon ging. Er fuhr sofort nach Hause, fand jedoch nur noch ihren leblosen Körper auf dem Bett. Ihre Arme hielten mich immer noch umfangen. Ich war eingeschlafen, zufrieden an ihrer Brust saugend.
Mein Vater war Ingenieur, hatte aber, nachdem er ein Jahr bei einem Brückenbauunternehmen gearbeitet hatte, seinen Job an den Nagel gehängt und das Gärtnern, zuvor sein Steckenpferd, zu seinem Hauptberuf gemacht. Mit seinem Talent verstand er es, in den größeren Anwesen der Umgebung sein Können als Ingenieur auf andere Art unter Beweis zu stellen, indem er Gärten mit Felswänden, Wasserfällen und gewundenen Wegen schuf. Aus diesem Grund hatte ihn auch Peter Carringtons Stiefmutter Elaine engagiert, die, was den Garten betraf, den steifen Geschmack ihrer Vorgängerin verabscheute.
Daddy war acht Jahre älter als meine Mutter, die mit zweiunddreißig Jahren starb. Damals hatte er sich bereits einen soliden Ruf auf seinem Gebiet erworben. Alles hätte zum Besten stehen können, doch nach dem Tod meiner Mutter begann Daddy zu trinken. Das war der Grund, weshalb ich mehr und mehr Zeit bei meiner Großmutter verbrachte. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie sie auf ihn einredete: »Um Himmels willen, Jonathan, du musst dir von anderen helfen lassen. Was würde denn Annie sagen, wenn sie sehen könnte, wie du dich zugrunde richtest? Und denk doch an die arme Kathryn. Womit hat sie das verdient?«
Eines Tages, nachdem Elaine Carrington ihn entlassen hatte, kam er abends nicht zu meiner Großmutter, um mich abzuholen. Sein Wagen wurde am Ufer des Hudson River gefunden, etwa zwanzig Meilen nördlich von Englewood. Seine Brieftasche, sein Schlüsselbund und sein Scheckheft lagen auf dem Vordersitz. Kein Brief. Kein Abschiedsgruß. Nichts, was darauf hindeutete, dass ihm bewusst war, wie sehr ich ihn brauchte. Ich frage mich manchmal, ob er mir vielleicht die Schuld an Mutters Tod gab, ob er vielleicht die Vorstellung hatte, ich hätte ihr das Leben aus dem Leib gesaugt. Doch selbst wenn es so wäre, hat er mich das nie merken lassen. Ich habe ihn sehr innig geliebt, und er schien mich immer genauso geliebt zu haben. Ein Kind weiß so etwas. Seine Leiche ist nie gefunden worden.
Ich entsinne mich noch, wie wir zusammen das Abendessen zubereiteten, wenn er mich von Maggie abgeholt hatte. Oft sprach er von meiner Mutter. »Kathryn, du weißt ja, dass Maggie nicht gerade eine große Köchin ist«, sagte er einmal. »Deshalb hat deine Mutter sich aus purer Verzweiflung ein Kochbuch gekauft, um es sich selbst beizubringen. Wir haben früher oft zusammen neue Rezepte ausprobiert, und jetzt machen wir es genauso, du und ich.«
Ein andermal sagte er: »Weißt du, sie hätte alles dafür gegeben, um erleben zu können, wie du aufwächst. Schon Monate vor deiner Geburt hatte sie die Wiege neben unserem Bett aufgestellt. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viel dir entgangen ist, weil du sie nicht mehr erleben durftest.«
Nie werde ich ihm ganz verzeihen können, dass er nicht an all das gedacht hat, als er seinen Wagen am Steilufer hoch über dem Hudson parkte und auf den Rand der Klippen zuschritt.
Diese und andere Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich von der Bücherei zu Maggies Haus fuhr, um ihr die Neuigkeit zu erzählen. Auf ihrem kleinen Rasenstück steht ein wunderschöner roter Ahorn. Er verleiht dem ganzen Ort seine besondere Note. Mit Bedauern stellte ich fest, dass der Wind gerade die letzten Blätter von den Zweigen riss. Ohne sein Blätterdach wirkte das Haus irgendwie ungeschützt und fast ein bisschen unwirtlich. Es ist ein eingeschossiges Haus im Cape-Cod-Stil, mit einem nicht ausgebauten Dachboden, in dem Maggie den gesammelten Krempel aus ihren dreiundachtzig Lebensjahren aufbewahrt. Schachteln mit Fotos, die sie nie geschafft hat, in ein Album einzukleben, Schachteln mit Briefen und gesammelten Weihnachtskarten, die sie in ihrem Leben nie mehr durchsehen wird, die Möbel, die sie damals durch diejenigen aus dem Hause meiner Eltern ersetzte, von denen sie sich jedoch trotzdem nicht vollständig trennen konnte, Kleider, die sie seit zwanzig oder dreißig Jahren nicht getragen hat.
Im Erdgeschoss ist es nicht viel besser. Alles ist sauber, doch es genügt, dass Maggie ein Zimmer betritt, um sofort Unordnung zu schaffen. Ihr Pullover liegt auf einem Stuhl, die Zeitungsartikel, die sie noch lesen will, auf einem anderen. Neben ihrem bequemen Sessel stapeln sich die Bücher. Die Rollos, die sie jeden Morgen hochzieht, hängen immer schief. Die Hausschuhe, die sie überall sucht, finden sich eingeklemmt zwischen Sessel und Fußpolster. Es ist richtig gemütlich bei ihr.
Nach den strengen Maßstäben von Martha Stewart würde sie niemals als gute Hausfrau durchgehen, obwohl sie sehr viel von ihr hält. Um mich großzuziehen, gab sie ihre Anstellung als Lehrerin auf, doch immer noch erteilt sie jede Woche drei Kindern Nachhilfeunterricht. Und sie hat die Gabe, Lernen zu einer lustvollen Sache zu machen, wie ich am eigenen Leib erfahren habe.
Doch als ich sie begrüßte und ihr die Neuigkeit erzählte, blieb die erwartete Begeisterung aus. Sobald ich den Namen Carrington erwähnt hatte, gab sie sich ablehnend.
»Kay, du hast mir gar nicht erzählt, dass du sie bitten wolltest, die Veranstaltung in ihrem Haus abhalten zu dürfen.«
Maggie hat in den letzten Jahren ein paar Zentimeter an Körpergröße eingebüßt. Sie pflegt darüber scherzend zu sagen, dass sie allmählich verschwinde, doch als ich jetzt auf sie hinunterblickte, hatte sie plötzlich etwas geradezu Furchteinflößendes an sich. »Maggie, es ist doch eine tolle Idee«, versuchte ich einzuwenden. »Ich bin schon auf einigen solchen Festen gewesen, die in Privathäusern stattfanden, und sie waren immer ausverkauft. Und das Haus der Carringtons ist so bekannt, das muss die Leute einfach anlocken. Wir werden dreihundert Dollar für eine Eintrittskarte verlangen. Das würden wir an einem anderen Ort nie und nimmer bekommen.«
Doch dann begriff ich, dass Maggie besorgt war, zutiefst besorgt. »Maggie, Peter Carrington war wirklich äußerst zuvorkommend, als ich bei ihm war, um die Sache zu besprechen.«
»Du hast mir gar nicht erzählt, dass du bei ihm warst.«
Warum hatte ich ihr das nicht erzählt? Vielleicht, weil ich intuitiv ahnte, dass sie es nicht gutheißen würde, und nachdem er mir die Abfuhr erteilt hatte, sah ich keine Notwendigkeit mehr, darüber zu sprechen. Maggie war überzeugt davon, dass Peter Carrington für das Verschwinden von Susan Althorp verantwortlich war und dass er auch beim Tod seiner Frau die Hand im Spiel gehabt haben könnte. »Er muss ja seine Frau nicht unbedingt ins Becken gestoßen haben, Kay«, hatte sie mir erklärt, »doch vielleicht hat er gesehen, wie sie hineinfiel, und ich möchte wetten, dass er keinen Finger gerührt hat, um sie zu retten. Und was Susan betrifft: Er war derjenige, der sie nach Hause gefahren hat. Für mich ist sie danach heimlich aus dem Haus geschlichen, um sich mit ihm zu treffen, als ihre Eltern glaubten, sie sei zu Bett gegangen.«
Maggie war 1932, als das Lindbergh-Baby entführt wurde, acht Jahre alt, und sie hält sich in dieser Sache für die weltweit führende Expertin, genauso wie in der Sache des Verschwindens von Susan Althorp. Schon als ich noch ein kleines Mädchen war, hatte sie mit mir über die Lindbergh-Entführung gesprochen, hatte mich darauf hingewiesen, dass Ann Morrow Lindbergh, die Mutter des Kindes, in Englewood aufgewachsen war, keine Meile von unserem Haus entfernt, und dass Annes Vater, Dwight Morrow, Botschafter in Mexiko gewesen war. Susan Althorp war ebenfalls in Englewood aufgewachsen, und ihr Vater war Botschafter in Belgien gewesen. In den Augen von Mary waren die Parallelen offensichtlich – und erschreckend.
Die Lindbergh-Entführung war einer der sensationellsten Kriminalfälle des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Baby und das glamouröse Traumpaar und die vielen ungelösten Fragen. Wie hatte Bruno Hauptmann in Erfahrung bringen können, dass die Lindberghs an jenem Abend beschlossen hatten, in ihrem neuen Landhaus zu bleiben, weil sich das Kind erkältet hatte, statt wie ursprünglich beabsichtigt zum Anwesen der Morrows zurückzukehren? Wie konnte Hauptmann so genau wissen, wo er die Leiter aufstellen musste, um das offene Fenster des Zimmers zu erreichen, in dem das Baby lag? Maggie suchte immer nach irgendwelchen Gemeinsamkeiten in den beiden Fällen. »Die Leiche des Lindbergh-Babys ist durch Zufall entdeckt worden«, hatte sie mir einmal erklärt. »Das war natürlich schrecklich, doch wenigstens musste die Familie nicht den Rest ihres Lebens mit der Angst leben, dass das Kind womöglich irgendwo bei einem Fremden aufwächst, der es vielleicht auch noch schlecht behandelt. Wahrscheinlich wacht Susan Althorps Mutter jeden Morgen mit der quälenden Frage auf, ob dies der Tag sein wird, an dem das Telefon klingelt und ihre Tochter sich am anderen Ende meldet. Ich weiß genau, dass es mir so ergehen würde, wenn mein Kind spurlos verschwunden wäre. Wenn man ihre Leiche gefunden hätte, gäbe es wenigstens ein Grab, zu dem Mrs. Althorp gehen könnte.«
Maggie hatte schon seit Langem nicht mehr über den Althorp-Fall gesprochen, doch vielleicht hatte sie die Ausgabe von Celeb mit Peter Carrington auf dem Titel an einer Supermarktkasse entdeckt und sofort gekauft. Das würde auch erklären, weshalb sie so heftig auf die Nachricht reagiert hatte, dass ich bei ihm gewesen war.
Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Maggie, ich hab Hunger. Lass uns irgendwo Nudeln essen gehen. Ich lad dich ein.«
Als ich sie eineinhalb Stunden später wieder vor ihrem Haus absetzte, zögerte sie kurz und sagte: »Kay, komm doch noch mal mit rein. Ich möchte zu dieser Veranstaltung. Ich schreibe dir einen Scheck für eine Eintrittskarte aus.«
»Aber Maggie, das ist doch Wahnsinn«, protestierte ich. »Das ist doch viel zu viel Geld für dich.«
»Ich möchte aber hingehen«, entgegnete sie. Ihre entschlossene Miene erstickte jeden weiteren Widerspruch im Keim.
Ein paar Minuten später fuhr ich über die George-Washington-Brücke zurück zu meiner Wohnung, ihren Scheck in meiner Geldbörse. Mir war klar, warum sie darauf bestanden hatte, an der Veranstaltung teilzunehmen. Maggie hatte sich zu meinem persönlichen Bodyguard ernannt für die Zeit, die ich unter dem Dach der Carringtons verbringen würde.
WÄHREND SIE AUF DIE Ankunft ihres Besuchers wartete, betrachtete Gladys Althorp das Bild ihrer verschwundenen Tochter. Es war auf der Terrasse des Carrington-Herrenhauses aufgenommen worden, an dem Abend, an dem sie spurlos verschwunden war. Sie trug ein Abendkleid aus weißem Chiffon, das ihre schlanke Figur betonte. Ihre langen blonden Haare, leicht zerzaust, fielen ihr auf die Schultern. Sie war sich nicht bewusst gewesen, dass die Kamera auf sie gerichtet war, und ihre Miene wirkte ernst, fast nachdenklich. Woran hatte sie wohl in diesem Augenblick gedacht, fragte sich Gladys einmal mehr, während ihre Finger die Konturen von Susans Mund nachzeichneten. Hatte sie vielleicht eine Vorahnung, dass ihr etwas zustoßen könnte?
Oder war ihr an diesem Abend schließlich aufgegangen, dass ihr Vater ein Verhältnis mit Elaine Carrington gehabt hatte?
Gladys seufzte, während sie sich mit einer Hand auf der Sessellehne abstützte und mühsam erhob. Brenda, die neue Haushälterin, hatte ihr das Abendessen auf einem Tablett serviert und war danach in ihre Wohnung über der Garage zurückgegangen. Leider stach Brenda nicht durch besondere Kochkünste hervor. Eigentlich habe ich auch gar keinen Hunger, dachte Gladys, als sie das Tablett in die Küche zurücktrug. Sie verspürte leichte Übelkeit beim Anblick des nicht angerührten Essens und kratzte es rasch in den Abfalleimer, ließ Wasser über das Geschirr laufen und stellte es in die Spülmaschine.
»Lassen Sie es doch einfach stehen, Mrs. Althorp«, würde Brenda am nächsten Morgen wieder protestieren. Und ich werde darauf antworten, dass es mich nicht mehr als eine Minute kostet, die Küche in Ordnung zu bringen, dachte Gladys. So könnte man auch umschreiben, was ich jetzt in Angriff genommen habe. Versuchen, die wichtigste Sache in meinem Leben in Ordnung zu bringen, bevor ich diese Welt verlasse.
Ein halbes Jahr. Die Ärzte waren sich einig gewesen, als sie ihr den Urteilsspruch verkündet hatten. Bislang hatte sie sich noch niemandem anvertraut.
Sie ging zurück ins Arbeitszimmer, dasjenige von den siebzehn Zimmern, die das Haus umfasste, in dem sie sich am liebsten aufhielt. Eigentlich wollte sie schon seit Langem in ein kleineres Haus umziehen, und sie wusste, dass Charles das tun würde, wenn sie einmal nicht mehr da sein würde. Doch sie wusste auch, warum sie es nicht getan hatte. Susans Zimmer befand sich in diesem Haus, und alles war noch genau so, wie sie es zurückgelassen hatte, als sie in jener Nacht noch einmal weggegangen war, nachdem sie zuvor an die Schlafzimmertür geklopft hatte, um Charles Bescheid zu geben, dass sie wieder zu Hause sei.
Am nächsten Morgen wollte ich sie ausschlafen lassen, erinnerte sich Gladys, während die Ereignisse jenes Tages, wie so oft, wieder an ihr vorüberzogen. Gegen Mittag habe ich schließlich nach ihr geschaut. Das Bett war unberührt. Die Handtücher in ihrem Bad hatte sie nicht benutzt. Sie musste schon bald, nachdem sie an die Schlafzimmertür geklopft hatte, das Haus wieder verlassen haben.
Bevor ich sterbe, will ich noch erfahren, was mit ihr geschehen ist, schwor sie sich einmal mehr. Vielleicht kann dieser Privatdetektiv etwas herausfinden. Nicholas Greco war sein Name. Sie hatte ihn im Fernsehen gesehen, als er über einzelne Fälle sprach, die er gelöst hatte. Er hatte als Kriminalbeamter der New Yorker Polizei seinen Abschied genommen und seine eigene Agentur aufgemacht. Bekannt geworden war er dadurch, dass er einige Kriminalfälle gelöst hatte, die als unlösbar gegolten hatten.
»Die Angehörigen der Opfer haben ein großes Bedürfnis nach Aufklärung der Verbrechen«, hatte er in einem Interview gesagt. »Bevor das nicht geschieht, finden sie keine Ruhe. Zum Glück werden täglich neue Mittel und Methoden erfunden, die es uns ermöglichen, einen neuen Blick auf ungelöste Kriminalfälle zu werfen.«
Aus zwei Gründen hatte sie ihn gebeten, am heutigen Tag um acht Uhr zu ihr zu kommen. Einmal, weil sie wusste, dass Charles nicht zu Hause sein würde, und zum anderen, weil sie Brenda während seines Besuchs nicht in der Nähe haben wollte. Vor zwei Wochen war Brenda ins Arbeitszimmer gekommen, als sie sich gerade eine Aufzeichnung eines Fernsehauftritts von Greco anschaute. »Mrs. Althorp, ich finde auch, dass die wahren Kriminalfälle, von denen er spricht, viel interessanter sind als diejenigen, die sich Leute ausdenken«, hatte Brenda gesagt. »Und wenn man sein Gesicht betrachtet, merkt man sofort, dass er sehr klug ist.«
Pünktlich um acht Uhr ertönte die Hausglocke. Gladys beeilte sich zu öffnen. Ihr erster Eindruck von Nicholas Greco war beruhigend und ermutigend. Von seinen Fernsehauftritten her kannte sie ihn als konservativ gekleideten Mann, Ende fünfzig, von durchschnittlicher Körpergröße, mit rotblonden Haaren und dunkelbraunen Augen. Doch als er jetzt leibhaftig vor ihr stand, gefiel ihr besonders sein fester Händedruck und die Tatsache, dass er ihr gerade in die Augen schaute. Alles an ihm wirkte vertrauenerweckend.
Sie fragte sich, was er wohl für einen ersten Eindruck von ihr hatte. Vermutlich sah er nur eine Frau von Mitte sechzig, viel zu dünn, der die tödliche Krankheit ins bleiche Gesicht geschrieben stand. »Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte sie. »Ich kann mir denken, dass Sie viele Anfragen von Leuten wie mir erhalten.«
»Ich habe selbst zwei Töchter«, antwortete Greco. »Wenn eine von ihnen spurlos verschwunden wäre, würde ich keine Ruhe haben, bis ich sie gefunden hätte.« Er machte eine Pause und fügte dann mit ruhiger Stimme hinzu: »Selbst wenn das, was ich herausbekäme, nicht das sein sollte, was ich mir erhofft hatte.«
»Ich glaube, dass Susan tot ist«, sagte Gladys Althorp. Ihre Stimme blieb gelassen, ihre Miene hatte sich jedoch auf einen Schlag verdüstert. »Aber ich bin sicher, dass sie niemals aus eigenem Antrieb verschwunden wäre. Etwas muss ihr zugestoßen sein, und ich bin überzeugt, dass Peter Carrington für ihren Tod verantwortlich ist. Ich muss die Wahrheit herausfinden, wie auch immer sie aussieht. Wären Sie bereit, mir zu helfen?«
»Ja.«
»Ich habe alle Unterlagen für Sie herausgesucht, die ich über Susans Verschwinden gesammelt habe. Sie liegen in meinem Arbeitszimmer.«
Nicholas Greco folgte Gladys Althorp über den breiten Flur und warf im Vorbeigehen einen kurzen Blick auf die an den Wänden hängenden Gemälde. Es muss einen Sammler in dieser Familie geben, dachte er. Ob diese Bilder wirklich Museumsqualität besitzen, kann ich zwar nicht beurteilen, aber in jedem Fall wirken sie ziemlich erlesen.
Alles, worauf sein Blick in diesem Haus fiel, strahlte Qualität und guten Geschmack aus. Der smaragdgrüne Läufer unter seinen Füßen war dick und weich. Die Stuckleisten an den reinweiß getönten Wänden verliehen den Gemälden einen zusätzlichen Rahmen. Der Teppich im Arbeitszimmer, in das Gladys Althorp ihn führte, war in einem sanft abgetönten rot-blauen Muster gehalten. Der Blauton des Stoffes, mit dem die Couch und die Sessel bezogen waren, passte genau zu dem Blau des Teppichs. Er bemerkte das Bild von Susan Althorp auf dem Schreibtisch. Seitlich dagegengelehnt stand eine exklusiv wirkende Einkaufstasche, prall gefüllt mit Papieren und Dokumenten.
Als er eine halbe Stunde später das Haus verließ, trug Greco die Einkaufstasche unter dem Arm, darin sämtliche Unterlagen, die Gladys Althorp ihm über das Verschwinden ihrer Tochter geben konnte: die Artikel aus den Zeitungen, das Tagebuch, das sie während der laufenden Ermittlungen geführt hatte, und die kürzlich erschienene Ausgabe von Celeb, deren Titelblatt ein Bild Peter Carringtons zierte.
Bei seinen vorausgegangenen Recherchen hatte sich Greco die Adresse des Carrington-Anwesens notiert. Jetzt fasste er den spontanen Entschluss, einen kurzen Abstecher dorthin zu unternehmen. Obwohl er wusste, dass es nicht sehr weit entfernt sein konnte, war er dann doch überrascht, wie nah beieinander die Carringtons und die Althorps wohnten. Peter Carrington hatte wohl nicht mehr als fünf Minuten gebraucht, um Susan nach Hause zu fahren, falls er das tatsächlich getan hatte, und weitere fünf Minuten, um wieder zurückzufahren. Als Greco wieder auf dem Weg nach Manhattan war, merkte er, dass ihn dieser Fall bereits in den Bann gezogen hatte. Er hatte das Bedürfnis, sofort loszulegen. Ein klassischer Corpus-Delicti-Fall, dachte er, doch dann sah er im Geist das von Gram gezeichnete Gesicht von Gladys Althorp vor sich und schämte sich für seinen Enthusiasmus.
Ich werde diesen Fall aufklären, für sie, dachte er entschlossen. Er verspürte den vertrauten Energieschub, wie immer, wenn sein Gefühl ihm sagte, dass er an einem spannenden Fall dran war.