Martin Haidinger
VON DER GUILLOTINE ZUR GIFTSPRITZE
Martin Haidinger
VON DER GUILLOTINE ZUR GIFTSPRITZE
Die Geschichte der Todesstrafe
Fakten – Fälle – Fehlurteile
Martin Haidinger
Von der Guillotine zur Giftspritze
Die Geschichte der Todesstrafe Fakten – Fälle – Fehlurteile
Salzburg: Ecowin Verlag GmbH, 2007
ISBN: 978-3-7110-5043-4
Unsere Web-Adresse:
www.ecowin.at
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Arnold Klaffenböck
Covergestaltung: Stephan Enzinger
Copyright © 2007 by Ecowin Verlag GmbH, Salzburg
Gesamtherstellung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan, www.theiss.at
Printed in Austria
Vorwort
Zwei auf ihrem letzten Gang und die Diskretion des Leids
Profession und Psychologie des Henkers
Kleines Einmaleins des TötensBerüchtigte Methoden und berühmte Opfer
Wie lange lebt ein Kopf allein?
Köpferollen im Namen der Freiheit: die Blutbäder der Französischen Revolution
Tödliches Österreich
Tyrannenspiegel – braune und rote Schlachthöfe
Gottbegnadete Gnadenlosigkeit – Todesstrafe in den USA
Saddam Husseins Ende, die „Sharia“ und andere orientalische Denkwürdigkeiten
Hängt ihn höher! Ein Blick über die Grenzen des Themas, und sechs Fragen zum Lynchen und zur Privatjustiz
Kain, was tust du deinem Bruder an?
Den beiden Geschichtsdarstellern
Günther Steinbach und Friedrich Weissensteiner
gewidmet.
Ich danke meinen Mitarbeitern
Patrick Swoboda, Roland Weißegger und Stephan Gruber.
„Die Geschichte ist die Wissenschaft vom Unglück des Menschen.“
Raymond Queneau
Wo sonst, wenn nicht bei unserem Thema, wird dieses Wort Queneaus zur Wahrheit?
Die Todesstrafe ist älter als alle anderen Bestrafungen, die der Mensch kennt.
Sie wurde vollzogen, ehe es Gefängnisse gab oder Geldbußen eingehoben wurden.
Bis heute haftet ihr der archaische Charakter dieser Vorzeitlichkeit an. Auch wenn Juristen und Staatsphilosophen immer wieder versuchen, rationale Begründungen für ihren Vollzug modern auszudrücken: Wo eine Gemeinschaft, ein Staat geplant tötet, kommt eine Seite menschlicher Urgeschichte zum Vorschein, die bis heute der zivilisatorischen Weiterentwicklung der Menschheit getrotzt hat.
Kriminal- und Gerichtsberichterstatter neigen bisweilen dazu, besonders grausame Morde als „Hinrichtungen“ zu bezeichnen. Um diese im Grunde beschönigende Mordumschreibung geht es in diesem Buch nicht; ebenso wenig um Völkermord, Holocaust und Massenvertreibung, die nur in jenen Aspekten behandelt werden, die einwandfrei zum Thema Todesstrafe gehören. Es hieße die Opfer der Genozide beleidigen, wenn man ihre wilde Ermordung als „Hinrichtung“ oder gar als „Strafe“ verharmloste.
Und auch Fememörder, Lyncher und Terroristen können kein Todes-„Urteil“ verhängen. Osama bin Ladens „Al Kaida“ richtet nicht hin, sie mordet! Und das in jeder existierenden Rechtsauslegung außer ihrer eigenen.
Bisweilen aber verfließen die Grenzen zwischen Hinrichtung und Mord, und um genau diesen wichtigen Aspekt hat es zu gehen – er ist einer der Anlässe gewesen, dieses Buch zu schreiben: den Begriff „Todesstrafe“ aus dem reichen Repertoire menschlicher Tötungsmotive herauszuschälen und so lange abzuklopfen, bis er nackt und bloß, ohne billige Rechtfertigungsrhetorik und den Schutzpanzer vorgeblicher Unabwendbarkeit und Notwendigkeit auf sein innerstes Wesen reduziert ist.
Und dieses Wesen harrt einer sinnvollen Diskussion.
Die dabei ausgetauschten Argumente sind Meinungen und daher subjektiv. So ist es auch die hier erzählte Geschichte.
Es sind Streiflichter, die darin aufblitzen. Sie beleuchten nicht alle Epochen, Länder und Henkerswerkzeuge in gleicher Intensität, sondern erhellen den Blick auf exemplarische Beispiele der Tötung im Namen des Gesetzes. Manches wird nicht überraschen, denn Diktaturen kommen selten ohne Todesstrafe aus. Wenn der Justizmord zum System wird, wenn Gewaltherrscher geradezu im Blut baden, sind „Einzelhinrichtungen“ nach „Prozessen“ dann nur mehr eine Facette des Grauens. Den Tyrannen rechtfertigt niemand, außer er sich selbst.
Spannender aber auch problematischer wird es dort, wo demokratische Staaten Todesurteile vollstrecken. Es ist nun einmal so, dass beispielsweise die große Französische Revolution nicht nur Freiheits- und Menschenrechte gebracht, sondern auch jene Pro- und Kontra-Haltungen zum strafenden und bisweilen auch tötenden modernen Staat gründend beeinflusst hat, in die wir noch heute eingesponnen sind – gerade in Europa und den USA. Über die Blutbäder am Beginn der frühdemokratischen Epoche der Neuzeit muss detailliert erzählt werden, um die Dramatik dieses ideologischen Hexenkessels nachvollziehen zu können. Es ist eine Art „Bildnis des Dorian Gray“, ein Zerrbild der Demokratie, das hier bestaunt werden kann.
Die französische Schreckensherrschaft lässt uns ebenso ratlos zurück wie das höchst gegenwärtige Phänomen der „Sharia“, des islamischen Rechts, das Frauen und Kinder mit dem Schwert oder dem Strick hinrichten lässt oder lebende Menschen aus Flugzeugen über dem Meer abwirft.
Wer allerdings der Versuchung erliegt, den Islam auf seine Hinrichtungspraxis zu reduzieren, unternehme dieses Gedankenexperiment auch mit der Französischen Revolution, und gehe dann wieder zurück zum Start.
So einfach ist es nicht. Nein, so einfach ist es ganz und gar nicht.
Die katholische Kirche kennt die „Betrachtungen der Schmerzen Christi“, eine fromme Andachtsübung, in der sich der gläubige Christ in die Leiden des Menschensohnes am Kreuz versenken soll. Nun, so weit wollen wir mit diesem Buch nicht gehen, zumal es nicht sein Zweck ist, Glauben zu bringen, sondern Erkenntnis. Aber auch dafür ist es notwendig, Täter und Opfer so genau wie möglich kennenzulernen.
Wozu, fragt vielleicht der sensible Leser, quillt in diesem Buch Blut aus jeder Zeile? Warum die detaillierte Schilderung furchtbarer Grausamkeiten? Kann man dieses Thema nicht auch nüchtern bewältigen? Emotionslos, um zu einer sachlichen Antwort auf die Frage „Todesstrafe ja oder nein?“ zu kommen?
Ihm antworte ich mit der Sentenz, die John F. Mortimer seinem Buch „Henker“ vorangestellt hat:
„Die Befürworter der Todesstrafe sollen wissen, wovon sie reden, sollen alles kennen, was im Zusammenhang mit der niemals wieder rückgängig zu machenden Strafe am Leben eines Menschen Gewicht hat. Und die Gegner der Todesstrafe sollen weniger reden und mehr argumentieren.“
Hat er das Fläschchen mit dem Gift übersehen, die ihm eine mitfühlende Seele diskret vor die Nase gestellt hat? Oder will er es nicht sehen? Will er denn die furchtbare Strafe erleiden, zu der sie ihn verurteilt haben?
Mehr wird er getragen, als er selber geht. Er hat die „außerordentliche Tortur“ überstanden. Man hatte ihm die „Spanischen Stiefel“ angezogen und acht Keile in die Beine getrieben. Er solle die Namen seiner Komplizen nennen, hatten die Kommissare gefordert. Doch er ist Einzeltäter gewesen. Zweieinviertel Stunden dauerte die Folter. Dann hatten selbst die Richter genug.
Nun wird er aus dem schrecklichen Raum getragen. Das letzte Getränk hat er verweigert. Es hätte ihm vieles erspart. Alles, was jetzt noch kommt.
*
Es ist drei Uhr morgens. Sie weist das Frühstück zurück. Weil sie fromme Christin ist und wohl weiß, dass es Zeiten gibt, an denen einem die Demut nicht nur zu schweigen, sondern auch zu fasten gebietet. Vielleicht hat sie aber auch bloß keinen Appetit. Ja, später, so in zwölf Stunden will sie essen. Eine Banane, einen Pfirsich und einen Salat. Mit welchem Dressing? Vielleicht italienisch, schlägt sie vor. Dann schläft sie wieder ein.
*
Der Henker ist wütend.
Da bereitet man penibel eine Prozedur vor, die man nur noch aus alten Berichten kennt, weil sie so ungebräuchlich geworden ist, beauftragt einen Torturknecht damit, alle Utensilien zu besorgen, Blei, Pechharz, Schwefel, Wachs – und dann fehlt das alles, und der elende Knecht liegt betrunken beim Blutgerüst und lallt nur noch! Henkers Wut weicht sogleich der Nervosität. Jeden Augenblick muss der Delinquent eintreffen!
*
Duschen? Wozu noch? Sie lehnt das Bad ab, nimmt aber frische Kleidung in Empfang. Weiße Sträflingskleidung, die seit vierzehn Jahren ihre einzige Garderobe ist. Es ist kurz nach sechs Uhr. Keine Fernsehnachrichten, sie schreibt lieber. Über eine Stunde. Dann telefoniert sie mit ihrem Anwalt. Endlich, um acht Uhr und 11 Minuten, nimmt sie etwas zu sich: ein Glas Wasser. Sie liest in der Bibel.
*
Schroff tadelt der General-Prokurator den Scharfrichter. Die Vernachlässigung seiner Pflicht werde ihm als verantwortlichem Henker vierzehn Tage Gefängnis einbringen. Und der Prokurator befiehlt, dass ein junger Verwandter des Henkers, ein Teenager erst, dessen Platz bei der bevorstehenden Aktion einnehmen soll.
Inzwischen ist der Delinquent beim Blutgerüst eingetroffen. Er kann nicht stehen, so setzt man den Zerschundenen auf die Stufen des Schafotts nieder. Mit sicheren Blicken betrachtet er das Publikum, das Volk, das sich um den Platz gesammelt hat.
*
Um 8 Uhr 11 empfängt sie Besuch von ihrem Mann, ihrem Vater und ihrer Schwester – eine Trennscheibe lässt keine Berührung zu. Nun nimmt sie von ihrem Mann ein Getränk und Kekse an und gibt zu, dass sie vom gestrigen Fasten geschwächt ist.
Sie liest ihrer Familie aus der Bibel vor, und ihr Mann singt ein Gebet.
Um 11 Uhr 54 weint sie zum ersten Mal.
Eine Minute danach legen sie und ihre Familie ihre Hände an die Trennscheibe, um sich zu verabschieden. Um 12 Uhr mittags endet die Besuchszeit.
*
Sie zwingen ihn, niederzuknien und Buße zu tun, doch das lassen seine zerschundenen Beine nicht zu. Er fällt aufs Gesicht und stößt einen lauten Schrei aus. Als er aufgerichtet wird, sieht man ihn das erste Mal weinen.
Seine Hand wird auf einen Block gelegt. Mit einer heißen Kohlenpfanne nähert sich ihr der Henker. Als die bläuliche Flamme das Fleisch erreicht, stößt der Delinquent einen furchtbaren Schrei aus und beißt in seine Fesseln. Er hebt den Kopf, sieht zu, wie seine Hand abbrennt und knirscht mit den Zähnen. Hernach reißt ihm ein Knecht mit einer langen Zange Fleischstücke aus den Oberschenkeln, den Ober- und Unterarmen und schließlich an den Brustwarzen. Ein Gehilfe gießt nun kochendes Öl, brennendes Harz, glühenden Schwefel und geschmolzenes Blei in die Wunden. Weit treten seine Augen aus ihren Höhlen. „Noch mehr, noch mehr!“, schreit er, trunken vor Schmerz.
*
Es ist nun zehn Minuten nach 12 Uhr. Sie verweigert das Mittagessen. Nur drei Minuten dauert es, bis ihr persönliches Eigentum gesichtet und verpackt ist. Sie betet mit dem Gefängnispfarrer. Eine knappe halbe Stunde lang. Dann wird sie in den Todestrakt verlegt, in dem sie keinen Besuch mehr empfangen darf. Sie wird in eine enge Zelle mit beigefarbenen Gitterstäben gesperrt. An die Wand ist ein Bett geschraubt, es gibt ein Waschbecken und eine Toilette, außerdem einen kleinen Tisch, an dem die Henkersmahlzeit eingenommen werden kann. Der Gefängnisschreiber nähert sich dem mit vier Stricken an vier Pferde Gebundenen, der auf einem Gestell liegt, das ein Andreaskreuz bildet, und fragt ihn, ob er noch etwas zu sagen habe. Er verneint. Zwei Priester kommen. Er küsst das von ihnen dargereichte Kruzifix und spricht: „Verzeihung, Herr!“
Im Hintergrund ärgert sich der Henker noch immer über seinen dummen Knecht, der nasses Holz für den Scheiterhaufen gebracht hat, auf dem die Überreste des Geschehens verbrannt werden sollen. In aller Eile muss jetzt trockenes Holz hergeschafft werden.
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Warten. Bis 15 Uhr. Die Henkersmahlzeit wird gebracht. Banane, Pfirsich und Salat, wie gewünscht. Nein danke, sagt sie. Dann kommt die Nachricht, dass das Verfassungsgericht ihre letzten Berufungsanträge abgelehnt hat. Sie reagiert gefasst, heißt es später. Und optimistisch. Optimistisch? Optimismus ist dem Christen die Hoffnung auf Erlösung.
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Interessiert betrachtet er seinen eigenen, festgeschnallten, straff gespannten Körper, der aus vielen Wunden blutet. Dann schließt er die Augen. Die Knechte warten auf des Henkers Zeichen. Der gibt es. Peitschenknallen, dann setzt sich das entsetzliche Viergespann in Bewegung. Die Pferde ziehen, so fest sie können. Ohne Erfolg. Die Gliedmaßen des Gepeinigten dehnen sich in unförmige Längen, aber sie reißen nicht. Ein Pferd stürzt. Pause. Noch drei Versuche. Er röchelt wie der Blasebalg einer Schmiede, aber er stirbt nicht, er ist bei Bewusstsein. Er ruft: „Jesus! Maria! Ihr Heiligen! Kommt zu mir!“
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Um 18 Uhr wird sie in den vorgesehenen Raum geführt. Dort wird sie auf einer Liege – ähnlich der in einem Operationssaal – festgeschnallt und an ein Infusionsgerät angeschlossen. Fünf Zeugen, Freunde, Verwandte, nehmen in einem Zimmer Platz. Von dort aus können sie durch eine Glasscheibe das Geschehen beobachten. Die fünf Zeugen des Opfers sitzen in einem ähnlichen Raum nebenan. Die zugelassenen Journalisten werden auf beide Zimmer verteilt.
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Er lebt. Ein dumpfes Murmeln erhebt sich im Volk, wie das Grollen vor einem Sturm. Der Gerichtsschreiber verbirgt das Gesicht in seinem Gewand, ein Priester wird ohnmächtig. Der Scharfrichter und seine Gehilfen sind auf das Äußerste bestürzt. Die Pferde werden nun kreuzüber geführt – diejenigen an den Armen in Richtung Kopf, diejenigen an den Schenkeln in Richtung Arme. Das bricht ihm die Gelenke. Er hebt das Haupt und sieht an sich herab. Zwei weitere Pferde werden an die Schenkel gespannt – es sind jetzt sechs Tiere. Zwei Priester treten zu ihm und sprechen leise auf ihn ein. Er spricht: „Küssen Sie mich, gnädige Herren!“ Der eine wagt es nicht. Aber der andere schlüpft unter dem Seil des linken Armes durch und küsst ihn auf die Stirn.
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Die Gefängniswärter schließen eine schwere, blaue Eisentür.
„Ich werde nun Jesus gegenübertreten“, sagt sie über ein Mikrofon. Sie bittet die Familien ihrer Mordopfer um Verzeihung. „Ich liebe euch alle sehr. Ich werde euch alle wiedersehen, wenn ihr kommt.“
In einem Raum hinter einer undurchsichtigen Wand auf der einen Seite der Liege pumpt ein anonymer Freiwilliger, der medizinische Kenntnisse hat, eine tödliche Giftmischung durch ein Loch in der Wand in ihre Venen.
Sie lächelt, während das Gift zu wirken beginnt. „Tut eure Arbeit!“, stöhnt er den Scharfrichtern entgegen, die ratlos herumstehen. „Ich bin euch nicht böse, aber bitte tut eure Arbeit! Und bittet Gott für mich!“
Der Scharfrichter lässt den Wundarzt zum Stadthaus laufen, der darum bitten soll, dass man den Unglücklichen zerschneiden dürfe, da die Zerreißung offenbar nicht funktioniert. Genehmigung erteilt. Doch kein Messer zur Stelle. Mit einer Axt haut einer der Gehilfen nun in Schenkel und Achselhöhlen und durchschlägt die Sehnen. Peitschenknallen. Die Pferde zerren abermals. Arme und Beine lösen sich nacheinander vom Rumpf.
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Die Infusion besteht aus drei Komponenten, einem Schlafmittel, einem Medikament, das die Atmung lähmt, und einem, das den Herzschlag stoppt. Ungefähr sieben Minuten später tritt der Tod ein. Um 18.45 Uhr bestätigt der anwesende Arzt, dass sie tot ist. Die Zeugen verlassen ihre Räume.
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Die Beichtväter kommen. Der Scharfrichter hält sie auf und sagt, der Mann sei endgültig tot. Entsetzt sehen sie aus der Distanz, dass die Haare des Hingerichteten, die zuvor noch braun gewesen, jetzt weiß wie Schnee sind. Ein Augenzeuge beobachtet, dass sich der Torso bewegt und der Unterkiefer auf und nieder geht. Rumpf und Gliedmaßen werden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Es ist dem Knecht des Henkers gelungen, das Holz ausreichend trocken zu halten.
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„Die Welt ist nach ihrer Hinrichtung ein besserer Ort“, sagt der Ehemann eines ihrer Opfer. Aber es sind auch Hinterbliebene da, die einen Gnadenerlass befürwortet haben.
Die Journalisten beantworten in einem Extrazimmer Fragen ihrer wartenden Kollegen.
Draußen vor dem Gefängnis haben sich mehrere Hundert Gegner der Todesstrafe versammelt, die zum Zeitpunkt der Hinrichtung Lieder anstimmten.
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Es war der 43 Jahre alte Robert-François Damiens, der am 28. März 1758 in Paris gevierteilt wurde. Er hatte versucht, den französischen König Ludwig XV. mit einer Federmesserklinge zu erstechen, als dieser gerade sein Schloss in Trianon verließ. Der Anschlag misslang, der König wurde nur leicht verletzt. Zu dick und Schutz gewährend waren seine Gewänder. Der schon früher als „närrisch“ und arbeitsscheu auffällig gewordene Damiens wurde wegen Hochverrats und versuchten „Vatermordes“ (wie der Königsmord gerne genannt wurde) zur gleichen Strafe verurteilt, die schon Ravaillac ereilt hatte, der 1610 König Heinrich IV. – übrigens mit Erfolg – ermordet hatte. Die Vierteilung war so lange nicht mehr vollzogen worden, dass sich die Henker an alten Berichten, Vorschriften und Zeichnungen der Tötung Ravaillacs orientieren mussten.
Ludwig XV., 47 Jahre alt, soll sich weinend auf ein Bett geworfen haben, als man ihm die Details der Hinrichtung hinterbrachte.
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Karla Faye Tucker war am 3. Februar 1998 seit 135 Jahren die erste Frau, die in Texas/USA hingerichtet wurde. Im zentraltexanischen Gefängnis Huntsville wurde der 38-Jährigen eine tödliche Giftspritze verabreicht.
Tucker hatte zusammen mit einem Komplizen 1983 in Houston im Drogenrausch zwei Menschen mit einer Spitzhacke erschlagen. Die beiden Einbrecher wollten Ersatzteile für ein Motorrad stehlen. Die Opfer waren die 32-jährige Deborah Thornton und der 27-jährige Jerry Lynn Dean. Der zweite Täter, Daniel Garrett, wurde ebenfalls zum Tode verurteilt und starb 1993 im Gefängnis.
Ihren Antrag auf Begnadigung begründete die ehemalige Prostituierte damit, dass sie im Gefängnis ein anderer Mensch geworden sei und zu Gott gefunden habe. In einem weiteren Antrag verwarf sie das Begnadigungsverfahren in Texas als ungerecht. Für Karla Faye Tucker setzten sich auch Papst Johannes Paul II. und der konservative amerikanische Fernsehprediger Pat Robertson ein.
Die Hinrichtung wurde vor allem in Europa scharf verurteilt. Der französische Wirtschaftsminister Dominique Strauss-Kahn sagte: „Ich bin schockiert, dass man heutzutage, in einem Industriestaat, zivilisiert, kulturell weitentwickelt, immer noch die Todesstrafe vollstreckt.“
Gouverneur George W. Bush hätte die Hinrichtung noch um 30 Tage verschieben können. Er erklärte jedoch, der Fall sei von Berufungsgerichten umfassend behandelt worden. Auch ihn berühre das Schicksal der jungen Frau. Er sei aber zu dem Schluss gekommen, dass das Urteil über Herz und Seele eines Todeskandidaten am besten einer höheren Instanz überlassen werde. „Möge Gott Karla Faye Tucker segnen. Möge Gott ihre Opfer und deren Familien segnen.“ Der republikanische Politiker hatte seit seinem Amtsantritt drei Jahre zuvor in 59 Fällen keinen einzigen Hinrichtungstermin verschoben oder eine Begnadigung ausgesprochen.
Strafe und Justizmord
Wir haben grotesken Szenen des vielaktigen Welttheaters beigewohnt: Staaten bringen Menschen zu Tode, die alle Voraussetzungen dafür hatten, weiterleben zu können. Einmal mit unvorstellbaren Leibesmartern, dafür wenige Monate nach dem begangenen Delikt. Das andere Mal nach 14 Jahren in der Todeszelle, dafür in einem stillen, schmerzlosen, beinahe sterilen Ritual, das fast an die Vorbereitung einer Operation erinnert; aber eben nur fast.
Ritual – dieses Wort wird uns auf Schritt und Tritt folgen, wenn wir die Geschichte der Todesstrafe in der Neuzeit durchschreiten. Und wie es auf dem Theater, mit oder ohne Musik, die Begriffe „Werktreue“, „Partitur“, „Inszenierung“, „Regie“, „Choreografie“ und „Improvisation“ gibt, so sind auch bei der Hinrichtung die „Kulissen“ und die „Requisiten“ von ursächlicher Wichtigkeit, neben den „Darstellern“ natürlich.
Zwischen den Hinrichtungen Damiens’ und Tuckers liegen nicht nur eineinhalb Jahrhunderte, sondern der Wandel der Hinrichtung von der spektakulären Blutoper zum Kammerspiel vor kleinem, ausgewähltem Publikum.
Michel Foucault, der große Historiker der Denksysteme, spricht von der „Ökonomie der Züchtigung“, die sich in der Zeit zwischen Damiens und Tucker entwickelt hat. Die grausame Gewalt des geplanten Tötens wurde in diesen Jahrhunderten in Bahnen gelenkt, die ihr zumindest nach außen hin ein „menschliches Antlitz“ verleihen sollten.
Die Unmenschlichkeit von Strafen wie Rädern und Vierteilen schrie schon manchen Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts zum Himmel, gerade im Frankreich der Aufklärung.
François-Marie Arouet, genannt Voltaire, reagiert trotzdem zunächst in der gewohnt zynischen Art des Spötters, als er von der Hinrichtung des Protestanten Jean Calas hört. Dieser 63-jährige Mann aus Toulouse, ein Tuchhändler, soll seinen Sohn ermordet haben, der zum Katholizismus übergetreten sei. „Die Protestanten sind doch noch fanatischer als die Katholiken“, lautet Voltaires erster Kommentar. „Die wüten sogar gegen das Theater und erlauben keine musikalischen Aufführungen!“, wettert der Wahl-Genfer, und denkt dabei an den unduldsamen Gründer des Helvetischen Bekenntnisses, den grimmigen Jean Calvin, der rundweg alles Volk in seinem Einflussbereich umbringen ließ, das sich nicht zu seinen strikten Lehren bekennen wollte; eine Art Taliban der frühen Neuzeit.
Etwas mulmig zumute wird Voltaire dann, als er die Details der Hinrichtung erfährt: Calas wurden mit mehreren Schlägen die Gliedmaßen zerschmettert, und er wurde nach jedem Schlag mit Riechsalz wieder zum Bewusstsein gebracht. Dann wurde er lebendig aufs Rad geflochten und erst nach einer bestimmten Frist vom Henker erdrosselt.
„Na und?“, denkt Voltaire, und schluckt ein wenig, „was anderes gebührt einem Sohnesmörder?“
Ein Freund, der Kaufmann Audibert aus Marseille, macht ihn jedoch auf die Details des Falles aufmerksam. Wie hätte denn der 63 Jahre alte, gichtkranke Greis seinen 28-jährigen kräftigen Sohn überwältigen und aufhängen sollen? Voltaire forscht nach und kommt zu dem Ergebnis: Der junge Mann hat sich aus Lebensüberdruss selbst erhängt, keine Spur von Glaubenswechsel. Der Vater schickte nach einem Arzt und verschwieg den Selbstmord, der die Familie entehrt hätte! Eine Menschenmenge vor dem Haus des Protestanten erklärte ihn johlend des Mordes an seinem Sohn für schuldig. Gerade in Toulouse hatte die Protestantenverfolgung eine lange Tradition. Alljährlich wurde der Jahrestag eines Gemetzels im Jahre 1562 gefeiert, bei dem 4000 Protestanten ermordet worden waren.
Calas wurde von einem regionalen Gericht, genannt „Parlament“, zum Tod verurteilt, dessen Sitze – wie damals üblich – von Reichen und Mächtigen gekauft waren.
Voltaire wird sich fortan noch stärker der Bekämpfung religiöser Unduldsamkeit widmen. Der Justizmord an Calas hat ihn auf den Weg dahin gebracht.
Mit oder ohne Voltaire verschwinden zum Teil noch zu seinen Lebzeiten die alten gewohnheitsrechtlichen Strafen, sowohl in Europa als auch in der „Neuen Welt“, den künftigen USA, von der Bildfläche. „Moderne“ Gesetzbücher entstehen, die zum Teil noch drakonische Strafen enthalten, die aber wenigstens in Kanäle gelenkt sind: 1769 in Russland, 1780 in Preußen. 1786 folgen Pennsylvania und die Toskana, 1788 (mit späteren Teilrücknahmen) Österreich. Frankreich ist ein Sonderfall, aber spätestens 1810 ist die Strafgesetzwerdung unter Napoleon I. abgeschlossen.
Sie alle haben weitgehend vereinheitlichte Verfahrensregeln zum Inhalt – die Willkür regionaler Richter und selbst ernannter Potentaten soll ein Ende finden. Nach und nach werden da und dort Geschworene zugelassen, und im 19. Jahrhundert wird die Strafe zusehends als „Korrektur“ empfunden. Foucault hat die meisterliche Definition dazu gefunden:
„Nicht mehr so unmittelbare physische Bestrafungen, eine gewisse Diskretion in der Kunst des Zufügens von Leid, ein Spiel von subtileren, geräuschloseren und prunkloseren Schmerzen.“
Das klingt ein bisschen wie die Regieanweisung eines philosophischen Spielleiters, oder?
Dennoch soll das Theater zu Ende sein, das düstere Fest der Strafe wird vom Schauspiel, das am Ende eines Verbrechens steht, zum Akt des Verfahrens oder der Verwaltung. Das moderne Leben, durchzogen von Vorschriften und Bürokratie aller Art, bricht sich Bahn. Öffentliche Zwangsarbeit in buntscheckigen Gewändern und in Eisenketten, das Verspotten und Anspucken der Delinquenten auf dem Pranger verschwindet. Das Spektakel ist nun in der öffentlichen Meinung plötzlich – wenn auch manchmal heuchlerisch – negativ angeschrieben. Liegt es daran, dass die Menschen das private Leben entdecken und sich durch gemarterte Körper eher belästigt denn erbaut fühlen? Der Henker gerät in den Verdacht, mit dem Mörder verwandt zu sein, der Richter mit dem Verbrecher. „Wir sehen ja, dass Menschen kaltblütig hingerichtet werden, obgleich der Mord als eine abscheuliche Missetat hinausposaunt wird“, sagt Cesare de Beccaria schon 1764.
Mit dem Verschwinden der Hinrichtung aus dem Alltag wird sie immer abstrakter, ein verborgenes Geschehen. Schämen sich die Menschen dessen, dass der von den meisten so herbeigesehnte Rechtsstaat nicht ohne die Tötung auskommt? Und die Justiz? „Dass auch sie tötet, dass sie zuschlägt, ist nicht mehr die Verherrlichung ihrer Kraft, sondern ein Element an ihr, das sie hinnehmen muss, zu dem sie sich aber kaum bekennen mag“, analysiert Foucault.
Zugleich mit dem Verstecken der Hinrichtung werden die Prozesse öffentlich und heftig diskutiert. Zuvor waren die Verurteilungen oft verborgen geblieben, die Tötung hingegen öffentlich gewesen. Nun ist es hässlich, straffällig zu sein, und wenig ruhmvoll, strafen zu müssen. So vergräbt die Justiz die Strafe in der Bürokratie.
Die Züchtigung ist nicht mehr eine Kunst der unerträglichen Empfindungen, sondern eine Ökonomie der suspendierten Rechte. Das heißt, dass der Mensch, der laut Gerichtsbeschluss sein Recht auf Leben verwirkt hat, sauber und nüchtern zu Tode gebracht wird. In der Mengenlehre der Todesstrafe ist die Schnittmenge des alten und des neuen Zugangs zur staatlichen Tötung in der Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts zu suchen: nüchtern, ökonomisch, aber dennoch grausam!
Mit der Guillotine brach das neue Zeitalter an, in dem die Maschine, und nicht mehr unmittelbar der Henker selbst den Menschen tötete. Gleicher Tod für alle! Spektakel allerdings inbegriffen!
Im 20. Jahrhundert ist zum Beispiel in den USA der Scharfrichter von einer Armee von Technikern abgelöst worden, Aufsehern, Ärzten, Psychiatern, Psychologen. Sie garantieren dem zum Tod Verurteilten, dass es nicht um Schmerz, ja nicht einmal um seinen Körper an sich geht. Bis zum letzten Atemzug wird sein „Wohlbefinden“ von einem Arzt überwacht, bekommt er vor der Exekution Beruhigungsinjektionen. „Utopie einer schamhaften Justiz“, sagt Foucault, „man nimmt das Leben und vermeidet dabei jede Empfindung; man raubt alle Rechte, ohne leiden zu machen; man erlegt Strafen auf, die von jedem Schmerz frei sind.“
Der Rückgriff auf Psychopharmaka liegt so genau in der Richtung eines „körperlosen“ Strafsystems. Eine Hinrichtung, die eher das Leben als den Körper betrifft.
Genau das Gegenteil war noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts vom anonymen Autor der famosen Schrift „Hanging not punishment enough“ verlangt worden. Er wollte die Verurteilten auf dem Rad brechen, dann bis zur Ohnmacht auspeitschen, anschließend an Ketten aufhängen und langsam verhungern lassen. Und tatsächlich gab es auch noch im Europa des 17. Jahrhunderts (zumindest aus England verbürgt) jene Hinrichtungsart für das Delikt des Verrats, die vorsah, den Todgeweihten auf einer Schleife hochzuziehen, damit sein Kopf nicht am Pflaster barst, dann den Bauch zu öffnen, die Eingeweide hastig herauszureißen, damit er mit seinen eigenen Augen sehen konnte, wie man sie ins Feuer warf, ihn schließlich zu enthaupten und den Rest zu vierteilen.“ Bei dieser als Spektakel erschreckenden Marter leidet der Schuldige weder viel noch lange“, bemerkte ein einfühlsamer Kommentator der Zeit dazu ...
Überhaupt brauchte gerade England lange, bis es die öffentlichen peinlichen Strafen abschaffte. Sollten die sozialen Unruhen, die in dem praktisch ständig im Krieg liegenden britischen Königreich durchgehend von 1780 bis 1820 tobten, daran schuld gewesen sein, dass man sich dort sträubte, die Leibstrafen zu mildern?
In Frankreich wurde indes das Spektakel um die Guillotine so heftig, dass man sie im Paris des 19. Jahrhunderts vom Zentrum an ein Stadttor verlegte, den offenen durch einen geschlossenen Karren ersetzte, die Straßen absperrte und die Hinrichtungen eilig und zu ungewohnter Stunde durchführte. Schließlich wanderte sie endlich ins Innere der Gefängnisse und 1939 (!) wurde endlich die ohnehin schon eingeschränkte Öffentlichkeit ausgeschlossen. 1972 nach der Hinrichtung der Delinquenten Buffet und Bontemps wurden den wenigen Zeugen Berichte über den Vorgang gerichtlich verboten. Er musste ein Geheimnis der Justiz und ihren Verurteilten bleiben.
Ist das alles „menschlicher“? Wird in der „körperlosen“ Justiz die Seele nicht ebenso hart bestraft wie zuvor?
Nun, das Ziel der Todesstrafe in der westlichen Welt hat sich geändert.
Immerhin werden – im Unterschied zu islamischen Ländern – Gotteslästerer hier nicht mehr hingerichtet, und auch Diebe und Schleichhändler können sich vor dem Auge des Gesetzes ihres Lebens sicher sein. Der freie Wille des Täters beziehungsweise dessen Einschränkung wird berücksichtigt, die Umstände der Tat minutiös geprüft, mildernde Umstände erhoben. Psychiater und andere Gutachter machen aus der Beurteilung der Gesetzesübertretung eine Wissenschaft, und die gesteht der Justiz dann zu, sich des Körpers des Delinquenten zu bemächtigen und seine Seele abzustrafen.
So ahnden die Richter nicht mehr Verbrechen, sondern sie richten über Seelen. Auf diese Weise bekommt die Todesstrafe ihre „Läuterungsfunktion“ wieder zurück, die mehr oder weniger in ein modernes Rechtsempfinden irgendwie hineinzupressen ist.
Am Ende steht der Tod. So oder so. Und er hat viele Gesichter. Sehen wir ihnen ins Auge!
Ausgewählte Literatur:
Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976.
Joachim G. Leithäuser, Voltaire. Leben und Briefe. Bericht eines großen Lebens, Essen o. J.
Henri Sanson, Der Henker von Paris, Wiesbaden/Berlin o. J.