Cortes auf der Spieltheorie basierende Strategien und seine Ideen hinsichtlich rationaler Irrrationalität stammen größtenteils von dem für den New Yorker schreibenden Autor John Cassidy und seinem wunderbaren (und ernüchternden) Buch How Markets Fail.
Vielen Dank den vielen Leuten, die zu diesem Buch beigetragen haben: Sarah Hochman, Carolyn Mays, Deborah Schneider, Vivienne Schuster … und wie immer Madelyn, Jane und Julie.
Jeffery Deaver gilt als einer der weltweit besten Autoren intelligenter psychologischer Thriller. Seit seinem ersten großen Erfolg als Schriftsteller hat er sich aus seinem Beruf als Rechtsanwalt zurückgezogen und lebt nun abwechselnd in Virginia und Kalifornien. Seine Bücher wurden in 25 Sprachen übersetzt und haben ihm bereits zahlreiche renommierte Auszeichnungen eingebracht.
Wenn ich dienstlich im Auto unterwegs war, gestattete ich mir nicht den Luxus, Musik zu hören; es lenkte zu sehr ab, wie ich Bill Carter erklärt hatte.
Aber in meiner Freizeit hatte ich immer das Radio an oder lauschte einer CD oder einem Download. Ich liebe Oldies, aber ich meine damit die Zeit von den 1930er- bis zu den 1960er- Jahren, nichts davor und kaum etwas danach.
Interpreten wie Fats Waller, Sinatra, Billie Holiday, Louis Armstrong, Rosemary Clooney, Ella, Sammy Davis jr., Dean Martin … wenn die Texte nicht zu doof waren. Worte sind wichtig. Das ist etwas, was, sagen wir, die Beatles bei aller Musikalität nicht begriffen haben. Großartige Musik, aber ich fand immer, sie hätten Kunst für die Ewigkeit geschaffen, wenn sie sich nur mal überlegt hätten, was sie da sangen.
Während ich mich nun zügig von Washington fortbewegte, kam Harry Connick jr. aus den Lautsprechern.
Ich genoss die Musik.
Ich genoss das Fahren.
Ich hatte die Stadt hinter mir gelassen. Ich hatte Maree und Joanne hinter mir gelassen. Amanda und Ryan.
Auch Henry Loving.
Bei ihnen allen war es, auf jeweils verschiedene Weise, ein Abschied für immer.
Auch andere Leute hatten aufgehört, für mich zu existieren – wenngleich natürlich nur vorübergehend. Freddy war genauso fort wie Aaron Ellis und Claire DuBois, die, wie ich hoffte, in diesem Moment mit Cat Man groß aufkochte.
Jason Westerfield hatte sich bereits früher von meiner gedanklichen Besetzungsliste verabschiedet, und ich stellte amüsiert fest, dass ich mich nicht einmal mehr an den vollständigen Namen seiner Mitarbeiterin mit den Perlen erinnern konnte. Chris Irgendwas …
Ein Wegweiser rauschte vorbei. Fünfzehn Meilen bis Annapolis, Maryland.
Zwanzig Minuten später kam ich zu einem bescheidenen weißen Haus im Kolonialstil, nicht weit von der Chesapeake Bay entfernt. Der Wind war heute Abend zahm, aber ich konnte dennoch die Wellen hören – eins der Dinge, die mir an der Gegend hier am besten gefielen.
Ich verlangsamte, blinkte, obwohl niemand hinter mir war, und bog in eine schmale Einfahrt, die knöcheltief mit Laub bedeckt war, das hier eher von den Bäumen fällt als in der Stadt. Ich genoss es, das Laub zu harken – nicht zu blasen –, und würde mich morgen zum Start meines Wochenendes an diese Aufgabe machen. Ich hielt, stieg aus und streckte mich, dann sammelte ich meinen Computer, die Sporttasche und die Einkaufstüte mit dem kostbaren Brettspiel ein.
Mit all diesen Dingen jonglierend ging ich den gewundenen, betonierten Fußweg zur Haustür hinauf. Unter meinen Füßen raschelte das Laub. Ich wollte eben die Tasche abstellen, um nach meinem Schlüssel zu wühlen, als die Tür plötzlich aufging.
Ich blinzelte überrascht.
Peggy lachte lauthals. Die kleine, aber kräftige Brünette, deren Gesicht auch im vierten Jahrzehnt noch voller Sommersprossen war, warf die Arme um mich und hätte mich, voll bepackt, wie ich war, beinahe umgeschmissen. Sie stabilisierte uns beide – sie war stark, wie gesagt – und führte mich, den Arm um meine Taille gelegt, ins Haus.
»Du bist früh zurück«, sagte sie und runzelte die Stirn. »Soll ich meinem Liebhaber sagen, er muss durch das Schlafzimmerfenster verduften?«
»Kann er kochen?«, fragte ich zurück. »Dann darf er bleiben.«
Peggy knuffte mich in die Rippen und lachte wieder. Ich stellte meine Sachen ab und schloss sie fest in die Arme. Unsere Lippen trafen sich, und wir küssten uns lange.
»Das Projekt war also früher zu Ende?« Ich bemerkte, dass sie sich im Spiegel ansah und ihr dunkles, zerzaustes Haar glättete. Sie hatte mich erst morgen zurückerwartet. Normalerweise putzte sie sich für meine Ankunft heraus, wenn ich fort war. Es war eins der Dinge, die ich an ihr liebte. Ich hatte nicht angerufen, weil ich nicht wollte, dass sie sich Umstände machte, und weil ich sie gern überraschte. So wie jetzt oder zu Geburtstags-und Hochzeitstagen. Unser fünfzehnter würde in zwei Wochen sein.
»Was ist mit deinem Kopf passiert?«
»Ich bin ein Trampel, das weißt du ja. Bin auf einer Baustelle herumgekrochen.«
»Schutzhelm«, mahnte sie.
»Normalerweise trage ich einen«, sagte ich. »Bleibt es dabei, dass deine Eltern am Wochenende kommen?«
»Ja. Mit Oscar.«
»Mit wem?«
»Ihrem Hund.«
»Wusste ich, dass sie einen Hund haben?«, fragte ich. Ich konnte mich aufrichtig nicht erinnern.
»Sie haben es mal erwähnt.«
»Welche Sorte?«
»Einen Knuddlwuddl oder was. Ich weiß es nicht genau.«
Ich sah mich um. »Wo sind die Jungs?«
»Jeremy ist in seinem Zimmer und telefoniert mit deinem Bruder. Sam ist im Bett. Ich mach dir ein Abendessen.«
»Ein Sandwich vielleicht. Und Wein. Ein großes Glas Wein.«
»Komm.« Peggy verstaute das Gepäck im Flur, den ich schon die ganze Zeit neu fliesen wollte, seit ein Badezimmerrohr vor einem Monat Selbstmord begangen hatte. Sie führte mich in die Küche und kramte im Kühlschrank. Bevor sie das Essen zusammenstellte, dimmte sie die Lichter und zündete ein paar Kerzen an. Sie goss uns beiden einen französischen Chardonnay, einen Côte d’Or, ein.
Wir stießen an.
»Wie lange bist du zu Hause?«
»Vier Tage.«
»Wirklich?« Sie drückte sich mit ihrem ganzen Körper an mich und küsste mich heftig; ihre Hand glitt an meinem Rücken hinunter und blieb genau auf der Stelle liegen, wo vor ein paar Stunden noch mein Holster gewesen war.
Als sie sich nach einer Weile von mir löste, sagte ich: »Habe ich schon erwähnt, dass ich fünf Tage lang zu Hause bin?«
»Was muss ich tun, damit eine Woche daraus wird?«, flüsterte sie mir ins Ohr.
Ich lächelte, obwohl ich selbst bei Peggy nicht der beste Lächler der Welt bin.
Noch einige Küsse, und als sie schließlich aus meinen Armen floh, sagte ich: »Schau, was ich gefunden habe.« Ich ging in den Flur und holte das Brettspiel aus der Einkaufstüte. Ich packte es aus und stellte es auf den Tisch.
»Ah …« Peggy ist nicht so versessen auf Brettspiele wie ich, aber da wir mehr Spiele im Haus haben als Bücher, ist sie dennoch zu einer Art Expertin geworden. »Ist es das, wofür ich es halte?«
»Ein Original.«
Wir hatten die erste Ausgabe von Candy Land vor uns, das einfachste und unbestreitbar beliebteste aller Brettspiele für Kinder. Ich hatte es mit meinen Brüdern und Freunden gespielt, als ich aufwuchs. Man zieht Karten und bewegt seine Figuren über eine Landschaft, zu der ein Schokoladensumpf und ein Bonbonberg gehörten.
»Jeremy ist wohl schon zu alt dafür. Aber Sammy wird es lieben.«
»Nein, mit dir spielt es Jeremy auch noch.«
Sie hatte recht.
»Jetzt setz dich hin und entspanne dich«, sagte Peggy. Dann verblasste ihr Lächeln. Sie musterte mich von Kopf bis Fuß. »Trainierst du und sagst mir nichts davon oder was? Du hast abgenommen.«
»Es gab kein gutes Fastfood dort, wo sie mich hingeschickt haben.«
»Hm.«
Als sie die Kühlschranktür aufzog, ging ich ins Arbeitszimmer. Ich ließ mich in meinem ächzenden Lehnstuhl nieder, umgeben von den einhunderteinundzwanzig Brettspielen in den Regalen. Ein Gedanke kam mir, ein Gedanke, der sich an eine Mandantin der jüngsten Zeit richtete:
Sie wissen nicht, wie recht Sie haben, Joanne. Es ist nicht unmöglich, die beiden Leben zu führen. Das öffentliche und das private. Das dunkle, das helle. Den Wahnsinn, das Gesunde.
Aber dieser Balanceakt erfordert große Anstrengungen. Übermenschliche, wie es einem manchmal erscheint.
Man muss jede Erinnerung und jeden Gedanken an sein anderes Leben, an sein Leben mit der Familie, gewaltsam beiseiteschieben, sobald sie auftauchen. Anderenfalls könnte die Ablenkung tödlich sein.
Man muss die Einsamkeit eines geheimen Lebens akzeptieren. Eines Lebens, wie ich es vier, fünf Tage oder länger in sicheren Häusern, unterwegs oder in dem Stadthaus in Alexandria führe, das die Regierung bezuschusst, damit ich in der Nähe der Dienststelle auf Abruf bereitstehen kann. Auch wenn es nicht weit von meinem geliebten Spieleklub entfernt ist, auch wenn sich einige der Lieblingsstücke aus meiner Spielesammlung dort befinden, auch wenn es mit Auszeichnungen und Zeugnissen geschmückt ist, die ich beim Diplomatischen Dienst und bei meiner jetzigen Organisation erhalten habe, ist es im Wesentlichen ein leerer Ort, der nach Pappkarton und Farbe riecht. Es ist schlicht kein Zuhause.
Und – was am schwierigsten ist, wenn man ein Doppelleben führt – man muss täuschen.
Peggy weiß, dass ich für die Regierung arbeite, aber wegen meines Diploms in Mathematik denkt sie, es hat etwas mit wissenschaftlicher Analyse von sicheren Gebäuden hier und im Ausland zu tun. Ich habe ihr erklärt, dass ich nicht mehr sagen darf, und ich versichere ihr, dass es nicht gefährlich ist, nur streng geheim. Ein Haufen Zahlenschieberei. Langweilig.
Sie versteht es, glaube ich, und akzeptiert, dass ich verschwiegen sein muss.
Und andersherum lasse ich wenig von meinem Privatleben bei meinen Kollegen verlauten – die engsten wie Freddy einmal ausgenommen. Irgendwo tief in den staatlichen Personalverwaltungen vergraben existieren natürlich vollständige Unterlagen über mich, Peggy, die Jungs, meine Mutter – sie lebt in San Diego – und meine drei älteren Brüder, von denen einer in leitender Funktion bei einer Versicherung arbeitet und zwei College-Professoren sind. Diese Akten werden relevant, sobald es um Altersbezüge oder Erbschaftsstreitigkeiten geht, aber wie bei so vielem in meinem Leben habe ich dafür gesorgt, dass Fakten über mich nur Leuten zugänglich sind, die sie unbedingt kennen müssen.
Für die meisten Leute, denen ich in meinem Job begegne, bin ich Single, kinderlos, und wohne in der Altstadt von Alexandria, wahrscheinlich Witwer mit einer tragischen Vergangenheit (die Stalker-Geschichte, die ich Maree erzählt habe, stimmt, wenngleich sie nicht so dramatisch ausging, wie ich es andeutete). Ich bin ein steifer Bundesangestellter, der keine Witze macht und nicht viel lächelt. Ich ziehe es vor, mit dem prätentiösen, knappen »Corte« angesprochen zu werden.
Zum Glück lenkte mich ein hoher Freudenschrei hinter mir von diesen Gedanken ab. Ich stand auf und drehte mich lächelnd um.
Sammy, mein Jüngster, war aufgewacht und stand in der Tür. »Daddy! Du bist zu Hause!« Er trug einen SpongeBob-Pyjama, sein Haar war zerzaust, und er sah anbetungswürdig süß aus.
Sofort stellte ich das Weinglas ab. Ich wusste, der Junge würde mir aus vollem Lauf in die Arme springen. Diese Art der Begrüßung war seit Kurzem Tradition. Und tatsächlich ignorierte er das lachend vorgetragene Flehen seiner Mutter aus der Küche, vorsichtig zu sein, und rannte barfuß auf mich zu.
Ich aber ermunterte ihn. »Komm, Sammy, komm«, rief ich und klang ohne Frage so begeistert, wie ich war. Und als er lossprang, stellte ich mich breitbeinig auf, damit mein Sohn sicher und wohlbehalten in meinen Armen landete.
»Wir haben da einen üblen Fall, Corte.«
»Schießen Sie los«, sagte ich in das Stabmikro. Ich saß mit einem schnurlosen Headset an meinem Schreibtisch. Den alten, handschriftlichen Bericht, in dem ich gelesen hatte, legte ich beiseite.
»Der Mandant und seine Familie befinden sich in Fairfax. Sie haben einem Lifter grünes Licht gegeben, und wie es aussieht, steht er unter Zeitdruck.«
»Wie lange?«
»Ein paar Tage.«
»Sie wissen, wer ihn angeheuert hat?«
»Negativ, mein Sohn.«
Es war Samstagmorgen. In diesem Geschäft arbeiten wir zu merkwürdigen Zeiten, und die Arbeitswochen sind unterschiedlich lang. Meine hatte erst vor ein paar Tagen begonnen, und ich hatte am Freitagnachmittag einen kleinen Auftrag abgeschlossen. Ich sollte den ganzen Tag Papierkram erledigen, was ich genieße, aber in meiner Organisation stehen wir durchgehend auf Abruf bereit.
»Erzählen Sie weiter, Freddy.« Etwas an seinem Tonfall hatte mich aufmerksam gemacht. Wenn man seit zehn Jahren mit jemandem arbeitet, wenn auch immer nur sporadisch, dann fällt einem in unserem Beruf alles auf.
Der FBI-Agent, der sonst nicht lange fackelte, zögerte jetzt. »Okay, Corte«, sagte er schließlich. »Die Sache ist die …«
»Ja?«
»Der Lifter ist Henry Loving … Ich weiß, ich weiß. Aber es ist bestätigt.«
Nach einem Augenblick, in dem ich nur mein Herz schlagen und mein Blut in den Ohren rauschen hörte, antwortete ich so mechanisch wie sinnlos: »Er ist tot. In Rhode Island.«
»War tot. War angeblich tot.«
Ich blickte auf Bäume vor meinem Fenster, deren Blätter und Zweige sich in der leichten Septemberbrise regten, dann schaute ich über meinen Schreibtisch hinweg. Er war aufgeräumt, aber klein und billig. Mehrere Papiere lagen darauf, die alle in verschiedenem Maß meine Aufmerksamkeit forderten, sowie ein Päckchen, das am Morgen zu meinem nur wenige Blocks vom Büro entfernten Stadthaus geliefert worden war. Es enthielt einen eBay-Kauf, auf den ich mich schon gefreut hatte. Ich hatte vorgehabt, seinen Inhalt in meiner Mittagspause zu inspizieren. Jetzt schob ich es zur Seite.
»Weiter.«
»In Providence – da war noch jemand anders im Gebäude.« Freddy lieferte dieses fehlende Puzzleteil, auch wenn ich fast augenblicklich – und offenbar richtig – gefolgert hatte, was passiert sein musste. Vor zwei Jahren war das Lagerhaus, in dem sich Henry Loving versteckt gehalten hatte, nachdem er aus einer von mir gestellten Falle entkommen war, bis auf die Grundmauern abgebrannt. Die Spurensicherung hatte eine eindeutige DNA-Übereinstimmung bei der darin gefundenen Leiche ausgemacht. Selbst bei einem übel verbrannten Körper bleiben etwa zehn Millionen Proben dieser unvermeidlichen Desoxyribonukleinsäure übrig, die man nicht verstecken oder zerstören kann, weshalb es auch keinen Sinn hat, es zu versuchen.
Was man aber tun kann, ist, hinterher zu den Labortechnikern gehen und sie zwingen zu lügen – zu bestätigen, dass es sich bei der Leiche um deine gehandelt hat.
Loving war der Typ, der meine Falle vorausgeahnt haben könnte. Ehe er sich an meinen Mandanten herangemacht hatte, dürfte er sich einen Notfallplan ausgedacht haben. Er wird einen Obdachlosen oder Ausreißer entführt und in dem Lagerhaus verstaut haben, nur für den Fall, dass er würde fliehen müssen. Einen Labortechniker zu bedrohen war ein schlauer Einfall und nicht so weit hergeholt, wenn man bedachte, dass Henry Lovings einzigartige Kunst darin bestand, Menschen Dinge tun zu lassen, die sie nicht tun wollten.
So war also ein Mann, über dessen Feuertod viele Leute erfreut – ich würde fast sagen: glücklich – gewesen waren, plötzlich wieder sehr lebendig.
Ein Schatten in der Tür. Es war Aaron Ellis, der Leiter unserer Organisation und mein direkter Vorgesetzter. Blond, mit extrem breiten Schultern. Sein schmaler Mund teilte sich. Er merkte nicht, dass ich telefonierte. »Haben Sie schon gehört? Rhode Island – das war doch nicht Loving.«
»Ich spreche gerade mit Freddy darüber«, sagte ich und deutete auf mein Headset.
»In zehn Minuten in meinem Büro?«
»Sicher.«
Er entschwand mit schnellen Schritten in quastengeschmückten braunen Lederschuhen, die nicht zu seiner hellblauen Hose passten.
»Das war Aaron«, sagte ich zu dem FBI-Agenten in seinem rund zehn Meilen entfernten Büro.
»Ich weiß«, erwiderte Freddy. »Mein Boss hat Ihren Boss benachrichtigt. Ich benachrichtige Sie. Wir werden die Sache gemeinsam bearbeiten, mein Sohn. Rufen Sie mich an, wenn Sie Zeit haben.«
»Warten Sie«, sagte ich. »Die Mandanten in Fairfax – haben Sie denen Agenten als Babysitter geschickt?«
»Noch nicht. Das Ganze ist eben erst aufgetaucht.«
»Schicken Sie sofort jemanden hin.«
»Loving ist offenbar nicht in der Nähe.«
»Tun Sie es trotzdem.«
»Also, ich …«
»Tun Sie es trotzdem.«
»Ihr Wunsch ist mir … Sie wissen schon.«
Freddy legte auf, ehe ich noch etwas sagen konnte.
Henry Loving …
Ich saß einen Moment da und starrte wieder aus dem Fenster im nicht beschilderten Hauptquartier meiner Organisation in der Altstadt von Alexandria, einem aggressiv hässlichen Gebäude, neunzehnsiebziger-hässlich. Ich sah auf einen Streifen Gras, einen Antiquitätenladen, ein Starbucks und ein paar Büsche an einem Parkstreifen. Die Büsche führten versetzt angeordnet zum Masonic Temple der Freimaurer, als hätte eine Figur aus einem Dan-Brown-Roman sie gepflanzt, um eine Nachricht per Landschaftsarchitektur zu verschicken, statt eine E-Mail zu schreiben.
Mein Blick ging zu dem Päckchen und den Papieren auf meinem Schreibtisch zurück.
Der geklammerte Papierstapel war der Mietvertrag für ein sicheres Haus in der Nähe von Silver Spring, Maryland. Ich würde die Miete herunterhandeln und zu diesem Zweck eine Tarnidentität annehmen müssen.
Ein anderes Dokument war eine Freigabebescheinigung für den Mandanten, den ich gestern erfolgreich an zwei ernste Herren in gleichermaßen ernsten Anzügen übergeben hatte, deren Büros sich in Langley, Virginia, befanden. Ich unterschrieb die Order und legte sie in mein Postausgangsfach.
Das letzte Papier, das ich gerade gelesen hatte, als Freddy anrief, hatte ich unabsichtlich mit ins Büro gebracht. Ich hatte gestern Abend im Stadthaus ein Brettspiel entdeckt, dessen Spielanleitung ich noch einmal lesen wollte, und als ich die Schachtel öffnete, fand ich dieses Blatt – eine alte To-do-Liste für ein Fest, mit den Namen der Gäste, die anzurufen waren, den Lebensmitteln und Dekorationsartikeln, die gekauft werden mussten. Ich hatte das vergilbte Dokument geistesabwesend in meine Tasche gesteckt und heute Morgen entdeckt. Die Party hatte vor Jahren stattgefunden. Sie war das Letzte, woran ich im Augenblick erinnert werden wollte.
Ich blickte auf die Handschrift auf dem verblassten Stück Papier und steckte es in den Reißwolf, der es zu Konfetti verarbeitete.
Das Päckchen legte ich in den Safe hinter meinem Schreibtisch – nichts Tolles, keine Iriserkennung, nur ein klickendes Zahlenschloss –, dann stand ich auf. Ich zog ein dunkles Sakko über das weiße Hemd, meine übliche Arbeitskluft, selbst wenn ich samstags im Büro war, und machte mich auf den Weg zum Büro meines Bosses. Sonnenlicht, das blass durch die verspiegelten, kugelsicheren Fenster fiel, zeichnete Streifen auf den grauen Teppich im Korridor. Meine Gedanken waren nicht mehr bei Immobilienpreisen in Maryland, erhaltenen Päckchen oder unerwünschten Erinnerungen an die Vergangenheit. Sie waren einzig auf das Wiederauftauchen von Henry Loving gerichtet – den Mann, der sechs Jahre zuvor meinen Mentor und guten Freund Abe Fallow in einem Graben neben einem Baumwollfeld in North Carolina gefoltert und ermordet hatte, während ich seine Schreie über das nicht abgeschaltete Handy mit anhören musste.
Sieben Minuten Schreie bis zum erlösenden Schuss, der nicht aus Barmherzigkeit abgegeben wurde, sondern nur aus Gründen professioneller Effizienz.
Ich saß in einem der abgenutzten Sessel unseres Direktors neben einem Mann, der mich offenbar kannte, da er mir bei meinem Eintreten mit einiger Vertrautheit zugenickt hatte. Ich konnte ihn jedoch nirgends unterbringen, wusste nur, dass er Staatsanwalt war. Etwa mein Alter – vierzig – und klein, ein bisschen teigig, mit Haar, das einen Schnitt nötig hatte. Fuchsaugen.
Aaron Ellis bemerkte meinen Blick. »Du erinnerst dich an Jason Westerfield von der Staatsanwaltschaft?«
Ich täuschte kein Wiedererkennen vor und gab ihm nur die Hand.
»Freddy hat mich schon informiert.«
»Agent Fredericks?«, fragte Westerfield.
»Richtig. Er sagte, es ginge um einen Mandanten in Fairfax und einen Lifter, der in den nächsten Tagen Informationen brauchen wird.«
Westerfields Stimme war hoch und irritierend spielerisch. »Worauf Sie wetten können. Soweit wir hören, jedenfalls. Wir wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht viel mehr, als dass der Lifter eindeutig einen Startbefehl erhalten hat. Jemand braucht bis Montagabend Informationen von dem Mann, sonst ist der Teufel los. Wir haben allerdings keine Ahnung, worum sich die ganze Scheiße dreht, pardonnez-moi.«
Während ich wie ein Staatsanwalt für einen Auftritt vor Gericht gekleidet war, trug Westerfield Freizeitkleidung – eine Kleidung, mit der man am Wochenende nicht ins Büro ging, sondern zum Campen. Chinos, ein kariertes Hemd und eine Windjacke. Ungewöhnlich für Washington, wo Bürostunden am Samstag und Sonntag keine Seltenheit waren. Vielleicht ist er ein Cowboy, kam mir in den Sinn. Ich bemerkte auch, dass er auf der Sesselkante saß und Akten mit seinen Stummelfingern umklammerte. Nicht weil er nervös gewesen wäre – er sah nicht wie der Typ aus, der überhaupt nervös wurde –, sondern weil er angespannt und voller Tatendrang war. Ein Feuer brannte in ihm.
Hinter uns ertönte eine weibliche Stimme. »Entschuldigen Sie bitte die Verspätung.«
Eine Frau von etwa dreißig stieß zu uns. Eine bestimmte Art von Nicken, und mir war klar: Sie war Westerfields Assistentin. Straff frisiertes Haar, das an den Schultern endete, blond. Neue oder frisch aus der Reinigung kommende Blue Jeans, ein weißer Pullover unter einer braunen Sportjacke und ein Halsband mit eindrucksvollen, cremefarbenen Perlen. Ihre Ohrringe waren ebenfalls Perlen, begleitet von gleichermaßen fesselnden Diamanten. Trotz ihrer Jugend trug sie eine Brille mit drei verschiedenen Brennweiten, dunkel gerahmt – ich sah es an der Art, wie ihr Kopf leicht auf und ab ging, als sie das Büro und mich in Augenschein nahm. Ein Schäfer muss die Konsumgewohnheiten seiner Mandanten kennen – es trägt viel dazu bei, sie zu verstehen. Und ich bemerkte instinktiv Chanel, Coach und Cartier. Ein reiches Mädchen und wahrscheinlich eine der Jahrgangsbesten an der juristischen Fakultät von Yale oder Harvard.
»Das ist die stellvertretende US-Staatsanwältin Chris Teasley«, sagte Westerfield.
Sie gab mir die Hand und begrüßte Ellis.
»Ich erkläre ihnen gerade die Lage der Kesslers.« Dann, an uns gewandt: »Chris wird mit uns an der Sache arbeiten.«
»Lassen Sie uns die Einzelheiten hören«, sagte ich und nahm wahr, dass Chris die Luft mit einem dezenten Blumenduft würzte. Sie ließ ihre Aktentasche lautstark aufschnappen und gab ihrem Boss einen Ordner. Während er den Inhalt überflog, bemerkte ich eine Zeichnung an Ellis’ Wand. Sein Eckbüro war nicht groß, aber mit einer Reihe von Bildern geschmückt, einige Poster aus dem Einkaufszentrum, einige persönliche Fotos und Kunstwerke seiner Kinder. Ich betrachtete ein Aquarellbild von einem Haus auf einem Hügel; es war nicht schlecht gemacht.
An meinen Bürowänden hing nichts außer Telefonlisten.
»Die Lage ist folgende«, wandte sich Westerfield an Ellis und mich. »Das FBI-Büro in Charleston, West Virginia, hat sich heute Morgen bei mir gemeldet. Um es kurz zu machen: Die Polizei des Bundesstaats hat irgendwo in der Provinz eine Drogenrazzia durchgeführt und ist dabei über ein paar Fingerabdrücke auf einem Münztelefon gestolpert, die sich als die von Henry Loving herausstellten. Aus irgendeinem Grund waren der Haftbefehl und die Überwachungsanordnung gegen ihn nach seinem Tod nicht gelöscht worden. Nach seinem angeblichen Tod, wie es aussieht. Die Polizisten riefen unsere Leute an, und wir nahmen die Sache in die Hand und fanden heraus, dass Loving unter falschem Namen und mit falschen Papieren vor einer Woche in Charleston gelandet ist. Schließlich konnten sie ihn heute Vormittag zu einem Motel in Winfield zurückverfolgen. Aber er war bereits abgereist, wenige Stunden zuvor, gegen halb neun. Mit unbekanntem Ziel natürlich.«
Auf ein Nicken ihres Chefs hin fuhr Teasley fort. »Die richterliche Anordnung seiner Überwachung ist technisch gesehen noch in Kraft; deshalb haben die Agenten die E-Mails im Motel überprüft. Er hat eine bekommen und eine abgeschickt: der Startbefehl und seine Bestätigung.«
»Was treibt er in West Virginia?«, fragte Ellis.
Ich kannte Loving besser als irgendwer sonst im Raum. »Er hat meist mit einem Partner gearbeitet«, sagte ich. »Vielleicht holt er jemanden dort ab. Und Waffen. Er hat sie sicher nicht mit ins Flugzeug genommen. So oder so wird er die Flughäfen in der Nähe von Washington meiden. Viele Leute hier erinnern sich noch an sein Aussehen nach… nach dem Vorfall vor ein paar Jahren. Gibt es eine E-Mail-Adresse des Absenders?«
»Über Proxys umgeleitet. Nicht zurückzuverfolgen.«
»Anrufe von oder zu seinem Zimmer im Motel?«
»Mais non.«
Das Französisch nervte. War Westerfield gerade von einem Pauschalurlaub zurückgekehrt, oder paukte er es, weil er einen algerischen Terroristen verfolgte?
»Was genau stand in der E-Mail, Jason?«, fragte ich geduldig.
Auf ein Nicken von ihm übernahm Teasley. »Wie Sie sagten, wurde nur grünes Licht gegeben. Sie müssen die Einzelheiten also bereits in früheren Gesprächen festgelegt haben.«
»Weiter«, bat ich.
Die Frau las vor: »›Loving – Betr.: Kessler. Start frei. Brauche Einzelheiten, gemäß Absprache, bis Montag Mitternacht, sonst nicht hinnehmbare Folgen, wie erklärt. Sobald Sie die Information haben, muss Subjekt eliminiert werden.‹ Ende des Zitats. Eine Adresse in Fairfax wird genannt.«
Nicht hinnehmbare Folgen … ist der Teufel los.
»Keine Audiodatei?«
»Nein.«
Ich war enttäuscht. Stimmanalyse kann eine Menge über den Anrufer verraten: Geschlecht, meistens nationale und regionale Wurzeln, Krankheiten, selbst über die Form von Nase, Mund und Kehle lassen sich vernünftige morphologische Schlussfolgerungen anstellen. Aber wenigstens hatten wir eine bestätigte Schreibweise des Namens unseres Mandanten, was ein Plus war.
»Kessler ist Polizist in Washington, D. C. Ryan Kessler, Detective«, erklärte Westerfield.
»Lovings Antwort?«
»›Bestätigt.‹ Sonst nichts.«
»Der Auftraggeber will die ›Einzelheiten‹« – Westerfield malte Anführungszeichen in die Luft – »bis Montagabend. Einzelheiten …«
Ich bat darum, den Ausdruck sehen zu dürfen. Bemerkte ein leichtes Zögern bei Teasley, die das Blatt erst an mich weiterreichte, als Westerfield keine Reaktion zeigte.
Ich las den kurzen Absatz durch. »Grammatik, Rechtschreibung und Interpunktion sind gut. ›Gemäß‹ wird heute eher selten gebraucht und ist korrekt benutzt.« Teasley runzelte die Stirn über diese Beobachtung. »Und passende Kommas um die Apposition nach ›Einzelheiten‹, was man selten sieht.«
Jetzt starrten mich alle an. Ich hatte vor langer Zeit Linguistik studiert. Ein bisschen Philologie ebenfalls, das Studium von Sprachen durch Analyse von Texten. Ich hatte es hauptsächlich zum Zeitvertreib getan, aber hin und wieder erwies es sich als ganz nützlich.
Ellis zupfte an seinem Kragen. Er war im College in der Ringermannschaft gewesen, betrieb meines Wissens aber jetzt nicht mehr viel Sport. Er war trotzdem immer noch gebaut wie ein eisernes Dreieck. »Loving ist heute Morgen um halb neun aufgebrochen. Er ist wahrscheinlich bewaffnet, also wird er nicht geflogen sein … und er will nicht riskieren, in einem Flughafen hier in der Gegend gesehen zu werden, wie Sie gesagt haben, Corte. Damit ist er noch etwa vier Stunden entfernt.«
»Sein Fahrzeug?«, fragte ich.
»Nichts bisher. Ein FBI-Team klappert die Motels und Restaurants in der Stadt ab.«
»Was weiß dieser Kessler, woran der Auftraggeber so ungemein interessiert ist?«, wollte mein Boss wissen.
»Keine Ahnung«, sagte Westerfield.
»Wer genau ist dieser Kessler?«, fragte ich.
»Ich habe ein paar Einzelheiten«, sagte Teasley.
Während die junge Anwältin in einer Akte blätterte, fragte ich mich, warum Westerfield zu uns gekommen war. Wir sind als die Bodyguards bekannt, an die man sich wendet, wenn alle Stricke reißen (zumindest bezeichnet uns Aaron Ellis bei Etat-Anhörungen so, was ich ein bisschen peinlich finde, aber in Kongress und Senat kommt es offenbar gut an). Die Diplomatic Security des Außenministeriums und der Secret Service bewachen amerikanische Regierungsvertreter und ausländische Staatsoberhäupter. Das Zeugenschutzprogramm stattet edelmütig wie niederträchtig Gesinnte mit neuen Identitäten aus und lässt sie auf die Welt los. Wir dagegen greifen nur ein, wenn es eine unmittelbar bevorstehende, glaubhafte Bedrohung gegen einen bekannten Mandanten gibt. Man hat uns auch schon die »Notaufnahme des Personenschutzes« genannt.
Das Kriterium ist zwar nicht exakt umrissen, aber angesichts der begrenzten Ressourcen neigen wir dazu, einen Fall nur anzunehmen, wenn der Mandant in Angelegenheiten der nationalen Sicherheit – wie der Spion, den ich tags zuvor bei den Herren der CIA abgeliefert hatte – oder der öffentlichen Gesundheit verwickelt ist, wie letztes Jahr, als wir einen Informanten in einem Prozess wegen verunreinigter Medikamente bewachten.
Alles wurde jedoch klar, als Teasley den Lebenslauf des Polizisten vorlas. »Detective Ryan Kessler, 42, verheiratet, ein Kind. Arbeitet in der Abteilung für Finanzkriminalität in D. C., seit fünfzehn Jahren dabei, hoch dekoriert… Sie haben vielleicht von ihm gehört.«
Ich sah meinen Boss an, der für uns beide den Kopf schüttelte.
»Er ist ein Held. Die Medien haben vor ein paar Jahren viel über ihn berichtet. Er hat verdeckt in D. C. gearbeitet und ist in einen Raubüberfall in einem Delikatessenladen in North West gestolpert. Er hat die Kunden im Laden gerettet, aber selbst eine Kugel abbekommen. War in den Nachrichten, und eine dieser Polizeiserien im Discovery Channel hat eine Folge über ihn gebracht.«
Ich sah nicht viel fern. Aber ich verstand die Zusammenhänge jetzt. Ein als Held dekorierter Polizist, der von einem Lifter wie Henry Loving ins Visier genommen wird … Westerfield sah eine Chance, selbst zum Helden zu werden, wenn er eine Anklage gegen den Auftraggeber zusammenzimmerte; vermutlich ging es um irgendeinen Finanzbetrug, den Kessler untersuchte. Selbst wenn der zugrunde liegende Fall nicht groß war – obwohl er natürlich auch riesig sein konnte –, reichte der Umstand, dass ein Held der Polizei von D. C. aufs Korn genommen wurde, aus, damit Westerfield den Fall an sich zog. Ich achtete ihn deshalb nicht geringer – in Washington geht es immer und überall nur um persönliche wie öffentliche Machenschaften und Schachzüge. Es interessierte mich nicht, ob die Annahme dieses Falls Westerfields Karriere diente. Für mich zählte nur, dass die Kesslers am Leben blieben.
Und dass dieser spezielle Lifter mit der Sache zu tun hatte.
»Alors«, sagte Westerfield. »Da haben wir es. Kessler hat son nez in Dinge gesteckt, die ihn nichts angingen. Wir müssen herausfinden, wo, was, wer, wann, warum… Also lassen Sie uns Kessler schleunigst ins Kittchen schaffen und dann weitermachen.«
»Ins Kittchen?«, fragte ich.
»Jawohl«, antwortete Teasley. »Wir haben an die Haftanstalt Hanson in D. C. gedacht. Ich habe ein wenig recherchiert und herausgefunden, dass sie soeben ihre Alarmsysteme überarbeitet haben. Außerdem habe ich die Personalakten aller Wächter durchgesehen, die in dem in Frage kommenden Flügel Dienst tun. Es ist eine gute Wahl.«
»C’est vrai.«
»Ein Knast wäre nicht ratsam«, sagte ich.
»Ach nein?«, wunderte sich Westerfield.
Schutzhaft in einem abgeschlossenen Teil einer Vollzugsanstalt ist in manchen Fällen sinnvoll, aber wie ich erklärte, gehörte dieser nicht dazu.
»Hm«, sagte der Staatsanwalt. »Wir dachten, Sie könnten einen Ihrer Leute mit den Kesslers reingehen lassen, non? Wäre sehr ökonomisch. Agent Fredericks und Sie könnten ihn anschließend befragen. Sie würden gute Informationen erhalten, das garantiere ich Ihnen. In einem Knast neigen Zeugen dazu, sich an Dinge zu erinnern, die ihnen anderenfalls nicht einfallen würden.«
»Das entspricht ganz und gar nicht meinen Erfahrungen in ähnlichen Umständen.«
»Nein?«
»Sicher, wenn Sie jemanden in ein Gefängnis stecken, dann kommt ein Lifter von außen normalerweise nicht hinein. Und …« – ein Kopfnicken in Richtung Teasley, um ihre gründliche Arbeit zu würdigen – »das Personal wurde ohne Frage auf Herz und Nieren geprüft. Bei jedem anderen Lifter würde ich zustimmen. Aber wir haben es hier mit Henry Loving zu tun. Ich weiß, wie er arbeitet. Wenn wir die Kesslers einbuchten, wird er einen Ansatzpunkt bei einem der Wächter finden. Die meisten von ihnen sind junge Männer. Wenn ich Loving wäre, würde ich mir einen mit einer schwangeren Frau suchen – das erste Kind, wenn möglich – und ihr einen Besuch abstatten.« Teasley blinzelte bei meinem nüchternen Tonfall. »Der Wachmann würde tun, was Loving verlangt. Und wenn die Familie im Knast ist, gibt es keine Fluchtroute. Sie würden in der Falle sitzen.«
»Wie petits lapins«, sagte Westerfield, allerdings nicht so sarkastisch, wie ich es erwartet hatte. Er dachte über meine Argumente nach.
»Abgesehen davon ist Kessler Polizist in D. C. Es dürfte uns schwerfallen, seine Zustimmung zu gewinnen. Im Gefängnis von Hanson könnten ein halbes Dutzend Leute einsitzen, die er hinter Gitter gebracht hat.«
»Wo würden Sie die Familie unterbringen?«, fragte Westerfield.
»Das weiß ich noch nicht«, erwiderte ich. »Ich muss darüber nachdenken.«
Westerfield blickte ebenfalls zur Wand hinauf, ich hätte jedoch nicht sagen können, auf welches Bild oder Diplom. Schließlich wandte er sich an Teasley. »Geben Sie ihm die Adresse der Kesslers.«
Die junge Frau notierte sie in einer Handschrift, die sehr viel besser lesbar war als die ihres Chefs. Als sie mir den Zettel gab, traf mich ein weiterer Hauch ihres Parfüms.
Ich nahm das Papier und dankte ihnen beiden. Ich bin ein ehrgeiziger Spieler – alle Arten von Spielen –, und ich habe gelernt, bescheiden und großzügig im Sieg zu sein, was ich auf mein Berufsleben übertragen habe. Es ist natürlich eine Frage der Höflichkeit, aber ich habe außerdem festgestellt, dass man als guter Gewinner einen leichten psychologischen Vorteil hat, wenn man später wieder einmal gegen denselben Gegner spielt.
Die beiden erhoben sich. »Also gut«, sagte der Staatsanwalt. »Tun Sie, was Sie können – finden Sie heraus, wer Loving angeheuert hat und warum.«
»Es wird unsere oberste Priorität sein«, versicherte ich ihm, obwohl es nicht stimmte.
»Au revoir …« Westerfield und Teasley schwebten aus dem Zimmer, wobei der Staatsanwalt ihr mit gedämpfter Stimme Befehle erteilte.
Ich stand ebenfalls auf. Ich musste noch im Stadthaus vorbeischauen und ein paar Dinge für den Auftrag einpacken.
»Ich melde mich, wenn ich dort bin«, sagte ich.
»Corte?«
Ich blieb an der Tür stehen und blickte zurück.
»Die Kesslers nicht in den Knast zu schicken … das ist sinnvoll, oder? Sie schaffen sie lieber in ein sicheres Haus und bearbeiten den Fall von dort, ja?« Er hatte mir Rückendeckung gegeben – Aaron Ellis stand ausnahmslos hinter seinen Leuten – und würde meinem Sachverstand in dieser Frage folgen. Aber er hatte in Wahrheit gar nicht gefragt, ob es von der Vorgehensweise her vernünftig war, sie nicht in Schutzhaft zu nehmen.
Was er tatsächlich fragte, war dies: Traf er die richtige Entscheidung, wenn er mir und nicht jemand anderem den Auftrag gab, Mandanten vor Henry Loving zu beschützen? Kurz gesagt, konnte ich unvoreingenommen bleiben, wenn der Täter der Mann war, der meinen Mentor ermordet hatte und der offenbar aus der Falle entkommen war, die ich ihm vor Jahren gestellt hatte?
»Ein sicheres Haus ist die wirkungsvollste Vorgehensweise«, beteuerte ich. Auf dem Weg zurück in mein Büro fischte ich den Schlüssel für die Schreibtischschublade heraus, in der ich meine Waffe aufbewahrte.