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Inhaltsverzeichnis

Buch
Autorin
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Epilog
Copyright

Autorin

Sandra Brown arbeitete mit großem Erfolg als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman »Trügerischer Spiegel« auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher die Spitzenplätze der Bestsellerlisten erreicht! Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.

 

Weitere Informationen finden Sie unter:
www.sandra-brown.de und www.blanvalet.de

Epilog

»Du siehst erschöpft aus.«

»Der Eindruck trügt nicht«, erwiderte Beck, während er die Stufen zu seiner Veranda hochstieg, auf der ihn Sayre und Frito erwarteten. »Es waren sechs grauenhafte Stunden.«

So lange war es her, seit Chris in der Notaufnahme des Krankenhauses für tot erklärt und Huff verhaftet worden war. Er wurde wegen Totschlags verhaftet, da er die Pistole auf Chris abgefeuert und dadurch den tödlichen Unfall verursacht hatte.

Huff war nicht mehr in der Lage, irgendwelche Entscheidungen zu fällen, weshalb Beck in seinem Namen den Strafverteidiger angerufen hatte, den Chris zuvor für sich beauftragt hatte. Er hatte sich einverstanden erklärt, stattdessen Huff zu vertreten, und war so schnell nach Destiny gebraust, wie es sein frisierter Lexus zuließ.

Ein Assistent aus dem Büro des Staatsanwalts war von Wayne Scott abgestellt worden, Sayre und Beck als Zeugen zu vernehmen. Beide hatten mehrmals die Ereignisse aus ihrer Sicht geschildert. Becks Aussage brachte das meiste Licht in die Sache. Er hatte nichts ausgelassen und ausführlich erklärt, wie die belauschte Unterhaltung zu dem Schuss auf Chris geführt hatte.

»Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass Huff ins Werk gekommen war, um mich für meinen Verrat zu erschießen«, hatte er dem Staatsanwaltsgehilfen erklärt. »Ich wusste, dass ich genau wie die beiden denken und handeln musste, wenn ich sie wirklich treffen wollte. Ich musste einer von ihnen werden.«

Sayre hatte mit wachsendem Entsetzen zugehört. Aus Liebe zu seinem eigenen Vater und aus Pflichtgefühl war Beck zum verabscheuten Anwalt der Hoyles geworden.

»Aber als Huff hörte, wie Chris den Auftrag zu Dannys Ermordung zugab, ist er durchgedreht. Er feuerte die Pistole aus einem Impuls heraus. Die Kugel hat Chris zwar verfehlt, aber Chris taumelte vor Schreck wild rudernd zurück. Dabei traf er zufällig den ungesicherten Startknopf des Förderbandes. Der schadhafte Treibriemen zerriss. Er schleuderte Metallspäne wie Granatsplitter durch die Luft. Einer davon traf Chris.«

Schließlich hatte man Sayre entlassen, während Beck noch bleiben und seine Aussage ein letztes Mal wiederholen musste. Man ermahnte ihn, dass er damit gegen sein Berufsgeheimnis verstieß und dass das Konsequenzen für seine Tätigkeit als Anwalt haben würde. Er blieb trotzdem bei seiner Version.

Nachdem Sayre heimgeschickt worden war, wusste sie nichts mit sich anzufangen. Weil sie weder in das Haus zurückkehren wollte, das nicht mehr ihr Zuhause war, noch in ihr trübseliges Motel, war sie ihrem Instinkt gefolgt und hierhergefahren, um Becks Rückkehr abzuwarten.

Jetzt sank er in den freien Liegestuhl und kratzte den glückseligen Frito hinter den Ohren. »Ich wünschte, wir könnten alle so leben wie er«, bemerkte Beck. »Für ihn ist jeder Tag ein neuer Tag. Was gestern passiert ist, ist vergessen, und was morgen sein wird, interessiert ihn nicht.«

»Und was wird morgen sein?«

»Gegen Huff wird Anklage erhoben. Wir beide werden wahrscheinlich nicht belangt. Dafür müssen wir bei seiner Verhandlung aussagen.«

»Das habe ich mir schon gedacht.«

»Es sei denn, er bekennt sich schuldig.«

»Hältst du das für möglich?«

»Es würde mich nicht überraschen. Er hat ihnen erzählt, wo sie Iversons Leichnam finden können. Red Harper hat zugegeben, damals Beihilfe geleistet zu haben. Er wird sich ebenfalls verantworten müssen. Falls er lange genug lebt.«

Beck beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und drückte erschöpft die Daumenballen in die Augen. »Huff ist ein gebrochener Mann, Sayre. Bevor ich fuhr, habe ich noch einmal in seiner Zelle nach ihm gesehen.«

»Wie hat er reagiert, als er dich sah?«

»Gar nicht. Er lag zusammengerollt auf seiner Pritsche und weinte zum Gotterbarmen. Huff Hoyle, zu einem Bündel Elend verkommen.« Er sagte das leise und bedrückt. »Ich glaube, er hätte Chris alles verziehen, aber nicht, dass er einen der Seinen ermorden ließ. Wenn Chris den Präsidenten erschossen hätte, hätte Huff ihn gedeckt und bis zum letzten Atemzug verteidigt. Aber den eigenen Bruder zu töten? Das konnte Huff nicht zulassen. Das verstieß gegen seinen Familiensinn.«

»Ich frage mich, woher er den hatte«, sagte Sayre. »Es ist nicht so, als wäre er im Schoß einer Großfamilie aufgewachsen. Er hat nie über seine Eltern gesprochen und nur immer erklärt, dass beide gestorben seien, als er noch klein war.«

Beck sann kurz darüber nach und sagte dann: »Einmal saß ich abends mit ihm zusammen, als Chris aus war und Huff eine Menge Bourbon getrunken hatte. Er schwadronierte vor sich hin, aber dabei kam er zufällig darauf zu sprechen, wie sein Vater gestorben war. Er sagte: ›Die Schweine wussten nicht mal seinen Namen.‹«

»Wen meinte er damit?«

»Das hat er nicht verraten. Mehr hat er damals nicht gesagt. Vielleicht war es nur unzusammenhängendes, belangloses Geschwätz. Oder es kam aus tiefstem Herzen.«

Sie sah auf den Rasen hinaus und seufzte. »Wenn ich mir vorstelle, wie viel Kraft es ihn gekostet hat, diesen Schuss abzugeben… Er hat versucht, das zu zerstören, was er am meisten liebte.«

»Chris war auch seine letzte Hoffnung auf ein Enkelkind. Er hat sich auch die letzte Möglichkeit dazu genommen. Trotzdem brauchst du ihn nicht zu bemitleiden, Sayre. Er hat Chris zu dem gemacht, was er war. Er hat ihn so gezüchtet.«

»Und er hat mein Baby ermordet. Ich vermute, er hat es nie als eines der Seinen betrachtet.«

Beck nahm ihre Hand und drückte sie.

»Bist du hungrig?«, fragte sie.

Sie gingen ins Haus. Sie hatte auf der Herfahrt ein Brathähnchen gekauft. Gemeinsam deckten sie den Tisch, wobei sie jedes Mal Frito umkurven mussten, der sie auf Schritt und Tritt verfolgte, als würde er befürchten, dass sie ihn wieder allein lassen könnten.

»Ich habe mit Luce Daly gesprochen«, sagte sie. »Clark wird morgen oder übermorgen aus dem Krankenhaus entlassen. Seine Kollegen haben sich dafür eingesetzt, dass er sie während der Inspektion vertritt. Er wird nicht viel arbeiten können, bis er sich ganz erholt hat, aber das Vertrauensvotum sollte seine Genesung beschleunigen. Außerdem ist er guten Mutes, seit er weiß, dass die Männer, die ihn überfallen haben, im Gefängnis sitzen. Luce dankt dir dafür, dass du Wort gehalten hast.«

»Die Namen an Wayne Scott weiterzugeben war das Mindeste, was ich tun konnte.«

»Außerdem habe ich Jessica DeBlance angerufen und ihr erzählt, was heute vorgefallen ist. Ich kam den Nachrichten nur eine halbe Stunde zuvor, und sie war sehr froh, dass ich ihr Bescheid gegeben hatte, ehe sie alles aus den Medien erfuhr. Sie ist eine Seele von Mensch, Beck. Als ich ihr gestand, dass Danny mich angerufen hatte, beschwor sie mich, mir deshalb keine Gewissensbisse zu machen. Sie sagte, Danny würde nicht wollen, dass ich mich schuldig fühlte. Sie sagte auch, dass sie für uns alle beten würde, Chris eingeschlossen. Ich bin froh, dass Danny diese alles verzeihende Liebe kennen lernen durfte, wenn auch nur für kurze Zeit.«

»Das kann ich verstehen.«

»Ich glaube, du würdest Jessica mögen.«

»Vielleicht wird sie mich weniger mögen«, sagte er. »Für die meisten Einheimischen bin ich immer noch der Feind.«

»Du könntest deine Identität als Charles Nielson enthüllen.«

»Nein, der sollte wieder in dem Dunkel verschwinden, aus dem er aufgetaucht ist. Die öffentliche Aufmerksamkeit kommt und geht. In ein paar Monaten wird sich niemand mehr an ihn erinnern.«

»Was ist mit den Männern und Frauen, die für ihn gestreikt haben? Und den Pauliks.«

»Nielson wird ihnen einen anderen Anwalt empfehlen. Einen besseren.«

»Was wirst du tun?«

»Zukünftig, meinst du? Das liegt an dir, Sayre. Praktisch gesehen gehört Hoyle Enterprises jetzt dir. Ich arbeite für dich. Was soll ich für dich tun?«

»Kannst du mir Prokura erteilen?«

»Solange Huff in dieser Verfassung ist, sollte das kein Problem sein.«

»Sobald das geschehen ist und ich die Entscheidungsbefugnis habe, möchte ich, dass du Hoyle Enterprises zum Verkauf anbietest. Ich will das Werk nicht haben, aber ich will es auch nicht einfach schließen und die Stadt ohne wirtschaftliche Basis zurücklassen. Sobald die Forderungen der Arbeitssicherheitsbehörde erfüllt sind, verkaufst du die Firma an ein verantwortungsbewusstes Unternehmen. Das kompromisslos alle Sicherheits-und Arbeitsvorschriften einhält, sonst wird nicht verkauft.«

»Ich verstehe und bin einverstanden. Ich hätte schon einige exzellente Interessenten. Unternehmen, die sich an mich gewandt hatten. Ich sagte ihnen, dass Huff nie verkaufen würde. Sie werden sich freuen, dass sich das geändert hat.«

»Solange das Werk wegen der Inspektion geschlossen bleibt, erhalten die Angestellten ihren Lohn.«

»In Ordnung«, sagte er. »Ich bleibe an Bord, bis alles geklärt ist.«

»Und dann?«

»Mache ich mich vielleicht als Berater selbstständig. Mit meinen Kenntnissen könnte ich in größeren Unternehmen wie Hoyle Enterprises zwischen Management und Belegschaft vermitteln. Ich habe weiß Gott genug Erfahrungen gesammelt, und zwar auf beiden Seiten.«

Sie hatten geglaubt, hungrig zu sein, doch als sie zu essen begannen, erkannten sie, dass sie kaum Appetit hatten. Sayre knabberte an einem Butterbiskuit. »Du hast mir erzählt, dass deine Mutter noch lebt. Stimmt das?«

»Und wie.«

»Ich würde sie gern kennen lernen.«

»Das hast du schon. In Charles Nielsons Büro.«

»Brenda?«, rief sie.

»Als ich durch die Tür kam und dich dort stehen sah, war ich im ersten Moment vollkommen perplex, aber Mom ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.«

»Nein, wirklich nicht. Darauf wäre ich nie gekommen.«

»Sie fand dich fantastisch. Schick. Smart. Mal sehen… alle Eigenschaften fallen mir nicht mehr ein, aber alles in allem pries sie dich in den glühendsten Farben. Weißt du noch, wie du aus dem Gebäude kamst und ich angeblich gerade versuchte, Nielson in Dayton aufzuspüren?«

»In Cincinnati.«

»Also, da habe ich in Wahrheit mit ihr gesprochen. Sie hat mir ordentlich den Kopf gewaschen, weil ich so unhöflich zu dir war.«

»Sie muss gestern entsetzliche Ängste ausgestanden haben, nachdem du niedergeschlagen wurdest. Kein Wunder, dass sie hier anrief und sich in Mr. Nielsons Auftrag nach dir erkundigen wollte.«

»Ich habe eben auf der Herfahrt mit ihr telefoniert. Und ihr erzählt, was heute alles passiert ist. Über zwei Jahrzehnte waren wir damit beschäftigt, die Hoyles zu Fall zu bringen. Sie ist unglaublich erleichtert, dass alles vorbei ist. Und noch erleichterter, dass mir nichts passiert ist. Sie hatte immer befürchtet, dass Chris oder Huff entdecken könnten, wer ich wirklich war, und dass ich wie Gene Iverson verschwinden oder bei einem Unfall sterben könnte wie mein Vater.«

»Wer ist eigentlich Mr. Merchant?«

»Der starb vor einigen Jahren. Er war ein guter Mann. Ein kinderloser Witwer. Er war verrückt nach meiner Mutter und liebte mich wie seinen eigenen Sohn. Ich hatte das Glück, zwei gute Väter zu haben.«

Sie stand auf und begann den Tisch abzuräumen. »Ja, das hattest du. Ich hatte nicht einen.« Sie stellte das Geschirr in ihrer Hand auf der Küchentheke ab und kehrte zum Tisch zurück, um noch mehr zu holen.

Beck hielt sie an der Taille fest und zog sie zwischen seine Schenkel. »Sobald ich hier fertig bin und offiziell gekündigt habe, werde ich wegziehen und woanders meine Beratungsfirma aufziehen.«

»Weißt du schon, wo?«

»Ich hatte gehofft, dass du mir was vorschlagen könntest.« Er blickte ihr vielsagend in die Augen.

»Ich kenne da tatsächlich eine bezaubernde Stadt«, sagte sie. »Mit tollen Parks. Genialem Essen. Das Wetter schlägt ab und zu Kapriolen, aber Frito stört sich doch nicht an etwas Nebel, oder?«

»Ich glaube, er würde ihn lieben. Ich würde es jedenfalls. Solange ich ab und zu hierherkommen und ein, zwei Schalen Gumbo essen kenn.«

»Soll ich dir was verraten? Ich lasse es mir tiefgefroren schicken.«

»Nein!«

»Ja.« Sie fuhr mit den Fingern durch sein Haar, aber im nächsten Moment erlosch ihr liebevolles Lächeln. »Wir kennen uns erst seit zwei Wochen, Beck. Und es waren zwei ziemlich turbulente Wochen.«

»Das ist noch untertrieben.«

»Ja. Ist es nicht zu früh, um darauf eine Zukunft aufbauen zu wollen?«

»Möglich«, sagte er.

»Vielleicht wäre es nur fair uns selbst gegenüber, wenn wir uns Zeit ließen und erst ausprobierten, wie es mit uns läuft, bevor wir eine feste Bindung eingehen.«

»Ich glaube auch.«

»Wie lange brauchst du dazu?«

Sie sah auf die Uhr. »Vielleicht bis Viertel vor?«

Er lächelte und lachte dann leise. »Ich brauche bei weitem nicht so lang.« Ihre Taille umfassend, vergrub er sein Gesicht zwischen ihren Brüsten und seufzte schwer. »Die Hoyles zu Fall zu bringen war mein einziges Ziel und hat alles andere ausgeblendet. Seit dem Tod meines Dads habe ich alle meine Entscheidungen danach ausgerichtet, ob sie diesem Zweck dienen würden. Aber jetzt ist alles vorbei, und… ich bin so unendlich müde, Sayre.«

»Ich bin es auch müde, immer wütend zu sein. Dass Huff gebrochen wurde, bereitet mir keine Triumphgefühle. Ich bin froh, dass er endlich für seine Verbrechen einstehen muss, aber im Grunde ist er eine tragische Gestalt. All das lässt einen nicht gerade jubeln, meinst du nicht auch?«

»Nein, jubeln bestimmt nicht. Vielleicht Frieden finden.«

»Vielleicht.«

Er breitete die Hand über ihren Bauch und massierte ihn sanft. »Von allem, was er getan hat, fand ich das, was er dir angetan hat, das Schlimmste.«

Sie legte ihre Hand auf seine und ließ ihn innehalten. »Ich bin eine Hoyle, Beck. Wir sagen nicht immer die Wahrheit, und wir können grausam manipulativ sein.«

Er hob den Kopf und sah zu ihr auf.

»Ich habe Huff angelogen. Zugegeben, es war ein billiger Schuss, aber ich war so wütend und wollte ihn mitten ins Herz treffen.« Sie senkte die Stimme und hauchte: »Dr. Caroe hat keine irreparablen Schäden angerichtet.«

Sein Blick senkte sich auf ihren Nabel und zuckte dann wieder hoch. »Du kannst noch Kinder bekommen?«

»Es gibt keinen physischen Grund, der dagegen spräche. Und ich spiele mit dem Gedanken… dies Huff zu verraten.«

Er stand langsam auf und zog sie an seine Brust. »Das unterscheidet dich von ihnen, Sayre. Sie kannten keine Gnade. Du schon. Ich habe das in dir gesehen und dich von der ersten Sekunde an dafür geliebt.«

»Nein, Beck«, sagte sie und legte die Wange an seine Brust. »Das habe ich in dir gesehen.«

1

»Erinnerst du dich an Slap Watkins?«

»An wen?«

»Den Typen, der damals in der Bar rumgestänkert hat.«

»Etwas genauer, bitte. In welcher Bar? Wann?«

»An dem Abend, als du hier aufgetaucht bist.«

»Das war vor drei Jahren.«

»Yeah, aber das hast du bestimmt nicht vergessen.« Chris Hoyle beugte sich vor, um dem Gedächtnis seines Freundes auf die Sprünge zu helfen. »Das Großmaul, das den Streit angefangen hat? Mit einer Hackfresse, dass die Uhr stehen bleibt. Und Elefantenohren.«

»Ach, den. Klar. Mit den…« Beck hielt die Hände seitlich an den Kopf, als wären es riesige Ohren.

»Deshalb hat ihn jeder Slap genannt«, sagte Chris.

Beck zog eine Braue hoch.

»Immer wenn es windig wurde, sind ihm die Ohren…«

»An den Kopf geklatscht«, vollendete Beck den Satz.

»Wie ein offenes Gatter im Sturm.« Grinsend erhob Chris seine Bierflasche zu einem stummen Prost.

Die Blenden im Fernsehzimmer der Hoyles waren fest geschlossen, um die bohrenden Strahlen der Spätnachmittagssonne abzuhalten. Daher lag der Raum in einem angenehmen Halbdunkel, in dem das Fernsehbild wesentlich besser zu erkennen war. Es lief gerade ein Spiel der Braves. Ende des neunten Inning, und Atlanta konnte nur noch auf ein Wunder hoffen. Aber trotz des unerfreulichen Spielstandes gab es unangenehmere Arten, den Sonntagnachmittag zu verbringen, als in einem dunklen, klimagekühlten Fernsehzimmer eiskaltes Bier zu trinken.

Chris Hoyle und Beck Merchant hatten schon viele Stunden in diesem Raum vergeudet. Mit dem Riesenfernseher und der Surround-Anlage war er das perfekte Männer-Spielzimmer. Es gab hier eine komplett ausgestattete Bar mit eingebautem Eiswürfelautomaten, einen Kühlschrank voller Soft Drinks und Bier, einen Billardtisch, ein Dartboard und einen runden Kartentisch mit sechs Ledersesseln, von denen jeder so weich und anschmiegsam war wie der Busen des Covergirls auf der aktuellen Ausgabe von Maxim. Das Zimmer war mit Walnusswurzelholz verkleidet und mit massiven Möbeln eingerichtet, die sich nur wenig abnutzten und kaum Pflege brauchten. Die Luft roch nach Tabak und war testosterongeschwängert.

Beck öffnete die nächste Flasche Bier. »Und was ist mit diesem Slap?«

»Er ist wieder da.«

»Ich wusste gar nicht, dass er weg war. Wenn ich es recht überlege, habe ich ihn sowieso nur das eine Mal gesehen, und da waren mir die Augen zugeschwollen.«

Chris erinnerte sich lächelnd. »Für eine Barkeilerei ging es damals ganz schön zur Sache. Du hast dir eine ganze Salve von Slaps gut gesetzten Schlägen eingefangen. Mit den Fäusten konnte er schon immer umgehen. Das hat er gelernt, weil er immerzu die Klappe aufreißen musste.«

»Wahrscheinlich, weil ihn dauernd jemand wegen seiner Ohren verarschen wollte.«

»Bestimmt. Jedenfalls hat ihm seine Klappe einen Haufen Ärger eingebracht. Schon bald nach unserer kleinen Meinungsverschiedenheit begann er eine Fehde mit dem Ex seiner Schwester. Es ging um einen Rasenmäher, glaube ich. An einem Abend beim Krabbenkochen spitzte sich die Sache so zu, dass Slap seinem Exschwager mit einem Messer hinterher ist.«

»Hat er ihn erwischt?«

»Es war nur eine Fleischwunde. Aber die ging quer über den Bauch des Typen und war immerhin so blutig, dass sie Slap eine Anklage wegen schwerer Körperverletzung einbrachte, die wahrscheinlich auf versuchten Totschlag hätte lauten müssen. Sogar Slaps eigene Schwester hat damals gegen ihn ausgesagt. Die letzten drei Jahre hat er in Angola abgesessen, und jetzt ist er auf Bewährung rausgekommen.«

»Wie schön für uns.«

Chris sah ihn ernst an. »Nicht wirklich. Slap hat es auf uns abgesehen. Jedenfalls hat er das gesagt, als er vor drei Jahren im Streifenwagen weggefahren wurde. Er fand es unfair, dass er verhaftet wurde und wir nicht. Damals hat er Beleidigungen und Drohungen ausgestoßen, bei denen es mir heute noch kalt über den Rücken läuft.«

»Kann mich gar nicht erinnern.«

»Wahrscheinlich, weil du da auf der Toilette warst, um deine Wunden auszuspülen. Jedenfalls«, fuhr Chris fort, »ist Slap ein aggressiver und wenig vertrauenswürdiger Loser, ein echter Assi, der nichts kann außer streiten, aber das dafür erstklassig. Wir haben ihm damals eine schwere Schlappe zugefügt, und ich bezweifle, dass das vergeben und vergessen ist, auch wenn er hackedicht war. Nimm dich vor ihm in Acht.«

»Ich betrachte mich hiermit als gewarnt.« Beck schaute über die Schulter in Richtung Küche. »Bin ich zum Essen eingeladen?«

»Wie immer.«

Beck rutschte noch tiefer in das Sofa, auf dem er sich breitgemacht hatte. »Super. Ich weiß nicht, was da im Ofen ist, aber mir wird schon vom Duft der Mund wässrig.«

»Kokoskuchen. Niemand macht besseren Kokoskuchen als Selma.«

»Da kann ich nicht widersprechen.«

Chris’ Vater Huff Hoyle trat in den Raum, das erhitzte Gesicht mit einem Strohhut befächelnd. »Gebt mir sofort ein Bier. Ich bin so verflucht durstig, dass ich keinen Tropfen Spucke zusammenkriegen würde, selbst wenn mein Schwanz in Flammen stände.«

Er hängte den Hut an einen Garderobenständer, ließ sich schwer in seinen Fernsehsessel fallen und wischte mit dem Ärmel über seine Stirn. »Verflucht, ist das eine Scheißhitze.« Seufzend sank er in die kühlen Lederpolster zurück. »Danke, Sohn.« Er nahm die eiskalte Bierflasche entgegen, die Chris ihm geöffnet hatte, und deutete damit auf den Fernseher. »Wer gewinnt?«

»Atlanta bestimmt nicht. Außerdem ist es gerade vorbei.« Beck drehte den Fernseher stumm, während die Kommentatoren das Spiel sezierten. »Wen interessiert schon, warum sie verloren haben. Der Endstand sagt alles.«

Huff grunzte zustimmend. »Die Braves konnten die Saison von dem Moment an abschreiben, als sie zugelassen haben, dass diese überbezahlten, ausländischen Primadonnen den Besitzern vorschreiben, wo’s langgeht. Ein entscheidender Fehler. Das hätte ich ihnen gleich sagen können.« Er nahm einen langen Schluck, mit dem er die Flasche praktisch leerte.

»Hast du den ganzen Nachmittag Golf gespielt?«, fragte Chris.

»Zu heiß.« Huff zündete sich eine Zigarette an. »Wir haben drei Löcher gespielt, dann haben wir ›Scheiß drauf‹ gesagt und sind ins Clubhaus, um Gin Rummy zu spielen.«

»Wie viel hast du ihnen heute abgenommen?«

Die Frage war nicht, ob Huff gewonnen oder verloren hatte. Er hatte noch immer gewonnen.

»Ein paar Hunderter.«

»Gut gelaufen«, kommentierte Chris.

»Wenn du nicht gewinnst, brauchst du auch nicht zu spielen.« Er zwinkerte erst seinem Sohn, dann Beck zu. Mit einem tiefen Schluck leerte er sein Bier. »Hat einer von euch was von Danny gehört?«

»Der wird irgendwann hier auftauchen«, sagte Chris. »Das heißt, wenn er den Besuch irgendwo zwischen dem Sonntagsgottesdienst und dem Abendgebet unterbringen kann.«

Huffs Blick wurde düster. »Versau mir nicht die Laune, indem du davon sprichst. Ich will mir nicht den Appetit verderben.«

Wie Huff gern und oft predigte, waren Gebete, fromme Gesänge und Gottesdienste nur etwas für Weiber oder für Männer, die wie Weiber waren. Für ihn stand die organisierte Religion auf einer Stufe mit dem organisierten Verbrechen, nur dass die Kirchen straffrei blieben und Steuervorteile genossen, und darum waren ihm diese heiligen Brüder genauso zuwider wie Schwule oder Gewerkschafter.

Chris lenkte das Gespräch taktvoll von seinem jüngeren Bruder und dessen jüngster Hinwendung zur Spiritualität weg. »Ich habe Beck eben erzählt, dass Slap Watkins auf Bewährung freigekommen ist.«

»Asozialer Dreck«, knurrte Huff und streifte mit den Zehen die Schuhe vom Fuß. »Und zwar der ganze Haufen, angefangen mit Slaps Großvater, dem verkommensten Halunken auf Gottes weiter Welt. Sie haben ihn schließlich im Straßengraben gefunden, mit einer zerbrochenen Whiskyflasche in der Kehle. Offenbar hat er einmal zu oft Streit gesucht. In der Familie muss es irgendwo Inzucht gegeben haben. Die ganze Sippe ist hässlich wie die Sünde und dumm wie Brot.«

Beck lachte. »Möglich. Aber ich stehe trotzdem in Slaps Schuld. Wenn er nicht gewesen wäre, säße ich nicht hier und würde mich bekochen lassen.«

In Huffs Blick lag eine Zuneigung, die er sonst nur seinen Söhnen gegenüber zeigte. »Nein, Beck, es war dir von Anfang an bestimmt, auf Gedeih und Verderb einer von uns zu werden. Dass wir dich gefunden haben, hat diesen ganzen Gene-Iverson-Schlamassel letztendlich aufgewogen. Du warst das einzig Gute an der ganzen Geschichte«

»Du und die gespaltene Jury«, ergänzte Chris. »Diese zwölf dürfen wir nicht vergessen. Wenn sie nicht gewesen wären, säße ich nicht hier und würde aufs Sonntagsessen warten. Stattdessen könnte ich mir mit Typen wie Slap Watkins eine Zelle teilen.«

Chris mokierte sich oft darüber, dass man ihn des Mordes an Gene Iverson angeklagt hatte. Seine launigen Scherze über diesen Vorfall verursachten bei Beck unweigerlich ein flaues Gefühl, so wie jetzt auch. Er wechselte das Thema. »Ich spreche nur ungern an einem Sonntag eine Geschäftsangelegenheit an.«

»In meinem Kalender ist jeder Tag ein Werktag«, wies ihn Huff zurecht.

Chris stöhnte. »In meinem Kalender nicht, o nein. Ist es was Unangenehmes, Beck?«

»Möglicherweise.«

»Kann es dann nicht bis nach dem Essen warten?«

»Klar, wenn euch das lieber ist.«

»Auf keinen Fall«, sagte Huff. »Du weißt, wie ich zu schlechten Nachrichten stehe. Ich höre sie lieber früher als später. Und ganz bestimmt will ich damit nicht bis nach dem Essen warten. Also, worum geht es, Beck? Sag nicht, dass uns das Umweltamt schon wieder eine Strafzahlung aufgedrückt hat, weil die Kühlteiche …«

»Nein, darum geht es nicht. Nicht direkt.«

»Worum dann?«

»Moment noch. Ich schenke uns erst mal was zu trinken ein«, meinte Chris zu Huff. »Du hörst schlechte Nachrichten lieber früher als später, ich höre sie am liebsten mit einem Glas Bourbon in der Hand. Willst du auch einen?«

»Viel Eis, kein Wasser.«

»Beck?«

»Für mich nicht, danke.«

Chris ging an die Bar und griff nach einer Whiskykaraffe und zwei Gläsern. Dann beugte er sich zum Fenster, spähte zwischen den Lamellen der Blende hindurch und drehte gleich darauf die kleine Kurbel, um den Spalt zu vergrößern. »Wer kommt denn da?«

»Wer kommt denn da?«, echote Huff.

»Der Wagen des Sheriffs hat gerade angehalten.«

»Na, was glaubst du, was er von uns will? Heute ist Zahltag.«

Den Blick immer noch nach draußen gerichtet, antwortete Chris: »Das glaube ich nicht, Huff. Er hat jemanden dabei.«

»Und wen?«

»Keine Ahnung. Hab ich noch nie gesehen.«

Chris schenkte die Gläser ein und brachte eines davon seinem Vater, aber dann lauschten die drei schweigend, wie Selma auf das Läuten der Türglocke hin von der Küche auf der Rückseite der Villa zur Haustür ging. Die Haushälterin begrüßte die Besucher, aber der Wortwechsel war zu gedämpft, als dass man etwas verstanden hätte. Schritte näherten sich dem Fernsehzimmer. Dann erschien Selma in der Tür, gefolgt von den beiden Besuchern.

»Mr. Hoyle, Sheriff Harper möchte Sie sprechen.«

Huff machte ihr ein Zeichen, den Sheriff hereinzubitten.

Sheriff Red Harper war dreißig Jahre zuvor in sein Amt gewählt worden, nachdem Huff seine Kampagne massiv unterstützt und seinen Sieg sichergestellt hatte. Seither war der Sheriff dank Huffs Brieftasche im Amt geblieben.

Sein einst feuerrotes Haupthaar war matt geworden, so als wäre es auf seinem Kopf verrostet. Red Harper war fast einen Meter neunzig groß, aber so dünn, dass der dicke Ledergürtel mit den Insignien seines Amtes an ihm herabhing wie ein Fahrradschlauch an einem Zaunpfahl.

Er wirkte ausgelaugt, und das nicht nur wegen der Gluthitze draußen. Sein Gesicht war lang und hager, als hätten drei Jahrzehnte der Korruption und des schlechten Gewissens daran gezehrt. Sein jammervolles Auftreten war das eines Mannes, der sich unter Wert dem Teufel verkauft hatte. Er war ohnehin keine Frohnatur, doch als er jetzt ins Zimmer trat und den Hut absetzte, wirkte er noch niedergeschlagener als sonst.

Im Gegensatz dazu erschien der junge Officer an seiner Seite, den sie alle noch nie gesehen hatten, mitsamt seiner Uniform wie in ein Stärkebad getaucht. Er war so glatt rasiert, dass seine Wangen rosa leuchteten. Außerdem wirkte er angespannt und hellwach wie ein Sprinter vor dem Startschuss.

Red Harper begrüßte Beck mit einem knappen Nicken. Dann sah der Sheriff auf Chris, der neben Huffs Sessel stand. Schließlich blieben seine trüben Augen an Huff hängen, der in seinem Sessel sitzen geblieben war.

»Abend, Red.«

»Huff.« Statt Huff direkt anzusehen, senkte er den Blick auf die Hutkrempe, die er rastlos zwischen den Fingern drehte.

»Was zu trinken?«

»Nein danke.«

Huff war dafür bekannt, dass er für niemanden aufstand. Eine solche Respektsbezeugung blieb allein Huff Hoyle vorbehalten, das wusste jeder im Parish. Diesmal aber hielt Huff die Spannung nicht mehr aus, drückte die Fußstütze des Sessels nach unten und erhob sich.

»Was ist denn los? Und wer ist das?« Er musterte den blank gewienerten Begleiter von Kopf bis Fuß.

Red räusperte sich. Er ließ die Hand mit dem Hut sinken und klopfte nervös damit gegen den Schenkel. Erst nach einer halben Ewigkeit sah er Huff in die Augen. An alldem erkannte Beck, dass der Sheriff nicht nur hier war, um den monatlichen Scheck abzuholen, sondern aus gewichtigeren Gründen.

»Es ist wegen Danny…«, setzte er an.

2

Der Highway war kaum wiederzuerkennen. Unzählige Male hatte Sayre Lynch die Strecke zwischen dem New Orleans International Airport und Destiny zurückgelegt. Aber heute kam es ihr so vor, als würde sie ihn das erste Mal befahren.

Im Namen des Fortschritts war all das, was diese Gegend einst unverwechselbar gemacht hatte, zugebaut oder vernichtet worden. Der Charme des ländlichen Louisiana war dem grellen Kommerz geopfert worden. Kaum etwas Idyllisches oder Pittoreskes hatte die Zerstörungswut überstanden. Sie hätte überall in den USA sein können.

Wo sich einst nur kleine Familiencafés befunden hatten, gab es nun Fastfood-Läden. Hausgemachter Hackbraten und Muffaletta-Sandwiches waren durch Chicken Wings und Supersize-Meals ersetzt worden. Statt handgemalter Schilder leuchteten überall Neonröhren. Die täglich mit Kreide geschriebene Speisekarte war einer körperlosen Stimme hinter dem Drive-Through-Schalter gewichen.

Während der zehn Jahre ihrer Abwesenheit waren die mit spanischem Moos behangenen Bäume wegplaniert worden, um zusätzlichen Fahrspuren Platz zu machen. Nach der Verbreiterung wirkte das Flussdelta entlang der Straße längst nicht mehr so unermesslich und mysteriös. Die früher unwegsamen Sumpfgebiete waren jetzt von Auf- und Abfahrten eingefasst, auf denen sich SUVs und Lieferwagen drängten.

Erst jetzt begriff Sayre, wie tief ihr Heimweh saß. Gleichzeitig weckten die radikalen Veränderungen in der Landschaft nostalgische Erinnerungen an die Lebensart von früher. Sie sehnte sich nach dem Duftgemisch von Cayenne und Filé. Sie wünschte sich das Patois der Bedienungen zu hören, wenn sie Cajun-Gerichte auftrugen, die sich nicht innerhalb von drei Minuten zubereiten ließen.

Auch wenn die Superhighways die Reisezeit verkürzten, so wünschte sie sich doch die alte, ihr bekannte Allee zurück, die so dicht von Bäumen gesäumt gewesen war, dass sich die Laubkronen wie ein Baldachin über dem Asphalt geschlossen und ein spitzengeklöppeltes Muster aus Licht und Schatten auf den Asphalt gemalt hatten.

Sie sehnte sich danach, wie früher mit offenem Fenster fahren zu können und statt Auspuffgasen die weiche Luft einzuatmen, die nach Geißblatt und Magnolien und dem fruchtbaren Aroma der Sümpfe roch.

Die während des letzten Jahrzehnts vorgenommenen Veränderungen stachen ihr ins Auge und beleidigten ihre Erinnerungen an den Ort, an dem sie aufgewachsen war. Andererseits waren die Veränderungen in ihrem eigenen Leben nicht weniger einschneidend, wenn auch vielleicht nicht so offensichtlich.

Das letzte Mal hatte sie diese Straße in der Gegenrichtung befahren, fort von Destiny. An jenem Tag hatte sie sich mit jeder Meile Entfernung befreiter gefühlt, als würde sie sich immer und immer wieder wieder häuten und eine negative Aura nach der anderen abschütteln. Heute kehrte sie zurück, und die düstere Vorahnung beschwerte sie wie eine Bleiweste.

Ihr Heimweh allein hätte unmöglich so quälend sein können, dass sie noch einmal in diese Gegend zurückgekehrt wäre. Nur der Tod ihres Bruders Danny hatte sie dazu veranlassen können. Offenbar hatte er sich Huff und Chris widersetzt, so lange er konnte, und war ihnen dann auf die einzige Weise entkommen, die ihm seiner Meinung nach noch offen gestanden hatte.

Passenderweise sah sie als Erstes die Schlote, als sie sich den Randbezirken von Destiny näherte. Feindselig erhoben sie sich über die Stadt, groß und schwarz und hässlich. Qualm waberte über ihnen, wie an jedem anderen Tag des Jahres. Es wäre zu kostspielig und unwirtschaftlich gewesen, die Schmelzöfen zu löschen, obwohl es eine Verbeugung vor Dannys Tod bedeutet hätte. Wie sie Huff kannte, war es ihm gar nicht in den Sinn gekommen, seinem jüngsten Kind eine solche Ehre zu erweisen.

Auf der Werbetafel an der Stadtgrenze war zu lesen: »Willkommen in Destiny, der Heimat von Hoyle Enterprises.« Als könnte man darauf stolz sein, dachte sie. Ganz im Gegenteil. Huff hatte mit dem Guss von Rohrleitungen einen Haufen Geld gemacht, aber es war blutiges Geld.

Im Ort steuerte sie den Wagen durch jene Straßen, die sie zuerst auf dem Fahrrad erforscht hatte. Später hatte sie hier das Autofahren gelernt. Als Teenager war sie mit ihren Freundinnen darauf hin und her gefahren, immer auf der Suche nach Action, Jungs oder was sich sonst zum Zeitvertreib angeboten hatte.

Sie hörte die Orgelmusik schon, als sie noch einen ganzen Block von der First United Methodist Church entfernt war. Ihre Mutter, Laurel Lynch Hoyle, hatte die Orgel gestiftet. Auf den Pfeifen prangte eine Messingplakette zu ihrem Gedenken. Die Orgel, die einzige mechanische Orgel in Destiny, war der ganze Stolz der kleinen Gemeinde. Keine der katholischen Kirchen konnte mit so etwas aufwarten, und Destiny war überwiegend katholisch. Es war ein großzügiges und aufrichtig gemeintes Geschenk gewesen, aber es war ein weiteres Symbol dafür, dass die Hoyles über die Stadt und all ihre Bewohner herrschten und sich von niemandem übertreffen lassen wollten.

Wie herzzerreißend, dass diese Orgel nun ein Trauerlied für eines von Laurel Hoyles Kindern spielte, für ihren Sohn, der fünfzig Jahre zu früh und durch die eigene Hand gestorben war.

Sayre hatte die Nachricht am Sonntagnachmittag erhalten, als sie nach einem Meeting mit einem Kunden in ihr Büro zurückgekommen war. Gewöhnlich arbeitete sie sonntags nicht, aber dieser Kunde hatte nur an diesem Tag einen Termin frei gehabt. Julia Miller hatte erst kurz zuvor ihr fünfjähriges Jubiläum als Sayres Assistentin gefeiert. Sie hätte Sayre keinesfalls an einem Sonntag arbeiten lassen, ohne selbst ins Büro zu kommen. Während Sayres Besprechung mit ihrem Kunden hatte Julia Büroarbeiten erledigt.

Als Sayre ins Büro zurückgekommen war, hatte Julia ihr einen rosa Post-it gereicht. »Dieser Herr hat dreimal für Sie angerufen, Ms. Lynch. Er wollte Ihre Handynummer haben, aber die habe ich ihm nicht gegeben.«

Sayre warf einen Blick auf die Vorwahl, knüllte den Zettel zusammen und warf ihn in den Papierkorb. »Ich wünsche mit niemandem aus meiner Familie zu sprechen.«

»Es ist niemand aus Ihrer Familie. Er hat gesagt, dass er für Ihre Familie arbeitet. Und es sei sehr wichtig, dass er Sie so bald wie möglich spricht.«

»Ich spreche auch mit niemandem, der für meine Familie arbeitet. Sind noch mehr Nachrichten für mich da? Hat zufällig Mr. Taylor angerufen? Er wollte die Volants bis morgen schicken.«

»Es geht um Ihren Bruder«, platzte Julia heraus. »Er ist tot.«

Sayre blieb genau vor der Tür zu ihrem Privatbüro stehen. Mehrere lange Sekunden starrte sie durch die Fensterfront auf die Golden Gate Bridge. Nur die obersten Spitzen der orangefarbenen Träger stachen aus der dichten Nebeldecke. Das Wasser in der Bucht sah grau, kalt und düster aus. Wie eine böse Vorahnung.

Ohne sich umzudrehen, fragte sie: »Welcher?«

»Welcher was?«

»Bruder.«

»Danny.«

Danny, der in den letzten Tagen zweimal angerufen hatte. Danny, dessen Anrufe sie nicht entgegengenommen hatte.

Sayre drehte sich zu ihrer Assistentin um, die sie mitleidig ansah. Sie sagte behutsam: »Ihr Bruder Danny ist heute gestorben, Sayre. Ich wollte Ihnen das lieber persönlich und nicht am Handy sagen.«

Sayre atmete tief durch den Mund aus. »Wie?«

»Ich glaube, das sollten Sie diesen Mr. Merchant fragen.«

»Julia, bitte. Wie ist Danny gestorben?«

Sie senkte den Blick. »Anscheinend hat er sich umgebracht. Es tut mir leid.« Sie schluckte und ergänzte dann: »Mehr wollte mir Mr. Merchant nicht verraten.«

Daraufhin zog sich Sayre in ihr Büro zurück und schloss die Tür. Mehrmals hörte sie das Telefon im Vorzimmer läuten, aber Julia begriff, dass Sayre Zeit brauchte, um diese Nachricht zu verarbeiten, und stellte keinen der Anrufe durch.

Hatte Danny sie angerufen, um sich von ihr zu verabschieden? Falls ja, wie sollte sie dann damit weiterleben, dass sie sich geweigert hatte, mit ihm zu sprechen?

Nach etwa einer Stunde klopfte Julia zaghaft an ihre Tür. »Kommen Sie rein«, rief Sayre. Als Julia ins Zimmer trat, sagte Sayre: »Sie brauchen nicht zu bleiben, Julia. Gehen Sie nach Hause. Ich komme schon zurecht.«

Die Assistentin legte ein Blatt Papier auf ihren Schreibtisch. »Ich habe noch ein paar Sachen zu erledigen. Läuten Sie durch, wenn Sie mich brauchen. Kann ich Ihnen irgendwas bringen?«

Sayre schüttelte den Kopf. Julia zog sich zurück und schloss die Tür wieder. Auf dem Zettel, den sie hereingebracht hatte, waren Zeit und Ort der Bestattungsfeier notiert. Dienstagmorgen um elf.

Es hatte Sayre nicht überrascht, dass die Beerdigung so früh angesetzt war. Huff vergeudete prinzipiell keine Zeit. Er und Chris konnten es bestimmt kaum erwarten, die Sache über die Bühne und Danny unter die Erde zu bringen, damit sie so schnell wie möglich wieder zu ihrem gewohnten Leben zurückkehren konnten.

Andererseits kam es auch ihr zupass, dass die Bestattungsfeier schon so bald stattfinden sollte. Es hielt sie davon ab, sich lange den Kopf zu zerbrechen, ob sie hinfahren sollte oder nicht. Sie konnte nicht lange in ihrer Unentschlossenheit verharren, sondern war zu einer Entscheidung gezwungen.

Am Vortag hatte sie den Vormittagsflug über Dallas – Fort Worth nach New Orleans genommen und war am Spätnachmittag angekommen. Sie hatte einen Spaziergang durch das French Quarter gemacht, in einem Gumbo-Restaurant zu Abend gegessen und anschließend die Nacht im Windsor Court Hotel verbracht. Doch trotz aller Annehmlichkeiten, die das Luxushotel bot, hatte sie kaum ein Auge zugetan. Sie wollte nicht nach Destiny zurück. Auf keinen Fall. Es mochte eine idiotische Vorstellung sein, aber sie hatte Angst, in eine Falle zu tappen, aus der es kein Entrinnen gab, sodass sie für alle Zeiten in Huffs Klauen bleiben müsste.

Auch der anbrechende Tag hatte ihre Sorgen nicht vertrieben. Sie war aufgestanden, hatte sich für die Bestattungsfeier angezogen und sich auf den Weg nach Destiny gemacht, wo sie genau zu der Feier eintreffen und anschließend sofort wieder verschwinden wollte.

Die Menge der parkenden Autos drängte bereits aus dem überfüllten Parkplatz der Kirche in die angrenzenden Nebenstraßen. Sie musste mehrere Blocks von der Bilderbuchkirche mit den Buntglasfenstern und dem hohen, weißen Kirchturm entfernt parken. Gerade als sie unter das von Säulen getragene Vordach trat, begann die Kirchenglocke elf Uhr zu schlagen.

Verglichen mit draußen war es im Vorraum angenehm kühl, aber Sayre fiel auf, dass im Andachtsraum viele der Anwesenden kleine Papierfächer schwenkten, um die schwächelnde Klimaanlage zu unterstützen. Sie rutschte in die letzte Bank, während vorn der Chor die letzten Akkorde des Eröffnungsliedes sang und der Pastor an den Altar trat.

Während alle anderen den Kopf zum Gebet senkten, schaute Sayre auf den Sarg vor dem Altargeländer. Es war ein schlichter, versiegelter silberner Sarg. Das war gut so. Sie hätte es wohl nicht ertragen, Danny zum letzten Mal wie eine Wachspuppe in einem mit Satin ausgeschlagenen Sarg liegen zu sehen. Um nicht länger darüber zu sinnieren, konzentrierte sie sich auf das elegante, klare Arrangement von weißen Callas, das auf dem Sargdeckel lag.

Sie konnte weder Huff noch Chris in der Menge ausmachen, aber sie nahm an, dass beide in der ersten Bank saßen und angemessen trauernd dreinblickten. Bei der ganzen Heuchelei wurde ihr übel.

Sie wurde unter den noch lebenden Familienmitgliedern genannt. »Eine Schwester, Sayre Hoyle aus San Francisco«, dröhnte der Prediger.

Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte durch die Kirche gerufen, dass sie nicht mehr Hoyle hieß. Seit ihrer zweiten Scheidung verwendete sie ihren zweiten Vornamen, der zugleich der Mädchenname ihrer Mutter gewesen war. Irgendwann hatte sie ihren Namen offiziell in »Lynch« ändern lassen. Dieser Name stand auf ihrem College-Diplom, ihrer Geschäftspost, ihrem kalifornischen Führerschein und in ihrem Pass.

Sie war keine Hoyle mehr, aber sie zweifelte keine Sekunde daran, dass der Informant des Predigers absichtlich den falschen Nachnamen angegeben hatte.

Die Trauerrede stammte aus einem kirchlichen Predigtenbuch und wurde von einem Priester mit glänzendem Gesicht verlesen, der kaum volljährig wirkte. Seine Belehrungen waren an die Menschheit im Allgemeinen gerichtet. Danny als Individuum wurde kaum erwähnt, es gab kaum ein ergreifendes oder persönliches Wort, was umso trauriger war, als seine eigene Schwester sich geweigert hatte, mit ihm zu telefonieren.

Als der Gottesdienst unter dem Absingen von »Amazing Grace« schloss, war in der Trauergemeinde vereinzeltes Schniefen zu hören. Getragen wurde der Sarg von Chris, einem blonden, ihr unbekannten Mann und vier weiteren Männern, in denen sie leitende Angestellte von Hoyles Enterprises erkannte. Sie trugen den Sarg durch die Mittelreihe der Kirche nach draußen.

Weihevoll zog die Prozession an ihr vorbei, was ihr Gelegenheit gab, ihren Bruder Chris zu studieren. Er war genauso proper und gut aussehend wie damals und hatte immer noch die leicht verweichlichte Ausstrahlung eines Kinostars aus den dreißiger Jahren. Nur ein Menjou-Bärtchen fehlte ihm noch. Seine Haare waren immer noch schwarz wie Rabenschwingen, doch er trug sie kürzer als früher. Vorn hatte er sie mit Gel aufgestellt, ein eher hippes Styling für einen Mann von Ende dreißig, aber der Stil entsprach Chris. Seine Augen waren irritierend, weil die Pupillen in der dunklen Iris nicht zu erkennen waren.

Huff folgte dem Sarg als Erster. Selbst bei diesem Anlass umgab ihn eine Aura der Überheblichkeit. Er hatte die Schultern zurückgezogen und trug den Kopf hoch erhoben. Jeder Schritt war fest gesetzt, als wäre er ein Eroberer und besäße ein unveräußerliches Anrecht auf den Grund und Boden unter seinen Füßen.

Seine Lippen waren zu dem harten, dünnen, entschlossenen Strich zusammengeschmolzen, an den sie sich so gut erinnerte. Seine Augen glitzerten wie die schwarzen Knopfaugen eines Stofftiers. Sie waren trocken und klar; er hatte nicht um Danny geweint. Seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war sein ehemals grau meliertes Haar zu einem strahlenden Weiß ausgebleicht, aber er trug es immer noch militärisch-präzise kurz. Um die Taille hatte er ein paar Pfund zugelegt, aber er wirkte so unerschütterlich wie damals.

Zum Glück wurde sie weder von Chris noch von Huff bemerkt.

Um der Menge und der Gefahr, erkannt zu werden, zu entgehen, schlich sie durch eine Seitentür ins Freie. Ihr Auto war das letzte in der Prozession zum Friedhof. Sie parkte in gebührendem Abstand zu dem Zelt, das über dem frisch ausgehobenen Grab errichtet worden war.

In düsteren Gruppen oder allein erstiegen die Menschen die kleine Anhöhe, wo die Grabandacht abgehalten würde. Die meisten Trauernden hatten ihren Sonntagsstaat angelegt, obwohl die Achseln schon von Schweißringen gezeichnet und die Hutbänder mit feuchten Flecken gesprenkelt waren. Die Füße klemmten in Schuhen, die wegen des seltenen Tragens viel zu eng waren.

Viele dieser Menschen kannte Sayre persönlich. Es waren Ortsansässige, die ihr ganzes Leben in Destiny verbracht hatten. Einige führten kleine Geschäfte, aber die meisten von ihnen arbeiteten auf die eine oder andere Art für die Hoyles.

Sie erblickte mehrere Lehrer aus dem Kollegium der hiesigen Schulen. Ihre Mutter hatte sich so sehr gewünscht, dass ihre Kinder auf die exklusivsten Privatschulen des Südens geschickt werden sollten, aber Huff hatte sich stur gestellt. Er wollte, dass sie in Zucht und Ordnung und unter seinem gestrengen Auge aufwuchsen. Immer wenn das Thema aufkam, sagte er: »An einem Internat für verhätschelte Weichlinge lernt man nicht, wie man sich im Leben durchschlägt.« Wie bei allen Meinungsverschiedenheiten hatte ihre Mutter schließlich mit einem resignierenden Seufzen eingelenkt.

Sayre blieb bei laufendem Motor in ihrem Wagen sitzen. Zum Glück war die Ansprache kurz. Sobald sie zu Ende war, kehrten die Trauernden zu ihren Autos zurück, bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie eilig sie es hatten.

Huff und Chris waren die Letzten, die dem Priester die Hand reichten und dann das Zelt verließen. Sayre beobachtete, wie sie in die wartende Limousine stiegen, die ihnen Weir’s Funeral Institute zur Verfügung gestellt hatte. Der greise Mr. Weir ging immer noch seinem Beruf als Bestatter nach, obwohl für ihn selbst der letzte Gang längst überfällig gewesen wäre.

Er öffnete Chris und Huff den Wagenschlag und blieb dann in diskreter Entfernung stehen, während sich die beiden kurz mit dem blonden Sargträger unterhielten. Als die Unterhaltung zu Ende war, stiegen sie in den Fond der Limousine, der Mann winkte ihnen nach, Mr. Weir setzte sich hinters Steuer und fuhr sie davon. Sayre war froh, dass sie endlich fort waren.

Sie wartete noch einmal zehn Minuten, bis sich die Trauergemeinde völlig zerstreut hatte. Dann erst stellte sie den Motor ab und stieg aus.

»Ihre Familie hat mich gebeten, Sie zur Beerdigungsfeier zu begleiten.«

Vor Schreck wirbelte sie so schnell herum, dass der staubige Schotter vor ihren Schuhen aufspritzte.

Er lehnte an der Heckstoßstange ihres Wagens. Das Jackett hatte er ausgezogen und über seinen Arm gelegt. Sein Schlips hing schief, der Kragen seines Hemdes stand offen, und er hatte die Ärmel bis zu den Ellbogen aufgekrempelt. Außerdem hatte er eine Sonnenbrille aufgesetzt.

»Ich bin Beck Merchant.«

»Das habe ich mir gedacht.«

Sie hatte seinen Namen bisher nur gedruckt gesehen und sich gefragt, ob er ihn wohl französisch aussprach. Das tat er nicht. Und von den dunkelblonden Haaren über das entspannte Lächeln mit den blendend weißen Zähnen bis hin zum Schnitt seiner Hosen, der »Ralph Lauren« zu rufen schien, sah er so uramerikanisch aus wie ein gedeckter Apfelkuchen.

Ohne sich von ihrem schneidenden Tonfall einschüchtern zu lassen, sagte er: »Sehr erfreut, Ms. Hoyle.«

»Lynch.«

»Ich bitte meinen Fehler zu entschuldigen.« Er sagte dies mit vollendeter Höflichkeit, aber aus seinem Lächeln sprach leise Ironie.

»Gehört es auch zu Ihrem Job, Botschaften zu überbringen? Ich dachte, Sie wären Anwalt«, sagte sie.

»Anwalt, Laufbursche …«

»Henker.«

Er legte die Hand auf sein Herz und ließ ein noch breiteres Lächeln erstrahlen. »Sie überschätzen mich bei weitem.«

»Wohl kaum.« Sie knallte ihre Autotür zu. »Sie haben die Einladung überbracht. Richten Sie Huff aus, dass ich sie ausschlagen werde. Und jetzt wäre ich gern ein paar Minuten allein, um mich von Danny zu verabschieden.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging die kleine Anhöhe hinauf.

»Lassen Sie sich Zeit. Ich warte.«

Sie drehte sich noch einmal um. »Ich werde nicht zu der verdammten Beerdigungsfeier gehen. Sobald ich hier fertig bin, fahre ich nach New Orleans zurück und nehme von dort aus den nächsten Flug nach San Francisco.«

»Das könnten Sie tun. Oder Sie könnten den Anstand wahren und auf der Beerdigungsfeier für Ihren Bruder erscheinen. Und später am Abend könnte sie der Firmenjet von Hoyle Enterprises nach San Francisco bringen, ohne dass Sie die Mühsal eines Linienfluges auf sich nehmen müssten.«

»Ich kann mir selbst einen Jet chartern.«

»Noch besser.«

Sie war geradewegs in die Falle getappt und hätte sich dafür ohrfeigen können. Kaum war sie eine Stunde in Destiny, schon fiel sie in alte Gewohnheiten zurück. Aber sie hatte gelernt, die Fallen zu erkennen und zu vermeiden.

»Nein danke. Adieu, Mr. Merchant.« Wieder ging sie die Anhöhe hinauf und auf das Grab zu.

»Glauben Sie, dass Danny sich umgebracht hat?«

Diese Frage war das Letzte, was sie aus seinem Mund erwartet hätte. Wieder drehte sie sich um. Er lehnte nicht länger lässig an der Stoßstange ihres Wagens, sondern war ein paar Schritte auf sie zugekommen, als wollte er ihre Reaktion auf seine überraschende Frage abschätzen.

»Sie etwa nicht?«

»Was ich glaube, zählt nicht«, sagte er. »Das Sheriffsbüro bezweifelt, dass es Selbstmord war.«