Sandra Brown
Im Haus meines Feindes
Roman
Deutsch
von Wulf Bergner
blanvalet
»Sie ist reizend, Burke.«
»Ja, das ist sie.«
Nanci Stuart und er saßen auf Dredds Galerie in der Hollywoodschaukel. Dieser Labor Day – der erste Montag im September – war ein heißer, stiller, schwüler Tag. Die beiden ruhten sich im Schatten aus, während Dredd den anderen am Ende des Bootsanlegers Angelunterricht gab.
Burke fragte sich, woher die Fleischbrocken stammen mochten, die Dredd als Köder benützte. Seines Wissens waren niemals Nachforschungen nach den beiden Killern angestellt worden, die Gregory James in Duvalls Auftrag hierher begleitet hatten und spurlos verschwunden waren.
»Damit meine ich«, sagte Nanci, »daß Remy innerlich reizend ist.«
»Ich weiß, was du gemeint hast, Nanci. Das habe ich auch gemeint.«
Sie lachte, was ihn an die gute alte Zeit erinnerte, als Kevin noch gelebt hatte und sie zu dritt an ihrem Küchentisch gesessen hatten, um Kaffee zu trinken und sich freundschaftlich aufzuziehen. »Trotzdem ist dir bestimmt nicht entgangen, daß deine Zukünftige eine Schönheit ist.«
Er lächelte mit leicht schuldbewußtem Stolz wie ein kleiner Junge, der gerade den Ball besonders weit geschlagen hat – durchs Küchenfenster des Nachbarn. »Nein, das ist mir nicht entgangen.«
Er beobachtete, wie Remy Dredd aufmerksam zuhörte, seine Anweisungen mit der Entschlossenheit eines Neulings ausführte und dann strahlend lächelte, als er sie lobte.
Gott, wie er sie liebte. Seine Liebe war so stark, daß er manchmal erschrak. Manchmal schmerzte es auch. Mit jedem Tag nahm Duvalls Einfluß etwas mehr ab. Bald würde er nur noch eine düstere Erinnerung sein. Remy entwickelte sich zu einer selbstbewußten Frau, die sich ihrer selbst und seiner Liebe sicher war.
»Ihre Arbeit in der Galerie scheint ihr zu gefallen«, bemerkte Nanci.
»Diese Arbeit macht ihr wirklich Spaß. Und Remy versteht ihre Sache. Letzte Woche war ich wieder auf einer Vernissage. Ich habe nicht viel verstanden, als sie mit Kunden über die Bilder gesprochen hat, aber die Leute haben an ihren Lippen gehangen.«
»Du bist stolz auf sie.«
»Verdammt stolz«, bestätigte Burke ernsthaft. Ebenso aufrichtig fügte er hinzu: »Danke, daß du ihre Freundin geworden bist, Nanci. Deine Freundschaft bedeutet Remy viel. Sie hat nie eine richtige Freundin gehabt.«
»Das hat sich von selbst entwickelt. Ich mag sie sehr.«
Als er sich nach vorn beugte, um seine leere Coladose auf ein Holzfaß zu stellen, stieß er einen Stapel Ansichtskarten herunter. Er bückte sich, um sie aufzuheben.
»Hat Dredd einen Brieffreund?« fragte Nanci.
»Gewissermaßen. Ein alter Freund von uns beiden.«
Die Ansichtskarten waren etwa in Wochenabständen aus ganz Amerika gekommen. Keine trug eine Unterschrift. Alle stammten von Gregory James. Seine Mitteilungen waren knapp, immer nur wenige Sätze, und wären für jeden unverständlich gewesen, der die näheren Umstände der Flucht des jungen Mannes aus New Orleans nicht kannte. Gregory spielte auch auf Duvalls Tod und die große Erleichterung an, die er bei dieser Nachricht empfunden hatte. Durch seine Kartengrüße wollte Gregory sie wissen lassen, er sei in Sicherheit und mache sich ernsthaft Gedanken über seinen weiteren Lebensweg.
Seine letzte Karte war in Santa Fé aufgegeben. Der gesamte Text lautete: Lukas 15, 11–24. Dredd hatte in seiner Bibel nachgeschlagen und an der angegebenen Stelle das Gleichnis vom verlorenen Sohn gefunden.
»Er war längere Zeit fort«, erklärte Burke Nanci. »Aber ich habe das Gefühl, daß er allmählich zu uns zurückkommt.«
»Hey, ich hab’ einen gefangen!«
Dieser Ausruf ließ die beiden wieder zum Anleger hinübersehen, wo Flarra ihren Fang hochhielt, damit die anderen Angler ihn neidvoll bewundern konnten. David Stuart, Nancis Ältester, erbot sich, den Fisch vom Haken zu lösen. Nanci vertraute Burke an, Flarra habe die Überzeugung ihrer Söhne, alle Mädchen seien doof und zickig, schwer erschüttert.
»Bevor sie Flarra gekannt haben, wollten sie nie was mit Mädchen zu tun haben. Aber sie hat ihren Entschluß ins Wanken gebracht.«
»Flarra mag die beiden auch. Die arme Kleine hatte außer Remy niemals eine Familie. Aber sie ist ein tolles Mädchen. Hochintelligent. Mit viel Sinn für Humor. Und sie freut sich sehr darauf, ab Herbst auf eine gemischte Schule zu gehen.« Er fügte schmunzelnd hinzu: »Sie mag sogar mich. Ist ständig hinter mir her und will wissen, warum Remy noch nicht schwanger ist.«
»Remy hat mir anvertraut, daß ein Baby geplant ist.«
»Wir tun unser Bestes«, antwortete er und fühlte, wie seine Lippen sich zu einem Lächeln verzogen. Heutzutage lächelte er unglaublich viel.
»Ich freue mich, daß du glücklich bist, Burke.«
»Danke.«
»Übrigens …« Sie biß sich auf die Unterlippe. »Ich habe jetzt einen Freund.«
»Echt wahr? Das … das ist großartig, Nanci!«
»Findest du wirklich?« fragte sie schüchtern.
»Wenn er so ist, wie du es verdienst, dann ja.«
»Nun, ich weiß nicht, ob er so ist, wie ich es verdiene«, sagte sie verlegen. Dann lächelte sie strahlend. »Aber er ist schrecklich nett. Ein solider Geschäftsmann. Seine Frau ist vor ein paar Jahren an Krebs gestorben. Er hat sie geliebt, wie ich Kev geliebt habe, und das ist ein gutes Zeichen, findest du nicht auch?«
»Eindeutig. Wie versteht er sich mit den Jungen?«
»Bisher recht gut. Und ich finde, daß er in Jeans von hinten verdammt gut aussieht.«
»Das höre ich gern.«
»Aber er muß natürlich noch die Feuerprüfung bestehen.«
»Traue ich mich, danach zu fragen?«
»Dich zu treffen«, antwortete sie.
Er fühlte, wie sein neckendes Grinsen langsam verblaßte. Das war ihr Ernst. »Warum sollte mein Eindruck von ihm eine so große Rolle spielen?«
Sie griff nach seiner Hand. »Remy ist meine neue Freundin, aber du bleibst mein bester Freund. Dein Urteil ist mir sehr wichtig.« Sie wechselten einen bedeutungsvollen Blick, dann stand Nanci auf und klopfte den Hosenboden ihrer Leinenshorts ab. »Ich merke, daß Peter allmählich frustriert ist. Er braucht ein paar aufmunternde Worte.«
Als sie zu den anderen hinüberging, um ihren Sohn zu trösten, sah Burke ihr bewegt nach.
Er stand auf und ging in den Laden, als wolle er sich eine neue Getränkedose holen. Tatsächlich stützte er sich jedoch mit beiden Händen auf Dredds Ladentisch und starrte die staubigen Schokoriegel und Minisalamis unter der angelaufenen Glasabdeckung an.
Eine Minute später ging die Fliegengittertür quietschend auf. »Burke?« Remy kam herein und blieb neben ihm stehen. Sie legte ihm eine Hand aufs Kreuz. »Alles in Ordnung?«
Er reagierte auf ihre Besorgnis, indem er zu ihr hinübersah und schwach lächelte. Aber seine Augen konnte er nicht verstecken. »Was ist los?« fragte sie besorgt.
»Nichts.«
»Du bist traurig?«
»In Wirklichkeit bin ich glücklich.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und erzählte Remy, daß Nanci einen Verehrer hatte. »Ich bin ganz gerührt, weißt du, daß sie so großen Wert auf mein Urteil legt.«
»Sie vertraut dir absolut«, stellte Remy fest. »Das hat sie mir erst neulich beim Mittagessen erklärt.«
Die Nachricht von Duvalls Tod hatte weit über New Orleans und Louisiana hinaus Schlagzeilen gemacht. Im Anschluß daran waren ganze Artikelserien über die Korruptionsfälle im New Orleans Police Department und in der Stadtverwaltung, aber auch über die Sonderkommission geschrieben worden, die sie aufgedeckt hatte.
Als Joe Basile davon hörte, hatte er Burke angerufen, der ihm bestätigt hatte, dies sei die dienstliche Angelegenheit, mit der er befaßt gewesen sei. Joes Familie und Nanci Stuart konnten jetzt wieder unbesorgt heimkehren.
Am Abend vor Douglas Patouts Beerdigung hatte Burke Nanci seine Mitschuld an Kevins Tod gestanden. Sie hatten miteinander geweint, und Nanci hatte ihm für seine Offenheit gedankt. Für sie beide war das eine befreiende Erfahrung gewesen. Trotzdem litt Burke noch immer unter den Folgen seiner damaligen Fehleinschätzung.
»Nach allem, was ich getan habe«, sagte er jetzt, »begreife ich einfach nicht, wie Nanci mir verzeihen und mich weiter für ihren besten Freund halten kann.«
»Burke«, sagte Remy, indem sie ihn umarmte, »der einzige, der dir noch nicht verziehen hat, bist du. Der Justizminister hat dich damit beauftragt, alle Formen von Korruption bei der Polizei von New Orleans aufzuspüren. Staatsanwalt Littrell unternimmt in dieser Beziehung nichts, ohne deinen Rat einzuholen. Du wirst geachtet und bewundert.« Sie legte ihre Hände auf seine Brust. »Und zutiefst geliebt.«
»Ich brauche deine Nähe«, flüsterte er, zog sie an sich und ließ sein Kinn leicht auf ihrem Haar ruhen.
»Wenn ich mir die Jahre verzeihen kann, die ich mit Pinkie Duvall verbracht habe, kannst du dir doch diesen einzigen Fehler verzeihen, nicht wahr?«
Er hob ihr Gesicht an, küßte sie, verlor sich im Geschmack, der Wärme und der Weichheit ihrer Lippen, bis Remy den Kopf in den Nacken legte und murmelte: »Liebe mich.«
Er blickte über ihre Schulter und durchs Fenster auf den Anleger hinaus, wo die anderen redeten und lachten. »Was, jetzt?«
»Mh-hm.«
Mehr Ermunterung brauchte er nicht. Er zog sie an der Hand durch Dredds seltsam verschachtelte Räume, bis sie auf dem schmalen Bett ausgestreckt waren, in dem Remy schon einmal gelegen hatte, und beider Kleidungsstücke wie von einem Wirbelsturm verstreut um sie herum auf dem Boden lagen. Er küßte ihren Mund, ihre Kehle und ihre Brüste. Aber als er dann in sie eindringen wollte, überraschte sie ihn damit, daß sie die Initiative ergriff und etwas machte, was sie noch nie gemacht hatte.
Anfangs erhob er flüsternd Einwände, aber bald wurde er von wohligen Empfindungen so abgelenkt, daß er zu protestieren vergaß. Er stöhnte ihren Namen und vergrub seine Finger in ihrem Haar. Seine Hände folgten den Bewegungen ihres Kopfes, während sie ihn mit dem Mund liebte.
Dann bestieg sie ihn und nahm ihn ganz in sich auf. Es war überwältigend, wie sie ihn ritt, wie ihre Hinterbacken sich an seinen Oberschenkeln rieben, wie ihr Mund mit seinem verschmolz, als sie gemeinsam kamen.
Danach lagen sie still, ermattet und verschwitzt nebeneinander, wußten genau, daß sie sich hätten anziehen und wieder zu den anderen hinausgehen sollen, bevor ihre Abwesenheit bemerkt wurde, und blieben trotzdem liegen. »Du hast gelauscht, nicht wahr?« fragte sie leise.
»Hmm?« Ihn umfing noch immer unglaubliche Wohligkeit, und er war zu erschöpft, um mehr zu sagen.
»Du hast Pinkie und mich belauscht.«
Burke wurde schlagartig hellwach und räusperte sich verlegen. »Äh, ja. Ich habe in eurem Schlafzimmer eine Wanze versteckt.«
»Warum?«
»Ich habe mir eingeredet, ich könnte auf diese Weise etwas über Duvalls Drogengeschäfte erfahren. Aber das war eine Ausrede. In Wirklichkeit bin ich von dir richtig besessen gewesen. Der Gedanke daran, wie er dich liebt, war mir widerwärtig. Aber trotzdem war es eine Art stellvertretender …« Burke seufzte beschämt. »Himmel, ich bin anscheinend echt pervers.«
»Nein, nein, das bist du nicht.« Sie umarmte ihn noch fester, und sie schwiegen einige Zeitlang.
Dann fragte Burke sie, wie sie das mit der Wanze erraten habe.
Remy stützte sich auf einen Ellbogen, sah ihm ins Gesicht und strich ihm feuchte Haarsträhnen aus der Stirn. »Du hast bestimmte Sexpraktiken vermieden, weil du glaubst, sie könnten mich abstoßen. Du hast Angst, sie könnten mich an Pinkie erinnern.« Sie lächelte wehmütig. »Burke, nichts von allem, was wir tun, könnte mich an ihn erinnern – oder an irgend etwas, was ich bei Angel gehört oder gesehen oder erlebt habe. Das ist nicht das gleiche. Mit dir geschieht alles zum ersten Mal. Es ist neu. Unverfälscht. Richtig. Es macht mir Freude, dich zu lieben. Es ist etwas ganz anderes.«
Burke griff nach ihrer Hand und drückte die Handfläche an seine Lippen. Er wollte Remy sagen, wie sehr er sie liebte, aber er war zum zweitenmal an diesem Nachmittag zu bewegt, um etwas sagen zu können.
Außerdem wußte sie es bereits.
»Die sprechen ihn frei!« Burke Basile streckte die Finger seiner rechten Hand und ballte sie dann zur Faust. Diese unwillkürliche Streckbewegung hatte er sich in letzter Zeit angewöhnt. »Er wird unter gar keinen Umständen schuldig gesprochen.«
Captain Douglas Patout, der Chef des Drogen- und Sittendezernats des New Orleans Police Departments, seufzte entnervt. »Vielleicht.«
»Nicht ›vielleicht‹. Die sprechen ihn frei«, wiederholte Burke nachdrücklich.
Nach kurzer Pause fragte Patout: »Warum hat Littrell die Anklage in diesem Fall ausgerechnet diesem Staatsanwalt übertragen? Er ist neu hier, lebt erst seit ein paar Monaten im Süden, ist aus dem Norden hierher verpflanzt worden. Aus Wisconsin oder so ähnlich. Er hat die … Nuancen dieses Verfahrens nicht begriffen.«
Burke, der aus seinem Fenster gestarrt hatte, drehte sich wieder um. »Pinkie Duvall hat sie dagegen recht gut begriffen.«
»Dieser aalglatte Wortverdreher! Er tut nichts lieber, als auf die Polizei einzuschlagen und uns alle als unfähig hinzustellen.«
Obwohl es Burke widerstrebte, den Strafverteidiger zu loben, sagte er: »Eins muß man ihm lassen, Doug, sein Schlußplädoyer war brillant. Eindeutig gegen die Polizei, aber ebenso eindeutig für die Gerechtigkeit. Die zwölf Geschworenen haben jedes Wort gierig aufgesogen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Sie beraten seit einer halben Stunde. Ich würde sagen, in zehn Minuten sind sie wieder da.«
»Glaubst du wirklich, daß es so schnell geht?«
»Ja, glaub’ ich.« Burke setzte sich auf einen zerschrammten Stuhl mit hölzernen Armlehnen. »Nüchtern betrachtet, haben wir nie ein Chance gehabt. Welcher Staatsanwalt die Anklage auch vertreten hätte, mit welchen juristischen Tricks beide Seiten auch gearbeitet haben mögen – es steht leider fest, daß Wayne Bardo nicht abgedrückt hat. Er hat die Kugel, die Kevin den Tod brachte, nicht abgefeuert.«
»Ich wollte, ich hätte fünf Cent bekommen für jedes Mal, das Pinkie Duvall das während der Verhandlung gesagt hat«, meinte Patout mißmutig. »›Mein Mandant hat die tödliche Kugel nicht abgefeuert.‹ Das hat er gebetsmühlenhaft wiederholt.«
»Leider ist es die Wahrheit.«
Dieses Thema hatten sie mindestens schon tausendmal diskutiert – grübelnd, Vermutungen anstellend, aber immer wieder auf die eine unangenehme, unbestreitbare, unumkehrbare Tatsache zurückkommend: Der in diesem Verfahren angeklagte Wayne Bardo hatte Detective Sergeant Kevin Stuart faktisch nicht erschossen.
Burke Basile rieb sich müde seine von dunklen Ringen umgebenen Augen, strich sich das zerzauste, lockige Haar aus der Stirn, fuhr sich über den Schnurrbart und rieb dann nervös über seine Oberschenkel. Er streckte die Finger seiner rechten Hand. Zuletzt stützte er die Ellbogen auf die Knie, ließ die Schultern entmutigt nach vorn hängen und starrte blicklos auf den Fußboden.
Patout musterte ihn prüfend. »Du siehst verdammt schlecht aus. Warum gehst du nicht raus und rauchst eine Zigarette?«
Burke schüttelte den Kopf.
»Wie wär’s mit einem Kaffee? Ich hole dir einen, bringe ihn dir, damit die Reporter nicht über dich herfallen können.«
»Nein, vielen Dank.«
Patout setzte sich auf den Stuhl neben Burke. »Wir dürfen den Fall noch nicht abschreiben. Die Geschworenen sind oft unberechenbar. Man glaubt, man hätte so einen Dreckskerl überführt, und er verläßt den Gerichtssaal als freier Mann. Ein andermal rechnet man mit einem sicheren Freispruch, aber sie sprechen ihn schuldig, und der Richter verhängt die Höchststrafe. Im voraus weiß man das nie.«
»Ich schon«, murmelte Burke hartnäckig. »Bardo wird freigesprochen.«
Eine Zeitlang sagte keiner der beiden Männer etwas, um das bedrückende Schweigen zu brechen. Dann meinte Patout: »Heute ist der Jahrestag der mexikanischen Verfassung.«
Burke sah auf. »Wie bitte?«
»Der mexikanischen Verfassung. Sie wurde am fünften Februar angenommen. Das habe ich heute morgen in meinem Terminkalender gelesen.«
»Hmmm.«
»Allerdings hat nicht dringestanden, in welchem Jahr. Vor mindestens hundert Jahren, schätze ich.«
»Hmmm.«
Als dieses Thema erschöpft war, schwiegen sie wieder und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Burke überlegte, wie er sich in den ersten Sekunden nach der Urteilsverkündung verhalten sollte.
Daß es zu einer Gerichtsverhandlung kommen würde, hatten sie von Anfang an gewußt. Pinkie Duvall würde nicht im Traum daran denken, einen Deal mit der Anklagebehörde anzustreben, wenn er den Freispruch für seinen Mandanten schon so gut wie in der Tasche zu haben glaubte. Und Burke hatte ebenfalls gewußt, wie dieser Prozeß ausgehen würde. Jetzt, wo der Augenblick der Wahrheit bevorstand – falls seine schlimmen Vorahnungen sich bestätigten –, machte er sich darauf gefaßt, gegen die Wut anzukämpfen, die er empfinden würde, wenn er sah, wie Bardo das Gerichtsgebäude als freier Mann verließ.
Gott behüte ihn davor, diesen Dreckskerl mit bloßen Händen zu erwürgen.
Eine große, brummende Stubenfliege, die nicht in diese Jahreszeit paßte und von Insektiziden high war, hatte sich irgendwie in den kleinen Raum im Gerichtsgebäude des Orleans Parish verirrt, in dem schon unzählige Anklagevertreter und Angeklagte angstvoll geschwitzt hatten, während sie auf den Spruch der Geschworenen gewartet hatten. Bei ihren verzweifelten Fluchtversuchen prallte die Fliege immer wieder mit einem selbstmörderischen kleinen Platsch! gegen die Fensterscheibe. Das arme Fliegenvieh wußte nicht, daß es verloren hatte. Es erkannte nicht, daß es sich mit seinen vergeblichen Versuchen, so tapfer sie auch waren, nur zum Narren machte.
Burke unterdrückte ein selbstkritisches Auflachen. Daß er sich mit dem vergeblichen Bemühen einer Stubenfliege identifizieren konnte, bewies ihm, daß er auf einem absoluten Tiefpunkt angelangt war.
Als das Klopfen ertönte, wechselten Patout und er zuerst einen Blick, bevor sie zur Tür hinübersahen, die von der Gerichtsdienerin geöffnet wurde. Sie steckte den Kopf herein. »Die Geschworenen sind wieder im Saal.«
Auf dem Weg zur Tür warf Patout einen Blick auf seine Uhr und murmelte: »Verdammt! Genau zehn Minuten.« Er sah zu Burke hinüber. »Wie hast du das erraten?«
Aber Burke hörte nicht zu. Seine Aufmerksamkeit galt der offenen zweiflügeligen Tür des Gerichtssaales am Ende des Korridors. Prozeßbeobachter und Medienvertreter strömten durch das Portal, aufgeregt wie Kolosseumsbesucher im alten Rom bei der Aussicht darauf, daß ein paar Märtyrer von Löwen zerfleischt werden.
Kevin Stuart – Ehemann, Familienvater, verdammt guter Cop und bester Freund – war einen Märtyrertod gestorben. Wie bei vielen Märtyrern im Lauf der Geschichte war sein Tod die Folge eines Verrats. Jemand, dem Kevin vertraut hatte, jemand, der auf seiner Seite hätte stehen und ihn unterstüzten sollen, war zum Verräter geworden. Ein anderer Cop hatte die Bösen gewarnt, daß die Guten unterwegs waren.
Ein heimlicher Anruf von irgend jemandem aus ihrem Dezernat, und Kevin Stuarts Schicksal war besiegelt. Gewiß, er war im Dienst umgekommen, aber das machte ihn nicht weniger tot. Sein Tod war unnötig gewesen. Unnötig und blutig. Mit diesem Verfahren wurde lediglich ein Schlußstrich gezogen. Der Prozeß war nur eine teure und zeitraubende Übung, der eine zivilisierte Gesellschaft sich unterzog, um die Tatsache zu kaschieren, daß sie einen Dreckskerl laufenließ, nachdem er dem Leben eines anständigen Menschen ein Ende gesetzt hatte.
Die Auswahl der Geschworenen hatte zwei Wochen gedauert. Der Staatsanwalt war von Anfang an vom Strafverteidiger, dem glanzvollen Pinkie Duvall, eingeschüchtert und ausgetrickst worden. Ohne auf energische Gegenwehr seitens der Anklagebehörde zu stoßen, hatte Duvall sämtliche Einspruchsmöglichkeiten genutzt, um die Geschworenenbank mit handverlesenen Leuten zu besetzen, die seinen Mandanten vermutlich begünstigen würden.
Der Prozeß selbst hatte nur vier Tage gedauert. Aber seine Kürze stand in umgekehrtem Verhältnis zu dem Interesse der Öffentlichkeit an seinem Ausgang. Voraussagen hatte es reichlich gegeben.
Am Morgen nach dem tödlichen Vorfall wurde der Polizeipräsident mit den Worten zitiert: »Jeder unserer Beamten fühlt diesen Verlust und ist persönlich betroffen. Kevin Stuart war im Kollegenkreis sehr beliebt und geachtet. Wir setzen alle uns zur Vergügung stehenden Mittel ein, um die genauen Umstände der tödlichen Schüsse auf diesen ausgezeichneten Beamten gründlich und vollständig aufzuklären.«
»Das Verfahren müßte sich rasch abschließen lassen«, hatte ein Leitartikler am ersten Prozeßtag in der Times Picayune geschrieben. »Durch einen krassen Fehler der Polizei hat einer ihrer Beamten den Tod gefunden. Tragisch? Bestimmt. Aber eine Rechtfertigung dafür, seinen Tod einem unschuldigen Sündenbock anzulasten? Meiner Ansicht nach nicht.«
»Der Staaatsanwalt vergeudet Steuergelder, indem er einen unschuldigen Bürger dazu zwingt, sich vor Gericht wegen einer erfundenen Anklage zu verantworten, die allein den Zweck hat, das New Orleans Police Department vor der öffentlichen Demütigung zu bewahren, die es wegen dieses Vorfalls verdient hätte. Alle Wähler wären gut beraten, sich an diese Farce zu erinnern, wenn Staatsanwalt Littrell sich zur Wiederwahl stellt.« Dieses Zitat stammte von Pinkie Duvall, dessen »unschuldiger« Mandant Wayne Bardo, geborener Bardeaux, ein Vorstrafenregister hatte, das so lang war wie die Brücke über den Lake Pontchartrain.
Pinkie Duvalls Beteiligung an einem Gerichtsverfahren sorgte immer für reges Medieninteresse. Jeder Wahlbeamte im öffentlichen Dienst wollte an dieser kostenlosen Publicity teilhaben und benützte den Prozeß gegen Bardo als Forum für sein oder ihr Programm, was immer es beinhalten mochte. Ungebetene Meinungen wurden so freigiebig unters Volk gebracht wie Konfetti an Mardi Gras.
Im Gegensatz dazu hatte Lieutenant Burke Basile seit der Nacht, in der Kevin Stuart umgekommen war, hartnäckiges, verächtliches Schweigen bewahrt. Während der Anhörungen vor Prozeßbeginn, während all der Anträge, die beide Seiten bei Gericht stellten, und inmitten der künstlich erzeugten Medienhysterie war dem schweigsamen Drogenfahnder, dessen Partner und bester Freund in jener Nacht, in der die Drogenrazzia schiefgelaufen war, einer Schußverletzung erlegen war, nichts Zitierbares zu entlocken gewesen.
Als er jetzt wieder den Verhandlungssaal betreten wollte, um den Spruch der Geschworenen zu hören, erklärte Burke Basile einem Reporter, der ihm sein Mikrofon unter die Nase hielt und wissen wollte, ob er etwas zu sagen habe, kurz und bündig: »Ja. Verpiß dich!«
Captain Patout, den die Reporter als höheren Polizeibeamten erkannten, wurde aufgehalten, als er Burke in den Saal zu folgen versuchte. Obwohl Patout sich weit diplomatischer ausdrückte als sein Untergebener, stellte er unmißverständlich fest, Wayne Bardo habe Stuarts Tod verschuldet und der Gerechtigkeit werde nur Genüge getan, wenn die Geschworenen auf schuldig erkannt hatten.
Burke saß bereits, als Patout sich wieder zu ihm gesellte. »Für Nanci wird das bestimmt schwierig«, meinte er besorgt, als er Platz nahm.
Kevin Stuarts Witwe saß in derselben Reihe wie sie, aber auf der anderen Seite des Mittelgangs. Rechts und links neben ihr hatten ihre Eltern Platz genommen. Burke beugte sich leicht nach vorn, erwiderte ihren Blick und nickte ihr aufmunternd zu. Aus ihrem schwachen Antwortlächeln sprach mehr Optimismus, als sie tatsächlich empfand.
Patout winkte ihr grüßend zu. »Andererseits ist sie ein tapferer Kerl.«
»Na klar, auf Nanci kann man immer zählen, auch wenn ihr Mann eiskalt umgelegt wird.«
Patout quittierte diese sarkastische Bemerkung mit einem Stirnrunzeln. »Dieser Seitenhieb war unnötig. Du weißt genau, was ich gemeint habe.« Burke äußerte sich nicht dazu. Nach kurzer Pause fragte Patout gespielt nonchalant: »Kommt Barbara noch?«
»Nein.«
»Ich dachte, sie würde vielleicht kommen, um dir moralische Unterstützung zu gewähren, falls die Sache für uns ungünstig ausgeht.«
Burke hatte keine Lust, ihm zu erklären, warum seine Frau es vorzog, der Verhandlung fernzubleiben. Er sagte einfach: »Wir haben vereinbart, daß ich sie anrufe, sobald das Urteil gesprochen ist.«
Aus den Lagern der beiden Prozeßparteien kamen ganz unterschiedliche Signale. Burke teilte Patouts Einschätzung, der Staatsanwalt habe als Vertreter der Anklage versagt. Nachdem er das Verfahren mehr schlecht als recht hinter sich gebracht hatte, saß er jetzt an seinem Tisch und klopfte mit dem Radiergummi an seinem Bleistift auf einen Schreibblock, auf dem er sich keine einzige Notiz gemacht hatte. Er wippte nervös mit dem linken Bein und machte den Eindruck, er wäre am liebsten woanders – notfalls zur Wurzelbehandlung auf einem Zahnarztstuhl.
Dagegen schienen Bardo und Duvall am Verteidigertisch über einen geflüsterten Scherz zu grinsen. Beide schmunzelten hinter vorgehaltener Hand. Burke wäre es schwergefallen, sofort zu sagen, wen er mehr haßte – den Berufsverbrecher oder seinen ebenso kriminellen Verteidiger.
Als Duvall von einem seiner Assistenten angesprochen wurde und sich abwandte, um in einem Schriftsatz zu blättern, lehnte Bardo sich auf seinem Stuhl zurück, hielt die Fingerspitzen seiner aneinandergelegten Hände unters Kinn und sah himmelwärts. Burke konnte sich nicht vorstellen, daß der Dreckskerl tatsächlich betete.
Bardo sah zu ihm hinüber, als spürte er, daß der Lieutenant ihn durchdringend anstarrte. In den kalt glitzernden dunklen Augen, die nun Burkes Blick erwiderten, hatte bestimmt noch niemals ein Anflug von Schuldbewußtsein gestanden. Reptilienschmale Lippen verzogen sich zu einem eisigen Lächeln.
Dann blinzelte Bardo ihm frech zu.
Burke wäre aufgesprungen, um sich auf den Kerl zu stürzen, wenn Patout, der diese unverschämte Geste beobachtet hatte, ihn nicht am Arm gepackt und zurückgehalten hätte.
»Mach keinen Unsinn, verdammt noch mal!« Gereizt fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu: »Drehst du jetzt durch, spielst du diesem Dreckskerl doch nur in die Hände. Das wäre der Beweis für alle negativen Behauptungen, die sie während dieses Prozesses über dich aufgestellt haben. Wenn du das willst, dann nur zu!«
Ohne diese Zurechtweisung auch nur mit einer Antwort zu würdigen, riß Burke sich von seinem Vorgesetzten los. Bardo, der weiter selbstgefällig grinste, sah wieder nach vorn. Im nächsten Augenblick rief die Gerichtsdienerin den Saal zur Ordnung, und der Richter nahm seinen Platz wieder ein. Mit einer Stimme, die so honigsüß war wie Geißblattnektar im Sommer, ermahnte er die Zuhörer, sich anständig zu betragen, wenn der Spruch der Geschworenen verkündet werde, und wies dann die Gerichtsdienerin an, die Geschworenen hereinzuholen.
Sieben Männer und fünf Frauen nahmen auf der Geschworenenbank Platz. Sieben Männer und fünf Frauen hatten einstimmig entschieden, Wayne Bardo treffe keine Schuld daran, daß Detective Sergeant Kevin Stuart erschossen worden sei.
Das hatte Burke Basile erwartet, aber es war schwerer zu verkraften, als er es sich vorgestellt hatte, und er hatte sich schon vorgestellt, es würde unmöglich zu verkraften sein.
Trotz der Ermahnungen des Richters beherrschten oder verbargen die Zuhörer ihre Reaktionen nicht. Nanci Stuart stieß eine spitzen Schrei aus, dann sackte sie zusammen. Ihre Eltern schützten sie vor den Kamerascheinwerfern und der gierig herandrängenden Reportermeute.
Der Richter dankte den Geschworenen und entließ sie. Sobald der Richter die Verhandlung mit lauter Stimme offiziell geschlossen hatte, stopfte der unfähige Staatsanwalt seinen unbenützten Schreibblock hastig in seinen neu aussehenden Aktenkoffer und trabte den Mittelgang entlang, als hätte jemand »Feuer!« gerufen. Er wich Burkes und Patouts Blicken aus.
Burke glaubte auf seiner Stirn lesen zu können, was der andere dachte: Es ist nicht meine Schuld. Manchmal gewinnt man, manchmal verliert man. Wie es auch ausgeht, am Freitag gibt’s den nächsten Gehaltsscheck, also was soll’s.
»Arschloch«, murmelte Burke.
Am Verteidigertisch herrschte wie erwartet Jubel, und der Richter hatte es aufgegeben, ihn unterbinden zu wollen. Pinkie Duvall sprach wortgewandt in die hingehaltenen Mikrofone. Wayne Bardo trat von einem Bally-Slipper auf den andern und wirkte selbstzufrieden und gelangweilt, während er seine Manschetten etwas weiter aus den Jackenärmeln zog. Seine mit Brillanten besetzten Manschettenknöpfe glitzerten im Licht der Fernsehscheinwerfer. Burke sah, daß die Stirn des Mannes mit dem dunklen Teint nicht einmal feucht war. Der Dreckskerl hatte genau gewußt, daß er auch diesmal wieder straffrei davonkommen würde.
Patout, der als Polizeisprecher fungierte, weil der Vorfall sein Dezernat betraf, war damit beschäftigt, Reporter und ihre Fragen abzuwehren. Burke behielt Bardo und Duvall im Visier, während sie sich triumphierend durch die Reportermeute zum Ausgang vorarbeiteten. Sie wichen keiner Kamera und keinem Mikrofon aus. In der Tat pflegte und genoß Duvall jegliche Publicity, deshalb sonnte er sich auch jetzt im Scheinwerferlicht. Im Gegensatz zum Staatsanwalt hatten sie es nicht eilig, den Saal zu verlassen, sondern ließen sich absichtlich Zeit, um den Beifall ihrer Anhänger einzuheimsen.
Sie wichen Burke Basiles Blick auch nicht aus.
Sie gingen im Gegenteil langsamer, als sie an der Reihe vorbeikamen, an deren Ende Burke stand und seine rechte Hand zur Faust ballte und die Finger wieder streckte. Beide starrten Burke ganz bewußt ins Gesicht.
Wayne Bardo beugte sich sogar leicht vor und stellte flüsternd eine Burke verhaßte, aber unwiderlegbare Tatsache fest. »Ich hab’ diesen Cop nicht erschossen, Basile. Sie waren es.«
»Remy?«
Sie drehte sich um und strich sich mit dem Rücken ihrer in einem Gummihandschuh steckenden Hand eine Haarsträhne aus der Stirn. »Hallo. Ich habe dich nicht so früh erwartet.«
Pinkie Duvall stolzierte den Mittelgang des Treibhauses entlang, schloß sie in die Arme und küßte sie nachdrücklich. »Ich habe gewonnen.«
Sie erwiderte sein Lächeln. »Das habe ich mir gedacht.«
»Wieder ein Freispruch.«
»Glückwunsch.«
»Danke, aber diesmal war es kaum eine Herausforderung.« Ein breites Grinsen zeigte, daß seine Bescheidenheit nur gespielt war.
»Für einen weniger brillanten Anwalt wäre es eine gewesen.«
Sein Grinsen wurde noch breiter, denn er freute sich über ihr Lob. »Ich fahre ins Büro, um ein paar Anrufe zu erledigen, aber wenn ich zurückkomme, bringe ich die ganze Gesellschaft mit. Roman hat dafür gesorgt, daß alles in Bereitschaft ist. Als ich reingekommen bin, sind schon die ersten Lieferwagen vom Partyservice vorgefahren.«
Ihr Butler Roman und das gesamte Hauspersonal hatten sich seit Prozeßbeginn in Alarmbereitschaft befunden. Die Partys, die Pinkie zur Feier seiner Siege gab, waren so berühmtberüchtigt wie der protzige Brillantring, den er am kleinen Finger der rechten Hand trug und dem er seinen Spitznamen »Pinkie« verdankte.
Seine Siegesfeiern nach einem Prozeß wurden so begierig erwartet wie die Verfahren selbst und von den Medien ausführlich geschildert. Remy hatte den Verdacht, daß manche Geschworenen nur deshalb für einen Freispruch stimmten, um endlich auch einmal eine von Pinkie Duvalls berühmten Feten miterleben zu können.
»Kann ich bei den Vorbereitungen irgendwie helfen?« Natürlich gab es für Remy nichts zu tun, was sie schon im voraus wußte.
»Du brauchst nur zu kommen und so wunderbar wie immer auszusehen«, erklärte er ihr, ließ seine Hände über ihren Rücken gleiten und küßte sie nochmals. Dann ließ er sie los und wischte ihr ein paar Krümel Erde von der Stirn. »Was machst du überhaupt hier? Du weißt doch, daß ich hier drinnen nicht allzuviel Betrieb haben will.«
»Hier war auch kein Betrieb. Ich bin allein hergekommen. Ich habe einen Farn aus dem Haus rübergebracht, weil er nicht gesund aussieht und wahrscheinlich ein bißchen Dünger braucht. Keine Angst, ich habe deine Pflanzen nicht angefaßt.«
Das Treibhaus war Pinkies Reich. Die Orchideenzucht war sein Hobby, aber er nahm es sehr ernst und achtete im Treibhaus ebenso auf Ordnung und Präzision wie in seiner Anwaltskanzlei und allen übrigen Lebensbereichen.
Jetzt nahm er sich einen Augenblick Zeit, um die Reihen der von ihm gezogenen Pflanzen stolz zu betrachten. Nur wenige seiner Freunde und noch weniger seiner Feinde wußten, daß Pinkie Duvall mit Leidenschaft Orchideen züchtete und ein Experte auf diesem Gebiet war.
Extreme Maßnahmen stellten sicher, daß im Treibhaus immer ideale Kulturbedingungen herrschten. Es gab dort sogar einen eigenen Raum für die Meß- und Steuergeräte, die das empfindliche Treibhausklima regelten. Pinkie hatte sich gründlich mit der Orchideenzucht beschäftigt und nahm alle drei Jahre am internationalen Orchideenkongreß teil. Er wußte genau, bei welcher Beleuchtung, Luftfeuchtigkeit und Temperatur jede einzelne Orchideenart am besten gedieh. Ob Cattleyen, Laelien, Cymbidien oder Oncidien – Pinkie pflegte und hegte sie wie eine Krankenschwester eine Frühgeburt und bot allen den Nährboden, die Belüftung und die Feuchtigkeit, die sie brauchten. Als Gegenleistung erwartete er, daß seine Pflanzen beispielhaft und außergewöhnlich gediehen.
Ganz als wollten sie ihren Gebieter nicht enttäuschen, taten sie das auch.
Im allgemeinen. Aber jetzt runzelte er die Stirn, während er auf eine Gruppe von Pflanzen mit der Bezeichnung Oncidium varicosum zutrat. Ihre Rispen waren dicht mit Blüten besetzt – aber nicht so üppig wie die ihrer Nachbarn. »Diese blöden Dinger habe ich wochenlang aufgepäppelt. Was ist mit ihnen los? Das ist eine verdammt schlechte Leistung.«
»Vielleicht hatten sie noch nicht genug Zeit, sich wirklich …«
»Sie hatten reichlich Zeit.«
»Manchmal dauert’s einfach etwas länger, bis …«
»Es sind minderwertige Pflanzen. Mehr ist dazu nicht zu sagen.« Pinkie griff gelassen nach einem der Töpfe und ließ ihn zu Boden fallen. Er zerschellte beim Aufprall auf die Bodenfliesen, und ein Häufchen aus Tonscherben, Orchideensubstrat und geknickten Blütenrispen blieb zurück. Wenig später folgte der nächste Topf.
»Nein, Pinkie, nicht!« Remy kauerte sich nieder und barg eine der zarten Pflanzen zwischen ihren Händen.
»Laß sie liegen«, sagte er gleichmütig, indem er bereits den nächsten Topf zerschellen ließ. Er verschonte keinen einzigen. Wenig später lag die ganze Gruppe in Trümmern auf den Fliesen. Er trat auf einen der Rispen und zermalmte die Blüten unter seinem Absatz. »Sie haben das Gesamtbild des Treibhauses ruiniert.«
Remy war über diese Vergeudung empört und fing an, die Pflanzen einzusammeln, aber Pinkie sagte: »Gib dich nicht damit ab. Ich schicke einen der Gärtner her, damit er saubermacht.«
Bevor er ging, hatte sie ihm versprochen, gleich hineinzugehen und sich für die Party umzuziehen, aber sie verließ das Treibhaus nicht sofort, sondern kehrte die zertrümmerten Orchideentöpfe selbst auf. Sie achtete darauf, alle von ihr benützten Gegenstände wegzuräumen und das Treibhaus mustergültig aufgeräumt zurückzulassen.
Der mit Natursteinplatten belegte Weg zum Haus schlängelte sich über den Rasen. Alte, moosbewachsene Eichen beugten sich über sorgfältig gepflegte Blumenbeete. Die Bäume hatten schon hier gestanden, lange bevor das Haus im neunzehnten Jahrhundert erbaut worden war.
Remy betrat es durch einen der Hintereingänge und benützte die rückwärtige Treppe, um nicht an Küche, Anrichteraum und Speisezimmer vorbeigehen zu müssen. Aus dem Speisezimmer war die scharfe Stimme der Chefin eines Partyservices zu hören, die ihrem halben Dutzend Mitarbeitern knappe Anweisungen erteilte. Bis Pinkie und seine Gäste eintrafen, wäre alles fertig und die Versorgung mit Speisen und Getränken würde reibungslos funktionieren.
Remy wußte, daß sie kaum Zeit genug hatte, sich für die Party umzuziehen, aber inzwischen waren schon Vorbereitungen getroffen worden, um diesen Vorgang zu beschleunigen. Ein Dienstmädchen hatte ihr bereits ihr Bad eingelassen und wartete auf weitere Anweisungen. Sie besprachen gemeinsam, was Remy tragen würde, und nachdem alles herausgelegt war, ließ das Dienstmädchen sie allein, damit sie baden konnte, was sie rasch tat, weil sie wußte, daß sie für Frisur und Make-up einige Zeit brauchen würde. Pinkie erwartete, daß sie bei seinen Partys immer besonders hübsch aussah.
Als sie fünfzig Minuten später an ihrem Toilettentisch saß und noch etwas Rouge auflegte, hörte sie jemanden ins Schlafzimmer kommen. »Bist du’s, Pinkie?«
»Ein anderer hat hier ja hoffentlich nichts zu suchen!«
Sie stand auf, ging aus dem Ankleideraum ins Schlafzimmer hinüber und nickte dankend, als er einen anerkennenden Pfiff ausstieß. »Möchtest du einen Drink?«
»Bitte.« Er begann sich auszuziehen.
Bis sie ihm einen Scotch eingeschenkt hatte, war er schon ganz ausgekleidet. Auch mit fünfundfünfzig war Pinkie noch beeindruckend fit. Er stählte seinen Körper durch tägliches Krafttraining und leistete sich einen eigenen Masseur. Er war stolz darauf, sich seine Schlankheit bewahrt zu haben – trotz seiner Vorliebe für große Weine und die exquisite einheimische Küche mit ihren berühmten Desserts wie Brotpudding mit Whiskeysauce und Sahnepralinen mit Pecannußfüllung.
Er küßte Remy auf die Wange, griff nach dem Highballglas, das sie ihm hinhielt, und nahm einen kleinen Schluck von dem teuren Scotch. »Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht – du hast dich ja gewaltig zurückgehalten. Du hast es nicht erwähnt, obwohl ich weiß, daß du’s gesehen hast.«
»Ich fand, du sollst entscheiden, wann du’s mir geben willst«, sagte sie zurückhaltend. »Woher hätte ich außerdem wissen sollen, daß es für mich ist?«
Er lachte halblaut, als er ihr die als Geschenk verpackte flache Schachtel gab.
»Aus welchem Anlaß?«
»Ich brauche keinen Anlaß, um meiner schönen Frau ein Geschenk zu machen.«
Sie knüpfte das schwarze Satinband auf und zog das Goldpapier vorsichtig ab. Pinkie lachte wieder halblaut.
»Warum lachst du?« fragte sie.
»Die meisten Frauen reißen Geschenkpapier mit unverhohlener Gier auf.«
»Ich genieße ein Geschenk lieber.«
Er streichelte ihre Wange. »Weil du als kleines Mädchen nicht viele bekommen hast.«
»Bis ich dich kennengelernt habe.«
Unter dem Goldpapier kam ein mit schwarzem Samt bezogenes Etui zum Vorschein, in dem auf weißem Satin eine Platinkette lag, an der ein mit länglichen Diamanten eingefaßter Aquamarin im Smaragdschnitt hing.
»Ein wundervolles Stück«, flüsterte Remy.
»Es ist mir aufgefallen, weil dieser Stein genau die Farbe deiner Augen hat.« Pinkie stellte sein Glas auf den Nachttisch, nahm das Kollier aus dem Etui und drehte sich um. »Auf die kannst du einen Abend lang verzichten, glaube ich«, sagte er, indem er ihr die Goldkette mit dem Kreuz abnahm, die sie sonst immer trug. Er ersetzte sie durch das neue Kollier und schob Remy dann auf einen Standspiegel aus dem achtzehnten Jahrhundert zu, der einst das Prunkstück im Pariser Boudoir einer dem Untergang geweihten französischen Adeligen gewesen war.
Über ihre Schulter hinweg musterte er kritisch ihr Spiegelbild. »Hübsch, aber nicht perfekt. Das Kleid paßt irgendwie nicht dazu. Schwarz wäre viel besser. Tief ausgeschnitten, damit der Stein direkt auf deiner Haut liegt.«
Er zog den Reißverschluß des Kleides auf und streifte es von ihren Schultern. Dann hakte er ihren trägerlosen Büstenhalter auf und zog ihn weg. Als sie den Stein am Ansatz ihrer Brüste ruhen sah, wandte Remy den Blick vom Spiegel ab und verschränkte die Arme.
Pinkie drehte sie zu sich um und drückte ihre Arme herunter. Sein Blick wurde dunkel, während er sie prüfend musterte. Sein Atem streifte ihre Haut. »Ich hab’s gewußt«, sagte er heiser. »Nur dort wirkt dieser Stein richtig.«
Er zog sie zum Bett, ohne ihren leisen Protest zu beachten. »Pinkie, ich bin schon zurechtgemacht.«
»Dafür gibt’s Bidets.« Er drückte sie nach hinten in die Kissen und folgte ihr aufs Bett.
Pinkies von Haus aus starker Geschlechtstrieb war nach einer siegreichen Verhandlung noch stärker. An diesem Abend war er besonders ausgeprägt. Nach wenigen Minuten war alles vorbei. Remy trug noch Strümpfe und Pumps, aber Frisur und Make-up hatten unter seinem aggressiven Liebesspiel gelitten. Er wälzte sich zur Seite und griff nach seinem Glas, das er beim Aufstehen leerte. Danach durchquerte er leise pfeifend das Schlafzimmer und verschwand in seinem eigenen Ankleideraum.
Remy drehte sich auf die Seite und legte beide Hände flach unter ihre Wange. Ihr graute davor, sich noch einmal anziehen zu müssen. Hätte sie die Wahl gehabt, wäre sie im Bett geblieben und hätte ganz auf die Party verzichtet. Sie hatte sich schon morgens müde gefühlt, und die Lethargie lag ihr wie Blei in den Gliedern. Aber sie wollte unter allen Umständen verhindern, daß Pinkie diesen Mangel an Energie bemerkte, den sie ihm schon seit Wochen verheimlichte.
Sie zwang sich dazu, endlich aufzustehen. Gerade ließ sie sich ein weiteres Bad ein, als er frisch geduscht und rasiert in einem untadelig geschnittenen schwarzen Anzug aus seinem Ankleideraum trat. Er starrte sie überrascht an. »Ich dachte, du wärst fertig!«
Sie hob hilflos die Hände. »Es ist einfacher, von vorn anzufangen, als zu versuchen, etwas zu reparieren. Außerdem benütze ich nicht gern ein Bidet.«
Er zog sie an sich und küßte sie neckend. »Vielleicht habe ich dich ein Jahr zu lange in dieser Klosterschule gelassen. Du hast dir ein paar schrecklich prüde Gewohnheiten zugelegt.«
»Du hast nichts dagegen, wenn ich etwas später herunterkomme, nicht wahr?«
Er gab sie nach einem Klaps auf den Po wieder frei. »Du bist bestimmt so hinreißend, daß sich das Warten lohnt.« Von der Tür aus fügte er hinzu: »Denk daran, etwas zu tragen, was sexy, schwarz und tief ausgeschnitten ist.«
Remy ließ sich mit ihrem zweiten Bad Zeit. Von unten herauf war zu hören, wie die Musiker ihre Instrumente stimmten. Bald würden die ersten Gäste eintreffen. Bis in die frühen Morgenstunden würden sie sich nun mit Delikatessen und starken Getränken bewirten lassen, und dabei gäbe es Musik, Lachen, Tanz, Flirts und Gerede, Gerede, Gerede.
Allein der Gedanke daran ließ sie müde seufzen. Würde es irgend jemand merken, wenn die Hausherrin beschlösse, in ihrem Zimmer zu bleiben und nicht zur Party zu kommen?
Pinkie würde es merken.
Um seinen Sieg vor Gericht zu feiern, hatte er Remy ein weiteres kostbares Schmuckstück als Ergänzung ihrer schon beschämend umfangreichen Sammlung gekauft. Er wäre beleidigt gewesen, wenn er gewußt hätte, mit welchem Widerstreben sie zu seiner Siegesfeier ging oder wie wenig sein Geschenk ihr bedeutete. Aber es war unmöglich, sich aufrichtig über seine Großzügigkeit zu freuen, weil seine schönen, teuren Geschenke nur ein schwacher Ersatz für alles waren, was er ihr vorenthielt.
Noch in der Wanne liegend, drehte sie ihren Kopf zur Seite und sah zu dem Toilettentisch hinüber, wo ihr neuer Schatz in dem mit Satin ausgeschlagenen Etui lag. Sie hatte keinen Blick für die Schönheit dieses speziellen Steines. Er strahlte keine Wärme aus, sondern wirkte ausgesprochen kalt. Seine Facetten schickten keine Feuerblitze aus, sondern glitzerten in eisigem Licht. Der Aquamarin erinnerte sie an den Winter, nicht an den Sommer. Bei seinem Anblick fühlte sie sich nicht glücklich und erfüllt, sondern hohl und leer.
Pinkie Duvalls Frau begann still zu weinen.