Cover
Sandra Brown: Rage (Zorn)

Danksagung

Es ist mir immer ein Gräuel, jemanden um Hilfe oder Auskunft bitten zu müssen. Eine signierte Ausgabe dieses Buches und eine Erwähnung auf der vorletzten Seite erscheinen mir ein zu geringer Dank für die Mühen, die diese Menschen meinetwegen auf sich genommen haben.

So hat Laura Albrecht von der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit im Police Department Austin kein einziges Mal die Geduld verloren, als ich sie zahllose Male mit »nur noch einer Frage« nervte. Sie öffnete mir Türen, die normalerweise verschlossen geblieben wären. Mein Dank gilt auch den Detectives aus dem Centralized Investigations Bureau, denen viel zu wenig Beachtung und Anerkennung für die schwierige Arbeit gezollt wird, die sie leisten. Auch nachdem ich ihnen gestand, dass in meiner Story ein krimineller Polizist vorkommt, blieben sie herzlich und offen.

In meinem nächsten Leben möchte ich ein Primetime-DJ werden wie Bill Kinder von KSCS-FM. Im Gegensatz zu mir darf er jeden Tag mit seinen Fans sprechen. Sie rufen zu Hunderten bei ihm an. Was für ein Kick! Wenn man ihm zuschaut, hat man den Eindruck, er könnte ein Dutzend Dinge gleichzeitig erledigen. Nie kam er aus dem Tritt, nicht einmal wenn ich ihn nebenbei mit Fragen bombardierte. Falls ich die Arbeit am Mischpult nicht richtig dargestellt habe, ist das jedenfalls nicht seine Schuld.

Ein paar Unglückliche müssen Tag für Tag mit mir zusammenarbeiten. Meine Agentin Maria Carvainis verdient mehr Dankbarkeit, als ich je ausdrücken könnte. Amie Gray sollte mit zweitem Vornamen »Enzyklopädie« heißen, so gründlich beschafft und prüft sie alle Informationen über die abwegigsten Themen. Außerdem möchte ich Sharon Hubler dafür danken, dass sie jahrelang mein Leben organisierte. Ohne sie hätte ich mit Sicherheit dauernd am falschen Ort zur falschen Zeit das Falsche getan. Ich wünsche ihr viel Glück in ihrem neuen Leben.

Und dem Mann an meiner Seite: Michael, mein Dank und meine Liebe bis in alle Ewigkeit.

 

Sandra Brown

Autor

Sandra Brown ist eine der erfolgreichten Autorinnen der Welt. Mit jedem ihrer Bücher eroberte sie auf Anhieb die Spitzenplätze der »New-York-Times«-Bestsellerliste! Vor allem seit ihrem großen Durchbruch als Thrillerautorin mit dem Roman »Die Zeugin« ist Sandra Brown auch in Deutschland als faszinierende Autorin spannender Psychothriller erfolgreich. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.

 

Weitere Informationen finden Sie unter : www.sandra-brown.de

1

Dean Malloy stand leise vom Bett auf. Er tastete im Dunkeln auf dem Boden nach seiner Unterwäsche und verschwand damit im Bad. So leise wie möglich zog er die Tür hinter sich zu, bevor er das Licht einschaltete.

Liz wachte trotzdem auf.

»Dean?«

Er stützte sich mit beiden Armen am Waschbecken ab und betrachtete sein Spiegelbild. »Komme sofort.« Ob ihn sein Spiegelbild verzweifelt oder voller Abscheu ansah, wusste er selbst nicht. Zumindest tadelnd.

Er starrte noch ein paar Sekunden in den Spiegel, ehe er den Wasserhahn aufdrehte und sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Dann benutzte er die Toilette, zog seine Boxershorts an und öffnete die Tür.

Liz hatte die Nachttischlampe eingeschaltet und sich auf einen Ellbogen gestützt. Ihre hellblonden Haare waren verwuschelt. Unter ihrem einen Auge lag verschmierte Mascara. Aber irgendwie schaffte sie es trotzdem, sündig und gleichzeitig aufreizend zu wirken. »Duschst du noch?«

Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht später.«

»Ich wasche dir den Rücken.«

»Danke, aber –«

»Soll ich dich lieber vorne waschen?«

Er deutete ein Lächeln an. »Ich werde darauf zurückkommen.«

Seine Hose hing über dem Sessel. Als er die Hand danach ausstreckte, fiel Liz in ihr zusammengeknülltes Kissen zurück. »Du gehst.«

»Obwohl ich gern noch bleiben würde, Liz.«

»Du hast seit Wochen keine ganze Nacht mehr bei mir verbracht.«

»Das gefällt mir genauso wenig wie dir, aber bis auf weiteres lässt sich das nicht ändern.«

»Mein Gott, Dean. Er ist sechzehn.«

»Genau. Sechzehn. Wenn er ein Baby wäre, wüsste ich jederzeit, wo er steckt. Ich wüsste, was er gerade macht und mit wem er zusammen ist. Aber Gavin ist sechzehn und hat den Führerschein. Für einen Vater bedeutet das, in einem einzigen Albtraum zu leben.«

»Wahrscheinlich ist er nicht mal zu Hause, wenn du heimkommst.«

»Das möchte ich ihm aber schwer geraten haben«, murmelte er, während er das Hemd in die Hose steckte. »Er ist gestern Abend später als vereinbart heimgekommen, darum habe ich heute Morgen seinen Autoschlüssel einkassiert. Er hat Hausarrest.«

»Und wie lange?«

»Bis er wieder Vernunft annimmt.«

»Und wenn er das nicht will?«

»Im Haus bleiben?«

»Vernunft annehmen.«

Das war eine viel schwerwiegendere Frage. Sie erforderte eine wohl erwogene Antwort, und dafür fehlte ihm heute Abend die Zeit. Er schob die Füße in die Schuhe, setzte sich dann auf die Bettkante und fasste nach ihrer Hand. »Es ist nicht richtig, dass Gavin mit seinem Verhalten deine Zukunft diktiert.«

»Unsere Zukunft.«

»Unsere Zukunft«, wiederholte er leise. »Das ist so ungerecht. Nur seinetwegen müssen wir unsere Pläne auf Eis legen. Das ist einfach unfair.«

Sie küsste ihn auf den Handrücken und sah durch gesenkte Wimpern zu ihm auf. »Ich kann dich nicht mal überreden, eine ganze Nacht bei mir zu bleiben, und dabei hatte ich gehofft, dass wir bis Weihnachten verheiratet wären.«

»Das könnte durchaus passieren. Die Situation könnte sich früher bessern, als wir glauben.«

Ihr Stirnrunzeln ließ erkennen, dass sie da weniger optimistisch war. »Ich war sehr geduldig, Dean. Oder nicht?«

»Allerdings.«

»In den zwei Jahren, die wir jetzt zusammen sind, war ich äußerst kompromissbereit. Ich bin, ohne zu meckern, hierher gezogen. Und ich war einverstanden, diese Wohnung zu mieten, obwohl ich überzeugt bin, dass es vernünftiger wäre, wenn wir zusammen wohnen.«

Ihre Erinnerung war selektiv und unkorrekt. Dass sie zusammen wohnten, hatte nie zur Debatte gestanden. Er hätte das nie auch nur in Betracht gezogen, solange Gavin bei ihm lebte. Und genauso wenig hatte sie einen Grund zum Meckern gehabt, als sie nach Austin gezogen war. Er hatte sie nie darum gebeten. Im Gegenteil, ihm wäre es lieber gewesen, wenn sie in Houston geblieben wäre.

Die Entscheidung zum Umzug hatte Liz damals ganz unabhängig von ihm gefällt. Als sie ihn damit überrascht hatte, musste er einen Anflug von Verärgerung verhehlen und Freude heucheln. Sie hatte sich ihm aufgedrängt, als er keinesfalls eine weitere Belastung brauchen konnte.

Aber statt jetzt diese brisante Tatsache anzusprechen, gestand er ihr lieber zu, dass sie ihm und seinen Anforderungen gegenüber außergewöhnlich geduldig gewesen war.

»Mir ist durchaus bewusst, dass meine Situation ganz anders ist als zu der Zeit, als wir uns kennen lernten. Du hattest nicht vor, dich mit einem allein erziehenden Vater eines Teenagers einzulassen. Du hast mehr Geduld aufgebracht, als ich erwarten durfte.«

»Danke«, sagte sie besänftigt. »Aber mein Körper kennt keine Geduld, Dean. Für mich bedeutet jeder verstrichene Monat, dass ein Ei weniger im Körbchen liegt.«

Ihr dezenter Hinweis auf ihre biologische Uhr ließ ihn lächeln. »Ich weiß genau, welche Opfer du für mich erbracht hast. Und weiterhin bringst.«

»Ich bin bereit, noch mehr zu opfern.« Sie strich ihm über die Wange. »Denn das Schlimme an der Sache ist, dass du jedes Opfer wert bist, Dean Malloy.«

Er wusste, dass sie das genauso empfand, aber ihre Aufrichtigkeit trug nicht dazu bei, seine Laune zu bessern, sondern verstärkte nur seine bedrückte Stimmung. »Hab noch etwas Geduld, Liz. Bitte. Gavin führt sich unmöglich auf, aber es gibt Gründe für sein Fehlverhalten. Gib uns noch etwas Zeit. So Gott will, werden wir zu gegebener Zeit einen Ort finden, wo wir zu dritt leben können.«

Sie schnitt eine Grimasse. »Wenn du weiterhin so geschwollen daherredest, könntest du, ehe du dichs versiehst, eine eigene Nachmittagstalkshow haben.«

Er grinste erleichtert, weil sie die ernste Unterhaltung versöhnlich beenden konnten. »Du hast immer noch vor, morgen nach Chicago zu fliegen?«

»Für drei Tage. Ein vertrauliches Treffen mit einer Abordnung aus Kopenhagen. Lauter strammen, blonden Wikingern. Eifersüchtig?«

»Ich bin erbsgrün vor Eifersucht.«

»Wirst du mich vermissen?«

»Was glaubst du?«

»Soll ich dir etwas geben, das dich an mich erinnert?«

Sie schlug die Decke zurück. Nackt und beinahe schnurrend lag sie auf dem zerwühlten Laken, auf dem sie sich vorhin schon einmal geliebt hatten. Im Moment sah Elizabeth Douglas eher nach einer verhätschelten Kurtisane aus, als nach der Marketing-Vizepräsidentin einer internationalen Luxushotelkette.

Sie hatte eine üppige Figur, und ihr gefiel das so. Anders als die meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen flippte sie nicht wegen jeder Kalorie aus. Sie betrachtete es bereits als Fitnesstraining, wenn sie ihre Koffer selbst trug, und sie verwehrte sich so gut wie nie ein Dessert. An ihr sahen die Kurven gut aus. Nein, sie sahen atemberaubend aus.

»Verführerisch«, seufzte er. »Äußerst verführerisch. Aber ich werde mich mit einem Kuss begnügen müssen.«

Sie küsste ihn leidenschaftlich und zog seine Zunge dabei so lustvoll in ihren Mund, dass jeder Wikinger vor Neid erblasst wäre. Es blieb ihm überlassen, den Kuss zu beenden. »Ich muss jetzt wirklich los, Liz«, flüsterte er gegen ihre Lippen, ehe er sich von ihr löste. »Eine angenehme Reise.«

Sie zog die Decke wieder hoch, um ihre Nacktheit zu bedecken, und setzte ein Lächeln auf, um ihre Enttäuschung zu überspielen. »Ich rufe dich an, sobald ich angekommen bin.«

»Unbedingt.«

Er verschwand und gab sich dabei alle Mühe, nicht so auszusehen, als wäre er auf der Flucht. Draußen legte sich die Luft wie ein feuchtes Handtuch über ihn. Sogar beim Einatmen war sie schwer und heiß wie nasse Wolle. Noch bevor er den kurzen Weg zu seinem Auto zurückgelegt hatte, klebte ihm das Hemd am Rücken. Er ließ den Motor an und stellte die Klimaanlage auf volle Kraft. Das Radio sprang automatisch an. Elvis’ Are You Lonesome Tonight?

Zu dieser Stunde war so gut wie kein Verkehr. Dean bremste vor einer gelben Ampel ab und hielt im selben Moment an, in dem der Song endete.

»Die Nacht bleibt heiß hier im Hill Country. Vielen Dank, dass Sie mir auf 101.3 Gesellschaft geleistet haben.« Die rauchige Frauenstimme hallte durch den Wagen. Die Klangwellen schlugen gegen seine Brust und seinen Bauch. Ihre Stimme wurde von den acht Lautsprechern, die von deutschen Ingenieuren strategisch im Auto platziert worden waren, perfekt moduliert. Dank der ausgeklügelten Soundanlage wirkte Paris Gibson näher, als wenn sie neben ihm auf dem Beifahrersitz gesessen hätte.

»Heute Abend möchte mich mit drei von meinen Lieblingssongs verabschieden. Ich wünsche Ihnen, dass Sie diese Songs gemeinsam mit einem geliebten Menschen hören können. Bleiben Sie einander treu.«

Dean packte das Lenkrad fester und ließ seine Stirn auf die Handrücken sinken, während die Fabulous Four ihr Hohelied auf die Vergangenheit sangen.

 

Sobald der Parkdienst des Four Season Hotels Richter Baird Kemps Limousine gebracht hatte und der Richter eingestiegen war, zerrte er sich die Krawatte vom Hals und wand sich aus seinem Jackett. »Mein Gott, bin ich froh, dass das vorbei ist.«

»Du wolltest doch unbedingt, dass wir hingehen.« Marian Kemp streifte die Slingbacks von Bruno Magli von ihren Füßen, löste die Ohrklippse mit den Diamanten und verzog das Gesicht, als das Blut unter stechenden Schmerzen in ihre tauben Ohrläppchen zurückfloss. »Aber ich verstehe beim besten Willen nicht, weshalb wir auch zu der Feier bleiben mussten.«

»Also, es macht jedenfalls einen guten Eindruck, dass wir unter den letzten Gästen waren. Es waren viele einflussreiche Leute dabei.«

Wie so viele Galadinners mit anschließender Preisverleihung war es eine unerträglich langatmige Veranstaltung gewesen. Später hatte sich noch eine Cocktailparty in einer der Suiten angeschlossen. Der Richter ließ sich keine Gelegenheit entgehen, für seine Wiederwahl zu werben, selbst wenn die Veranstaltung noch so informell war. Während der Rückfahrt unterhielten sich die Kemps über die anderen Gäste oder, wie sie der Richter verächtlich bezeichnete, »die Guten, die Bösen und die Gemeinen«.

Als sie zu Hause angekommen waren, verzog er sich in seine Höhle, deren Bar dank Marians Fürsorge stets mit seinen Lieblingsmarken bestückt war. »Ich gönne mir noch einen Absacker. Soll ich dir auch einen machen?«

»Nein danke, Schatz. Ich gehe gleich nach oben.«

»Dreh die Klimaanlage im Schlafzimmer auf. Die Hitze ist nicht zu ertragen.«

Marian stieg die geschwungene Treppe hinauf, über die erst neulich in einem Inneneinrichtungsmagazin berichtet worden war. Auf dem Foto hatte sie ein Designerballkleid und ihr Kollier mit den blassgelben Diamanten getragen. Es war ein ziemlich gutes Porträt geworden, das konnte sie ohne Eigenlob sagen. Der Richter war sehr zufrieden mit dem Begleitartikel gewesen, in dem man sie dafür gelobt hatte, dass sie ihr Haus perfekt durchgestylt hatte.

Oben brannte kein Licht im Gang, aber zu ihrer Erleichterung sah sie unter Janeys Zimmertür einen hellen Streifen. Obwohl Sommerferien waren, hatte der Richter ihrer Siebzehnjährigen ein striktes Ausgehverbot auferlegt. Gestern Abend hatte sie dagegen verstoßen und war erst in der Morgendämmerung heimgekommen. Es war nicht zu übersehen, dass sie getrunken hatte, und wenn sich Marian nicht ganz irrte, war der strenge Geruch in ihren Sachen der von Marihuana gewesen. Am schlimmsten war aber, dass sie sich in dieser Verfassung ans Steuer gesetzt hatte.

»Ich werde nicht noch einmal Kaution für dich stellen«, hatte der Richter sie angeschnauzt. »Wenn du noch einmal betrunken am Steuer erwischt wirst, bist du auf dich allein gestellt, junge Dame. Ich werde dann bestimmt keine Fäden mehr ziehen. Meinetwegen kann das ruhig in deinem Führungszeugnis stehen.«

Janey hatte mit einem gelangweilten »Scheiß doch drauf« reagiert.

Die Auseinandersetzung war so laut und ausfallend geworden, dass Marian zuletzt befürchtet hatte, die Nachbarn könnten etwas davon mitbekommen, obwohl zwischen ihrem und dem nächsten Grundstück ein 4000 Quadratmeter großer manikürter Grünstreifen lag. Der Streit hatte damit geendet, dass Janey in ihr Zimmer gestürmt war, die Tür hinter sich zugeknallt und abgesperrt hatte. Seither hatte sie kein Wort mehr mit ihnen gesprochen.

Aber offenkundig hatte die jüngste Drohung des Richters Wirkung gezeigt. Janey war zu Hause, und für ihre Verhältnisse war es noch früh. Marian blieb vor Janeys Tür stehen und hatte schon die Faust zum Anklopfen erhoben. Doch dann hörte sie hinter der Tür die Stimme der Radiomoderatorin, die ihre Tochter immer einschaltete, wenn sie »chillen« wollte. Die Frau war eine willkommene Abwechslung zu den krakeelenden DJs auf den anderen Sendern mit ihrer Acidrock- und Rapmusik.

Janey konnte sich leicht in einen Wutanfall steigern, wenn sie das Gefühl hatte, dass ihre Privatsphäre verletzt wurde. Ihre Mutter wollte den angespannten Frieden nicht stören, darum senkte sie die Hand wieder und ging weiter durch den Korridor dem ehelichen Schlafzimmer entgegen.

 

Toni Armstrong schreckte aus dem Schlaf.

Sie blieb reglos liegen und lauschte nach einem Geräusch, das sie aus dem Schlaf gerissen haben könnte. Hatte eines ihrer Kinder nach ihr gerufen? Hatte Brad angefangen zu schnarchen?

Nein, bis auf ein leises Surren aus den Belüftungsschächten in der Zimmerdecke lag das Haus in tiefer Stille. Ein Geräusch hatte sie bestimmt nicht aus dem Schlaf gerissen. Nicht einmal das schwere Atmen ihres Mannes. Denn das Kissen neben ihrem war unberührt geblieben.

Toni stand auf und streifte einen leichten Morgenmantel über. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Ein Uhr zweiundvierzig. Brad war immer noch nicht zu Hause.

Bevor sie nach unten ging, schaute sie kurz in die Kinderzimmer. Obwohl die Mädchen jeden Abend in ihre jeweiligen Betten gesteckt wurden, landeten sie nachts unweigerlich zusammen unter einer Decke. Weil sie nur sechzehn Monate auseinander waren, wurden sie oft für Zwillinge gehalten. Im Moment sahen sie praktisch identisch aus: Die stämmigen, kleinen Leiber lagen eng umschlungen und die zerzausten Köpfe dicht nebeneinander auf dem Kissen. Nachdem Toni die beiden zugedeckt hatte, blieb sie ein paar Sekunden lang stehen, und das Herz ging ihr angesichts dieser unschuldigen Schönheit auf, ehe sie auf Zehenspitzen aus dem Zimmer schlich.

Im Zimmer ihres Sohnes war der Boden mit Raumschiffen und Actionfiguren übersät. Vorsichtig stieg sie darüber hinweg, um zu seinem Bett zu gelangen. Er schlief auf dem Bauch, mit gespreizten Beinen, einen Arm aus dem Bett gestreckt.

Sie nutzte die Gunst der Stunde und strich über seine Wange. Inzwischen war er in einem Alter, in dem er bei jeder drohenden Liebesbezeugung eine Grimasse schnitt und sofort die Flucht ergriff. Als Erstgeborener meinte er, sich wie ein Mann benehmen zu müssen.

Aber allein die Vorstellung, dass er zum Mann werden könnte, erfüllte sie mit einer Verzweiflung, die nach panischer Angst schmeckte.

Als sie die Treppe hinunterstieg, knarrten mehrere Stufen, aber Toni liebte die kleinen Macken und Mucken, die einem Haus erst Charakter verliehen. Sie hatten Glück gehabt, dass sie dieses Haus erstanden hatten. Es lag in einer guten Gegend und in der Nähe einer Grundschule. Weil die Vorbesitzer unbedingt verkaufen wollten, hatten sie den Preis gesenkt. Das Haus hatte eine Renovierung nötig, aber sie hatte die meisten Reparaturen selbst ausgeführt, damit der Kauf nicht ihr Budget sprengte.

Die Arbeit am Haus hatte sie auf Trab gehalten, während sich Brad in seiner neuen Gemeinschaftspraxis eingewöhnt hatte. Sie hatte viel Zeit und Mühe darauf verwandt, erst alle notwendigen Reparaturen zu erledigen, bevor sie die kosmetischen Mängel beseitigt hatte. Ihre Geduld und ihr Fleiß hatten sich ausgezahlt. Das Haus war nicht nur hübscher als zuvor, sondern auch von Grund auf saniert. Die Missstände waren nicht einfach mit einer Schicht Lack überstrichen, sondern wirklich behoben worden.

Leider Gottes war nicht alles so leicht herzurichten wie ein Haus.

Wie sie befürchtet hatte, waren unten alle Zimmer dunkel und leer. In der Küche schaltete sie das Radio ein, um die bedrückende Stille zu durchbrechen. Sie schenkte sich ein Glas Milch ein, auf das sie keinen Appetit hatte, und zwang sich, es Schluck für Schluck zu trinken.

Vielleicht tat sie ihrem Mann Unrecht. Es war gut möglich, dass er immer noch auf seinem Seminar über Steuern und Finanzplanung war. Schließlich hatte er beim Abendessen verkündet, dass er erst spät heimkommen würde.

»Du weißt doch, Spatz«, hatte er ihr erklärt, als sie ihn überrascht gefragt hatte, »ich habe dir Anfang der Woche davon erzählt.«

»Nein, das hast du nicht.«

»Entschuldige bitte. Ich dachte, ich hätte es erwähnt. Reich mir doch bitte den Kartoffelsalat rüber. Der schmeckt übrigens phantastisch. Was ist das für ein Gewürz?«

»Dill. Du hast keinen Ton von einem Seminar gesagt, Brad.«

»Die Kollegen in der Praxis haben es mir nahe gelegt. Was sie auf dem letzten Seminar erfahren haben, hat ihnen einen Haufen Steuern gespart.«

»Dann sollte ich vielleicht ebenfalls hingehen. Es könnte nicht schaden, wenn ich mehr über diese Finanzgeschichten wüsste.«

»Gute Idee. Auf dem nächsten Seminar bist du dabei. Man muss sich im Voraus anmelden.«

Er hatte ihr Zeit und Ort des Seminars genannt und sie gebeten, nicht auf ihn zu warten, weil sich der offiziellen Präsentation eine informelle Gesprächsrunde anschließen würde, und er nicht wisse, wie lang die dauern würde. Dann hatte er sie und die Kinder geküsst und war aufgebrochen. Für jemanden, der zu einem Seminar über Steuer- und Finanzplanung ging, war er erstaunlich beschwingt zu seinem Auto spaziert.

Toni trank den letzten Schluck Milch.

Dann rief sie zum dritten Mal auf dem Handy ihres Mannes an. Genau wie die beiden Male zuvor meldete sich seine Mailbox. Sie spielte mit dem Gedanken, in dem Vortragssaal anzurufen, wo das Seminar stattgefunden hatte, aber das wäre Zeitverschwendung gewesen. So spät war dort bestimmt niemand mehr.

Nachdem sie Brad verabschiedet hatte, hatte sie den Tisch abgeräumt und die Kinder gebadet. Sobald sie im Bett lagen, wollte sie einen Blick in Brads Arbeitszimmer werfen, aber sie musste feststellen, dass die Tür abgeschlossen war. Zu ihrer Schande war sie wie eine Irre durchs Haus gefegt, um eine Haarnadel, eine Nagelfeile, irgendetwas zum Schlösserknacken aufzutreiben.

Zuletzt hatte sie auf einen Schraubenzieher zurückgegriffen, mit dem sie das Schloss wahrscheinlich irreparabel beschädigt hatte, aber das war ihr egal. Dummerweise hatte sie in seinem Zimmer nichts entdeckt, was ihren panischen Aktionismus oder ihren Verdacht begründet hätte. Auf seinem Schreibtisch lag eine Anzeige für das Seminar. Er hatte sich das Seminar in seinen Terminkalender eingetragen. Offensichtlich hatte er fest vorgehabt hinzugehen.

Andererseits war er auch sehr geschickt darin, falsche Spuren zu legen.

Sie hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt und auf den leeren Bildschirm gestarrt. Sie hatte sogar den Finger auf den Schalter zum Starten gelegt und nur mit Mühe der Versuchung widerstanden, den Computer hochzufahren und Nachforschungen zu betreiben, die nur Diebe, Spione und misstrauische Ehefrauen anstellten.

Sie hatte seinen Computer nicht mehr angerührt, seit er ihr einen eigenen gekauft hatte. Als sie die bedruckten Kartons gesehen hatte, die er in die Küche geschleppt und dort auf dem Tisch abgeladen hatte, hatte sie ausgerufen: »Du hast noch einen Computer gekauft?«

»Es wird Zeit, dass du deinen eigenen bekommst. Fröhliche Weihnachten.«

»Wir haben Juni.«

»Dann bin ich eben zu früh dran. Oder zu spät.« Er hatte entwaffnend mit den Achseln gezuckt. »Jetzt brauchst du dich nicht mehr nach mir zu richten, wenn du mal E-Mails schreiben oder etwas im Internet kaufen oder was weiß ich machen willst.«

»Ich benutze deinen Computer doch nur tagsüber, wenn du in der Praxis bist.«

»Genau das habe ich gemeint. Jetzt kannst du jederzeit online gehen.«

Und du auch.

Offenbar hatte er ihre Gedanken gelesen, denn er hatte erklärt: »Es ist nicht so, wie du glaubst, Toni.« Dabei hatte er die Hände in die Hüften gestemmt und sie mit seinem Hundeblick angesehen. »Ich war heute Morgen zufällig im Computerladen. Da sah ich diese kleine knallrosa Kiste, die so unglaublich kompakt ist und trotzdem alles kann, und ich dachte mir: ›Feminin und effizient. Genau wie meine tolle Frau.‹ Also habe ich ihn spontan für dich gekauft. Ich dachte, du würdest dich freuen. Anscheinend habe ich mich geirrt.«

»Ich freue mich schon.« Augenblicklich bekam sie ein schlechtes Gewissen. »Das ist sehr aufmerksam von dir, Brad. Vielen Dank.« Dann musterte sie die Kartons mit einem verstohlenen Blick. »Hast du rosa gesagt?«

Und dann mussten beide lachen. Er hatte sie in seine mächtigen Arme geschlossen. Er hatte nach Sonnenschein, Seife und glücklicher Zweisamkeit gerochen. All ihre Ängste waren zerstoben.

Aber nur vorübergehend. Inzwischen hatten sie sich wieder verdichtet.

Sie hatte seinen Computer heute Abend nicht hochgefahren. Sie hatte zu viel Angst, was sie darauf finden könnte. Falls er mit einem Passwort gesichert wäre, hätte das ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt, und das wollte sie keinesfalls. O Gott, nein, das wollte sie nicht.

Also hatte sie den Türknauf nach bestem Vermögen wieder repariert und war danach ins Bett gegangen, wo sie irgendwann in der Hoffnung eingeschlafen war, dass Brad sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißen und mit tausend Details über finanzielle Strategien für Familien in ihrer Einkommensklasse bombardieren würde. Es war eine vergebliche Hoffnung gewesen.

»Es war mir wie jeden Abend von Montag bis Freitag ein Vergnügen, Sie unterhalten zu dürfen«, sagte die sexy Stimme im Radio. »Ich bin Paris Gibson, und ich bringe Ihnen klassische Lovesongs.«

Kein Seminar dauerte bis zwei Uhr früh. Genauso wenig wie eine Therapiesitzung bis in die frühen Morgenstunden dauerte. Damit hatte sich Brad herausgeredet, als er letzte Woche die ganze Nacht weggeblieben war.

Da hatte er behauptet, dass ein Mann aus seiner Gruppe eine schwere Zeit durchmachen würde. »Nach dem Treffen wollte er unbedingt mit mir ein Bier trinken gehen, weil er jemand brauchte, bei dem er sich ausheulen konnte. Der Typ hat echt Probleme, Toni. Wow! Du würdest nicht glauben, was er mir alles erzählt hat. Echt krank. Jedenfalls hab ich mir gedacht, dass du das bestimmt verstehen würdest. Du kennst das doch.«

Sie kannte das nur zu gut. Die Lügen. Die Beteuerungen. Die langen, einsamen Abende. Sie wusste genau, wie das lief. Es lief genau so.

2

Das hier machte sie fertig. Richtig fertig.

Inzwischen war er schon ewig weg, und sie hatte keine Ahnung, wann er wiederkommen würde. Ihr gefiel die Scene nicht, sie wollte weg von hier.

Aber ihr waren die Hände gebunden. Und zwar im wahrsten Sinn des Wortes. Genau wie die Füße. Am schlimmsten aber war das nach Metall schmeckende Isolierband, mit dem er ihr den Mund zugeklebt hatte.

Vier-, vielleicht auch fünfmal war sie in den letzten Wochen mit ihm hier gewesen. Jedes Mal waren sie total ausgepowert und mit einem echt geilen Gefühl wieder weggegangen. Der Ausdruck »sich um den Verstand poppen« kam ihr in den Sinn.

Nie zuvor hatte er sie fesseln wollen oder ihr andere perverse Spielchen vorgeschlagen. Also… jedenfalls keine allzu perversen Spielchen. Das hier war was Neues, und ehrlich gesagt hätte sie darauf verzichten können.

Unter anderem hatte sie ihn so interessant gefunden, weil er so erfahren wirkte. Er passte ganz eindeutig nicht in die nomadenhafte Gemeinschaft, die vor allem aus Highschool- und Collegestudenten auf der Suche nach Alkohol, Dope und impulsivem Sex bestand. Klar, ab und zu tauchte einer dieser armseligen alten Säcke auf, die im Gebüsch hockten und jedem, der versehentlich zu ihnen hinschaute, den Schlappschwanz entgegenstreckten. Aber dieser Typ war anders. Er war absolut cool.

Offenbar hatte auch er gefunden, dass sie anders war als die anderen. Sie und ihre Freundin Melissa hatten ihn bemerkt, weil er sie mit voller Konzentration beobachtet hatte.

»Vielleicht ist er ein Bulle«, spekulierte Melissa. »Du weißt schon, ein Ziviler.«

Melissa war an dem Abend total finster drauf gewesen, weil sie am nächsten Tag mit ihren Eltern nach Europa fliegen musste und sich kaum was Übleres vorstellen konnte. Sie wollte sich mit aller Gewalt zudröhnen, aber bis jetzt hatte noch nichts gewirkt. Darum hatte sie alles schwarz in schwarz gesehen.

»Ein Bulle mit so einem Auto? Das glaubst du doch selbst nicht. Außerdem hat er viel zu elegante Schuhe für einen Bullen.«

Es war nicht allein die Tatsache, dass er sie angesehen hatte. Sie war es gewohnt, dass die Typen sie anstarrten. Sondern die Art, wie er sie angesehen hatte, hatte sie total angemacht. Die Beine übereinander geschlagen, die Arme vor der Brust verschränkt, hatte er an der Motorhaube gelehnt, reglos und trotz seiner Konzentration vollkommen relaxt.

Er hatte nicht auf ihren Busen oder ihre Beine geglotzt – wie es die Typen sonst immer taten –, sondern ihr genau in die Augen gesehen. Als würde er sie kennen. Nicht nur vom Sehen oder von einer flüchtigen Begegnung, sondern sie durch und durch kennen und alles über sie wissen, was es über sie zu wissen gab.

»Ist der nicht süß?«

»Wohl schon.« Melissa dümpelte in ihrem Selbstmitleid und hatte kein Interesse an irgendwas.

»Ich finde ihn jedenfalls süß.« Sie leerte ihre Cola-Rum, indem sie sie auf jene provokative Weise durch den Strohhalm zog, die sie durch stundenlanges Üben vor dem Spiegel zur Perfektion gebracht hatte. Die anzüglichen Saugbewegungen machten die Typen total heiß, das war ihr bewusst, genau deshalb trank sie nur noch so.

»Ich schau ihn mir mal an.« Sie streckte die Hand nach hinten, stellte den leeren Plastikbecher auf dem Picknicktisch ab, auf dem sie und Melissa saßen, und löste sich dann mit der weichen Grazie einer Schlange, die von ihrem Stein gleitet. Sie warf das Haar zurück und zupfte kurz am Saum ihres Tanktops, wobei sie tief Luft holte und den Busen vorstreckte. Wie eine Olympionikin absolvierte sie vor jedem wichtigen Start ein genau festgelegtes Ritual.

Sie hatte damals den ersten Schritt getan. Sie hatte Melissa zurückgelassen und war zu ihm hingeschlendert. Als sie bei seinem Auto ankam, hatte sie sich neben ihn gestellt und sich genau wie er an die Motorhaube gelehnt. »Du hast eine echte Unart.«

Er hatte lediglich den Kopf gedreht und sie angelächelt. »Nur eine?«

»Soweit ich weiß.«

Sein Grinsen war breiter geworden. »Dann wird es Zeit, dass du mich besser kennen lernst.«

Ohne weitere Umstände – denn schließlich waren sie einzig und allein aus diesem Grund dort – nahm er ihren Arm und führte sie um das Auto herum auf die Beifahrerseite. Trotz der Hitze fühlte sich seine Hand kühl und trocken an. Er öffnete ihr formvollendet die Tür und half ihr in den ledergepolsterten Sitz. Beim Wegfahren warf sie Melissa ein triumphierendes Lächeln zu, aber Melissa kramte gerade in ihrem Täschchen mit den »Gute-Laune-Pillen« und sah sie nicht.

Er fuhr vorsichtig, mit beiden Händen am Lenkrad und den Blick fest auf die Straße gerichtet. Er glotzte nicht, er grabschte nicht, das war eindeutig mal was Neues. Normalerweise fingen die Kerle an, sie zu befingern, sobald sie neben ihnen im Auto saß, so als könnten sie ihr Glück nicht fassen, als könnte sie sich in Luft auflösen, wenn ihre Finger sie nicht berührten, oder als könnte sie ihre Meinung ändern, wenn sie nicht sofort zur Sache kamen.

Dagegen wirkte der Typ hier irgendwie distanziert, und das fand sie irgendwie cool. Er war reif, er wusste, wo es langging. Er brauchte nicht zu glotzen und zu grabschen, um sich zu vergewissern, dass er bei ihr landen konnte.

Sie fragte ihn nach seinem Namen.

Er hielt vor einer roten Ampel und sah sie an. »Ist der von Bedeutung?«

Sie hob ihre Schultern zu jenem sorgfältig einstudierten Achselzucken, bei dem ihre Brüste mit nach oben wanderten und weiter vorgeschoben wurden, als es der beste Wonderbra geschafft hätte. »Eigentlich nicht.«

Sein Blick blieb ein paar Sekunden lang auf ihren Brüsten liegen, dann schaltete die Ampel auf Grün, und er fuhr wieder an. »Und was für eine Unart habe ich?«

»Du starrst die Leute an.«

Er lachte. »Wenn du das für eine Unart hältst, dann musst du mich unbedingt besser kennen lernen.«

Sie legte die Hand auf seinen Schenkel und raunte ihm mondän zu: »Ich freue mich schon darauf.«

Seine Wohnung war eine herbe Enttäuschung. Ein ranziges Apartment in einem Motel. Vor dem Obergeschoss des zweistöckigen Gebäudes hing ein zerfleddertes rotes Banner, das bezahlbare Monatstarife versprach. Das Motel lag in einer schmierigen Gegend, die weder seinem Auto noch seiner Kleidung entsprach.

Er hatte ihre Enttäuschung bemerkt und gesagt: »Eine Müllhalde, aber was Besseres konnte ich auf die Schnelle nicht finden. Ich bin noch auf der Suche nach einer richtigen Wohnung.« Dann hatte er leise hinzugefügt: »Ich würde es verstehen, wenn du möchtest, dass ich dich zurückfahre.«

»Quatsch.« Er sollte bloß nicht glauben, dass sie eine blöde, zimperliche Zicke von der Highschool ohne jeden Abenteuergeist war. »Abgefuckt ist zurzeit schwer angesagt.«

Das Apartment bestand im Wesentlichen aus einem Raum, der als Wohn- und Schlafzimmer diente. Die Kochnische war gerade mal schulterbreit. Das Bad war noch kleiner.

Im Zimmer standen ein Bett mit Nachttisch, ein Schreibtisch mit vier Schubladen, ein Fernsehsessel mit Stehlampe daneben und ein Klapptisch, der gerade so groß war, dass eine Hightech-Computerausrüstung darauf passte. Die Möbel sahen aus wie vom Flohmarkt, aber immerhin war die Wohnung aufgeräumt.

Sie ging an den Tisch. Der Computer war schon hochgefahren. Mit ein paar Mausklicks fand sie, was sie insgeheim erwartet hatte. Sie lächelte ihn über die Schulter hinweg an und sagte: »Es war also kein Zufall, dass du heute Abend da draußen warst.«

»Ich habe nach dir Ausschau gehalten.«

»Wirklich nach mir?«

Er nickte.

Das gefiel ihr. Sehr gut.

Die mit Resopal beschichtete Bar zwischen der Kochnische und dem Wohnbereich hatte er für seine Fotoausrüstung zweckentfremdet. Er hatte eine 35-Millimeter-Kamera, mehrere Linsen und diverses Zubehör, wie etwa ein tragbares Stativ. Die Ausrüstung sah professionell und teuer aus und passte nicht in das runtergekommene Apartment. Sie griff nach der Kamera und visierte ihn durch den Sucher an. »Bist du Profi?«

»Das ist nur ein Hobby. Möchtest du was zu trinken?«

»Klaro.«

Er ging in die Küche und kam mit zwei Gläsern Rotwein wieder. Cool. Dass er Wein gewählt hatte, zeigte, dass er Geschmack und Klasse hatte. Auch das passte gar nicht zu dem schäbigen Apartment, aber sie war ziemlich sicher, dass seine Erklärung dafür eine Lüge war. Wahrscheinlich war das hier gar nicht seine richtige Wohnung, sondern nur sein Spielzimmer. Weit weg von seiner Frau.

Sie nippte an ihrem Wein und sah sich um. »Und wo hast du deine Bilder?«

»Die zeige ich nicht her.«

»Wieso nicht?«

»Die sind nur für meine Privatsammlung.«

»Privatsammlung?« Sie grinste ihn viel sagend an und ringelte dabei die Haare um den Zeigefinger. »Hört sich gut an. Lass mal sehen.«

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.«

»Wieso?«

»Es sind … künstlerische Bilder.«

Wieder sah er ihr prüfend in die Augen, so als wollte er ihre Reaktion abschätzen. Unter seinem Blick begannen ihre Zehen zu kribbeln und ihr Puls zu rasen, das war ihr schon lange nicht mehr passiert, wenn sie mit einem Jungen zusammen war. Normalerweise war es eher ihr Ding, Kribbeln und Herzrasen auszulösen. Es war ein ungewohntes und wunderbares Gefühl, diejenige zu sein, die nicht genau wusste, was passieren würde. Scheißgeil.

Sie verkündete kühn: »Ich will sie aber sehen.«

Nach einem merklichen Zögern ging er vor dem Bett in die Hocke und zog eine Schachtel darunter hervor. Er hob den Deckel herunter und holte ein stinknormales Fotoalbum mit schwarzem Kunstledereinband heraus. Das Album fest an seine Brust gedrückt, stand er wieder auf. »Wie alt bist du?«

Die Frage war eine Beleidigung, schließlich war sie stolz darauf, älter auszusehen, als sie war. Sie musste seit Jahren ihren Ausweis nicht mehr vorzeigen – ein Blick auf das Schmetterlingstattoo auf ihrer rechten Brust reichte gewöhnlich, damit die Türsteher vergaßen, nach einem Ausweis zu fragen. »Was für eine Rolle spielt es denn, wie alt ich bin? Ich will die Bilder sehen. Außerdem bin ich zweiundzwanzig.«

Es war nicht zu übersehen, dass er ihr nicht glaubte. Er musste sich sogar ein Lächeln verkneifen. Trotzdem legte er das Album auf den Tisch und trat einen Schritt zurück. Möglichst lässig spazierte sie hinüber und schlug es auf.

Das erste Bild war eindeutig und drastisch. Aus dem Aufnahmewinkel schloss sie – korrekt, wie sie später feststellte –, dass es sich bei der Nahaufnahme um ein Selbstporträt handelte.

»Schockiert?«, fragte er.

»Natürlich nicht. Glaubst du, ich hätte noch nie einen Ständer gesehen?« Ihre Antwort war längst nicht so blasiert, wie sie es gern gehabt hätte. Sie fragte sich, ob er ihr Herzklopfen hörte.

Seite um Seite schlug sie auf und betrachtete eine Aufnahme nach der anderen, bis sie das ganze Album durchhatte. Sie studierte jedes Foto und versuchte dabei den Anschein zu erwecken, sie würde es analysieren wie eine Kunstkritikerin. Einige Aufnahmen waren farbig, andere schwarz-weiß, aber abgesehen von dem ersten waren auf allen Bildern nackte junge Frauen in eindeutigen Posen zu sehen. Man hätte die Fotos als obszön bezeichnen können, aber sie war zu erfahren, um sich über entblößte Geschlechtsteile aufzuregen.

Trotzdem waren es in keiner Weise »künstlerische« Aktstudien. Es waren Wichsvorlagen.

»Gefallen sie dir?« Er stand so dicht hinter ihr, dass sie seinen Atem in ihrem Haar spürte.

»Sie sind okay.«

Er schob seinen Arm an ihr vorbei und blätterte ein paar Seiten zurück, bis er zu einem bestimmten Foto kam. »Das ist mein Lieblingsbild.«

Sie konnte nicht erkennen, wieso dieses Mädchen anders sein sollte als die anderen. Ihre Nippel standen wie Mückenstiche von dem flachen, knochigen Oberkörper ab. Man konnte ihre Rippen zählen, und ihre Haare hatten Spliss. Außerdem hatte sie Pickel auf den Schultern. Über ihr Gesicht war, wahrscheinlich aus gutem Grund, ein Schleier gebreitet.

Sie klappte das Album zu, drehte sich zu ihm um und ließ ihr verführerischstes Lächeln aufstrahlen. Langsam zog sie ihr Tanktop über den Kopf und ließ es auf den Boden fallen. »Du meinst, es war bis heute dein Lieblingsbild.«

Er hielt den Atem an und stieß ihn dann langsam und stockend wieder aus. Mit sichtbarem Genuss nahm er ihre Hand und platzierte sie so auf ihrem Leib, dass sie ihre Brust in der Hand hielt, als wollte sie sie ihm darbieten.

Er schenkte ihr das süßeste, zärtlichste Lächeln, das sie je gesehen hatte. »Du bist perfekt. Das war mir vom ersten Moment an klar.«

Ihr Ego schwoll megamäßig an. »Wir verlieren unnötig Zeit.« Sie zog den Reißverschluss ihrer Shorts auf und wollte sie schon ausziehen, als er sie bremste. »Nein, lass sie halb auf deiner Hüfte hängen. Genau so.« Geschmeidig griff er nach seiner Kamera. Offenbar hatte er bereits einen Film eingelegt und sie einsatzbereit gemacht, denn er schaute sofort durch den Sucher.

»Das wird phantastisch.« Er führte sie näher an die Stehlampe neben dem Fernsehsessel und rückte den schmuddligen Lampenschirm zurecht, dann trat er zurück und schaute noch mal durch den Sucher. »Zieh die Hose noch ein kleines bisschen tiefer. Super. Genau so.«

Er schoss mehrere Fotos hintereinander. »O Lady, du bringst mich um den Verstand.« Dabei senkte er die Kamera und sah sie beglückt an. »Du bist ein Naturtalent. Du hast bestimmt schon öfter Modell gestanden.«

»Nie professionell.«

»Kaum zu glauben«, murmelte er. »Jetzt setz dich aufs Bett.«

Er ging vor ihr auf die Knie und setzte sie so hin, wie er sie haben wollte. Beine. Hände. Kopf. Ehe er wieder nach seiner Kamera griff, küsste er die Innenseite ihres Schenkels und sog dabei die Haut zwischen die Zähne, bis ein Knutschfleck zurückblieb.

Über eine Stunde setzte sich das Fotografieren und das Vorspiel fort. Als sie es endlich taten, war sie mehr als bereit. Hinterher füllte er beide Weingläser nach, legte sich neben sie, streichelte sie am ganzen Leib und erzählte ihr, wie schön sie war.

Sie hatte gedacht: Endlich mal ein Typ, der weiß, wie man eine Frau behandelt.

Als sie ausgetrunken hatten, hatte er gefragt, ob er sie noch mal fotografieren dürfte. »Ich will das Nachglühen festhalten.«

»Wie bei einem Vorher-Nachher-Vergleich?«

Er lachte und gab ihr einen kurzen, liebevollen Kuss. »So in der Art.«

Er zog sie an – o ja, er hatte sie eigenhändig angezogen wie sie früher ihre Puppen. Danach hatte er sie an den Park am See zurückgefahren, wo sie sich begegnet waren, und sie zu ihrem Auto begleitet. Bevor er ihre Wagentür schloss, hatte er noch einen Kuss auf ihre Lippen gehaucht. »Ich liebe dich.«

Boah! Damit hatte er sie total überrumpelt. Hunderte von Typen hatten ihr erklärt, dass sie sie liebten, aber fast immer, während sie hektisch einen Pariser über ihren Schwanz zu zerren versuchten. Meistens hatte sie diese Liebeserklärungen hinter den beschlagenen Scheiben eines Autos oder Pick-ups gehört.

Aber noch nie hatte ihr jemand so leise, zärtlich und ehrlich seine Liebe erklärt. Er hatte ihr sogar die Hand geküsst, bevor er sie losgelassen hatte. Sie hatte das unglaublich süß und galant gefunden.

Seit dieser ersten Nacht waren sie noch ein paarmal zusammen gewesen, und jedes Mal hatte es ihr einen Kick gegeben. Leider hatte er, wie zu erwarten, schon bald zu winseln angefangen. Wo warst du gestern Abend? Mit wem warst du zusammen? Ich habe stundenlang auf dich gewartet, aber du bist nicht aufgetaucht. Wann sehen wir uns wieder?

Mit seiner Eifersucht hatte er ihr total den Spaß verdorben. Außerdem war der Reiz des Neuen und des Abenteuers bald verflogen. Die ewigen Fotosessions kamen ihr inzwischen nicht mehr exotisch vor, sondern pervers und widerlich. Es war höchste Zeit zum Absprung.

Vielleicht hatte er gespürt, dass sie vorgehabt hatte, heute Schluss zu machen, denn der Abend war von Anfang an scheiße gelaufen. Gleich nachdem er sie abgeholt hatte, hatten sie sich gestritten. Und von da an war es nur noch bergab gegangen.

Diese Fesselscheiße hier war nur noch bizarr und beängstigend. Sie stundenlang angebunden liegen zu lassen. Was war, wenn dieses Rattenloch abbrannte? Oder wenn ein Tornado oder so was kam?

So eine Scheiße. Sie wollte weg von hier. Je eher, desto besser.

Immerhin hatte er das Radio angemacht und Paris Gibsons Sendung eingestellt, bevor er gegangen war. Auf diese Weise hatte sie wenigstens etwas Unterhaltung. Sie fühlte sich nicht ganz so verlassen, als wenn die absolute Dunkelheit von absoluter Stille begleitet worden wäre.

So lag sie da, lauschte Paris Gibsons Stimme und zerbrach sich den Kopf, wann er verflucht noch mal zurückkommen würde und was ihm sonst noch für Spielchen vorschwebten.