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Inhaltsverzeichnis

Buch
Autorin
Inschrift
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. KAPITEL
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
Copyright

Autorin

Sandra Brown arbeitete mit großem Erfolg als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman »Trügerischer Spiegel« auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher die Spitzenplätze der »New York Times«-Bestsellerliste erreicht! Ihr großer Durchbruch als Thrillerautorin gelang Sandra Brown mit dem Roman »Die Zeugin«, der auch in Deutschland zum Bestseller wurde. Seither konnte die Autorin mit vielen weiteren Romane große Erfolge feiern. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.

 

1. Kapitel

»Kraft meines mir von Gott, dem Allmächtigen, und dem Staat South Carolina verliehenen Amtes erkläre ich euch hiermit zu Mann und Frau. Matthew, Sie dürfen die Braut jetzt küssen.«

Die Hochzeitsgäste klatschten, als Matt Burnwood Kendall Deaton innig umarmte. Gelächter brach aus, als der Kuß sich in die Länge zog, bis er überhaupt nicht mehr keusch wirkte. Matt schien gar nicht aufhören zu wollen.

»Damit müssen wir noch warten«, flüsterte Kendall unter seinen Lippen. »Leider.«

Matt sah sie gequält an, drehte sich aber als pflichtbewußter Gastgeber zu den Hunderten von Gästen um, die im Sonntagsstaat erschienen waren, um der Trauung beizuwohnen.

»Meine Damen und Herren«, verkündete der Pfarrer, »ich darf Ihnen, zum allerersten Mal, Mr. und Mrs. Matthew Burnwood vorstellen!«

Arm in Arm standen Kendall und Matt strahlend ihren Gästen gegenüber. Matts Vater saß allein in der vordersten Bank. Er erhob sich und kam mit ausgebreiteten Armen auf Kendall zu.

»Jetzt gehörst du zu uns«, sagte er und drückte sie an sich. »Gott hat dich uns gesandt. Wir brauchen eine Frau in der Familie. Wenn Laurelann noch am Leben wäre, würde sie dich lieben, Kendall. Genau wie ich.«

Kendall küßte Gibb Burnwood auf die rotfleckige Wange. »Danke, Gibb. Das hast du schön gesagt.«

Laurelann Burnwood war bereits in Matts Kindheit verstorben, aber er und Gibb sprachen von ihr, als wäre sie erst gestern beerdigt worden. Der Witwer gab mit seinem weißen Bürstenhaarschnitt und seinem schlanken, kräftigen Körper eine eindrucksvolle Erscheinung ab. Viele alleinstehende und geschiedene Frauen hatten ihre Netze nach Gibb ausgeworfen, aber ihr Werben blieb unerhört. Er habe die Liebe seines Lebens gehabt, pflegte er zu sagen. Er brauche keine zweite.

Matt legte einen Arm um die breiten Schultern seines Vaters und den anderen um Kendall. »Wir haben einander gefunden. Jetzt sind wir eine richtige Familie.«

»Ich wünschte nur, Großmutter hätte dabei sein können«, murmelte Kendall bekümmert.

Matt schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. »Schade, daß sie sich der Reise von Tennessee hierher nicht gewachsen fühlte.«

»Das wäre zu anstrengend für sie gewesen. Aber in Gedanken ist sie bestimmt bei uns.«

»Fangt bloß nicht an, hier Trübsal zu blasen«, mischte sich Gibb ein. »Die Leute sind schließlich zum Essen, Trinken und Feiern gekommen. Dieser Tag ist ein Fest, genießt ihn.«

Gibb hatte keine Ausgaben gescheut, um sicherzustellen, daß man noch jahrelang über ihre Hochzeit reden würde. Kendall war schockiert über die Summen, die er verschleuderte. Kurz nachdem sie Matthews Antrag angenommen hatte, hatte sie vorgeschlagen, in aller Stille, vielleicht im Arbeitszimmer eines Pfarrers, zu heiraten.

Davon wollte Gibb nichts wissen.

Er hielt nichts von der Tradition, daß die Familie der Braut die Hochzeit auszurichten hätte, und bestand darauf, den Empfang selbst zu geben. Kendall hatte sich geziert, aber Gibb hatte mit seiner entwaffnenden, einnehmenden Art all ihre Einwände zerstreut.

»Nimm’s ihm nicht übel«, hatte Matt beschwichtigt, als sie ihm ihre Bestürzung darüber gestand, daß Gibb offenbar die gesamte Planung der Hochzeit zu übernehmen gedachte. »Dad will einfach eine Party schmeißen, wie Prosper sie noch nie gesehen hat. Da weder du noch deine Großmutter die Mittel dazu aufbringen können, wird er die Rechnung liebend gern begleichen. Ich bin sein einziges Kind, eine solche Gelegenheit bietet sich kein zweites Mal. Also gönnen wir ihm doch das Vergnügen und lassen ihn alles arrangieren.«

Schon bald wurde Kendall von der allgemeinen Aufregung angesteckt. Ihr Hochzeitskleid suchte sie selbst aus, aber alles andere dirigierte Gibb, der sie allerdings klugerweise vor jeder wichtigeren Entscheidung nach ihrer Meinung fragte.

Seine akribische Planung zahlte sich aus, denn das Haus und der Rasen davor boten heute einen grandiosen Anblick. Matt und sie hatten ihr Ehegelübde unter einem mit Gardenien, weißen Lilien und weißen Rosen geschmückten Spalierbogen abgelegt. In einem großen Zelt stand ein exquisites Büfett mit Salaten, kleinen Gerichten und Häppchen für jeden Geschmack bereit.

Die Hochzeitstorte war ein kühnes, mehrstöckiges Kunstwerk, der cremige Guß mit Sträußchen frischer Rosenknospen verziert. Es gab auch einen Bräutigamskuchen aus Schokolade, der mit fast tennisballgroßen kandierten Erdbeeren garniert war. In Eiswannen kühlten Magnumflaschen voll Champagner. Und die Gäste schienen fest entschlossen, ihn bis zum letzten Tropfen auszutrinken.

Trotz dieses Pomps herrschte eine ausgesprochen familiäre Atmosphäre, und unter den schattigen Bäumen spielten Kinder. Nachdem die Braut und der Bräutigam mit einem Hochzeitswalzer den Tanz eröffnet hatten, drängten immer mehr Paare auf das extra errichtete Podium, bis schließlich kaum einer noch auf seinem Stuhl saß.

Da fand eine Märchenhochzeit statt. Und selbst Rumpelstilzchen war gekommen.

 

Kendall, die nichts von den Animositäten ahnte, hätte nicht glücklicher sein können. Matt hielt sie im Arm und wirbelte sie über das Parkett. Sein schlanker, großer Körper schien wie geschaffen, einen Smoking zu tragen. Sein ebenmäßiges, siegesgewohntes Gesicht und das glatte Haar verliehen ihm die aristokratische Ausstrahlung eines Raubritters.

»Du wirkst immer so elegant und unnahbar. Wie der große Gatsby«, hatte ihn Kendall einmal geneckt.

Sie hätte sich am liebsten nur in seinen Armen gewiegt, aber die Gäste wetteiferten bereits um einen Tanz mit der Braut. Einer von ihnen war Richter H.W. Fargo. Sie mußte sich ein Stöhnen verkneifen, als Matt sie dem Richter überließ, der auf dem spiegelnden Parkett ebensowenig Fingerspitzengefühl bewies wie im Gerichtssaal.

»Ich habe ja anfangs an Ihren Fähigkeiten gezweifelt«, bemerkte Richter Fargo, während er sie so täppisch herumriß, daß er ihr beinahe ein Schleudertrauma beibrachte. »Als mir zu Ohren kam, daß man eine Frau zur Pflichtverteidigerin unseres Countys ernennen würde, hatte ich ernsthafte Bedenken, ob Sie dem Job gewachsen wären.«

»Wirklich?« fragte sie kühl.

Fargo war also nicht nur ein miserabler Tänzer und erbärmlicher Richter, sondern obendrein ein Sexist, dachte Kendall. Seit ihrem ersten Auftritt in seinem Gerichtssaal hatte er nie einen Hehl aus seinen »Bedenken« gemacht.

»Worauf gründen sich denn Ihre Befürchtungen?« Sie gab sich Mühe, ihr freundliches Lächeln nicht entgleisen zu lassen.

»Prosper ist ein konservativer Ort, ein konservatives County«, holte er aus. »Und die Menschen sind stolz darauf. Bei uns wird alles so gehalten wie schon seit Generationen. Wir ändern uns nur langsam, und wir mögen es nicht, wenn man uns dazu zwingt. Eine Anwältin ist für uns etwas Neues.«

»Sie sind also der Ansicht, daß die Frauen zu Hause bei Kindern, Küche und Putzkübel bleiben sollten? Daß sie keinen Beruf erlernen sollten?«

Er wehrte ab: »So würde ich es nicht ausdrücken.«

»Nein, natürlich nicht.«

Ein so freimütiges Bekenntnis hätte ihn allerlei Stimmen kosten können. Was er in der Öffentlichkeit von sich gab, hatte er normalerweise vorkalkuiert. Richter H. W. Fargo war ein leidenschaftlicher Politiker, leider leistete er als Richter wesentlich weniger.

»Ich sage nur, daß Prosper ein netter, sauberer Ort ist. Probleme wie in anderen Städten gibt es hier nicht. Wir ersticken verderbliche Entwicklungen schon im Keim. Und wir – damit meine ich mich und andere Vertreter der Öffentlichkeit – beabsichtigen, unser Niveau beizubehalten.«

»Halten Sie mich etwa für eine verderbliche Entwicklung, Herr Richter?«

»Aber nein, aber nein.«

»Es ist mein Beruf, all jenen Rechtsbeistand zu leisten, die keinen Anwalt bezahlen können. Die Verfassung gewährt jedem Bürger der Vereinigten Staaten das Recht auf Verteidigung vor Gericht.«

»Ich weiß, was die Verfassung gewährt«, giftete er zurück.

Kendall lächelte, um ihrem Affront die Schärfe zu nehmen. »Ich muß mir das manchmal selbst ins Gedächtnis rufen. Meine Arbeit bringt mich ständig mit einer Seite unserer Gesellschaft in Kontakt, die wir alle gern verleugnen würden. Aber solange es Kriminelle gibt, brauchen wir jemanden, der sie vor Gericht vertritt. Ich versuche jedem Fall nach bestem Vermögen gerecht zu werden, so abstoßend mein Mandant auch sein mag.«

»Niemand zweifelt an Ihren Fähigkeiten. Trotz dieser häßlichen Sache damals in Tennessee ...« Er brach ab und senkte scheinheilig den Blick. »Aber warum sollten wir ausgerechnet heute davon anfangen?«

Warum wohl? Der Richter hatte sie mit voller Absicht an diese alte Geschichte erinnert. Daß er sie für dumm genug hielt zu glauben, die Bemerkung sei ihm versehentlich herausgerutscht, ärgerte Kendall besonders.

»Sie leisten gute Arbeit, sehr gute Arbeit«, meinte er wohlwollend. »Auch wenn ich zugeben muß, daß ich mich erst daran gewöhnen mußte, mit einer Frau über Rechtsfragen zu diskutieren.« Sein Lachen klang wie eine Gewehrsalve. »Wissen Sie, bis Sie zu Ihrem Vorstellungsgespräch erschienen, dachten wir, Sie seien ein Mann.«

»Mein Name wirkt vielleicht irreführend.«

Der Vorstand der Anwaltskammer in Prosper County hatte beschlossen, einen Pflichtverteidiger zu bestellen, um die Kammermitglieder von der lästigen Pflicht zu befreien, Bedürftige vor Gericht zu vertreten. Solche Fälle kosteten oft viel Zeit und verursachten erhebliche Einnahmeausfälle, selbst wenn sie den Anwälten reihum zugewiesen wurden.

Die Mitglieder des Vorstands hatten ihren Augen nicht getraut, als Kendall statt in Anzug und Krawatte in hochhackigen Pumps und einem Kostüm vor ihnen erschien. Der Lebenslauf war so eindrucksvoll gewesen, daß die Anwaltskammer positiv auf die Bewerbung reagiert hatte und sie beinahe unbesehen eingestellt hätte. Das Bewerbungsgespräch hatte man eigentlich nur der Form halber angesetzt.

Und nun war eine Frau auf dem Problemposten gelandet. Kendall wußte, daß sie auf eine Mauer von Vorurteilen und Männerkumpanei treffen würde, deshalb hatte sie ihre Argumente sorgfältig einstudiert. Ihre Rede zielte darauf ab, die Vorurteile ihrer Gesprächspartner zu widerlegen und ihre Ängste zu beschwichtigen, ohne sie dabei zu kränken.

Den Job wollte sie um jeden Preis haben. Sie war dafür qualifiziert, und da ihre Zukunft vom Ausgang dieses Bewerbungsgesprächs abhing, hatte sie alles auf eine Karte gesetzt.

Offenbar war ihr Auftreten gut bewertet worden, denn das Komitee hatte ihr die Stelle angeboten. Der eine dunkle Fleck auf ihrer beruflichen Weste war bei der Entscheidung längst nicht so ins Gewicht gefallen wie ihr Geschlecht. Vielleicht hatte man dazu geneigt, eben wegen ihrer Weiblichkeit Milde walten zu lassen. Gut, es gab einen Makel in ihrer Laufbahn, aber den konnte man verzeihen, denn schließlich war sie bloß eine Frau.

Was der Vorstand glaubte und was ihn zu seiner Entscheidung bewogen hatte, war Kendall gleichgültig. In den acht Monaten, die sie inzwischen in Prosper lebte, hatte sie ihre Fähigkeiten unter Beweis gestellt. Sie hatte schwer geschuftet, um sich die Anerkennung ihrer Standesgenossen und der Öffentlichkeit zu verdienen. Ihre Gegner hüllten sich in beschämtes Schweigen.

Sogar der Herausgeber der Zeitung am Ort, der nach Bekanntwerden ihrer Ernennung in einem Leitartikel gefragt hatte, ob eine Frau wohl einen so schwierigen Job bewältigen könne, hatte seine Meinung gründlich geändert.

Dieser Kavalier tauchte jetzt hinter ihr auf, schlang seine Arme um ihre Taille und küßte sie in den Nacken. »Richter, Sie haben lang genug die hübscheste Frau auf der ganzen Party in Beschlag genommen.«

Fargo lachte. »Da spricht ein wahrer Bräutigam.«

»Danke, daß du mich gerettet hast«, seufzte Kendall, als Matt mit ihr davonwalzte. Sie ließ die Wange an den Aufschlag seiner Smokingjacke sinken und schloß die Augen. »Schlimm genug, daß ich mich im Gericht mit diesem rassistischen, rückständigen Robenheini rumschlagen muß. Es geht weit über meine Pflichten als Anwältin und Gastgeberin hinaus, auf meiner Hochzeit mit ihm zu tanzen.«

»Sei nett«, tadelte er sie.

»Das war ich auch. Ehrlich, ich war so charmant, daß mir fast übel wurde.«

»Der Richter kann eine echte Plage sein, aber er ist ein alter Freund von Dad.«

Matt hatte recht. Außerdem würde sie Richter Fargo nicht die Genugtuung gönnen, sich von ihm ihre Hochzeit vermiesen zu lassen. Sie lächelte Matt an. »Ich liebe dich. Wie lange habe ich dir das schon nicht mehr gesagt?«

»Eine Ewigkeit. Seit mindestens zehn Minuten.«

Sie kuschelten sich zärtlich aneinander, als eine Stimme wie eine rostige Gießkanne sie auseinanderfahren ließ: »Also, ehrlich, das ist mal ’ne Fete!«

Kendall drehte den Kopf und sah ihre Trauzeugin in den Armen des örtlichen Apothekers vorbeidonnern. Der verhuschte, schüchterne Mann schien gar nicht begreifen zu können, wie er in die Arme einer so lebhaften und üppig ausgestatteten Frau gelangt war.

»Na, Ricki Sue«, rief Kendall ihr zu, »amüsierst du dich?«

»Bin ich vielleicht ein Kind von Traurigkeit?«

Ricki Sue Robbs massive Bienenkorbfrisur hüpfte im Takt der Musik auf und ab. Ihr schweißnasses Gesicht leuchtete über dem Dekollete ihres hellblauen Gewandes. Es war Kendall nicht leichtgefallen, ein Kleid für die Brautjungfern zu finden, das auch ihrer Freundin stand. Ricki Sues Gesicht war blaß und ungleichmäßig mit rostroten Sommerprossen gesprenkelt. Ihr Haar hatte die Farbe frisch gepreßten Karottensafts, aber statt die leuchtende Masse zu möglichst unauffälligen Frisuren zu disziplinieren, türmte Rickie Sue sie zu den ausgefeiltesten Kreationen auf.

Weil sie unentwegt vergnügt schmunzelte, war die breite Lücke zwischen ihren Vorderzähnen ständig zu sehen. Auf ihren vollen Lippen glänzte feuerwehrroter Lippenstift – angesichts der Haarfarbe eine tollkühne Wahl.

Mit einer Stimme, die es an Anmut mit einer Kavallerietrompete aufnehmen konnte, trötete sie: »Du hast mir zwar verraten, daß dein Zukünftiger recht hübsch aussieht, aber du hast nichts davon gesagt, daß er noch dazu stinkreich ist.«

Kendall spürte, wie Matt schockiert erstarrte. Dabei wollte Ricki Sue ihn keineswegs beleidigen. Im Gegenteil, sie glaubte, ihm ein Kompliment zu machen. Aber in Prosper sprach man in feinen Kreisen nicht über Geld. Wenigstens nicht offen.

Nachdem Ricki Sue und der benommene Apotheker außer Hörweite getanzt waren, meinte Kendall: »Es wäre nett von dir, wenn du sie einmal auffordern würdest, Matt.«

Er verzog das Gesicht. »Ich habe Angst, sie könnte mich zu Tode treten.«

»Matt, bitte.«

»Tut mir leid.«

»Wirklich? Beim Abendessen gestern hast du mir gegenüber nur zu deutlich gezeigt, daß du Ricki Sue vom ersten Moment an nicht leiden konntest. Ich hoffe nur, daß ihr das nicht aufgefallen ist – ich jedenfalls habe es gemerkt.«

»Du hast sie mir ganz anders beschrieben.«

»Ich habe dir gesagt, daß sie meine beste Freundin ist. Das müßte als Beschreibung genügen.«

Nachdem sich Großmutters Gesundheit so verschlechtert hatte, daß sie nicht an der Hochzeit teilnehmen konnte, war Ricki Sue Kendalls einziger Gast. Kendall hatte gehofft, daß Matt sich schon allein deswegen bemühen würde, liebenswürdig mit ihr umzugehen. Statt dessen hatte ihn und Gibb Ricki Sues lautstarke Fröhlichkeit sichtlich abgestoßen. Ihr herzhaftes Lachen, das tief aus ihrem Busen zu steigen schien, war den beiden Männern richtig peinlich gewesen.

»Ich gebe ja zu, daß Ricki Sue keine aristokratische Südstaatendame ist.«

Matt schnaubte angesichts dieser Untertreibung. »Sie ist ungehobelt, Kendall. Gewöhnlich. Ich dachte, sie wäre so wie du. Weiblich und sympathisch und schön.«

»Sie hat ein schönes Wesen.«

Ricki Sue arbeitete am Empfang von Bristol und Mathers, jener Anwaltskanzlei, bei der auch Kendall früher beschäftigt gewesen war. Als sich die beiden Frauen zum ersten Mal begegneten, hatte sich Kendall von Ricki Sues ungeschliffener Fassade täuschen lassen.

Allmählich jedoch lernte sie die empfindsame Frau kennen und lieben, die sich unter dem etwas grellen Äußeren verbarg. Ricki Sue war keineswegs ein Trampel, sondern ausgesprochen praktisch, tolerant und vertrauenswürdig. Vor allem vertrauenswürdig.

»Bestimmt hat sie ein goldenes Herz«, gestand Matt widerwillig zu. »Und vielleicht kann sie nichts dafür, daß sie so fett ist. Aber sie geht auch ran wie eine Dampfwalze.«

Kendall zuckte zusammen, weil er ihre Freundin als fett bezeichnete, wo eine andere Umschreibung durchaus möglich gewesen wäre. Im Grunde hätte er sich diesen herablassenden Ton überhaupt verkneifen können.

»Wenn du ihr auch nur eine winzige Chance geben würdest ...«

Er legte ihr den Finger auf die Lippen. »Müssen wir uns an unserem Hochzeitstag vor all unseren Gästen über eine solche Bagatelle streiten?«

Sie hätte einwenden können, daß sein unhöfliches Benehmen ihrer Freundin gegenüber keineswegs eine Bagatelle war, mußte ihm aber recht geben, daß dies heute nicht paßte. Außerdem hielt sie von einigen seiner Freunde ebenfalls nicht allzuviel.

»Schon gut, schließen wir Waffenstillstand«, erklärte sie sich bereit. »Aber falls ich mich doch mit dir streiten wollte, dann über die vielen Frauen hier, die mich ständig anstarren. Wenn Blicke töten könnten, wäre ich bestimmt schon zerfetzt.«

»Wo? Wer?« Er sah sich witternd um, als hielte er Ausschau nach Rachegöttinnen.

»Das werde ich dir gerade verraten«, knurrte sie und packte ihn besitzergreifend am Revers. »Aber nur aus Neugier, wie viele Herzen hast du eigentlich gebrochen, als du mich geheiratet hast?«

»Wen interessiert das?«

»Im Ernst, Matt.«

»Im Ernst?« Er runzelte die Stirn. »Ehrlich, ich bin einer der wenigen Junggesellen in Prosper, der weder in der Pubertät noch total vergreist ist. Wenn du also ab und zu ein langes Gesicht in der Menge siehst, dann deshalb. Die nicht mehr ganz so jungen heiratsfähigen Damen der Stadt sind im statistischen Vergleich der Wahrscheinlichkeit von Eheschließung und Blitzschlag wieder ein Stückchen näher an den Blitz herangerückt.«

Seine Ironie erfüllte ihren Zweck – sie mußte lachen. »Wie dem auch sei, ich bin jedenfalls froh, daß du mit dem Heiraten auf mich gewartet hast.«

Er hörte zu tanzen auf, schloß sie in seine Arme, zog ihren Kopf zurück und küßte sie auf den Mund. »Ich auch.«

 

In Brautkleid und Schleier war es nicht leicht, unauffällig zu verschwinden, aber eine halbe Stunde später gelang es Kendall, unbemerkt ins Haus zu schlüpfen.

Sie mochte Gibbs Haus nicht, am wenigsten den protzigen Wohnbereich mit den dunklen, holzgetäfelten Wänden, die einen stilgerechten Hintergrund für seine Jagd- und Fischereitrophäen abgaben.

Für Kendall, die diesen Sportarten nicht das geringste abgewinnen konnte, sah ein auf Walnußholz montierter Fisch so erbärmlich aus wie der nächste. Wenn sie in die blinden Augen der Hirsche, Elche und anderer Tiere sah, empfand sie vor allem Mitleid und Ekel. Während Kendall durch das Wohnzimmer ging, warf sie einen beklommenen Blick auf den Kopf eines grimmigen, alten Keilers, der für alle Zeiten die Hauer blecken mußte.

Jagen und Fischen waren Gibbs Leben. Sein Laden für Jagd-und Fischereibedarf lag an Prospers Hauptstraße. Das Geschäft florierte hier in den Ausläufern der Blue Ridges im Nordwesten South Carolinas, nicht zuletzt dank eines anhänglichen Kundenstammes. Seine Getreuen fuhren viele Meilen, um ihr Geld an seiner Kasse abzuliefern.

Gibb war ein guter Verkäufer. Die Hobbyjäger und -fischer gaben viel auf seinen Rat und zückten bereitwillig ihre Visa-Cards, um all die Geräte, Feldstecher oder Köder zu erwerben, die er ihnen für einen erfolgreichen Ausflug empfahl. Oft kehrten sie mit ihrer Beute oder ihrem Fang zurück und schleiften die Kadaver geradewegs in seinen Laden, um sich dann über ihre Heldentaten mit Waffe, Falle oder Angel auszulassen.

Gibb geizte nicht mit Lob und brüstete sich nie mit den Ratschlägen, die er seiner »Gemeinde« gab. Man bewunderte ihn als Waidmann und als Mensch. Wer nicht von sich behaupten konnte, sein Freund zu sein, strebte danach, es zu werden.

Die Toilettentür war verriegelt. Kendall klopfte vorsichtig an.

»Moment noch.«

»Ricki Sue?«

»Bist du da draußen?«

Ricki Sue zog die Tür von innen auf. Sie wischte sich eben mit einem feuchten Handtuch das schweißnasse Dekolleté. »Ich schwitze einfach tierisch. Komm rein.«

Kendall raffte ihren Schleier zusammen, trat zu Ricki Sue in die Toilette und zog die Tür hinter sich zu. Es war zwar eng, doch sie genoß es, einen Moment mit ihrer Freundin allein zu sein.

»Wie ist dein Motelzimmer?« Es gab nur wenige Motels in Prosper. Kendall hatte das beste verfügbare Zimmer für Ricki Sue reservieren lassen, trotzdem war die Unterkunft fast spartanisch.

»Ich habe schon schlechter geschlafen. Und schlechter gevögelt«, antwortete sie und zwinkerte Kendall im Spiegel zu. »Ach, übrigens – bumst dein hübscher Hengst so gut, wie er aussieht?«

»Aus dem Nähkästchen zu plaudern ist nicht meine Art«, erwiderte Kendall. Sie lächelte scheu.

»Damit bescheißt du dich nur selbst, weil dir eine Menge Spaß entgeht.«

Bei Bristol und Mathers hatte Ricki Sue die Anwälte regelmäßig mit ihren Bettgeschichten erfreut. Einen um den anderen Morgen hatte sie bei der Kaffeerunde der unendlichen Seifenoper ihres Lebens eine neue Episode hinzugefügt. Manche ihrer Geschichten klangen einfach zu phantastisch, um noch glaubwürdig zu sein. Erstaunlicherweise war jedoch jede einzelne davon wahr.

»Ich mache mir Sorgen um dich, Ricki Sue. Es ist gefährlich, so oft den Partner zu wechseln.«

»Ich passe schon auf. Hab’ ich immer.«

»Das tust du bestimmt, trotzdem ...«

»Spar dir deine Moralpredigt, Süße. Ich versuche nur, das Beste aus dem zu machen, was Gott mir mitgegeben hat. Wenn man so aussieht wie ich, muß man die Männer nehmen, wie sie kommen. Ich kenne keinen, der sich in so was wie mich unsterblich verlieben würde.« Sie breitete die Arme aus. »Also, statt mir immer wieder das Herz brechen zu lassen oder als ewiges Mauerblümchen dahinzuwelken und schließlich als alte Jungfer zu vertrocknen, habe ich mich vor Jahren dazu entschlossen, einfach entgegenkommend zu sein.

Ich gebe ihnen, was sie wollen, und gebe es ihnen wirklich gut, das kannst du mir glauben. Wenn das Licht ausgeht und alle nackt sind, dann interessiert es niemanden, ob du wie eine Märchenprinzessin oder ein Warzenschwein aussiehst, solange du ein hübsches, warmes Fleckchen hast, wo sie ihn hineinstecken können. Im Dunkeln fühlt sich alles gut an, Kleine.«

»Eine traurige und zynische Lebenseinstellung.«

»Sie hat sich bewährt.«

»Aber woher willst du wissen, daß eines Tages nicht doch noch der Richtige in dein Leben tritt?«

Ricki Sues Lachen klang wie ein Nebelhorn. »Eher erwische ich den Hauptgewinn im Lotto.« Ihr Lächeln erlosch. Plötzlich wirkte sie in sich gekehrt. »Nicht, daß du einen falschen Eindruck bekommst: Ich würde mein Leben auf der Stelle gegen deines tauschen. Ich hätte zu gern einen Mann, einen Haufen freche Kinder, das ganze Tamtam.

Aber nachdem das mehr als unwahrscheinlich ist, sehe ich nicht ein, warum ich mich nicht amüsieren soll. Ich bin dankbar für Zuneigung in jeder Form. Natürlich tuscheln die Leute hinter meinem Rücken. ›Wie kann sie sich nur so von den Männern ausnutzen lassen?‹ In Wahrheit nutze ich sie aus. Denn leider ...« – sie hielt inne und musterte Kendall begehrlich, aber freundlich von Kopf bis Fuß – »sind nicht alle Frauen gleich. Ich sehe aus wie ein Walroß nach einer mißglückten Henna-Tönung, während du aussiehst wie... wie du.«

»Hör auf, dich so herunterzumachen. Außerdem dachte ich, du magst mich vor allem wegen meiner Klugheit«, zog Kendall sie auf.

»O ja, schlau bist du auch. So schlau, daß du mir ehrlich gesagt einen Heidenrespekt einjagst. Und du hast mehr Mumm als jeder andere, der mir bisher begegnet ist, und mir sind schon ein paar ziemlich zähe Hombres begegnet.«

Sie hielt inne und sah Kendall aufmerksam an. »Es freut mich, daß es hier so gut für dich läuft, Kleine. Du hast eine Menge riskiert. Und das tust du immer noch.«

»Bis zu einem gewissen Grad, ja.« Die junge Anwältin nickte. »Aber ich mache mir keine Sorgen. Es ist schon zuviel Zeit vergangen. Wenn es schiefgelaufen wäre, dann hätte längst alles auffliegen müssen.«

»Ich weiß nicht.« Ricki Sue klang nicht überzeugt. »Ich glaube immer noch, daß du total verrückt bist. Und wenn ich es noch mal tun müßte, würde ich dir noch mal davon abraten. Weiß Matt davon?«

Kendall schüttelte den Kopf.

»Solltest du es ihm nicht erzählen?«

»Weswegen?«

»Weil er dein Mann ist. Herrgott noch mal!«

»Was sollte das an seinen Gefühlen für mich ändern?«

Ricki Sue sann einen Augenblick nach. »Was meint deine Oma dazu?«

»Sie ist deiner Meinung«, gab sie widerstrebend zu. »Sie hat mir zugeredet, die Karten auf den Tisch zu legen.«

Da ihre Eltern gestorben waren, als Kendall fünf Jahre zählte, war Elvie Hancock die einzige Bezugsperson, an die Kendall sich erinnern konnte. Sie hatte das kleine Mädchen mit fester Hand, aber liebevoll erzogen. In den meisten wichtigen Fragen stimmte Kendall mit ihr überein. Sie gab viel auf das Urteilsvermögen und die Altersweisheit ihrer Großmutter.

Aber was die Frage betraf, ob völlige Aufrichtigkeit Matt gegenüber nötig sei, vertraten sie verschiedene Standpunkte. Kendall war überzeugt, daß sie sich tadellos verhielt. Leise erklärte sie: »Ihr beide müßt mir in dieser Sache vertrauen, Ricki Sue.«

»Also gut, Kleine. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, wenn eines Tages eine Leiche aus deinem Keller gerannt kommt und dich in den Hintern beißt.«

Kendall mußte über Ricki Sues drastische Metapher lachen. Sie beugte sich vor und umarmte ihre Freundin. »Du fehlst mir. Versprich mir, daß du mich oft besuchen kommst.«

Ricki legte das Handtuch mit übertriebener Sorgfalt zusammen. »Das wäre wahrscheinlich keine gute Idee.«

Kendalls Lächeln erstarb. »Warum nicht?«

»Weil dein Mann und sein Papa keinen Hehl daraus machen, was sie von mir halten. Nein, du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, kam sie Kendalls Einspruch zuvor. »Mir ist es scheißegal, was sie von mir denken. Sie erinnern mich zu sehr an meine eigenen selbstgerechten Eltern, als daß mir etwas an ihrer Meinung liegen würde. Ach, Mist. Ich wollte sie nicht schlecht machen, es ist bloß ...« Ihre stark geschminkten Augen flehten Kendall um Verständnis an. »Ich will nicht, daß es meinetwegen Probleme gibt.«

Kendall wußte genau, was ihre Freundin meinte, und sie rechnete Ricki Sue diese Selbstlosigkeit hoch an. »Du und Großmutter, ihr beide fehlt mir mehr, als ich gedacht hätte, Ricki Sue. Tennessee ist so ewig weit weg, ich brauche eine Freundin.«

»Dann such dir eine.«

»Ich habe schon meine Fühler ausgestreckt, aber bisher ohne Erfolg; die Frauen hier sind höflich, aber distanziert. Vielleicht nehmen sie mir übel, daß ich einfach so in ihre Stadt geplatzt bin und ihnen Matt weggeschnappt habe. Oder vielleicht stören sie sich an meinem Beruf. Sie leben ein vollkommen anderes Leben als ich. Außerdem könnte dich sowieso niemand als meine beste Freundin ersetzen. Bitte, schreib mich nicht ab.«

»Ich schreibe dich, weiß Gott, nicht ab. Habe selber nicht allzu viele Freunde. Aber betrachten wir die Sache einmal nüchtern.« Sie drückte mit beiden Händen Kendalls Schultern. »Abgesehen von mir ist deine Großmutter das letzte, was dich mit Sheridan, Tennessee, verbindet. Wenn sie stirbt, dann mußt du dieser Stadt ein für allemal den Rücken kehren, Kendall. Du mußt alle Bande lösen, mich eingeschlossen, darfst dein Glück nicht überstrapazieren.«

Kendall wußte, wie vernünftig der Rat ihrer Freundin war, und wiegte nachdenklich den Kopf. »Großmutter hat nicht mehr lange zu leben. Ich wünschte, sie wäre zusammen mit mir hergekommen, aber sie wollte nicht mehr umziehen. Daß ich nicht bei ihr bin, bricht mir das Herz. Du weißt, wie wichtig sie mir ist.«

»Und umgekehrt. Sie liebt dich. Sie hat immer dein Bestes gewollt. Wenn du glücklich bist, wird auch sie glücklich sterben. Mehr kannst du ihr nicht wünschen.«

Kendall mußte Ricki recht geben. Ihr schnürte es die Kehle zu. »Tu mir den Gefallen und kümmere dich um sie, Ricki Sue.«

»Ich rufe sie täglich an und besuche sie mindestens zweimal die Woche, wie versprochen.« Sie nahm Kendalls Hand und drückte sie aufmunternd. »Und jetzt laß mich zurück zur Party und zu dem überwältigenden Büfett. Vielleicht kann ich diesen Pillendreher zu einem weiteren Tänzchen beschwatzen. Irgendwie ist er süß, findest du nicht?«

»Er ist verheiratet.«

»Ach ja? Die haben Ricki Sues berühmte liebevolle Zuwendung oft am allernötigsten.« Sie tätschelte ihre ausladenden Brüste.

»Schäm dich!«

»Tut mir leid, das Wort ist mir fremd.« Mit einem kehligen Lachen schob sie Kendall beiseite und öffnete die Tür. »Ich laß dich jetzt allein. Obwohl ich zu gern dableiben und zusehen würde, wie du das anstellst.«

»Was denn?«

»In einem Hochzeitskleid zu pinkeln.«

2. Kapitel

»Wäre das alles, Miss?«

Die Frage riß Kendall aus dem Tagtraum, in dem sie noch einmal ihre Hochzeit durchlebt hatte. Sie erinnerte sich bis in die letzte Einzelheit an damals, aber empfand keinerlei Verbindung mehr dazu, als wäre all das einem anderen Menschen oder in einem anderen Leben geschehen.

»Ja, danke«, antwortete sie dem Kassierer.

Trotz des grauenhaften Wetters drängelten sich die Kunden im Supermarkt. In den Gängen stauten sich Einkaufswagen mit allem Erdenklichen, von Rollschuhen bis zum Nudelholz.

»Einhundertzweiundvierzig siebenundsiebzig. Bar, Scheck oder Karte?«

»Bar.«

Der junge Mann hatte sie nicht weiter beachtet. Sie war einfach eine von Hunderten Kunden, die an diesem Tag an der Kasse warteten. Falls es später zu einer Befragung käme, würde er sich bestimmt nicht an sie erinnern, sie nicht beschreiben können. Sie suchte die Anonymität.

Als sie vergangene Nacht endlich in das Bett des Gemeindekrankenhauses von Stephensville sank, war sie müder gewesen als jemals zuvor in ihrem Leben. Ihr ganzer Leib schmerzte und pochte nach dem Unfall. Während des mühsamen Aufstiegs aus der Schlucht hatte sie sich noch mehr Schnitte und Kratzer zugezogen, die sich im Lauf der Nacht immer störender bemerkbar machten.

Sie hatte sich verzweifelt nach Vergessen gesehnt, aber statt dessen kein Auge zugetan.

Wer sind Sie? Wer bin ich?

Er ist mein Mann.

Die Sätze hallten in ihrem Kopf. Mit müden, brennenden Augen starrte sie von ihrem Kissen aus zur schallisolierten Zimmerdecke hoch, wiederholte diese Sätze unentwegt und fragte sich, ob es nun genial oder wahnsinnig gewesen war, sie auszusprechen. Jetzt konnte sie sie nicht mehr zurücknehmen, und selbst wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie es nicht getan.

Seine Amnesie war nur vorübergehender Art. Deshalb mußte sie die Situation nutzen, solange er sich an nichts erinnerte. Sie hoffte, auf diese Weise Zeit zu gewinnen, um Kevin und sich selbst zu retten. Schließlich galten ihre Unternehmungen allesamt und ausschließlich Kevin. Um das Baby zu schützen, würde sie jede Chance nutzen, und sei sie noch so winzig.

Als man ihm eröffnet hatte, daß er unter Gedächtnisverlust leide, hatte er einen mittleren Aufstand veranstaltet. Er brauche vor allem Ruhe und Entspannung, um zu genesen, hatte ihm der Arzt erklärt. Ohnehin müsse er kürzertreten, damit sein Bein heilen konnte, warum also genoß er nicht den unerwarteten Zwangsurlaub? Je mehr er sich unter Druck setze, sein Gedächtnis wiederzufinden, desto langsamer werde es zurückkehren. Ein Gehirn unter Streß könne höchst eigensinnig und unkooperativ reagieren. Ständig wurde er ermahnt, einfach loszulassen.

Aber es wollte ihm nicht gelingen, nicht einmal dann, als auf den Vorschlag des Arztes hin Kendall Kevin in sein Zimmer trug. Der Anblick des Kindes hatte ihn nur noch mehr aufgeregt, und er hatte sich erst wieder beruhigt, als eine Krankenschwester das Baby wegbrachte.

Der Arzt hatte sich bemüht, ihr Mut zu machen, wobei er allerdings längst nicht mehr so selbstsicher wirkte. »Ich würde empfehlen, ihn die Nacht über allein zu lassen. Amnesie kann tückisch sein. Wahrscheinlich wird er sich an alles erinnern, wenn er morgen früh aufwacht.«

Sobald es hell wurde, hatte sie die Schwesternkleidung angezogen, die man ihr geliehen hatte, und huschte voller Bangen in sein Zimmer: Nichts hatte sich getan.

Als sie eintrat, zog er sich verlegen die Decke über die Hüften. Die Schwester hatte ihn eben fertig gewaschen, was ihm offensichtlich peinlich war. Sie sammelte ihre Utensilien ein und ließ die beiden allein.

Kendall machte eine unsichere Geste. »Fühlst du dich besser nach dem Waschen?«

»Ein bißchen. Aber es war gräßlich.«

»Männer sind meistens miserable Patienten.« Sie lächelte ihn fragend an und trat ans Bett. »Kann ich irgendwas für dich tun?«

»Nein, ist schon gut so. Euch ist nichts passiert? Dir und dem Kind?«

»Kevin und ich sind wie durch ein Wunder ohne einen schlimmeren Kratzer davongekommen.«

Er nickte. »Gut.«

Kendall merkte, daß ihn schon dieses kurze Gespräch anstrengte. »Ich muß ein paar Sachen erledigen. Wenn du was brauchst, dann ruf einfach die Schwestern. Sie scheinen recht nett zu sein.«

Er nickte wieder, diesmal ohne etwas zu sagen.

Sie wollte schon gehen, drehte sich aber auf eine Eingebung hin noch einmal um, beugte sich über ihn und küßte ihn auf die Stirn. Sofort schlug er die Augen wieder auf. Sein Blick war so bohrend, daß Kendall nur ein Flüstern hervorbrachte. »Ruh dich aus. Ich schaue später wieder herein.«

Hastig eilte sie davon und sprach draußen eine Schwester an. »Ich muß ein paar Dinge besorgen. Gibt es hier irgendwo ein Taxi?«

Lachend zog die Schwester ein Bund mit Autoschlüsseln aus der Tasche. »Vergessen Sie das mit dem Taxi, hier gibt es keins. Bis drei Uhr können Sie meinen Wagen haben, dann endet diese Schicht. Nehmen Sie auch meinen Regenmantel.«

»Vielen, vielen Dank.« Die unerwartete Großzügigkeit kam ihr sehr gelegen. »Kevin braucht dringend neue Sachen, und ich kann schließlich nicht ewig in einer Schwesternuniform herumlaufen. Ich muß dringend einkaufen.«

Die Schwester beschrieb ihr den Weg zum Supermarkt und meinte dann taktvoll: »Verzeihen Sie mir die indiskrete Frage, aber haben Sie überhaupt Geld, da doch all Ihre Sachen einschließlich Ihrer Papiere mit dem Auto untergegangen sind?«

»Zum Glück hatte ich ein bißchen in meiner Jackentasche«, erklärte sie der Schwester, die nicht ahnen konnte, wieviel Geld Kendall tatsächlich bei sich trug. Es war keineswegs nur »ein bißchen«. Kendall hatte eisern gespart, weil eine Katastrophe irgendwann eintreffen mußte! Von dem, was in ihrer Tasche steckte, konnten sie und ihr Kind eine ganze Weile leben. »Es ist zwar naß, aber gültig. Um Kevin und mir ein paar Sachen zu kaufen und uns beiden ein Zimmer zu suchen, reicht es.«

»In diesem Kaff gibt es ein einziges, mieses Motel. In dem sollten Sie Ihr Geld wirklich nicht lassen. Solange Sie ein Bett brauchen, können Sie hier im Krankenhaus bleiben.«

»Das ist sehr nett von Ihnen.«

»Nicht der Rede wert. Außerdem wollen Sie doch bestimmt hier sein, wenn Ihr Mann sein Gedächtnis wiederfindet. Tag oder Nacht.« Tröstend legte sie die Hand auf Kendalls Arm. »Das ist ganz schön belastend für einen allein. Können Sie wirklich niemanden anrufen, der Ihnen zur Seite steht? Ihre Familie vielleicht?«

»Niemanden. Wir haben kaum Verwandtschaft. Übrigens wollte ich Ihnen und den anderen dafür danken, daß Sie einverstanden waren, die Tote in Gegenwart meines Mannes nicht zu erwähnen. Er ist schon verwirrt und aufgewühlt genug. Ich möchte es nicht noch verschlimmern.«

Sogar der Deputy teilte die Auffassung, daß man dem Kranken den Todesfall nicht sofort mitzuteilen brauchte. Der Beamte war an diesem Morgen ins Krankenhaus zurückgekehrt, um Kendall zu berichten, was es Neues hinsichtlich des Wagens gab. Taucher hatten den Fluß abgesucht, hatte er erzählt, aber nichts finden können. Die Strömung mußte das Wrack weit von der Unfallstelle weggetrieben haben.

Er hatte dauernd den Kopf geschüttelt und erklärt, daß sich unmöglich sagen ließe, wann und wo es wieder auftauchen würde. »Der Bingham Creek fließt größtenteils durch total unberührte Wildnis mit so nassem Boden, daß wir kein schweres Gerät einsetzen können. Da der Regen wohl kaum demnächst aufhört, werden wir erst in ein paar Tagen weitersuchen können.«

In ein paar Tagen.

Sie hatten keine Ausweise bei sich. Fürs erste war das Autowrack mitsamt Inhalt unauffindbar. Niemand kannte ihren Aufenthaltsort. Sein Gedächtnis war verschüttet, sie hatte Zeit.

Wenn sie die Nerven behielt und es geschickt anstellte, konnte sie einen ordentlichen Vorsprung für sich herausholen. Versagte sie, würde das schreckliche Konsequenzen haben. Aber war sie jemals vor Taten zurückgeschreckt, wenn die Situation es erforderte? Die Lage war auch ausweglos gewesen, als sie nach Prosper zog.

Und noch auswegloser geworden, so daß sie fliehen mußte.

»Miß?«

Kendall schüttelte die Gedanken ab. »Verzeihung. Haben Sie etwas gesagt?«

»Ist noch was?« Der Kassierer sah sie verwundert an. Dabei wollte sie auf gar keinen Fall, daß er sich später an die Frau in der Schwesternkleidung erinnerte, die so weggetreten gewirkt hatte.

»Nein, nichts. Danke.«

Hastig raffte sie ihre Einkäufe zusammen und verschwand durch den Kassengang zum Ausgang, wo die Kunden darauf warteten, daß der Regen nachließ.

Kendall blieb nicht stehen. Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und stürzte sich in den Wolkenbruch. Kurz darauf fuhr sie mit dem geborgten Wagen zur nächsten Tankstelle und kaufte sich eine Lokalzeitung. Eilig überflog sie die Seiten und ging dann zu dem Münztelefon an der Seitenwand des Tankstellengebäudes.

»Hallo? Ich rufe wegen Ihrer Annonce an. Haben Sie den Wagen schon verkauft?«

 

»Seine Verletzungen sind also nicht so gravierend?«

»Ein gebrochenes rechtes Schienbein und eine Kopfwunde. Sonst fehlt ihm nichts.«

Kendall hatte den Arzt vor dem Krankenzimmer im Korridor abgefangen. Er trug Straßenkleidung und hatte Eau de Cologne für eine ganze Kompanie benutzt. Es eilte ihm offensichtlich, seine Schicht zu beenden und sich in den Samstagabend zu stürzen, aber Kendalls Fragen duldeten keinen Aufschub. Ihr verstörter Blick sagte ihm, daß ihr diese Auskunft nicht genügte. Er atmete mit einem tiefen Seufzer aus.

»Beides ist kein Kleinkram, aber auch keine Katastrophe. Wenn Ihr Mann sein Bein nicht belastet, sollte es in etwa sechs Wochen geheilt sein. Er durfte heute schon aufstehen, um die Krücken auszuprobieren. Wettrennen wird er freilich nicht gewinnen, aber wenigstens kann er sich bewegen.

Die Fäden ziehen wir in einer Woche bis zehn Tagen. Seine Schädelhaut wird eine Weile recht empfindlich sein, und vermutlich bleibt eine Narbe zurück, aber keine, die ihn wirklich entstellen würde. Er wird so gut aussehen wie zuvor.«

»Das sagten Sie bereits.« Kendall blieb reserviert, ohne auf sein vielsagendes Lächeln zu reagieren. »Die meisten Sorgen mache ich mir wegen der Amnesie.«

»Die ist nach einem Schlag auf den Kopf und einer Gehirnerschütterung nicht ungewöhnlich.«

»Aber normalerweise fehlen einem nur ein paar Minuten vor dem Unfall und die Ereignisse kurz danach, habe ich recht?«

»Das Wort normalerweise sollte man in der Medizin nie verwenden.«

»Trotzdem kommt es nicht oft vor, daß das Gedächtnis komplett ausfällt, oder?«

»Nicht oft, ja«, gab er widerwillig zu.

Am Nachmittag hatte sie alles gelesen, was in der kleinen Krankenhausbücherei über alle nur möglichen Formen von Amnesie verfügbar war. Was sie daraus entnommen hatte, stimmte mit der Einschätzung des Arztes überein. Dennoch war sie nicht zufrieden. Sie mußte alle Eventualitäten berücksichtigen, so unwahrscheinlich sie auch sein mochten.

»Wie steht es mit anterograder Amnesie?«

»Machen Sie sich nicht unnötig verrückt!«

»Ich möchte es trotzdem wissen.«

Er verschränkte die Arme vor der Brust und nahm eine Bringen-wir-es-hinter-uns-Haltung an.

Ohne sich von seiner Ungeduld in ihrer Ruhe beirren zu lassen, hakte Kendall nach: »Wenn ich richtig über anterograde Amnesie informiert bin, ist mein Mann zur Zeit möglicherweise nicht in der Lage, Informationen in seinem Gehirn zu speichern. Also, selbst wenn er sich schließlich an alles erinnert, was vor dem Unfall geschehen ist, wird er sich vielleicht an nichts von dem erinnern, was jetzt zwischen dem Unfall und dem Zeitpunkt passiert, an dem sein Gedächtnis zurückkehrt. Er würde alles Übrige wieder wissen, aber diese Zeitspanne wäre ausgelöscht.«

»Grundsätzlich haben Sie das richtig verstanden. Aber wie ich bereits sagte, sollten Sie sich darüber nicht den Kopf zerbrechen. Ich glaube nicht, daß das eintrifft.«

»Aber es könnte...«

»Trotzdem sollten Sie das nicht so pessimistisch sehen, okay?«

»Braucht er einen weiteren Schlag auf den Kopf, damit er sein Gedächtnis wiederfindet?«

»So was gibt es nur im Kino«, witzelte er. »In der Regel verläuft die Genesung weniger dramatisch. Sein Gedächtnis kehrt vielleicht in Bruchstücken und ganz allmählich zurück. Oder alles ist auf einen Schlag wieder da.«

»Oder es bleibt für immer verloren?«

»Das ist ausgesprochen unwahrscheinlich. Es sei denn, Ihrem Mann könnte aus irgendeinem Grund daran gelegen sein, sein Gedächtnis permanent zu blockieren.« Er hob die Brauen.

Kendall ignorierte seine kaum verhohlene Neugier, doch sie wußte, daß sie ihm Anlaß gegeben hatte, sich über das Thema auszubreiten, und daß er der Versuchung nicht widerstehen konnte, sein Wissen vor ihr zu demonstrieren.

»Sehen Sie, sein Unterbewußtsein könnte seine Kopfverletzung als günstigen Vorwand nutzen, etwas zu vergessen, an das er sich nicht erinnern möchte – etwas, mit dem er nur schwer oder gar nicht zu Rande kommt.« Er sah sie forschend an. »Gibt es einen Grund, warum sich sein Unterbewußtsein möglicherweise durch eine Amnesie schützen will?«

»Haben Sie auch einen Doktor in Psychologie?« Ihre Stimme klang zuckersüß, aber ihr Blick verriet, was sie von seiner Frage hielt. Er lief vor Entrüstung rot an. »Was mich zur nächsten Frage bringt«, fuhr sie fort, ehe er ihre Bemerkung kontern konnte. »Sollten wir nicht einen Spezialisten hinzuziehen? Vielleicht einen Neurologen aus einem größeren Krankenhaus?«

»Das ist bereits geschehen.«

»Ach so?« Diese Antwort überraschte sie.

»Ich habe in einem Krankenhaus in Atlanta angerufen«, erläuterte der Arzt, »mich mit dem dortigen Neurologen verbinden lassen, ihm das Krankenblatt Ihres Mannes gefaxt und ihm seinen Zustand und die Reflexe beschrieben. Ich habe ihm erklärt, daß erstens unsere Aufnahmen keine Gehirnblutungen erkennen lassen, zweitens keine Lähmungs- oder Taubheitserscheinungen in den äußeren Gliedmaßen des Patienten aufgetreten sind, drittens wir keine Auffälligkeiten beim Sprechen, keine Beeinträchtigungen des Blickfeldes und keine geistigen Fehlleistungen feststellen können – alles Symptome, die auf eine ernsthafte Gehirnschädigung hindeuten würden.«

Selbstgefällig schloß er: »Der Neurologe meinte, für ihn klinge das so, als hätte der Patient eins aufs Dach bekommen, so daß ihm eine Sicherung im Gedächtnis durchgebrannt sei. Seine Diagnose stimmte haargenau mit meiner überein.«

Kendall war erleichtert. Sie hatte zwar vor, von seiner Amnesie zu profitieren, aber sie wünschte ihm keinen bleibenden Schaden.

Wann er sein Gedächtnis wiederfinden würde, blieb allerdings weiterhin völlig offen. Vielleicht jetzt bald, vielleicht erst nächstes Jahr. Wieviel Zeit blieb ihr noch?

Sie mußte davon ausgehen, daß es nicht allzuviel war, und dementsprechend handeln.

Sie lächelte den Arzt an. »Danke, daß Sie sich die Mühe gemacht haben, meine Fragen zu beantworten. Verzeihen Sie, daß ich Sie aufgehalten habe. Haben Sie heute abend was vor?«

Nachdem sie erfahren hatte, was sie wissen mußte, wollte sie ihn jetzt ablenken. Am besten tat sie das, indem sie seinem Ego schmeichelte und das Gespräch auf ihn selbst brachte. Diese Taktik wandte sie oft bei Geschworenen an, wenn sie Beweise zerstreuen wollte, die ihrem Mandanten schaden konnten.

»Essen und Tanz in der Elk’s Lodge«, verriet er ihr.

»Klingt toll. Lassen Sie sich von mir nicht länger aufhalten.«

Er wünschte ihr einen guten Abend und strebte dem Hauptportal zu. Kendall wartete, bis er außer Sichtweite war, dann schlüpfte sie in das Zimmer des Kranken. Die Tür war nur angelehnt gewesen.

Über dem Bett brannte eine schwache Nachtlampe mit einem Metallschirm, deren Licht von seinem Gesicht weg und zur Decke hinauf gerichtet war. Sie sah nicht, daß seine Augen offen standen, deshalb zuckte sie zusammen, als er sie ansprach.

»Ich bin wach und möchte mit dir reden.«