Susanne Scholl
ALLEIN ZU HAUSE
Susanne Scholl
ALLEIN
ZU HAUSE
Susanne Scholl
Allein zu Hause
Umschlagidee und -gestaltung: kratkys.net
tkcle
1. Auflage
© 2011 Ecowin Verlag, Salzburg
Lektorat: Dr. Brigitte Hilzensauer, Dr. Arnold Klaffenböck
Gesamtherstellung: www.theiss.at
Gesetzt aus der Sabon
Printed in Austria
ISBN 978-3-7110-5010-6
www.ecowin.at
Für meine Eltern, Friedrich und Dorothea Scholl,
die acht Jahre ihres Lebens
als Flüchtlinge verbringen mussten.
Und für meine
tschetschenischen Freundinnen und Freunde,
denen kein Leben in Sicherheit gewährt ist.
Daheim − Ein polemisches Vorwort
Röthis
Die Berishas
Tahira
Leila und Behan
Fahim
Bescheide
Die Tschetschenen
Julya Rabinowich
Afrika ist weit
Nabin Gurung
Nejats Familie
Das Recht, das Recht bleiben muss
Eine Korrespondenz
Ich bin wieder zu Hause. Nach fast zwanzig Jahren ist es merkwürdig, die Realität in Österreich plötzlich nicht mehr aus dieser gewissen, alles dämpfenden Distanz zu betrachten. Sehr froh müsse ich doch sein, sagt man mir. Endlich weg aus dem Land, wo Journalisten ermordet und ganz allgemein die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Zurück in Österreich, wo Recht noch Recht ist. Ja, sage ich mir, so ist es. Österreich ist schön, ruhig, reich, sauber. Journalisten werden hier nicht nur nicht ermordet, sondern in der Regel auch nicht eingesperrt. Und die Menschenrechte kann man einklagen.
Eine junge Tschetschenin, die nach Polen abgeschoben werden soll, erklärt mir den Unterschied zwischen Österreich und Polen. In Polen, sagt sie, ist man Freiwild. Kadyrows Agenten bewegen sich offen und frei in den Flüchtlingslagern und suchen ungeniert jene, mit denen es offene Rechnungen gibt. In Österreich, sagt sie, kann man zur Polizei gehen, wenn man bedroht wird.
Ich denke an Umar Israilow, der zur Polizei ging, als ihm eben dies geschah, als er bedroht wurde. Die Polizei hat ihn weggeschickt. Und Kadyrows Agenten haben ihn in Wien auf offener Straße ermordet.
Trotzdem – Österreich ist ein Land, in dem es Gesetze gibt, eine Polizei, die die Menschen schützt, gewisse Regeln, die eingehalten werden.
Ich bin also zurück, und man sagt mir, dass ich sehr froh sein müsse, nicht mehr in jenem beängstigenden, gefährlichen, bedrohlichen Russland zu leben. Dass ich sehr froh sein müsse, hier im sicheren, ruhigen, freundlichen Österreich angekommen zu sein, zu Hause eben.
Ich bin hier zu Hause. Bin ich auch daheim?
Mein Großvater mütterlicherseits sprach sein ganzes Leben lang Deutsch mit hartem polnischen Akzent. So ist es mir erzählt worden. Ich habe ihn nicht kennengelernt. Als ich geboren wurde, hatte man ihn schon ermordet. Bei Minsk, in Maly Trostinec – aus dem Zug heraus vor eine Grube getrieben und dort erschossen.
Er war durch und durch Österreicher, österreichischer Eisenbahner, und als man ihm sagte, dass es für ihn in Wien vielleicht gefährlich werden könnte, antwortete er, er habe hier doch seine Rente und was könne man von ihm, dem alten Mann, schon wollen?
Ich bin mit österreichischem Deutsch aufgewachsen, mit einer Mutter, die gerne Dirndl trug und eine österreichische Patriotin ist. Obwohl man sie seinerzeit aus dem Land getrieben hat. Meine Vorfahren kamen aus Polen und Tschechien. Alle sprachen neben Deutsch auch noch andere Sprachen. (Und ich frage mich: Warum werden in Österreichs Schulen Englisch, Französisch, Russisch oder Italienisch unterrichtet, nicht aber die Sprachen unserer Nachbarn? Was wäre dabei, wenn Österreichs Kinder schon im Kindergarten neben Deutsch Tschechisch, Ungarisch, Slowenisch, Serbisch, Kroatisch und durchaus auch Türkisch lernten? Warum verweigern wir ihnen diesen Startvorteil, den sie zweifellos hätten, wenn sie von klein auf mehrere Sprachen lernten? Als meine eigenen Kinder, inzwischen längst erwachsen, in den Kindergarten kamen, gelang es nicht einmal, einen kleinen Englisch-Unterricht durchzusetzen. Die Eltern wollten nicht, dass ihre Kinder so früh schon eine zweite Sprache lernten. Bis heute kann ich das nicht verstehen.)
Ich bin also Österreicherin mit Migrationshintergrund. So wie die meisten Österreicher. Ich wollte, meine Mutter hätte mir noch Tschechisch und Polnisch beibringen können, aber sie wuchs, so wie ich, mit Deutsch auf, wie mein Vater, dessen Wurzeln ebenfalls im Osten liegen, in Galizien.
Meine Eltern haben überlebt, als es hieß, sie seien Menschen zweiter Klasse. Sie haben überlebt, weil Großbritannien sie aufgenommen hat. Nicht gerne, nicht freiwillig, nicht mit offenen Armen. Aber eben doch aufgenommen, als die Nazis ihnen nach dem Leben trachteten. Meine Eltern hatten nie Zweifel an ihrer österreichischen Identität, nie Zweifel daran, dass sie nach Österreich gehörten. Und sie sind hierher zurückgekehrt, sobald die Nazis davongejagt waren.
Ich existiere, weil Großbritannien meinen Eltern Asyl gewährt hat. Und ich bin Österreicherin, weil meine Eltern dieses Land als das ihre verstanden, trotz der traumatischen Erfahrungen ihrer Jugend.
Ich bin also zu Hause hier und lebe nach vielen Jahren der Abwesenheit wieder den österreichischen Alltag. Genieße es, den schönen Wiener Herbst, die wunderbaren österreichischen Landschaften Tag für Tag ansehen zu können, gehe in österreichische Kaffeehäuser, Museen, Kinos und Theater. Treffe Menschen, an denen mir liegt. Der Menschen wegen kann ich mich hier auch daheim fühlen.
Und ich beobachte den öffentlichen Diskurs in diesem Land, in dem ich jetzt wieder zu Hause bin. Einen öffentlichen Diskurs, den ich häufig nicht verstehe. Vielleicht spreche ich eben doch eine andere Sprache?
Als ich ein Kind war, gab es manch ein befremdliches Erlebnis, das sich mir unauslöschlich eingeprägt hat. Während eines Schulskikurses, zum Beispiel. Wir saßen beim Abendessen und lärmten. Dreimal dreißig Elfjährige essen nicht leise zu Abend. Plötzlich betrat ein Mann den Speisesaal. Breitkrempiger Hut, Lodenmantel, Breeches, Reitstiefel. In der Erinnerung scheint es mir, als sei der Lärm mit einem Schlag verstummt; vermutlich saß ich nur nahe beim Eingang und hörte deshalb seine Worte: „Da geht’s ja zu wie in einer Judenschule …“
Ich habe mich ganz klein gemacht und gehofft, er würde mich nicht sehen. Keiner der Lehrer, die uns begleiteten, hat den Mann zurechtgewiesen.
Ich erinnere mich auch an den Taxifahrer, der von Bruno Kreisky nur als vom „Saujuden“ sprach und von meiner Mutter ein reichliches Trinkgeld und die Mitteilung erhielt, dass auch wir, seine Fahrgäste, Juden seien.
Ich bin also zurück in diesem Land. Und beobachte, wie Tag für Tag gegen Menschen gehetzt wird, deren einzige Schuld darin besteht, bei uns Hilfe zu suchen. Sehe mit Entsetzen, wie ein Anschlag auf ein Gebäude verübt wird, in dem Hilfesuchende leben. Und wie die österreichische Regierung neue Regeln erfindet, deren vordergründigster und wohl auch einziger Zweck es ist, das Gefühl zu vermitteln, jene, die auf der Suche nach Sicherheit und einem ruhigen Leben zu uns kommen, seien im Grunde gefährliche Eindringlinge in unsere heile Welt. Ich höre etwas von einer roten Karte, die Asylwerber von nun an immer bei sich haben müssten, und kann nicht umhin, den eigentlich unzulässigen Vergleich zum schändlichen Judenstern zu ziehen. Was denken sich Politiker, die solche Regeln aufstellen? Die Menschen, weil sie vor Verfolgung und Not flüchten, zunächst einmal einsperren und bestrafen? Was bedeutet das für uns, für die, die – noch – nicht von solchen Regeln betroffen sind?
Zwischen verschiedenen Moskau-Aufenthalten waren wir einmal zwei Jahre wieder in Wien. Meine Kinder besuchten auch hier eine Schule, in der viele Nationalitäten versammelt waren. Einmal fuhr eine größere Gruppe von Kindern gemeinsam mit dem Bus. Franzosen, Österreicher, Afrikaner, Asiaten. Die Kinder kamen aus der Schule, waren auf dem Weg nach Hause. Bei einer Haltestelle stieg ein afrikanischer Bub aus. Ein älteres Ehepaar, das in den Bus steigen wollte, beschimpfte ihn. Da stieg die ganze Gruppe – Franzosen, Österreicher, Afrikaner und Asiaten – ebenfalls aus dem Bus und stellte sich vor den Schulfreund. Das österreichische Ehepaar ließ von dem Kind ab und stieg murrend in den Bus.
Zivilcourage von Kindern. Die Erwachsenen im und vor dem Bus hatten weggesehen.
Aber natürlich gibt es sie, die österreichische Zivilcourage. Bei den Menschen, die sie zeigen, fühle ich mich daheim. Bei denen, die nicht einfach hinnehmen, dass man Menschen aus ihrer Umgebung verweigert, was sie selbst für sich in Anspruch nehmen: Respekt und das Recht auf ein menschenwürdiges Leben.
Es gibt jene, die nicht ruhig zusehen, wie zwei achtjährige Mädchen im Morgengrauen von bewaffneten Polizisten aus den Betten geholt und samt dem Vater in Schubhaft genommen werden, während die Mutter schwer krank im Spital liegt.
Es gibt die Schule, die nicht ruhig bleibt, wenn ein vierzehnjähriges Mädchen davonläuft, weil Fremdenpolizisten es direkt aus dem Unterricht in Schubhaft bringen wollen.
Es gibt jene, die aufschreien, wenn sich ein neunzehnjähriger Äthiopier tötet, weil man ihm jahrelang Sicherheit verwehrt hat und ihm am Ende droht, ihn aus dem Land zu werfen. Wenn ein sechzehnjähriger Afghane in der Schubhaft Selbstmord begeht, weil man ihn dorthin zurückschicken will, wo er sexuell missbraucht wurde.
Und es gibt jene, die Häuser zur Verfügung stellen für die Menschen in Not, die in Österreich nicht nur nicht willkommen sind, sondern auch auf zutiefst zynische Art und Weise apostrophiert werden.
Bei jenen, die darauf aufmerksam machen, welches Trauma man nicht nur den aus dem Land Geworfenen, sondern auch den zurückbleibenden Freunden und Bekannten zufügt, fühle ich mich daheim.
Ich bin nicht mehr jung und habe daher in den vergangenen Jahren mehrmals Spitalsaufenthalte hinter mich gebracht. Gepflegt wurde ich von Kurden, Iranerinnen, Inderinnen, Philippininnen, Bulgarinnen, Mazedonierinnen, Armeniern, Ukrainerinnen – und vereinzelten Österreicherinnen. Die nicht immer die nettesten unter den Pflegepersonen waren.
Österreich brauche qualifizierte Zuwanderung, höre ich im oben erwähnten öffentlichen Diskurs. Österreich müsse sich gegen zu viele „Fremde“ schützen, auch das höre ich in eben jenem öffentlichen Diskurs. Den ich nicht verstehen kann. Menschen, die bei uns Hilfe suchen, sind Menschen, die bereit sind, für dieses Land zu arbeiten, etwas zu leisten. Brauchen wir sie − oder doch nicht?
Was ich in diesem Land, in dem ich zu Hause und möglicherweise sogar daheim bin, nicht ertragen kann: die Kälte, mit der mit Menschenleben umgegangen wird. Können wir das Leid nicht aushalten, das Menschen in Not mitbringen? Haben wir solche Angst um unseren Reichtum, unsere Sicherheit, unser kleines, sauberes, geordnetes Leben? Sind wir so ängstlich, so verschüchtert, so unsicher, dass wir nicht Größe und Menschlichkeit zeigen können? Dass wir Menschen nicht ihre Würde und die Chance lassen können, ein neues Leben in Sicherheit und Ruhe zu beginnen? Maßen wir uns tatsächlich an, nur jenen die Gnade der Aufnahme in diese unsere Gesellschaft zu gewähren, die sich von allem Anfang an so präsentieren, wie wir uns das vorstellen?
Ich habe mit vielen Menschen gesprochen, die auf der Flucht vor Verfolgung, Hunger und Elend nach Österreich kamen und denen hier sofort vermittelt wurde, sie seien nicht willkommen. Und ich habe mit jenen gesprochen, die diese Menschen willkommen heißen und ihnen dabei helfen wollen, sich hier ein Leben aufzubauen, das diesen Namen auch verdient. Vielleicht sind jene, die verstehen, was es heißt, auf der Flucht alles zurückzulassen, nicht die Mehrheit in Österreich. Aber ebenso wie die Flüchtlinge verdienen sie es, dass man ihnen zuhört.