Alte Freunde - neue Feinde
Ein Fall für Bernhard Gunther
Deutsch von Hans J. Schütz
Für Jane und dem Andenken meines Vaters
Es ist nicht das, was sie erbauten.
Es ist das, was sie niederrissen.
Es sind nicht die Häuser.
Es sind die Räume zwischen den Häusern.
Es sind nicht die Straßen, die vorhanden sind.
Es sind die Straßen, die es nicht mehr gibt.
Es sind nicht deine Erinnerungen, die dich verfolgen.
Es ist nicht das, was du aufgeschrieben hast.
Es ist das, was du vergessen hast, was du vergessen mußt.
Was du dein Leben lang dauernd vergessen mußt.
Aus: «Ein Deutsches Requiem» von James Fenton
Wenn du in diesen Tagen ein Deutscher bist, verbringst du die Zeit, bevor du stirbst, im Fegefeuer und bezahlst mit irdischen Qualen für alle unbestraften und unbereuten Sünden deines Landes, bis zu dem Tag, an dem Deutschland, mit Hilfe der Gebete der Alliierten – das gilt jedenfalls für drei davon –, endlich geläutert ist.
Zur Zeit leben wir in Angst. Hauptsächlich ist es Angst vor dem Iwan, der nur die beinahe umfassende Furcht vor Geschlechtskrankheiten gleichkommt, die so etwas wie eine Epidemie geworden sind, obgleich beide Beschwerden im allgemeinen für ein und dasselbe gehalten werden.
Es war einer dieser kalten, schönen Tage, die man am besten zu würdigen weiß, wenn man ein Feuer zum Stochern und einen Hund zum Kraulen hat. Ich hatte keines von beiden, andererseits gab es nichts zum Heizen, und aus Hunden habe ich mir nie viel gemacht. Doch dank der Steppdecke, die ich mir um die Beine gewickelt hatte, war mir warm, und ich hatte gerade angefangen, mich zu beglückwünschen, daß ich in der Lage war, meine Arbeit zu Hause zu erledigen – das Wohnzimmer diente mir als Büro –, als jemand an das klopfte, was man für die Eingangstür halten konnte.
Ich fluchte und erhob mich von meiner Couch.
«Kann ’ne Weile dauern», rief ich durch das Holz, «also gehen Sie nicht weg.» Ich zwängte den Schlüssel ins Schloß und begann, an dem großen Messinggriff zu ziehen. «Es hilft, wenn Sie von außen drücken», rief ich abermals. Ich hörte das Schurren von Schuhen auf dem Treppenabsatz, und dann spürte ich von der anderen Seite der Tür einen Druck. Schließlich öffnete sie sich zitternd.
Ich sah einen großen, etwa sechzigjährigen Mann vor mir. Mit seinen hohen Wangenknochen, der dünnen kurzen Nase, dem altmodischen Backenbart und dem ärgerlichen Gesichtsausdruck erinnerte er mich an einen bösen Pavian.
«Ich glaube, ich habe mir was gezerrt», knurrte er und rieb sich die Schulter.
«Das tut mir leid», sagte ich und trat beiseite, um ihn einzulassen. «Das Gebäude ist ein ziemliches Stück abgesackt. Die Türen müßten neu eingehängt werden, aber man kriegt natürlich das Werkzeug nicht.» Ich führte ihn ins Wohnzimmer. «Trotzdem, wir sind hier nicht allzu schlimm dran. Wir haben ein paar neue Fensterscheiben, und das Dach scheint den Regen abzuhalten. Nehmen Sie Platz.» Ich deutete auf den einzigen Lehnsessel und nahm meine Stellung auf der Couch wieder ein. Der Mann stellte seine Aktentasche hin, nahm seine Melone ab und setzte sich mit einem Seufzer der Ermattung. Er knöpfte seinen grauen Mantel nicht auf, und ich konnte es ihm nicht verdenken. «Ich sah Ihre kleine Anzeige an einer Mauer auf dem Kurfürstendamm», erklärte er.
«Was Sie nicht sagen», erwiderte ich und erinnerte mich undeutlich an die Worte, die ich vergangene Woche auf ein kleines viereckiges Stück Karton geschrieben hatte. Kirstens Idee. Angesichts all der Anzeigen, die an den Mauern der baufälligen Gebäude Berlins Lebensgefährten und Heiratsmärkte anpriesen, hatte ich nicht vermutet, jemand würde sich die Mühe machen, meine Nachricht zu lesen. Aber am Ende hatte sie recht behalten.
«Mein Name ist Nowak», sagte er. «Dr. Nowak. Ich bin Ingenieur. Ich bin Verfahrenstechniker, Metallurge in einer Fabrik in Wernigerode. Meine Arbeit beschäftigt sich mit der Gewinnung und Herstellung nichteisenhaltiger Metalle.»
«Wernigerode», sagte ich. «Das ist im Harz, nicht wahr? In der Ostzone.»
«Ich kam nach Berlin, um an der Universität eine Reihe von Vorlesungen zu halten. Heute morgen erhielt ich ein Telegramm in meinem Hotel, dem Mitropa …»
Ich runzelte die Stirn und versuchte, mich an das Hotel zu erinnern.
«Es ist eines von diesen Bunker-Hotels», sagte Nowak. Einen Augenblick schien er geneigt, mir davon zu erzählen, doch dann besann er sich anders. «Das Telegramm kam von meiner Frau, die mich dringend auffordert, meinen Besuch abzubrechen und nach Hause zurückzukehren.»
«Irgendein besonderer Grund?»
Er reichte mir das Telegramm. «Es steht drin, daß meine Mutter sich nicht wohl fühle.»
Ich entfaltete das Blatt, warf einen Blick auf die getippte Nachricht und stellte fest, daß sie in Wirklichkeit lautete, die Mutter sei gefährlich erkrankt.
«Tut mir leid, das zu hören.»
Nowak schüttelte den Kopf.
«Sie glauben Ihrer Frau nicht?»
«Ich glaube nicht, daß meine Frau dieses Telegramm geschickt hat», sagte er. «Meine Mutter mag ja alt sein, aber sie ist von bemerkenswert guter Gesundheit. Noch vor zwei Tagen hat sie Holz gehackt. Nein, ich habe den Verdacht, die Russen haben sich das ausgedacht, um mich so rasch wie möglich zurückzuholen.»
«Warum?»
«In der Sowjetunion herrscht großer Mangel an Wissenschaftlern. Ich denke, sie haben die Absicht, mich zu deportieren und in einer ihrer Fabriken arbeiten zu lassen.»
Ich zuckte die Achseln. «Warum hat man Sie dann erst nach Berlin reisen lassen?»
«Das hieße, der sowjetischen Militärbehörde eine Tüchtigkeit zuzusprechen, die sie einfach nicht besitzt. Ich vermute, daß der Befehl zu meiner Deportation gerade erst aus Moskau eingetroffen ist und die Behörden mich so bald wie möglich zurückhaben möchten.»
«Haben Sie Ihrer Frau telegrafiert, um eine Bestätigung zu bekommen?»
«Ja. Sie antwortete lediglich, ich solle sofort kommen.»
«Sie wollen also wissen, ob der Iwan sie in den Fingern hat.»
«Ich bin hier in Berlin bei der Militärpolizei gewesen», sagte er, «aber …»
Sein tiefer Seufzer verriet mir, mit welchem Erfolg.
«Nein, sie würden Ihnen nicht helfen», sagte ich. «Sie hatten recht, zu mir zu kommen.»
«Können Sie mir helfen, Herr Gunther?»
«Es bedeutet, in die Zone zu gehen», sagte ich, halb zu mir selbst, als müsse man mich überreden, was in der Tat zutraf. «Nach Potsdam. Es gibt dort jemanden im Hauptquartier der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, von dem ich weiß, daß ich ihn bestechen kann. Das wird Sie was kosten, und ich denke dabei nicht an ein paar Riegel Schokolade.»
Er nickte düster.
«Sie haben nicht zufällig ein paar Dollar, Dr. Nowak?»
Er schüttelte den Kopf.
«Dann ist da auch noch die Frage meines Honorars.»
«Woran hatten Sie gedacht?»
Ich deutete auf seine Aktentasche. «Was haben Sie zu bieten?»
«Da sind leider bloß Papiere drin.»
«Sie müssen doch was haben. Vielleicht etwas in Ihrem Hotel?»
Er senkte den Kopf und stieß einen weiteren Seufzer aus, als er versuchte, sich an etwas Wertvolles zu erinnern, das er besaß.
«Hören Sie, Herr Doktor, haben Sie sich gefragt, was Sie tun werden, wenn sich herausstellt, daß die Russen Ihre Frau haben?»
«Ja», sagte er düster, und seine Augen wurden für einen Moment glasig.
Das war deutlich genug. Es stand nicht gut um Frau Nowak.
«Warten Sie mal», sagte er, fuhr mit der Hand in die Brusttasche seines Mantels und zog einen goldenen Füllfederhalter heraus. «Ich habe das hier.»
Er reichte mir den Füller.
«Es ist ein Parker. Achtzehn Karat.»
Ich schätzte rasch seinen Wert. «Ungefähr vierzehnhundert Dollar auf dem schwarzen Markt», sagte ich. «Ja, damit hätten wir den Iwan im Sack. Die Russen lieben Füllfederhalter ebensosehr wie Uhren.» Ich hob vielsagend die Augenbrauen.
«Ich fürchte, ich kann mich von meiner Uhr nicht trennen», sagte Nowak. «Sie war ein Geschenk – von meiner Frau.» Er lächelte dünn, als ihm die Ironie aufging.
Ich nickte verständnisvoll und beschloß, die Sache abzuschließen, ehe sein Schuldgefühl ihn übermannte.
«Nun zu meinem Honorar. Sie sprachen von Metallurgie. Sie haben nicht zufällig Zugang zu einem Labor, oder?»
«Aber gewiß doch.»
«Und zu einer Schmelze?»
Er nickte nachdenklich und dann heftiger, als ihm ein Licht aufging. «Sie wollen Kohlen haben, nicht wahr?»
«Können Sie welche besorgen?»
«Wieviel wollen Sie?»
«Ein Zentner etwa würde mir reichen.»
«In Ordnung.»
«Kommen Sie in vierundzwanzig Stunden wieder her», sagte ich ihm. «Bis dahin sollte ich ein paar Informationen haben.»
Dreißig Minuten später hatte ich, nachdem ich eine Nachricht für meine Frau hinterlassen hatte, meine Wohnung verlassen und war auf dem Weg zum Bahnhof.
Ende 1947 glich Berlin noch immer einer ungeheuren Akropolis aus eingestürztem Mauerwerk und zerstörten Gebäuden, einem riesigen und unübersehbaren Steingrab, das Zeugnis ablegte von der Verwüstung durch den Krieg und von der Gewalt von 75 000 Tonnen hochexplosiven Sprengstoffs. Beispiellos war die Verwüstung, die über die Hauptstadt des Hitlerschen Ehrgeizes hereingebrochen war: eine Verheerung im Wagnerianischen Maßstab, mit welcher der Ring-Zyklus sich schloß – die letzte Illumination dieser Götterdämmerung.
In vielen Teilen der Stadt wäre ein Stadtplan nicht nützlicher gewesen als ein Fensterleder. Hauptstraßen mäanderten wie Flüsse zwischen hohen Ufern aus Schutt. Pfade wanden sich über Berge von tückischem Geröll, dem manchmal, bei wärmerem Wetter, ein Geruch entstieg, der unmißverständlich darauf hinwies, daß dort noch etwas anderes als häusliches Mobiliar begraben war. Da Kompasse Mangelware waren, brauchte man viel Nerven, um sich den Weg durch Faksimile-Straßen, an denen nur die wackeligen Fassaden von Geschäften und Hotels wie nicht mehr benötigte Filmkulissen stehengeblieben waren, zu bahnen. Man brauchte ein gutes Erinnerungsvermögen an Gebäude, in denen immer noch Leute in feuchten Kellern oder, ein wenig riskanter, in den unteren Geschossen von Mietshäusern wohnten, von denen eine Hauswand säuberlich entfernt war, so daß, wie in einem riesigen Puppenhaus, alle Räume und das Leben darin zur Schau gestellt waren: Es waren wenige, die sich in die oberen Geschosse wagten, weil es so wenige unzerstörte Dächer und so viele gefährliche Treppenhäuser gab.
Das Leben im Trümmerhaufen Deutschland war häufig ebenso gefährlich wie in den letzten Tagen des Krieges: eine einstürzende Mauer hier, ein Blindgänger dort. Es war immer noch ein bißchen wie in der Lotterie.
Am Bahnhof kaufte ich mir eine Karte, von der ich hoffte, sie würde vielleicht das große Los sein.
In jener Nacht, auf der Rückfahrt von Potsdam nach Berlin, saß ich allein im Waggon. Ich hätte vorsichtiger sein sollen, jedoch ich war mit mir zufrieden, daß ich den Fall des Doktors erfolgreich abgeschlossen hatte. Aber ich war auch müde, weil dieses Geschäft fast den ganzen Tag und einen beträchtlichen Teil des Abends in Anspruch genommen hatte.
Dabei war der größte Teil meiner Zeit durch die Reise draufgegangen. Gewöhnlich dauerte das Reisen zweimal bis dreimal so lange wie vor dem Krieg; und was einst eine halbstündige Fahrt nach Potsdam gewesen war, dauerte jetzt fast zwei Stunden. Ich schloß meine Augen, um ein Nickerchen zu machen, als der Zug langsamer wurde und dann rüttelnd zum Stehen kam.
Ein paar Minuten vergingen, bevor die Wagentür sich öffnete und ein großgewachsener und ungemein übelriechender russischer Soldat hereinkletterte. Er murmelte mir einen Gruß zu, den ich mit einem höflichen Nicken erwiderte. Doch fast im selben Augenblick wurde ich hellwach, als er sich auf seinen riesigen Füßen gemächlich herumschwang, seinen Mosin-Nagant-Karabiner von der Schulter nahm und ihn entsicherte. Statt auf mich zu zielen, drehte er sich um, feuerte durch das Abteilfenster, und nach einer kurzen Pause setzte mein Atem wieder ein, als ich begriff, daß er dem Lokomotivführer ein Zeichen gegeben hatte. Der Russe rülpste, ließ sich schwerfällig nieder, als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, zog mit seiner schmutzigen Hand die Lammfellmütze vom Kopf, lehnte sich zurück und schloß die Augen.
Ich zog ein Exemplar des von den Briten kontrollierten Telegraf aus meiner Manteltasche. Ein Auge auf den Iwan gerichtet, tat ich so, als läse ich. Die meisten Nachrichten handelten von Verbrechen: Vergewaltigung und Raub waren in der Ostzone so verbreitet wie der billige Wodka, der häufig der Auslöser dieser Taten war. Manchmal wollte es so scheinen, als sei Deutschland noch immer im blutigen Griff des Dreißigjährigen Krieges. Ich kannte eine gute Handvoll Frauen, die nicht darüber sprechen konnten, daß sie von einem Russen belästigt oder vergewaltigt worden waren. Und selbst wenn man die Phantasien einiger Neurotiker berücksichtigte, blieb noch immer eine schwindelerregende Zahl von Sexualverbrechen übrig. Meine Frau kannte einige Mädchen, die erst vor kurzem angegriffen worden waren, am Vorabend des dreißigsten Jahrestages der Oktoberrevolution. Eines dieser Mädchen, das auf einem Polizeirevier in Rangsdorf von nicht weniger als fünf Rotarmisten vergewaltigt worden und dabei mit Syphilis infiziert worden war, versuchte, Anzeige zu erstatten, doch es sah sich einer gewaltsamen medizinischen Untersuchung unterworfen und mit einer Anklage wegen Prostitution konfrontiert. Doch gab es auch einige, die sagten, daß sich die Russen lediglich gewaltsam das nahmen, was deutsche Frauen Briten und Amerikanern gern freiwillig verkauften.
Ebenso vergeblich war es, sich bei der sowjetischen Kommandantur zu beschweren, man sei beraubt worden. Man wurde höchstens darüber aufgeklärt, «alles, was die Deutschen besäßen, sei ein Geschenk des Volks der Sowjetunion». Das reichte, um die ungezügelte Räuberei in der ganzen Sowjetzone zu rechtfertigen, und man konnte manchmal von Glück sagen, wenn man am Leben blieb, um die Sache zu melden. Die Raubzüge der Roten Armee und ihrer vielen Deserteure machten das Reisen in der Sowjetzone zu einem Unterfangen, das kaum weniger gefährlich war als ein Flug mit der Hindenburg. Auf der Strecke Berlin – Magdeburg waren Reisende nackt ausgezogen und aus dem Zug geworfen worden; und die Straße von Berlin nach Leipzig war so gefährlich, daß Fahrzeuge oft im Konvoi fuhren: Der Telegraf hatte von einem Raubüberfall berichtet, bei dem vier Boxer, unterwegs zu einem Kampf in Leipzig, angehalten und um alles, bis auf ihr Leben, beraubt worden waren. Am berüchtigtsten waren die fünfundsiebzig Raubüberfälle, begangen von der Bande «Blaue Limousine», die auf der Straße Berlin – Michendorf operierte und zu deren Anführern der Vizepräsident der sowjetisch kontrollierten Potsdamer Polizei gehörte.
Jedem, der daran dachte, die Ostzone zu besuchen, sagte ich: «Tu’s nicht»; und wenn er trotzdem darauf beharrte, sagte ich: «Trage keine Armbanduhr – die Iwans stehlen sie gern; trage nichts als deine ältesten Klamotten und Schuhe – die Iwans schätzen Qualität; streite nicht und stelle keine Fragen – die Iwans haben keine Skrupel, dich zu erschießen: Wenn du mit ihnen sprechen mußt, schimpfe laut über die amerikanischen Faschisten; und lese keine andere Zeitung als die russisch kontrollierte Tägliche Rundschau.»
Das waren gute Ratschläge, und ich hätte gut daran getan, sie zu befolgen, denn plötzlich war der Iwan in meinem Waggon auf den Füßen und stand schwankend über mir.
«Steigen Sie aus?» fragte ich ihn auf russisch.
Er blinzelte besoffen und starrte feindselig auf mich und meine Zeitung, bevor er sie mir aus den Händen riß.
Er war der Typ Bergbewohner, ein großer, einfältiger Tschetschene mit mandelförmigen schwarzen Augen, einem breiten Kiefer, weiträumig wie die Steppe, und einer Brust wie eine umgekippte Kirchenglocke: die Sorte Iwan, über die wir Witze machen – daß sie keine Badezimmer kannten und ihr Essen in die Klobecken taten, weil sie sie für Kühlschränke hielten (einige dieser Geschichten stimmten sogar).
«Lzi (Lügen)», knurrte er und fuchtelte mit der Zeitung herum. Sein aufgerissener, sabbernder Mund zeigte gelbe Zähne, groß wie Bordsteine. Er stemmte den Fuß auf den Sitz neben mir und beugte sich herunter. «Lzi», wiederholte er, während sein Atem den Gestank von Wurst und Bier in meine hilflos zuckenden Nasenlöcher trieb. Er schien meinen Abscheu zu spüren und rollte diese Vorstellung in seinem Kopf wie einen Bonbon herum. Er ließ den Telegraf zu Boden fallen und streckte seine schwielige Hand aus.
«Ja hacho padarok», sagte er, und dann langsam auf deutsch, «… ich will Geschenk.» Ich grinste ihn an wie ein Idiot und stellte nüchtern fest, daß ich ihn würde töten müssen oder selbst getötet werden würde.
«Padarok», wiederholte ich.
Ich stand langsam auf und zog, immer noch grinsend und nickend, meinen linken Hemdsärmel hoch, um mein nacktes Handgelenk zu entblößen. Auch der Iwan grinste inzwischen, im Glauben, er sei auf dem richtigen Weg. Ich zuckte die Achseln.
«O menia njet chasow», sagte ich, um ihm klarzumachen, daß ich ihm keine Uhr geben könne.
«Sto o was jest (Was hast du sonst)?»
«Nichto», sagte ich, schüttelte den Kopf und forderte ihn auf, meine Taschen zu durchsuchen. «Nichts.»
«Sto o was jest?» sagte er noch einmal, diesmal lauter. Es war, dachte ich, als spräche ich mit dem armen Doktor Nowak, dem ich bestätigen konnte, daß seine Frau tatsächlich vom MVD festgehalten wurde, um herauszufinden, was er verscherbeln konnte.
«Nichto», wiederholte ich.
Das Grinsen verschwand vom Gesicht des Russen. Er spuckte auf den Boden.
«Wron (Lügner)», knurrte er und zog mich am Arm.
Ich schüttelte den Kopf und sagte ihm, ich sei kein Lügner.
Er streckte die Hand aus, um mich abermals am Arm zu ziehen, jedoch dieses Mal hielt er inne und ergriff mit seinen schmutzigen Fingern den Ärmel meines Mantels. «Doraga (teuer)», sagte er und befühlte abschätzend den Stoff.
Ich schüttelte den Kopf, doch der Mantel war aus schwarzem Kaschmir – ich hatte keinen Grund, einen solchen Mantel in der Sowjetzone zu tragen –, und es war zwecklos zu diskutieren: Der Iwan löste bereits seinen Gürtel.
«Ja hascho vaschi koit», sagte er und zog seinen sauber geflickten Militärmantel aus. Dann ging er auf die andere Seite des Wagens, stieß die Tür auf und sagte mir, entweder gebe ich ihm den Mantel, oder er werde mich aus dem Zug werfen.
Ich hatte keinen Zweifel, daß er mich rauswerfen würde, ob ich ihm nun meinen Mantel gab oder nicht. Jetzt war ich an der Reihe, auf den Boden zu spucken.
«Nu, njelzja (nichts zu machen)», sagte ich. «Du willst diesen Mantel? Komm und hol ihn dir, du blödes, verdammtes swinja, du häßlicher, dummer Kretin. Komm, nimm ihn mir ab, du besoffene Mißgeburt.»
Der Iwan knurrte wütend und nahm seinen Karabiner vom Sitz, wohin er ihn gelegt hatte. Das war sein erster Fehler. Da ich gesehen hatte, daß er durch einen Schuß aus seiner Waffe durch das Fenster dem Lokomotivführer ein Zeichen gegeben hatte, wußte ich, daß die Waffe nicht feuerbereit war. Es war ein logischer Schluß, den er einen Augenblick später selber zog, doch als er durchlud, hatte ich ihm bereits die Spitze meines Schuhes in die Leiste gebohrt.
Der Karabiner rasselte zu Boden, als der Iwan sich vor Schmerz zusammenkrümmte und mit einer Hand zwischen die Beine griff: Mit der anderen landete er einen höllisch schmerzhaften Schlag auf meiner Hüfte, so daß ich kein Gefühl mehr im Bein hatte.
Als er sich aufrichtete, holte ich mit der Rechten aus und sah meine Faust fest von seiner großen Pfote umschlossen. Er schnappte nach meiner Kehle, und ich traf ihn mit einem Kopfstoß mitten ins Gesicht, so daß er, als er sich instinktiv an seine zwiebelförmige Nase griff, meine Faust losließ. Ich holte abermals aus, und dieses Mal duckte er sich weg und ergriff mich bei den Mantelaufschlägen. Das war sein zweiter Fehler, aber eine kurze, verwirrte Sekunde lang begriff ich es nicht. Unerklärlicherweise schrie er auf und stolperte rückwärts, die Hände vor sich in die Luft gehoben wie ein Chirurg, der sie sich gerade gewaschen hat. Seine zerschnittenen Fingerspitzen trieften vor Blut. Erst jetzt fielen mir die Rasierklingen ein, die ich vor Monaten für ebendiese Möglichkeit unter die Aufschläge genäht hatte.
Mein wirbelnder Angriff schickte ihn krachend zu Boden und mit dem halben Körper durch die offene Tür des schnell fahrenden Zuges. Auf seinen zappelnden Beinen liegend, mühte ich mich ab, den Russen daran zu hindern, sich in den Wagen zurückzuhieven. Hände, die von Blut klebten, umklammerten mein Gesicht und schlossen sich dann verzweifelt um meinen Hals. Sein Griff wurde stärker, und ich hörte die Luft mit dem Geräusch einer Espressomaschine aus meiner Kehle gurgeln.
Ich schlug ihn heftig gegen das Kinn, nicht einmal, sondern mehrere Male, und drückte dann den Rücken meiner Hand dagegen, als ich versuchte, ihn in die kalte Nachtluft zurückzustoßen. Die Haut meiner Stirn spannte sich, als ich nach Luft rang. Ein entsetzliches Brüllen füllte meine Ohren, als sei vor meinem Gesicht eine Granate explodiert, und für eine Sekunde schien sich der Griff seiner Finger zu lockern. Ich schlug nach seinem Kopf und traf nichts als leeren Raum, in den nur noch der abrupt abgerissene blutige Stumpf einer menschlichen Wirbelsäule ragte. Ein Baum oder vielleicht ein Telegrafenmast hatte den Russen sauber enthauptet.
Während es in meiner Brust wühlte wie in einem Sack voller Kaninchen, fiel ich schwer in den Wagen zurück, zu erschöpft, der Welle von Übelkeit nachzugehen, die in mir hochstieg. Aber nach nur wenigen Sekunden konnte ich nicht mehr widerstehen, und mein sich plötzlich zusammenziehender Magen ließ mir keine andere Wahl, als mich ausgiebig über dem Körper des toten Soldaten zu erbrechen.
Es vergingen einige Minuten, ehe ich mich kräftig genug fühlte, die Leiche aus der Tür zu kippen und den Karabiner rasch folgen zu lassen. Ich nahm den übelriechenden Militärmantel des Russen vom Sitz und wollte ihn ebenfalls hinauswerfen, als ein großes Gewicht mich zögern ließ. Beim Durchsuchen der Taschen fand ich eine tschechische 38er Automatik, eine Anzahl von Armbanduhren – vermutlich allesamt gestohlen – und eine halbgeleerte Flasche Moskowskaja. Nachdem ich beschlossen hatte, die Waffe und die Uhren zu behalten, entkorkte ich den Wodka, wischte den Hals ab und hob die Flasche gegen den frostigen Nachthimmel.
«Alla rasi bo san (Gott beschütze dich)», sagte ich und nahm einen kräftigen Schluck. Dann warf ich die Flasche und den Mantel aus dem Zug und schloß die Tür.
Auf dem Bahnhof trieben Schneeflocken in der Luft und sammelten sich im Winkel zwischen der Bahnhofsmauer und der Straße zu kleinen Abhängen. Es war kälter, als es die ganze Woche gewesen war, und am bedeckten Himmel drohte noch Schlimmeres. Nebel lag auf den weißen Straßen wie Zigarrenrauch, der über ein frisch gestärktes Tischtuch treibt. In der Nähe brannte eine Straßenlaterne, ohne viel Licht zu spenden, aber es war trotzdem so hell, daß mein Gesicht die Neugier eines britischen Soldaten erregte, der, in jeder Hand ein paar Flaschen Bier, heimtorkelte. Das verständnislose Grinsen des Suffs auf seinem Gesicht veränderte sich und drückte eine gewisse Vorsicht aus, als er mich erblickte, und er fluchte aus unterdrückter Furcht. Ich humpelte rasch an ihm vorbei und hörte das Geräusch einer Flasche, die, nervösen Fingern entglitten, auf dem Pflaster zerbrach. Plötzlich wurde mir bewußt, daß meine Hände und mein Gesicht mit dem Blut des Russen bedeckt waren. Ich muß ausgesehen haben wie Julius Cäsars letzte Toga.
Ich flüchtete in eine nahe Gasse und wusch mich mit etwas Schnee. Er schien nicht nur das Blut, sondern auch die Haut zu entfernen, und vermutlich sah mein Gesicht danach genauso rot aus wie vorher. Nachdem ich meine eisige Toilette beendet hatte, schritt ich so scharf aus, wie ich konnte, und erreichte ohne weitere Abenteuer meine Wohnung.
Inzwischen war es Mitternacht, als ich meine Eingangstür aufstemmte – zumindest war es leichter reinzukommen als raus. Da ich erwartete, meine Frau im Bett zu finden, war ich nicht überrascht, daß die Wohnung dunkel war. Doch als ich ins Schlafzimmer ging, sah ich, daß sie nicht da war. Ich leerte meine Taschen und schickte mich an, schlafen zu gehen. Als ich die Uhren des Russen auf dem Toilettentisch ausgebreitet hatte, erwies sich, daß sie alle gingen und nur eine oder zwei Minuten voneinander abwichen – eine Rolex, eine Pilotenuhr, eine goldene Patek und eine Roxas. Doch der Anblick so vieler exakter Zeitmesser schien Kirstens Verspätung nur zu unterstreichen. Ich hätte mir Sorgen um sie machen müssen, doch da war der Verdacht, den ich hegte, wo sie war und was sie machte, und die Tatsache, daß ich vollkommen fertig war.
Meine Hände zitterten vor Erschöpfung, meine Hirnschale schmerzte, als habe man sie mit einem Fleischklopfer bearbeitet. Als ich ins Bett kroch, fühlte ich mich wie jemand, den man von den Menschen vertrieben hat, um wie ein Ochse Gras zu fressen.
Ich erwachte vom Knall einer entfernten Explosion. Sie sprengten dauernd gefährliche Ruinen. Der Wind fegte mit Wolfsgeheul gegen die Scheiben, und ich drückte mich enger an Kirstens warmen Körper, während mein Verstand begann, langsam die Hinweise zu entschlüsseln, die mich wiederum in das dunkle Labyrinth des Zweifels führten: der Geruch ihres Nackens, der Zigarettenrauch in ihrem Haar.
Ich hatte sie nicht ins Bett kommen hören.
Allmählich begann sich ein doppelter Schmerz in meinem rechten Bein und in meinem Kopf bemerkbar zu machen. Ich schloß wieder die Augen, stöhnte, rollte mich mühsam auf den Rücken und erinnerte mich an die schrecklichen Ereignisse der letzten Nacht. Ich hatte einen Mann getötet. Das Schlimmste war, ich hatte einen russischen Soldaten getötet. Daß ich in Notwehr gehandelt hatte, würde vor einem von den Sowjets eingesetzten Gericht so gut wie keine Rolle spielen, das wußte ich. Für jemanden, der einen Rotarmisten tötete, gab es nur eine Strafe. Ich fragte mich, wie viele Leute mich wohl auf dem Bahnhof gesehen hatten, einen Mann mit den Händen und dem Gesicht eines Kopfjägers, und kam zu dem Schluß, daß es wohl besser war, wenn ich mich, zumindest eine Zeitlang, aus der Sowjetzone fernhielt. Als ich noch an die von Bomben beschädigte Decke des Schlafzimmers starrte, fiel mir die Möglichkeit ein, daß die Zone sich vielleicht entschließen könnte, zu mir zu kommen: Noch war Berlin wie ein löchriger Lattenzaun, während in der Ecke meines Schlafzimmers bereits der Sack mit Gips vom schwarzen Markt darauf wartete, die Löcher im Zimmer zuzuschmieren. Es gab nur wenige Leute, mich eingeschlossen, die nicht glaubten, daß Stalin nicht etwas Ähnliches mit Berlin vorhatte, nämlich den kleinen Flecken der Freiheit zuzudecken.
Ich stieg auf meiner Seite aus dem Bett, wusch mich in einer Schüssel, zog mich an und ging in die Küche, um etwas zum Frühstück zu suchen.
Auf dem Tisch befanden sich Lebensmittel, die am Abend vorher nicht dort gewesen waren: Kaffee, Butter, eine Büchse Kondensmilch und ein paar Tafeln Schokolade – alle aus einem der PX-Läden, den einzigen Geschäften, die alles hatten und in denen nur amerikanische Militärangehörige kaufen durften. Die Rationierung bedeutete, daß die deutschen Geschäfte, kaum waren sie beliefert worden, schon wieder leer waren.
Jede Nahrung war willkommen: mit Lebensmittelkarten, die sich pro Tag für Kirsten und mich auf weniger als 3500 Kalorien beliefen, waren wir oft hungrig – ich hatte seit dem Ende des Krieges mehr als fünfzehn Kilo Gewicht verloren. Andererseits hatte ich meine Zweifel an Kirstens Methode, diese zusätzlichen Nahrungsmittel zu ergattern. Doch für den Augenblick schob ich meinen Argwohn beiseite und röstete ein paar Kartoffeln mit ein paar Körnern Ersatzkaffee, um ihnen ein bißchen Geschmack zu geben.
Durch den Geruch der Bratkartoffeln aufgeweckt, erschien Kirsten in der Küchentür.
«Reicht’s für zwei?» fragte sie.
«Natürlich», sagte ich und stellte ihr einen Teller hin.
Jetzt bemerkte sie die Schwellung in meinem Gesicht. «Mein Gott, Berni, was, zum Teufel, ist mit dir passiert?»
«Ich hatte letzte Nacht einen Zusammenstoß mit einem Iwan.» Ich ließ sie einen kurzen Augenblick mein Gesicht betasten und ihre Sorge demonstrieren, bevor ich mich setzte, um zu essen. «Der Halunke versuchte, mich auszurauben. Wir prügelten uns ’ne Weile herum, und dann haute er ab. Ich glaube, er muß am Abend sehr fleißig gewesen sein. Er ließ ein paar Uhren zurück.» Ich würde ihr nicht sagen, daß er tot war. Es hatte keinen Sinn, wenn wir beide Angst hatten.
«Ich habe sie gesehen. Sehen hübsch aus. Müssen ein paar tausend Dollar wert sein.»
«Ich werde heute morgen zum Reichstag gehen und sehen, ob ich nicht ein paar Russen finde, denen ich sie verkaufen kann.»
«Paß bloß auf, daß er nicht herkommt und nach dir sucht.»
«Keine Sorge. Das geht schon in Ordnung.» Ich spießte ein paar Kartoffeln auf die Gabel, nahm die Büchse mit amerikanischem Kaffee in die Hand und starrte sie teilnahmslos an. «Ein bißchen spät bist du letzte Nacht gekommen, stimmt’s?»
«Du hast geschlafen wie ein Säugling, als ich heimkam.» Kirsten prüfte mit der flachen Hand den Sitz ihres Haares und setzte hinzu: «Wir hatten gestern sehr viel zu tun. Einer der Yanks feierte in der Bar seine Geburtstagsparty.»
«Verstehe.»
Meine Frau war Lehrerin, arbeitete jedoch als Kellnerin in einer amerikanischen Bar in Zehlendorf, zu der nur amerikanisches Militär Zutritt hatte. Unter ihrem Mantel, den sie wegen der Kälte in unserer Wohnung anbehalten mußte, trug sie bereits das rote Chintzkleid und die winzige gekräuselte Schürze, ihre Berufskleidung.
Ich wog den Kaffee in meiner Hand. «Hast du das Zeug gestohlen?»
Sie nickte und wich meinem Blick aus.
«Ich weiß nicht, wie du damit rauskommst», sagte ich. «Machen sie sich nicht die Mühe, euch zu filzen? Merken sie denn nicht, daß im Vorratsraum etwas fehlt?»
Sie lachte: «Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Lebensmittel sie dort lagern. Diese Yankees verbrauchen am Tag mehr als 4000 Kalorien. Ein GI ißt deine monatliche Fleischration an einem einzigen Abend und hat immer noch Platz für Ice-Cream.» Sie beendete ihr Frühstück und zog ein Päckchen Lucky Strike aus ihrer Manteltasche. «Willst du eine?»
«Hast du die auch gestohlen?» Aber ich nahm eine und senkte den Kopf über das Streichholz, das sie angerissen hatte.
«Immer der Detektiv», murmelte sie und fügte ein wenig ärgerlicher hinzu: «Tatsächlich sind die Zigaretten ein Geschenk von einem der Yanks. Einige von ihnen sind noch Jungens, weißt du. Sie können sehr nett sein.»
«Ich wette, daß sie das können», hörte ich mich knurren.
«Sie unterhalten sich gern, das ist alles.»
«Ich bin sicher, daß dein Englisch immer besser wird.» Ich lächelte breit, um jeden Anflug von Sarkasmus zu entschärfen, der in meiner Stimme war. Dies war nicht der rechte Augenblick. Jedenfalls noch nicht. Ich fragte mich, ob sie etwas über die Flasche Chanel sagen würde, die ich kürzlich in einer ihrer Schubladen versteckt gefunden hatte. Doch sie erwähnte sie nicht.
Lange nachdem Kirsten in ihre Snackbar gegangen war, hörte ich ein Klopfen an der Tür. Immer noch nervös wegen des toten Russen, steckte ich die Automatik in die Jackentasche, bevor ich auf das Klopfen reagierte.
«Wer ist da?»
«Dr. Nowak.»
Wir hatten unser Geschäft rasch erledigt. Ich erklärte ihm, daß mein Informant im Hauptquartier der Sowjetischen Streitkräfte durch einen Anruf auf der Überlandleitung bei der Polizei in Magdeburg, der Wernigerode nächst gelegenen Stadt in der Zone, die Bestätigung erhalten hatte, daß Frau Nowak in der Tat vom MVD in «Schutzhaft» gehalten wurde. Bei Nowaks Rückkehr würden er und seine Frau umgehend wegen «Arbeiten, die für die Interessen der Völker der Union der Sowjetrepubliken lebenswichtig sind», nach Charkow in der Ukraine deportiert werden.
Nowak lächelte grimmig. «Das war zu erwarten», seufzte er. «Der größte Teil ihrer metallurgischen Forschung ist dort konzentriert.»
«Was werden Sie jetzt machen?» fragte ich.
Er schüttelte den Kopf mit einem solchen Ausdruck von Mutlosigkeit, daß er mir richtig leid tat. Aber Frau Nowak tat mir noch mehr leid. Sie saß in der Klemme.
«Nun, Sie wissen, wo Sie mich finden können, falls Sie meine Dienste weiterhin benötigen.»
Nowak deutete auf den Sack Kohlen, den er mit meiner Hilfe aus seinem Taxi hereingetragen hatte, und sagte: «So wie Ihr Gesicht aussieht, schließe ich, daß Sie sich die Kohlen verdient haben.»
«Sagen wir einfach, selbst wenn ich sie alle auf einmal verfeuern würde, wäre dieses Zimmer kaum wärmer.» Ich hielt inne. «Es geht mich ja nichts an, Dr. Nowak, aber werden Sie zurückkehren?»
«Sie haben ganz recht, es geht Sie nichts an.»
Ich wünschte ihm jedenfalls Glück, und als er fort war, trug ich eine Schaufel voll Kohlen in das Wohnzimmer und machte mit einer Sorgfalt, die nur durch zunehmende Vorfreude auf eine warme Wohnung beeinträchtigt wurde, Feuer im Ofen.
Ich verbrachte einen angenehmen Morgen, auf der Couch liegend, und hatte beinahe Lust, den Rest des Tages zu Hause zu bleiben. Aber am Nachmittag holte ich mir einen Spazierstock aus dem Schrank und humpelte zum Kurfürstendamm, wo ich, nachdem ich wenigstens eine halbe Stunde Schlange gestanden hatte, eine Straßenbahn nach Osten erwischte.
«Schwarzer Markt», rief der Schaffner, als der alte zerstörte Reichstag in Sicht kam, und die Bahn leerte sich.
Kein Deutscher, so anständig er auch sein mochte, war sich zu fein, nicht hin und wieder ein kleines Schwarzmarkt-Geschäft zu machen, und angesichts eines durchschnittlichen Wocheneinkommens von etwa 200 Mark – genug, um eine Schachtel Zigaretten zu kaufen – hatten selbst rechtmäßige Geschäfte reichlich Anlaß, auf Schwarzmarktartikel zurückzugreifen, um Angestellte zu bezahlen. Die Leute benutzten ihre im Grunde wertlose Reichsmark nur, um die Miete zu bezahlen und ihre kärglichen Lebensmittelrationen zu kaufen. Für einen Studenten der klassischen Ökonomie bot Berlin das vollkommene Modell eines Warenkreislaufs, der von Habgier und Not bestimmt wurde. Vor dem geschwärzten Reichstag, auf einer Fläche von der Größe eines Fußballfeldes, standen nahezu tausend Menschen in tuschelnden Grüppchen herum, die etwas verkaufen wollten, das sie vorzeigten wie Pässe an einem belebten Grenzübergang: Süßstoffpäckchen, Zigaretten, Nähmaschinennadeln, Kaffee, Lebensmittelmarken (meist gefälscht), Schokolade und Kondome. Andere wanderten herum, blickten mit betonter Verachtung auf die Artikel, die man ihnen zur Prüfung hinhielt, und suchten weiter nach den Waren, deretwegen sie hergekommen waren. Es gab nichts, was man hier nicht kaufen konnte: von der Eigentumsurkunde über einen ausgebombten Besitz bis zu einer gefälschten Entnazifizierungsurkunde, die dem Besitzer bestätigte, er sei frei von nazistischer «Infizierung» und somit in einer Stellung zu beschäftigen, die der Kontrolle der Alliierten unterlag, sei es nun als Orchesterdirigent oder als Straßenfeger.
Doch es waren nicht nur Deutsche, die hier handelten. Ganz im Gegenteil. Die Franzosen kamen, um für ihre Mädchen zu Hause Schmuck, die Briten, um Kameras für ihren Urlaub am Meer zu kaufen. Die Amerikaner kauften Antiquitäten, die in einer der vielen Werkstätten am Savignyplatz fachmännisch gefälscht worden waren. Und die Russen kamen, um ihren für Monate nachgezahlten Sold für Uhren auszugeben; hoffte ich jedenfalls.
Ich stellte mich neben einen Mann, der an Krücken ging und dessen künstliches Bein oben aus einem Rucksack ragte, den er auf dem Rücken trug. Ich hielt meine Uhren an den Armbändern hoch. Nach einer Weile blickte ich meinen einbeinigen Nachbarn mitfühlend an, der offensichtlich nichts zum Vorzeigen hatte, und fragte ihn, was er verkaufe.
Er preßte seinen Hinterkopf gegen den Rucksack: «Mein Bein», sagte er, ohne eine Spur von Bedauern.
«Das ist schade.»
Sein Gesicht zeigte stumme Resignation. Dann warf er einen Blick auf meine Uhren. «Hübsch», sagte er. «Vor einer Viertelstunde war ein Russe hier, der nach einer guten Uhr suchte. Für zehn Prozent würde ich nachsehen, ob ich ihn für Sie aufstöbern kann.»
Ich versuchte mir auszumalen, wie lange ich vielleicht hier stehen mußte, bevor ich einen Käufer fand. «Fünf», hörte ich mich sagen. «Wenn er kauft.»
Der Mann nickte und schlingerte auf einem Bein und zwei Krücken in Richtung Krolloper. Zehn Minuten später war er wieder da, schweratmend und nicht von einem, sondern von zwei russischen Soldaten begleitet, die, nach einer großen Feilscherei, die Pilotenuhr und die goldene Patek für 1700 Dollar kauften. Als sie verschwunden waren, zählte ich neun schmierige Scheine von dem Notenbündel ab, das sie mir gegeben hatten, und reichte sie ihm.
«Vielleicht können Sie sich das Bein jetzt selber anschnallen.»
«Vielleicht», sagte er schniefend, doch ich sah, daß er es später für fünf Stangen Winston verkaufte.
An diesem Nachmittag hatte ich kein Glück mehr und beschloß, nachdem ich die zwei übriggebliebenen Uhren am Handgelenk befestigt hatte, nach Hause zu gehen. Als ich jedoch an dem geisterhaften Gerippe des Reichstages mit seinen zugemauerten Fenstern und der gefährlich aussehenden Kuppel vorbeikam, änderte ich meine Meinung, als ich ein bestimmtes Graffito sah, das an die Wand geschmiert war und mir auf den Magen ging: «Was unsere Frauen tun, bringt einen Deutschen zum Weinen und einen GI auf Trab.»
Der Zug nach Zehlendorf und in den amerikanischen Sektor von Berlin brachte mich fast bis zur Kronprinzenallee und zu Johnny’s American Bar, in der Kirsten arbeitete, weniger als tausend Meter vom US-Hauptquartier entfernt.
Es war mittlerweile dunkel, als ich die Bar fand, hell erleuchtet und lärmend, mit beschlagenen Fenstern und zahlreichen davor geparkten Jeeps. Ein Schild über dem schäbig aussehenden Eingang verkündete, daß die Bar nur für die ersten drei Dienstgrade geöffnet sei, was immer darunter zu verstehen war. Vor der Tür war ein alter Mann in einer igluförmigen Hütte – einer der vielen tausend Kippensammler der Stadt, der davon lebte, daß er Stummel aufsammelte: Wie Prostituierte hatte jeder Kippensammler sein eigenes Revier, und am begehrtesten war das Pflaster vor amerikanischen Bars und Clubs, wo ein Mann oder eine Frau an einem guten Tag an die hundert Stummel auflesen konnte: genug für etwa zehn oder fünfzehn ganze Zigaretten, die zusammen etwa fünf Dollar wert waren.
«He, Onkelchen», sagte ich, «wollen Sie sich vier Winstons verdienen?» Ich nahm das Päckchen heraus, das ich am Reichstag gekauft hatte, und schüttelte vier Zigaretten in meine Handfläche. Die wäßrigen Augen des Mannes wanderten begierig von den Zigaretten zu meinem Gesicht.
«Was soll ich machen?»
«Zwei jetzt, und zwei dann, wenn Sie kommen und mir sagen, wann diese Dame hier rauskommt.» Ich gab ihm ein Foto von Kirsten, das ich in meiner Brieftasche hatte.
«Hübsche Puppe», feixte er.
«Kümmern Sie sich nicht darum.» Ich wies mit dem Daumen auf ein schmutzig aussehendes Café weiter oben in der Kronprinzenallee, in Richtung auf das US-Hauptquartier. «Sehen Sie das Café?» Er nickte. «Dort werde ich warten.»
Der Kippensammler grüßte mit dem Finger, ließ die beiden Winstons und das Foto hurtig in seiner Hosentasche verschwinden und begann zu seiner Beschäftigung zurückzukehren und die Pflastersteine abzusuchen. Doch ich packte ihn an dem schmutzigen Taschentuch, das er um seinen stoppeligen Hals geschlungen hatte. «Vergessen Sie’s nicht inzwischen, hören Sie?» Ich drehte das Tuch zusammen. «Das sieht hier nach einem guten Revier aus. Also werde ich wissen, wo ich Sie suchen muß, falls Sie sich nicht mehr daran erinnern, mir Bescheid zu sagen. Kapiert?» Der alte Mann schien meine Besorgnis zu spüren. Er grinste häßlich. «Sie mag Sie ja vergessen haben, aber Sie können sicher sein, daß ich’s nicht tun werde.» Sein Gesicht, von glänzenden Spritzern und Ölflecken übersät wie ein Garagenboden, rötete sich, als ich den Griff verstärkte.
«Geben Sie sich Mühe», sagte ich und ließ ihn los, nicht ohne ein gewisse Schuldgefühl, daß ich ihn so grob behandelt hatte. Zum Ausgleich gab ich ihm eine weitere Zigarette, ließ seine überschwenglichen Beteuerungen, welch guten Charakter ich hätte, über mich ergehen und ging die Straße hinauf zu dem schmuddeligen Café.
Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, doch es waren nicht ganz zwei Stunden, die ich dort saß, an einem großen, billig schmeckenden Cognac nuckelte, zahlreiche Zigaretten rauchte und auf die Stimmen rings um mich lauschte. Als der Kippensammler kam, um mich zu holen, trugen seine skrofulösen Züge ein triumphierendes Grinsen. Ich folgte ihm nach draußen auf die Straße.
«Die Dame», sagte er, hartnäckig auf den Bahnhof deutend, «ist in diese Richtung gegangen.» Er machte eine Pause, während ich ihm die restlichen zwei Zigaretten gab und fügte hinzu: «Mit ihrem Schätzchen. Ein Captain, glaube ich, jedenfalls, ein hübscher junger Bursche, wer er auch sein mag.»
Ich blieb nicht stehen, um noch mehr zu hören, sondern ging so energisch es mir möglich war in die Richtung, die er mir gezeigt hatte.
Ich hatte Kirsten und den amerikanischen Offizier, der sie begleitete, bald erspäht. Er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt. Ich folgte ihnen in einiger Entfernung, und der Vollmond gestattete mir eine klare Sicht auf das gemächlich schlendernde Pärchen, bis es zu einem ausgebombten Mietshaus kam, dessen eingestürzte Geschosse wie sechs Schichten Blätterteig übereinanderlagen. Sie verschwanden im Inneren. Ich fragte mich, ob ich ihnen folgen sollte. War es nötig, alles zu sehen? Bittere Galle stieg aus meiner Leber hoch und zersetzte den fettigen Zweifel, der schwer in meinen Eingeweiden lag.
Sie waren wie Moskitos: Ich hörte sie, bevor ich sie sah. Sie sprachen so schnell, daß mein Englisch nicht reichte, alles zu verstehen, doch sie schien zu erklären, sie könne nicht zweimal hintereinander spät nach Hause kommen. Eine Wolke trieb über den Mond und verdunkelte die Szene, also schlich ich hinter einen riesigen Geröllhaufen, wo ich glaubte, besser sehen zu könne. Als die Wolke vorbeigezogen war und das Mondlicht unvermindert durch die kahlen Dachsparren fiel, konnte ich die beiden, die jetzt schwiegen, deutlich erkennen. Einen Augenblick boten sie ein Bild der Unschuld, als sie vor ihm kniete und er seine Hände auf ihren Kopf legte, als spende er ihr den Segen. Es verwirrte mich, daß Kirstens Kopf auf ihren Schultern sich ruckartig bewegte, doch als er stöhnte, wurde mir klar, was sich dort abspielte, und ebenso rasch überkam mich das Gefühl einer Leere. Ich schlich lautlos davon und betrank mich bis zur Besinnungslosigkeit.