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Sandra Brown: Betrogen
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Die Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel
»The Switch« bei Warner Books, Inc., New York.
Copyright © der Originalausgabe 2000
by Sandra Brown Management, Ltd.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003
by Blanvalet Verlag, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: bürosüd
Umschlagfoto: plainpicture/Bobo Olsson
Satz: Uhl+Massopust, Aalen
MD · Herstellung: Heidrun Nawrot
ISBN 978-3-641-10329-3
V003
www.blanvalet.de
www.randomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Copyright

1

»Bussi, Bussi.« Melina Lloyd gab ihrer Zwillingsschwester in Wangenhöhe zwei Luftküsse. »Ich habe einen italienischen Weißwein bestellt. Trocken, leicht und überhaupt nicht süß; im Gegensatz zu dem Kellner, der ihn empfohlen hat. Wenn man vom Teufel spricht – Da kommt er schon.«

Gillian nahm ihr gegenüber Platz. Als der Kellner ihren Pinot Grigio servierte, schüttete er sich etwas davon über die Hand, weil sein rasierter Kopf zwischen den beiden nicht mehr zur Ruhe kam. »Du lieber Himmel!«

»Wir sind eineiig«, sagte Gillian und ersparte ihm damit jede weitere Frage.

»Ich bin sprachlos. Diese Ähnlichkeit macht einen ja völlig perplex.«

Melina lächelte ihn eisig an. »Meine Schwester würde gerne etwas zu trinken bestellen. Wenn’s beliebt.«

Ihr Unterton, so trocken wie der Wein, ließ ihn aufhorchen. »Gewiss«, sagte er, wobei er fast die Hacken zusammengeknallt hätte. »Verzeihung, Verzeihung. Madame?«

»Ein Wasser, bitte, mit viel Eis und einer Limettenscheibe.«

»Ich bin prontomente wieder da, mit Ihrem Getränk, und dann erzähle ich Ihnen auch, was es heute Besonderes gibt.«

»Ich kann’s kaum erwarten«, stieß Melina zwischen den Zähnen hervor, während er davonschwebte.

Flüsternd beugte sich Gillian vor: »Ist prontomente ein echtes Wort?«

»Ist perplex eins?«

Beide mussten lachen. »Wie schön, dass ich dich lächeln sehe«, meinte Gillian. »Als ich hereinkam, hast du ein derart mürrisches Gesicht gezogen, als wolltest du gleich losfauchen.«

»Ich bin tatsächlich ein bisschen angesäuert«, gab Melina zu. »Ich musste heute Morgen einen Autor zum Flughafen fahren, damit er noch rechtzeitig seinen Flug um fünf Uhr achtundfünfzig erwischt. Fünf Uhr achtundfünfzig! Manche Presseabteilungen buchen solche Flüge zu nachtschlafender Zeit nur, um uns Medienbegleiter zu provozieren.«

»Und wer war dieser Frühaufsteher? Jemand Interessantes?«

»Hab’ ihren Namen vergessen. Ein Debüt. Kinder sind wie Haustiere. Untertitel: Eine verblüffende Erziehungsmethode

»Zweijährige, die auf Kommando Sitz machen und bellen?«

»Keine Ahnung. Ich hab’s nicht gelesen. Im Gegensatz zu etlichen anderen. Steht zur Zeit auf Platz drei der New York Times Bestsellerliste.«

»Du machst Witze.«

»Heiliger Eid. Muss nur genug auffallen, dann verkauft es sich schon. Heutzutage könnte sogar ich ein Buch schreiben. Nur fällt mir kein interessantes Thema ein.« Sie dachte ein, zwei Sekunden darüber nach. »Vielleicht über die Berühmten und Berüchtigten, die ich getroffen habe und nur mit Mühe einen einzigen Tag ertragen konnte. Aber dann würde ich vermutlich verklagt.«

Der Kellner kam mit Gillians Wasser und einem winzigen silbernen Brotkörbchen zurück und leierte seinen Sermon herunter, in dem es mehr um blumige Worte als ums Essen ging. Als sie aus der regulären Speisekarte je eine halbe Avocado mit Shrimpssalat bestellten, trat er beleidigt den Rückzug an.

Melina reichte Gillian das Körbchen, die einen Daumennagel großen Cracker mit Pekannussstückchen zerbrach. »Wie wär’s denn mit deinem Leben als eineiiger Zwilling? Darüber könntest du doch schreiben.«

»Dazu gibt’s schon viel zu viel. Man müsste das Thema eingrenzen.«

»Gleiche Kleidung: Ja oder Nein?«

»Vielleicht.«

»Der Kampf um die Elternliebe?«

»Schon besser. Wie wär’s damit: Verständigung durch Telepathie?« Melina musterte Gillian über den Rand ihres Weinglases, während sie einen Schluck trank. »Was mich zu der Anmerkung veranlasst, dass meine Zwillingsschwester heute schrecklich nachdenklich wirkt. Was ist los?«

Vor ihrer Antwort verspeiste Gillian den restlichen Cracker und wischte sich den Mehlstaub von den Fingerspitzen. »Ich hab’s getan.«

»›Es‹?«

»Du weißt schon.« Gehemmt senkte sie die Stimme. »Das, worüber ich die ganzen letzten Monate nachgedacht habe.«

Beinahe hätte sich Melina an der ausgezeichneten italienischen Importware verschluckt. Ihre Augen, rauchfarbene Spiegelbilder von Gillians eigenen, wanderten zu Gillians Schoß hinunter, der außer Sichtweite unter dem Tisch verschwand.

Gillian lachte. »Du siehst es mir nicht an, jedenfalls noch nicht. Ich komme soeben aus der Klinik.«

»Willst du damit sagen, heute? Gerade erst? Ich könnte schon während unserer Unterhaltung eine Tante in spe sein?«

Wieder lachte Gillian. »Vermutlich schon. Falls die kleinen Kerle tun, was sie sollen, und sich dorthin begeben, wohin sie sollen, nämlich stromaufwärts schwimmen.«

»Meine Güte, Gillian.« Rasch trank sie einen Schluck Wein. »Du hast es tatsächlich getan? Du hast’s getan. Du benimmst dich so – normal. So entspannt.«

»Dann wäre der Gynäkologe zufrieden. Er hatte die Stirn, mir zu sagen, ich solle mich entspannen. Als ob ich das könnte. Erstens waren die Beinstützen eiskalt, was schwerlich die Entspannung fördert, und zweitens ging es um den Schlusspunkt einer Monate langen Debatte. Diese Entscheidung habe ich nicht leichtfertig getroffen.«

Künstliche Befruchtung mit Hilfe von Spendersamen. Gillian hatte jedes Für und Wider lange Zeit abgewägt. Obwohl Melina darauf vertraute, dass ihre Zwillingsschwester stundenlang Gewissenserforschung betrieben hatte, wollten einige Zweifel nicht weichen. »Gillian, hast du die Sache auch von allen Seiten betrachtet?«

»Ich denke schon. Hoffentlich. Trotzdem gibt es vermutlich Standpunkte, an die ich nicht gedacht habe.«

Diese nicht angedachten Blickwinkel waren es, die Melina zu schaffen machten. Trotzdem behielt sie ihre Bedenken für sich.

»Manchmal hatte ich solche Zweifel und wollte den ganzen Plan schon fallen lassen. Am liebsten hätte ich so getan, als wäre ich nie auf diese Idee gekommen, und hätte jeden Gedanken daran ausradiert. Aber ich wurde sie einfach nicht mehr los.«

»Das ist ein gutes Zeichen. Wenn uns einmal etwas so packt, geschieht das normalerweise aus gutem Grund.«

»Physisch gab es keine Probleme. Ich bin kerngesund. Ich habe alles über alternative Empfängnismethoden gelesen, was mir in die Hände fiel. Aber je mehr ich las, umso zwiespältiger wurde es. Ich habe wirklich versucht, mir die Sache aus dem Kopf zu schlagen.«

»Und?«

»Und war nicht im Stande, einen Grund zu finden, warum ich’s nicht tun sollte.« Sie strahlte glücklich. »Also hab’ ich’s getan.«

»Bist du in die Waters Klinik gegangen?«

Gillian nickte. »Sie hat eine hohe Erfolgsrate und einen soliden Ruf. Der Arzt war mir sympathisch. Ein sehr einfühlsamer Mensch. Und geduldig. Hat mir alles bis ins Kleinste erklärt. Ich habe eine fundierte Entscheidung getroffen.«

Und ihre strahlende Miene ließ erkennen, dass sie davon begeistert war. »Ich kann’s nicht glauben, dass du mir nichts gesagt hast. Wenn du gewollt hättest, wäre ich mitgekommen, hätte deine Hand gehalten und dich irgendwie unterstützt.«

»Melina, ich weiß doch, dass du mich unterstützt. Du und Jem, ihr seid die beiden Einzigen gewesen, mit denen ich darüber gesprochen habe. Entschuldige, dass ich dir meinen Entschluss nicht mitgeteilt habe, Melina, aber –« In ihren bittenden Augen schwammen Tränen. »Bitte, versteh es. Ich habe deine und Jems Argumente durch den Filter eurer jeweiligen Abneigungen betrachtet.«

»Ich –«

»Bitte, lass mich ausreden. Aber zu guter Letzt war ich diejenige, die sich nach Abgabe aller Stimmen künstlich befruchten lassen wollte. Wenn es geklappt hat, werde ich die Schwangerschaft austragen und das Kind bekommen. Also war es auch einzig und allein meine Entscheidung. Ich hätte es dir gerne gesagt, aber als die Entscheidung gefallen war, wollte ich sie nicht mehr –«

»Ändern.«

»Oder sogar in Frage stellen.«

»Das respektiere ich, wirklich.« Sie unterstrich diesen Satz, indem sie Gillians Hand ergriff und kurz drückte. »War Jem dabei?«

»Nein.«

»Ich kann’s noch immer nicht glauben«, sagte Melina, wobei sie zum zweiten Mal auf ihren Bauch schielte. »Wie machen die das –? Wie läuft das eigentlich ab –?«

»Gestern habe ich einen Urintest zu Hause gemacht, der zeigte den Hormonanstieg an. Das hieß, dass es innerhalb der nächsten vierundzwanzig bis sechsunddreißig Stunden zu einem Eisprung käme. Ich habe in der Klinik angerufen und den Termin vereinbart. Es ist ein ziemlich technischer Vorgang, bei dem ein intrauteriner Katheter verwendet wird.«

Melina hörte wie gebannt zu, während Gillian ihr den Ablauf erläuterte. »Hat es wehgetan?«

»Kein bisschen.«

»Wo kam denn das Sperma her?«

»Was glaubst denn du?«

Melina grinste. »Ich meine rein geographisch.«

»Die Waters Klinik verfügt über eine eigene Samenbank. Allerdings verwendet man bei einer ortsansässigen Patientin lieber keine Probe aus der unmittelbaren Umgebung.«

»Klug gedacht.«

»Meine kam aus einer sehr renommierten Samenbank in Kalifornien. Heute Morgen traf die Probe im Trockeneispack ein. Anschließend wurde sie aufgetaut und gewaschen –«

»Wie bitte?«

»Das ist Fachjargon. Die Samenflüssigkeit wird mit einem Protein gemischt und in einer Zentrifuge ausgeschleudert, so dass im Katheter schließlich ein –«, sie lachte, »Spermakonzentrat landet. So könnte man es nennen.«

»Dabei fallen mir tausend Witze ein, von denen ich hier keinen erzählen werde.«

»Ich danke dir.«

»Fühlst du dich denn anders als vorher?«

»Kein bisschen. Anschließend bin ich sogar eingenickt. Ungefähr eine halbe Stunde musste ich noch liegen bleiben. Ich bin erst aufgewacht, als die Schwester wieder ins Untersuchungszimmer kam und ich mich anziehen konnte. Der Arzt hat mich begeistert über ihre Erfolgsquote informiert und meinte, ich solle mich nicht entmutigen lassen, falls es diesmal nicht klappt. Danach bin ich gegangen und sofort hierher gefahren.«

Melina gab sich mit Gillians Beteuerung zufrieden, lehnte sich in ihren Stuhl zurück und starrte in das Gesicht, das mit ihrem eigenen identisch war. »Tz, tz, da ist man ja wirklich perplex.« Nachdem beide erneut auf Kosten des Kellners gelacht hatten, meinte sie: »Scheint so, als bestünde der schwierigste Teil darin, auf diesen kleinen Papierstreifen zu pinkeln.«

»Das erfordert tatsächlich eine gewisse Kunstfertigkeit. Allmählich wurde ich darin richtig gut.«

»Allerdings, ganz offen gesagt –« Melina brach ab und wedelte mit den Händen vor sich herum, als wollte sie den unvollendeten Satz ausradieren. »Vergiss es. Ich sollte still sein.«

Trotzdem wusste Gillian längst, was ihre Schwester dachte. »Du wolltest sagen, dass du die altmodische Form der Befruchtung vorziehst.«

Melina feuerte eine imaginäre Pistole auf sie ab. »Du kennst mich gut.«

»Papa meinte immer, wir würden uns ein und dasselbe Gehirn teilen.«

»Kannst mich ruhig als liederlich bezeichnen«, sagte Melina unter betontem Schulterzucken, »aber ich ziehe Fleisch und Blut jedem Katheter samt Fußstütze vor. Kaltes Metall hat eben nicht dieselbe Anziehungskraft wie eine warme Brust und behaarte Beine, die sich unter der Bettdecke an meinen reiben. Ganz zu schweigen vom Geschlechtsapparat.«

»Bitte! Kein Wort über den Geschlechtsapparat.«

»Hast du denn nicht das schwere Atmen vermisst? Diese wunderbare Steigerung? Dieses Gefühl von ›Ach, lieber Gott, wie ist das Leben schön‹? Wenigstens ein kleines bisschen?«

»Hier geht es nicht um Sex. Ich habe es nicht wegen des Nervenkitzels getan, sondern um ein Kind zu zeugen.«

Melina wurde wieder nüchtern. »Wollte dich doch nur necken.« Während sie die Arme auf dem Tisch verschränkte, meinte sie: »Was zählt ist, dass du ein Kind haben möchtest, und das ist das Entscheidende.«

»Richtig, das ist das einzig Wichtige.«

»Schön für dich«, sagte sie, wobei sie Gillian liebevoll anlächelte. Nach kurzem Nachdenken setzte sie hinzu: »Wirklich schade, dass Jem nur mit Platzpatronen schießt. Dann hättest du alles auf einmal erledigen können, Sex und Kinder-Machen.«

Der Kellner kam mit ihrer Bestellung. Der Teller war mit frischen Stiefmütterchen garniert und fast zu hübsch zum Essen. Gillian nahm ihre Gabel und spielte mit der zierlichen Purpurblüte auf ihrer Portion Shrimpssalat herum. »Jem hat sich schon lange vor unserer Begegnung sterilisieren lassen.«

»Was ich als Glücksfall betrachte.« Melina hob ihr Weinglas zu einem stummen Toast. »Er ist ein Stockfisch.«

»Melina«, rief Gillian tadelnd.

»Tut mir Leid.« Doch Gillian wusste, dass die Entschuldigung nur gespielt war. »Aber er ist wirklich ein Blindgänger, Gillian. Er macht dich nicht glücklich.«

»Das stimmt nicht, ich bin glücklich.«

»Wirklich? Mir kommt es nicht so vor, als wärst du über alles verliebt. Aber vielleicht ist mir was entgangen. Ist es so?«

»Offensichtlich, denn ich liebe Jem.«

Melinas Augenbraue hob sich zu einem skeptischen Bogen.

»Tue ich«, beharrte Gillian. »Außerdem, welche Beziehung ist schon perfekt? Man kann nicht alles in einem einzigen hübsch geschnürten Päckchen bekommen. Es wäre zu viel verlangt, von einem einzigen Menschen die Erfüllung aller persönlichen Bedürfnisse und Wünsche zu erwarten.«

»In deinem Fall heißt das: ein Baby. Seit deinen eigenen Kindertagen hast du dir eines gewünscht. Du hast mit Puppen gespielt, während ich nur meine Rollschuhe kannte.«

»Möchtest du noch immer beim Rollschuh-Derby mitmachen?«

»Ja, und es ärgert mich tierisch, dass sie auf Inline-Skates umgestiegen sind, was viel schwerer ist.«

Gillian lachte. »Manchmal hat uns Mutter nur nach einem Blick auf unsere Knie unterscheiden können.«

»Meine hatten immer Blutkrusten.« Sie lachten über die gemeinsamen Erinnerungen, doch dann verschwand Melinas Lächeln allmählich. »Wenn Jems Sterilität eurer perfekten Beziehung im Weg steht, dann bitte ihn doch, die Sterilisierung rückgängig zu machen.«

»Dieses Thema habe ich ein einziges Mal angeschnitten. Er wollte kein Wort davon hören.«

»Wie hat er dann auf deine Entscheidung reagiert?«

»Überraschend gut. Er hat mich sogar zum Durchhalten ermutigt, wenn ich mal Zweifel laut werden ließ.«

»Hmm.« Melina war überrascht, das zu hören. »Nun ja, er ist eben ein komischer Kauz; ich sag’s ja nicht zum ersten Mal.«

»Lass uns nicht über Jem reden. Immer, wenn das Gespräch auf ihn kommt, geraten wir ins Streiten. Und ich will nicht, dass mir irgendetwas diesen Tag verdirbt. Stellen wir einfach fest, dass wir über Jem eben unterschiedlicher Meinung sind. Okay?«

»Mir recht.«

Einen Moment aßen sie stumm vor sich hin, ehe Melina sagte: »Nur noch einen einzigen Punkt.« Trotz Gillians Stöhnen redete sie weiter. »Falls die Prozedur Erfolg hat, und du tatsächlich schwanger wirst, wird das ein Härtetest für Jems Liebe.«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht.«

»Gillian, pass mal auf. Falls daraus ein Baby entsteht, könnte die Realität bei weitem nicht so rosig ausfallen wie in der Theorie. Strahle-Schnappschüsse gibt’s weit weniger als dreckige Windeln. Möglicherweise verhält sich Jem dann nicht so positiv, wie er dich glauben lassen will. Aber ich will fair bleiben: Vermutlich glaubt er ja fest daran, dass er damit zurechtkommt.«

Sie hielt inne und trank einen Schluck Wein, ehe sie sich entschloss, ihre beunruhigenden Gedanken auszusprechen. Sie und Gillian waren immer offen miteinander umgegangen, bis zur Schmerzgrenze. »Ich mache mir ein bisschen Sorgen, dass sich seine Einstellung ändert, wenn das Baby erst mal da ist. Wäre es nicht für jeden Mann hart, ein Kind zu akzeptieren, das letztendlich nicht seins ist? Im besten Fall wird Jem ein paar Bedenken hegen. Möglicherweise auch leisen Groll.«

»Ich rechne mit Rückschlägen«, sagte Gillian, »und habe sie einkalkuliert. Trotzdem konnte ich meine Entscheidung nicht durch Eventualitäten und Spekulationen beeinträchtigen lassen. Ich musste aufhören, mich zu fragen, ›Was wäre wenn?‹. Sonst hätte ich’s nie getan. Wenn ich es aber tun wollte, dann eher früher als später. Wir werden bald sechsunddreißig.«

»Erinnere mich nur nicht daran.«

»Ich wurde ständig daran erinnert, dass meine biologische Uhr tickt. Ich konnte sie nicht länger ignorieren.«

»Verstehe.«

Gillian legte ihre Gabel weg. »Wirklich, Melina? Kannst du das verstehen?«

Schon immer hatten sie gegenseitig Zustimmung gesucht. Melina schätzte Gillians Meinung über alles und vertraute ihr genauso, wie sie das umgekehrt auch von ihr wusste. »Ja«, antwortete Melina langsam, »ich verstehe es. Nur teilen kann ich es nicht. Ich hatte nie das Bedürfnis, ein Kind zu haben.« Mit reumütigem Lächeln fügte sie hinzu: »Ist doch gut, dass es so war, nicht? Mein Leben, meine Zukunft drehen sich einzig und allein um meinen Beruf.«

Sie streckte die Hand über den Tisch und umfasste Gillians. »Vielleicht ist der mütterliche Instinkt der einzige Unterschied zwischen uns beiden. Meiner Ansicht nach hast du beide Teile bekommen, meinen und deinen. Wenn er so stark ist, wäre es falsch gewesen, ihn zu ignorieren. Also war deine Entscheidung für dich auch genau richtig.«

»Ach Gott, hoffentlich.« Obwohl Melina genau wusste, wie viel dieses Experiment für Gillian bedeutete, überraschte sie die tiefe Emotion in der Stimme ihres Zwillings. »Ich wünsche mir so sehr ein Kind, aber was – was ist, wenn das Kind mich nicht will?«

»Entschuldige?«

»Was ist, wenn mein mütterlicher Instinkt falsch ist, und ich keine gute Mutter bin?«

»Unmöglich.«

»Das sagst du doch nur, Melina, weil du weißt, dass ich genau das hören möchte.«

»Hast du je erlebt, dass ich ein Blatt vor den Mund nehme? Ich sage das, weil’s wahr ist. Du wirst eine ideale Mutter.«

»Ich wäre es jedenfalls gerne.« Gillians Miene und ihr Tonfall unterstrichen, wie ernst es ihr war. Obwohl keine von beiden zu spontanen Tränenausbrüchen neigte, schien Gillian kurz davor zu stehen, was man diesem Hormon-Dingsbums zuschreiben oder es als weiteres Indiz dafür werten konnte, wie tief ihre Gefühle waren.

Sie sagte: »Diese Entscheidung bedeutet für mich mehr als jede andere, die ich bisher in meinem Leben getroffen habe. Und von allen Entscheidungen, die ich in Zukunft treffen werde, bedeutet mir diese am meisten. Ich will einfach nicht bei etwas scheitern, das für mich so wichtig ist. Das geht einfach nicht.«

»Und du wirst es auch nicht«, behauptete Melina kategorisch.

»Ich möchte, dass mein Baby mit mir genauso glücklich ist, wie ich mit ihm oder ihr.«

»Es wird das glücklichste Kind auf Erden werden. Wenn ich mir bei allem anderen so sicher sein könnte wie dabei! Gillian, du wirst als Mutter rauschenden Erfolg haben. Deshalb schlag dir auch ein mögliches Scheitern aus dem Kopf. Verbann es, begrab es. Es wird nicht eintreten.«

Angesichts der unerschütterlichen Bestätigung durch ihre Zwillingsschwester musste Gillian erleichtert lächeln. Blinzelnd vertrieb sie ihre ungeweinten Tränen. »Okay, meine Zweifel sind hiermit offiziell gebannt und begraben.«

»Na, Gott sei Dank, das hätten wir erledigt.«

Wieder hob Melina ihr Weinglas. »Auf dich und die moderne Medizin. Hoffentlich benehmen sich diese Mini-Kaulquappen angemessen.«

Sie stießen miteinander an. Gillian sagte: »Die Erfolgsrate – auch wenn, wie in meinem Fall, sämtliche Knöpfe auf Grün stehen – beträgt nur fünfundzwanzig Prozent. Vielleicht ist es mit einmal nicht getan.«

»Da hat uns Mutter vor unserem ersten Rendezvous aber was ganz anderes erzählt.«

Beim Gedanken daran, wie schmerzlich gehemmt ihre Mutter gewesen war, wenn es darum ging, über Sex zu sprechen und ihre Töchter vor den potenziellen Gefahren zu warnen, mussten sie lachen.

»Erinnerst du dich noch an diesen Vortrag? Ich hatte keine Ahnung, dass es so viele Umschreibungen für Körperteile und Geschlechtsverkehr gibt!«, rief Melina. »Trotzdem, ihre Botschaft hat sie rübergebracht: Einmal genügt, um schwanger zu werden.«

»Wir werden ja sehen. Der Arzt hat mir versichert, es seien gute Schwimmer.«

»Er hat sie tatsächlich Schwimmer genannt?«

»Ich schwör’s.«

Sie kicherten wie Teenager über einen Schmuddelwitz. Schließlich winkte Melina dem Kellner, er solle ihre Teller abräumen, und bestellte Kaffee. »Und wie steht’s mit dem Spender?«

»Der ist nur eine Nummer, die du wie im Katalog auswählst. Von allen Kandidaten hat er meine Vorlieben am besten erfüllt.«

»Haarfarbe, Augenfarbe, Figur.«

»Genau, dazu noch Interessen, Umfeld und IQ.«

»Das heißt also, du hast lediglich eine Nummer aus einem Katalog bestellt?«, erkundigte sich Melina ironisch.

»Es war eine wissenschaftliche Prozedur.«

»Biologie pur. Menschliche Fortpflanzung zu ihrer sterilsten Variante kondensiert.«

»Ganz genau.«

»Aber –«

Gillian lächelte. Sie wusste, dass sie in der Falle saß. Die beiden konnten keinen Gedanken lange voreinander verbergen. »Andererseits bin ich ein menschliches Wesen, und mein Körper ist kein Reagenzglas. Ich kann nicht gänzlich objektiv sein, obwohl ich’s eigentlich sollte.« Sie starrte in die Luft und meinte leise: »Ich hoffe darauf, mit Hilfe einer namenlosen Person ein neues Individuum zu erschaffen. Ein Baby. Einen Charakter. Eine Seele. Das ist starker Tobak. Natürlich grüble ich über den Spender nach, wer er ist und wie er aussieht.«

»Wieso auch nicht? Natürlich beschäftigt dich das. Hast du denn wirklich keine Ahnung?«

»Nein. Wahrscheinlich ist es ein Medizinstudent, der ein bisschen Taschengeld brauchte.«

»Und der sich gerne einen runterholt. Aber das tun sie doch alle, nicht wahr?« Melina zwinkerte dem Mann am Nachbartisch zu. Er lächelte zurück, ihr Flirten schmeichelte ihm.

Als Gillian den Blickwechsel bemerkte, wies sie Melina leise flüsternd zurecht. »Benimm dich.«

»Er hat doch keine Ahnung, was ich gesagt habe.«

Auch darin waren sie sich unähnlich. Während Melina dazu neigte, aus ihrem Herzen keine Mördergrube zu machen, verhielt sich Gillian wesentlich diskreter. Melina sagte und tat Dinge, an die Gillian zwar dachte, die sie wegen ihrer Hemmungen jedoch nicht äußerte. Ihre impulsiven Reaktionen waren gleich, aber nur Melina setzte sie auch um. Sie sprang im Hechtsprung vom höchsten Sprungbrett, während Gillian oben verharrte und sich mit den Zehen an der Kante festkrallte, ehe sie doch noch den Mut zum Sprung fand. Melina bewunderte die Umsicht ihrer Zwillingsschwester. Gillian behauptete, sie sei auf Melinas Mut neidisch.

Melina überließ den Herrn am Nebentisch seinen Träumereien und wollte von Gillian wissen, wie lange es dauern würde, bis der Erfolg der künstlichen Befruchtung feststünde.

»In einer Woche gehe ich wieder zu einem Bluttest hin.«

»Eine ganze Woche! Musst du dich irgendwie einschränken?«

»Nein, ich kann leben wie immer.«

»Arbeit?«

»Ich habe noch heute Nachmittag einen Termin.«

»Sex?«

»Nein, ohne jede Einschränkung. Der Arzt hat sogar gesagt, falls ich einen Partner hätte, der das Kind mit mir gemeinsam aufziehen möchte, würde er uns raten, sobald wie möglich miteinander zu schlafen. Das sei in psychologischer Hinsicht gut für unfruchtbare Paare, die als letzte Möglichkeit auf Spendersamen zurückgegriffen haben. Sollten sie am Tage der IUI miteinander schlafen, bestünde immer eine geringe Chance, dass –«

»Das Sperma des Partners das Ei befruchtet hat.«

»Genau.«

Melina presste ihre Zeigefinger gegen die Schläfen. »Himmel, das geht aber –«

»Weit. Ich weiß. Dieses Thema hat unendlich viele Facetten. Endlose Faktoren zu bedenken, ethische und religiöse Fragen müssen gestellt und hoffentlich geklärt werden. Und trotzdem bedaure ich nicht, dass ich’s getan habe. Genauso wenig werde ich jetzt anfangen, nachdem ich gehandelt habe, die Entscheidung erneut zu hinterfragen. Eines steht fest: Sollte ich diesmal nicht schwanger werden, werde ich es definitiv wieder versuchen. Bis vor kurzem hatte ich von Mutterschaft völlig vage Vorstellungen. Das spielte sich alles in einer weit entfernten Zukunft ab. Inzwischen habe ich den nötigen Schritt für eine Schwangerschaft getan, und nun nehmen auch diese Fantasien konkrete Formen an. Melina, ich will ein Baby, mit dreckigen Windeln und allem anderen. Ich wünsche es mir so sehr. Einen Sohn oder eine Tochter, für die ich sorgen kann. Jemanden, der meine Liebe braucht. Jemanden, der mich seinerseits liebt.«

Melina schluckte heftig. »Willst du mich unbedingt zum Heulen bringen?«

Gillian unterdrückte ihre eigenen Tränen und streichelte sachte ihren Bauch. Dann sagte sie: »Die Woche wird lang werden.«

Melina schniefte. Ihr eigenes sentimentales Verhalten machte sie ungeduldig. »Was du brauchst, ist Ablenkung«, konstatierte sie. »Etwas, das dich auf andere Gedanken bringt. Damit die Zeit schneller vergeht.«

»Und das wäre?«

»Bin schon dabei.« Sie tippte sich mit der Fingerspitze an die Lippen. Sekunden später schoss ihr ein brillanter Einfall durch den Kopf, aber schon folgte der Katzenjammer auf dem Fuß. »Verdammt!« rief sie und schlug auf den Tisch. »Ich kann’s nicht fassen, dass ich dir dieses Angebot mache.«

»Was denn?«

»Ach, zum Kuckuck!« sagte sie. Plötzlich war der Entschluss gefallen. Sie beugte sich über den Tisch und sagte aufgeregt: »Geh heute Abend an meiner Stelle hin.«

»Was? Wohin?«

»Rate mal, wen ich heute Abend begleite.«

»Ist mir egal.«

»Glaube ich nicht. Christopher Hart.«

»Den Astronauten?«

»Aha! Schon bei seinem Namen hast du glänzende Augen bekommen.«

»Selbst wenn, was ich bezweifle, dann nur, weil ich beeindruckt bin, dass meine Schwester den Auftrag bekommen hat, so einen Promi zu begleiten. Hat er nicht eben erst eine Weltraumtour hinter sich?«

»Vor drei Monaten. Er hat eine Shuttle-Mission geleitet, durch die ein wichtiger Militärsatellit gerettet wurde. War entscheidend für den Weltfrieden oder so.«

»Und was macht er in Dallas?«

»Bekommt ’nen Preis der Ehemaligen-Vereinigung an der Southern Methodist University. Sie geben ihm irgendeinen renommierten XYZ-Preis im Adolphus, mit Festbankett und so.« Sie lächelte boshaft. »Möchtest du ihn kennen lernen?«

»Ich habe doch keine Ahnung von deinem Job!« rief Gillian. »So wenig wie du vom Verkauf gewerblicher Immobilien.«

»Du hast einen schwierigen Job, bei dem es um Zinssätze, Grundstücke und ähnliches Zeug geht. Zu meinem braucht man keinen Funken Verstand. Was gibt’s da also zu wissen?«

»Eine ganze Menge.«

»Nicht wirklich. Du sammelst ihn zu Beginn des Abends ein und lieferst ihn am Ende wieder ab.«

Natürlich war das eine grotesk vereinfachte Beschreibung ihres Jobs. Jahre lang hatte sie als Lehrling geschuftet, ehe sich ihr Brötchengeber in den Ruhestand verabschiedete und ihr sein Geschäft verkaufte, das unter ihrem Management expandiert war.

Im Grunde genommen ging es darum, dass sie oder einer ihrer drei sorgfältig überprüften und ausgebildeten Angestellten eine hochrangige Persönlichkeit – mit Ausnahme derer, die mit eigenem Gefolge anreisten – während ihres Besuchs in Dallas betreuten. Damit waren sie für diese Person so lange verantwortlich, bis diese sich sicher auf dem Weg zu ihrem nächsten Ziel befand. Sie war Chauffeur und Beichtvater und erledigte Einkäufe, je nachdem, wozu der Kunde sie brauchte. Manchmal meckerte sie über ihre aberwitzigen Arbeitszeiten, doch im Grunde war jedes Jammern nur Schau, weil sie ihre Tätigkeit heiß und innig liebte. Und weil sie ihren  – Job sehr gut machte, hatte sich ihr Geschäft bestens entwickelt.

Trotzdem beunruhigte es sie nicht, wenn Gillian eine Nacht lang ihren Platz einnähme. Gillian hatte, genau wie sie, in ihrem Leben jede Menge Fremder getroffen. Auch in Gegenwart von Colonel Christopher Hart würde sie wohl kaum gehemmt verstummen. Sie hatte an weitaus wichtigere Männer als ihn Immobilien verkauft. Obendrein käme sie damit mal einen Abend von Jem Hennings weg – in Melinas Augen schon an und für sich ein Pluspunkt.

»Du weißt doch, wo das Adolphus ist, ja?«

»Melina, vergiss es«, sagte Gillian, wobei sie jedes einzelne Wort betonte.

»Er wohnt im Mansion. Dort holst du ihn ab und bringst ihn in die Innenstadt –«

»Du hörst gar nicht zu.«

»Lahme Ausreden überhöre ich grundsätzlich. Du hast mir noch keinen einzigen guten Grund geliefert, warum du nicht gehen solltest.«

»Wie wär’s dann damit? Wir sind keine Kinder mehr. Solche Spielchen spielen Erwachsene nicht.«

»Wir kommen immer noch mit einem Rollentausch durch.«

»Natürlich, trotzdem ist es Quatsch.«

»Warum?«

»Weil es verrückt ist.«

»Colonel Hart kennt mich doch nicht seit Adams Zeiten. Wem würde es also schaden?«

Gillian ging noch immer nicht auf ihre Argumente ein. »Ich muss mich um mein eigenes Geschäft kümmern! Ich bin kurz davor, eine brandneue Anzeigenfirma zur Unterschrift unter eine neue Adresse zu bringen, bei der es um schlappe drei Millionen geht. Ich treffe mich mit ihnen heute Nachmittag, um sämtliche strittigen Punkte mit dem Verkäufer festzunageln. Obendrein kommt Jem heute Abend. Deshalb, danke, dass du daran gedacht hast, aber trotzdem: nein.«

»Christopher Hart ist heiß, heiß und nochmal heiß«, lockte sie mit verführerischer Schmeichelstimme.

»Du kannst mir danach alles über ihn erzählen.«

»Letzte Chance. Eins, Zwei –«

»Nein, Melina.«

»Vorbei.«

Unter Stirnrunzeln murmelte sie, was für ein fader Knochen Gillian sei, bat um die Rechnung und bestand darauf, zu zahlen. Draußen vor dem Szenelokal stellten Parkwächter ihre Wagen bereit. Einer der jungen Männer starrte die beiden so unverwandt an, dass er beinahe auf ein anderes Auto aufgefahren wäre.

Während sie sich voneinander verabschiedeten, startete Melina einen letzten Versuch. »Du wirst es noch bedauern, wenn du diese Gelegenheit verpasst.«

»Trotzdem, danke schön.«

»Gillian, er ist ein Volksheld! Du würdest den Abend mit ihm verbringen. Das könnte das beste Geschenk sein, das ich dir je gemacht habe, nach dem Wonder-Bra.«

»Ich weiß es zu schätzen.«

»Oh, ich kapiere. Du schmollst immer noch.«

»Schmollen?«

»Weil ich letzten Monat kein Rendezvous mit dir und Kevin Costner arrangieren konnte. Gillian, ich hab’ dir doch schon tausend Mal gesagt, dass er einen randvollen Terminkalender hatte. Es war einfach unmöglich.«

Lachend beugte sich Gillian vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich schmolle nicht. Schwesterlein, ich liebe dich.«

»Ich dich auch.«

»Viel Spaß mit dem Astronauten.«

Sie winkte und meinte dann im breitesten Dialekt: »Darauf kannste wetten.«

»Ich will Details«, rief Gillian ihr zu, während sie einstieg. »Punktgenau.«

»Versprochen. Ich rufe dich an, sobald ich wieder daheim bin.«

 

Ein kräftiger Wind fegte über den Wüstenboden und rieb dem Berg den aufgewirbelten Sand ins Gesicht, ehe er ihn unter dem niedrigen Gestrüpp verteilte. Oben am Gipfel, wo die Luft dünner und kühler war, verwandelte derselbe Wind die safranfarbenen Espenblätter in Kastagnetten.

Mitten im Espenhain lag eine Siedlung, die so sehr mit der Landschaft verschmolz, dass sie von der Autobahn aus, die sich Kilometer weiter unten durch die Wüste schlängelte, fast unsichtbar war. Sämtliche Gebäude bestanden aus handverlesenem Granit, den man aus Schottland importiert hatte. Die farbigen Bänder, die sich über diesen grauen Untergrund zogen, korrespondierten perfekt mit den Sand-, Ocker- und Siena-Tönen der Umgebung.

Die beschattete Terrasse im dritten Stock des Hauptgebäudes diente dem momentan dort Betenden als Freilufttempel. Seine Knie ruhten auf einem kastanienbraunen reich verzierten Samtkissen, dessen Gold- und Silberfäden im Sonnenlicht glitzerten, das durch die Bäume fiel.

Das Kissen war ein Geschenk einer Bewunderin gewesen. Angeblich hatten es russische Emigranten um die Jahrhundertwende mitgebracht. Ein Familienerbstück. Der wertvollste Besitz der Schenkenden und damit ein Opfer höchsten Ranges, ein enormer Tribut an den Einen, dem sie es geschenkt hatte.

Er hielt den Kopf gesenkt. Seine dichten blonden Haare wirkten fast weiß und seidenweich wie bei einem Engel. Seine Augen waren geschlossen. Die Lippen formten sich zu einer stummen demütigen Bitte. Er hatte die Hände unter dem Kinn gefaltet – ein wahrer Inbegriff von Frömmigkeit. Von Gott berührt. Von Gott gesegnet. Von Gott auserkoren.

Nein.

Unter der breiten Glastüre, die die Terrasse vom riesigen Innenraum trennte, tauchte ein Mann in einem streng geschnittenen dunklen Anzug auf. Geräuschlos näherte er sich dem Betenden und legte ein Blatt Papier neben die kniende Gestalt, wobei er eine Ecke unter das Samtkissen schob, damit sie der Wind nicht fortwehen konnte. Anschließend zog er sich genauso lautlos zurück, wie er gekommen war.

Der Betende unterbrach eine Weile sein himmelstürmendes Flehen, hob den Zettel auf und sah, dass er einen Stempel mit Tag und Uhrzeit trug. Heute. Vor weniger als einer Stunde.

Während er die gedruckte Nachricht las, breitete sich langsam ein Lächeln über sein hübsches Gesicht. Er presste die Nachricht mit seinen langen gefalteten Händen gegen die Brust, als ob sie einen unschätzbaren Wert für ihn besäße. Wieder schloss er die Augen. Wie in Ekstase hob er sein Gesicht der Sonne entgegen.

Aber es war nicht Gottes Name, den er anrief. Stattdessen flüsterte er ehrfürchtig einen anderen: »Gillian Lloyd.«