2
»Fortsetzung und Wiederbeginn meiner selbst«
Erika, Klaus, Golo und Monika

Das Kind kommt am 6. November 1905 zur Welt und wird, wie alle folgenden Kinder der Manns, protestantisch getauft.

Es ist eine lange, schwere Geburt im Hause Mann, der der werdende Vater Thomas selbstverständlich nicht unmittelbar beiwohnt, aber als Wartender »die Foltergräuel der Geburt« schmerzlich miterlebt. Ein überwältigendes Ereignis für ihn, »kaum auszustehen«, schreibt er an Heinrich zwei Wochen nach der Geburt und gesteht: »Es ist also ein Mädchen: eine Enttäuschung für mich, wie ich unter uns zugeben will, denn ich hatte mir sehr einen Sohn gewünscht und höre nicht auf, es zu thun. Warum? ist schwer zu sagen. Ich empfinde einen Sohn als poesievoller, mehr als Fortsetzung und Wiederbeginn meiner selbst unter neuen Bedingungen. Oder so. Nun, er braucht ja nicht auszubleiben. Und vielleicht bringt mich die Tochter innerlich in ein näheres Verhältnis zum ›anderen‹ Geschlecht, von dem ich eigentlich, obwohl Ehemann, noch immer nichts weiß.«1

Nun, der Wunsch nach einem Stammhalter, ob aus familiärem oder poetischem Grund, ist für einen Vater zu Beginn des 20. Jahrhunderts so besonders nicht. Und eine gewisse Präferenz für ein Mädchen oder einen Jungen haben werdende Eltern wohl zu allen Zeiten. Heikel wird es indes, wenn nicht ein Wunsch, sondern der Wille das Geschlecht des Kindes bestimmen soll:

»Es war also ein Mädchen, Erika. Ich war sehr verärgert. Ich war immer verärgert, wenn ich ein Mädchen bekam, warum, weiß ich nicht«2, erzählt Katia Mann später mit erschreckender Offenheit.

Der Gedanke, dass die zweiundzwanzigjährige Mutter lieber einen Jungen zur Welt gebracht hätte, um dem Wunsch ihres Mannes zu entsprechen, drängt sich auf. Aber davon ist keine Rede. Wie ist es möglich, dass sie eine so vehemente Zurückweisung des Weiblichen zum Ausdruck bringt und noch als alte Frau nicht weiß, was die Ursache ihres frauenfeindlichen Gebarens ist? Ablehnung und Verärgerung sind ja keine Versprecher, nicht flüchtig dahingesagt, sondern Katia Manns persönliche Ansichten, die durch die weitere Geschichte nur bestätigt werden. Warum hat sie in dieser bedeutsamen Frage für sich keine Antwort gefunden? Vielleicht auch nicht finden wollen? Menschen verdrängen und blenden Dinge aus.

Es liegt aber nahe, die Verärgerung über ein Mädchen mit ihrem Elternhaus zu erklären: Der Vater, der seine Liebschaften ins Familienleben integriert wissen will, die Mutter, die sich großzügig, offen, liberal gibt. Und die Kinder, die ihre Eltern offenbar anders wahrnehmen. Eine verwirrend-beunruhigende Familienatmosphäre voller widersprüchlicher Verhaltensweisen, Erwartungen und Wertvorstellungen.

Wir sehen den von der Gesellschaft hoch geachteten und hofierten Vater, der innerhalb der Familie wie ein verwöhntes forderndes Kind wirkt, von seiner Frau abhängig bleibt und dafür recht spöttisch von ihr verachtet wird. Gleichzeitig nehmen die Kinder ihre Mutter wahr als Grande Dame, die sich souverän gibt, aber hinter der Fassade leidet. Eine Mischung aus Achtung, Verachtung, Macht und Ohnmacht. Folgerte Katia als einziges Mädchen unter den Geschwistern daraus, dass Weiblichkeit gleichzusetzen ist mit Demütigung und Ausgeliefertsein? Etwas, das Katia Zeit ihres Lebens vermeiden wird. Contenance, Haltung wird Katia Mann ein Leben lang zur Schau tragen. Sich nichts anmerken lassen, das Gesicht wahren und die Souveräne spielen. Nicht das Opfer sein. Schwäche nur in Verbindung mit kokettierender Ironie artikulierend. Mutter Hedwig machte das in ihren Briefen genauso.

 

Wie gestaltet sich nun das neue kleine Familienleben im Winter 1906?

Im Dezember geht Thomas, nicht ungern allein, auf Vortragstournee. Frau und Kind weiß er gesund zurückbleibend und in der Gewissheit, dass die Schwiegereltern in ihrer Nähe sind. In dieser Hinsicht ist die Nähe der Pringsheims angenehm. Ansonsten aber …

»Kurz und kühl« berichtet Thomas an Heinrich, dass vor Erscheinen der Novelle »Wälsungenblut« schon das Gerücht kursierte, dass er eine skandalöse Geschichte geschrieben habe, welche die Pringsheims »fürchterlich compromittirte. Was hätte ich thun sollen? Ich sah meine Novelle im Geiste an und fand, daß sie in ihrer Unschuld und Unabhängigkeit nicht gerade geeignet sei, das Gerücht niederzuschlagen.«3

Alfred Pringsheim ist außer sich vor Empörung. Ein Skandal.

Warum eigentlich? Weil in der Novelle ein Zwillingspaar geschildert wird, das im Rausch eines Abends sexuellen Kontakt miteinander hat? Solche Szenen kennt die Literatur spätestens seit Richard Wagner, und zwar nicht nur angedeutet wie bei Thomas Mann, sondern plastisch beschrieben. Was ließ Schwiegervater Pringsheim so toben? Die unverhohlene Beschreibung des Arcisstraßen-Ambientes und die unübersehbare Ähnlichkeit der Zwillinge mit Klaus und Katia? Wohl eher. Am meisten düpiert war Alfred Pringsheim wohl, weil er kein »kleiner Parvenu wie in der Novelle, sondern in Wirklichkeit ein sehr angesehener Gelehrter und Kunstfreund«4 war.

Ein Freund der Literatur indes war er nicht. Und Thomas, der »anfangs einigermaßen ins Gebiß geschäumt hatte«, schickt nun »ein paar herrische Telegramme« an den Verleger und erreicht, dass die Novelle nicht veröffentlicht wird. »Ein Gefühl von Unfreiheit, das in hypochondrischen Stunden sehr drückend wird, werde ich freilich seither nicht los«5, bekennt er Heinrich im Januar. Das Gefühl hält lange an. Überdies quälen ihn alle zwei Monate migräneartige Zustände, die ihn körperlich und psychisch für Tage außer Kraft setzen.

Von Katia kann er keinen Beistand erwarten, da sie sich noch Ende Januar (drei Monate nach der Geburt) nicht von den Strapazen der Niederkunft erholt hat. Dazu kommen Auseinandersetzungen mit den Schwiegereltern über künstlerische Fragen. »Katias Tommy-Männchen fährt fort, eine Ungeschicklichkeit nach der anderen zu begehen und sein Leben mit Beleidigungen und Widerrufen zuzubringen«,6 schreibt Hedwig Pringsheim im Frühjahr an Maximilian Harden.

Thomas ist das alles zu viel. Nur Heinrich vertraut er sich an: »Ich sage es niemandem von meiner Umgebung, wie schlecht und erschöpft und abgenutzt und tot und fertig ich mich fühle. Ohne Frau und Kind und Anhang wäre mir wohler und wurstiger. Mich quält der Gedanke, daß ich mich nicht hätte menschlich attachiren und binden dürfen«7, schreibt er Anfang Juni 1906. Die rasch erfolgte briefliche »Theilname« des Bruders tut ihm »unendlich wohl«, und der Wunsch, dass Heinrich mit seiner Braut in München leben möge, ist groß: »das könnte dann ein schönes und behaglich anregendes Zusammenleben ergeben, wie ich es mir träume, wenn ich die Eindrücke vonseiten der Familie meiner Frau wieder einmal fremd, grässlich, demüthigend, entnervend, entkräftend finde«8.

Und das zweite Kind ist schon unterwegs … Das ist nun sein Leben. Vordergründig völlig normal: Ehe, ein Kind nach dem anderen, unliebsame Einmischungen der Schwiegereltern. Dass dies so an seinen Kräften zehrt, hat Thomas Mann sich wohl nicht vorstellen können. Das Zusammenleben, vor allem mit den nahen Pringsheims, beeinträchtigt seine Arbeit, nicht nur persönlich und künstlerisch, sondern existenziell.

Er beschließt, die Sommermonate mit Frau, Kind und Entourage außerhalb Münchens zu verbringen. Drei Monate zur Miete in der Villa Friedenshöhe in Oberammergau – atmen, frei sein und endlich wieder arbeiten können: »Täglich. Mit Vergnügen, mit guter Hoffnung, setze Schwarz auf Weiß, und komme vorwärts – ein Glück, das ich kaum noch kannte und das mir so nöthig ist!«9, meldet er hocherfreut an seinen Verleger Samuel Fischer. Auch das Zusammenleben mit Katia und dem Baby scheint sich endlich entspannt und gelassen zu entwickeln. Kurze Besuche der Verwandtschaft verlaufen erträglich. Auch Mutter Pringsheim kommt zu Besuch und wundert sich über die bürgerlich-biedere Behaglichkeit, die ihrer Tochter zu gefallen scheint. Thomas findet Spaß an seiner Rolle als Vater eines kleinen Mädchens, trägt es umher, lacht. Nach getaner Arbeit, versteht sich. So kann Leben sein. So müssten alle Sommermonate verlaufen.

Zurück in München, geht die Arbeit an dem Roman »Königliche Hoheit« vielversprechend weiter. Katia lebt sich immer mehr in ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ein. Putzen und Kochen sind selbstverständlich nicht ihre Aufgabe, sondern obliegen den Hausmädchen und Köchinnen. Aber der Haushalt muss organisiert werden, Speisepläne, Bestellungen von Lebensmitteln, Vorratshaltung, Waschtage. Auch die Kontrolle der Hausarbeiten nimmt Zeit in Anspruch, wobei Frau Thomas Mann wohl keine glückliche Art beim Tadeln an den Tag legt.

Dass sie nun als Frau Thomas Mann firmiert, ist bis weit ins 20. Jahrhundert hinein völlig normal und entspricht weltweiten Gepflogenheiten. Gerade unter Akademikern und bekannten Männern war es selbstverständlich, dass die Ehefrau nicht nur Namen, sondern auch akademische Titel des Gatten adaptierte. (Nach Thomas Manns erstem Ehrendoktortitel wird Katia sich deshalb auch Frau Dr. Mann nennen.) Man mag das als Bescheidenheit oder Geringschätzung der eigenen Persönlichkeit ansehen, andererseits bedeutet es gerade bei so häufigen Namen wie Mann oder Hauptmann einen unmissverständlichen Hinweis auf die Bedeutung der Gattin. Gewiss, in München und ausgewählten Elitekreisen Deutschlands war Katia auch als Pringsheim bekannt, aber später wird sie an der Seite Thomas Manns weltweite Bekanntheit, wenn nicht Berühmtheit erfahren. Das ist ein Unterschied.

Aber noch ist es nicht so weit. Noch schreiben wir München 1906.

Katia Mann bringt ihr zweites Kind zur Welt: ein Knabe, Klaus Heinrich Thomas, geboren am 18. November ebenfalls im Elternhaus. Wie schon bei Erika ist der Rufname eine Reminiszenz an die Mutter respektive deren Zwillingsbruder Klaus. Die Manns sind erfreut, glücklich und zufrieden. Katias Verärgerung über das Mädchen ist gemildert durch den Knaben, nun hat sie ein Pärchen, das geht so gerade. Sonderbar.

Sonderbar mutet auch Hedwig Pringsheims Verhalten an. Sie steht der Tochter zwar mit Rat und Tat zur Seite, hütet für drei Wochen Enkelin Erika und schaut zweimal am Tag bei den Manns vorbei, aber ihre spitzen Bemerkungen gegen Thomas und das neue Leben der Tochter häufen sich. Was hat sie erwartet? Dass Thomas Mann sich von ihr leiten und formen lässt? Dass die Tochter kein Talent zum Glück hat und ihrer stetigen Anteilnahme bedarf? In ein paar Jahren wird das (wieder) der Fall sein. Jetzt jedoch nicht. Jetzt gestaltet sich das Leben der Manns harmlos und in dem gegenseitigen Einverständnis, dass diese Zeit wohl als Fundament für ihr weiteres gemeinsames Leben gelten darf. Katia hat erfahren und verstanden, wie angespannt ihr Mann leidet, wenn er nicht effizient arbeiten kann. Und sie hat gesehen, wie das Zusammenleben sich gestaltet, wenn er entsprechend seinen Vorstellungen schreiben kann. Wie entspannt er nach getaner Arbeit ist und nicht mehr jedes Wort von ihr als kränkend empfindet.

In sein Notizbuch schreibt er: »Ihre verletzenden Wendungen, die 9/10 Scherz und etwas Ernst scheinen. Selbst ihren Vater verwundet sie zuweilen damit bis aufs Blut. Sie glaubt, daß der Begriff des Scherzes alles deckt u. alles erlaubt macht. Sie vergißt, daß gewisse Dinge einfach durch ihren Klang mehr thun, gleichviel, ob im Scherz oder Ernst gesagt. Ferner (und dies zur Hoheit): Sie lebt in Redensarten, in dialektischen Wendungen. Das Wort, das Wortspiel, die erlesene, geschliffene Schriftrede ist ihr beinahe Alles; sie unterscheidet nicht zwischen Wort und Wirklichkeit, Leben und Spiel; sie kennt eigentlich nichts vom Leben, als seine Worte und spielt mit den ernstesten und furchtbarsten Bezeichnungen und Umschreibungen (auch den ›unpassendsten‹) wie mit bunten Steinen. Jeder möchte gute Miene zum bösen Spiel machen, jeder so viel Geschmack haben, aber keinem gelingt es ganz. Eine kleine schmerzliche Verzerrung der Gesichter zeigt sich immer. Sie setzt gleichsam alles in Anführungsstriche, die Sprache ironisierend.«10

Wird hier Imma Spoelmann aus »Königliche Hoheit«, Katia Mann oder Hedwig Pringsheim beschrieben? Es ist, nicht nur, wenn man Katias Korrespondenz liest oder ihre Tonbandaufnahmen hört, sondern besonders auch aus den autobiografischen Erzählungen der Kinder, ersichtlich, dass dies eine Beschreibung von Katia und Hedwig Pringsheim ist. Künftig wird die rhetorische Eigenart sich besonders auf Erika abfärben.

Diese erzählt später: »Meine Mutter nannte meinen Vater, der sanft von Natur war, sie nannte ihn Reh; und sie nannte ihn auch ein ›rehartiges Gebilde von großer Sänfte‹. Sie sprach sehr komisch, und es hat zweifellos die beiden zusammengeführt auch, daß sie beide diese Art von Sprechweise irgendwie von Natur hatten. Sie waren einander ähnlich in dieser Art von Humor und in dieser Art, man würde heute sagen: hochgestochenen Art zu sprechen.«11

Erika erinnert sich an ihre ersten Kindheitseindrücke, den Schnurrbart des Vaters und wie er mit ihr die Bücherregale entlanggeht, zeigend und erklärend. Rotes Buch, grünes Buch. An so etwas erinnern Kinder sich später. Man kann sich die Szene gut vorstellen, wenn man ein Foto, datiert 1906/07, ansieht. Es zeigt Thomas Mann mit der kleinen Erika auf dem Arm: ein drolliges Kind mit neugierigem Blick und verschmitztem Lächeln, ein lachender Vater (nebenbei gesagt, ist dies eine der wenigen Fotografien, die Thomas Mann lachend zeigt, wahrscheinlich wegen seiner schlechten Zähne, die ihm noch viele Jahre Probleme bereiten werden).

Bilder von Katia mit der kleinen Erika muten indes traurig, verloren oder vielleicht gleichgültig an. Auch nach der Geburt von Klaus wird fotografiert, im Atelier oder vom Hoffotografen im Hause Pringsheim. Müde Kindergesichter, müde auch der Blick der kindlich wirkenden Mutter. Oder ist es Langeweile?

1907, aus der Sommerfrische in Seeshaupt, wo sich die Manns mit Kindern und Hausangestellten in der Villa Hirth eingemietet haben, schreibt Thomas an Bruder Heinrich: »Katja fehlt es ein bischen an geistiger Beschäftigung, woran sie doch von früher her gewöhnt ist. Im Winter muß man sie anhalten, wieder Collegien zu hören. Für jetzt bin ich auf folgenden Einfall gekommen. Du giebst doch den deutschen Flaubert bei Müller heraus. Ist die Übersetzung aller Bände schon vergeben? Würdest Du vielleicht einen der von Dir übernommenen an Katja abtreten? Sie hat Lust und würde es aller Voraussicht nach so gut, ja besser machen, als der Durchschnitt.«12


Ende der Leseprobe