Wolfgang Schüssel
OFFENGELEGT
Wolfgang Schüssel
OFFENGELEGT
Aufgezeichnet von Alexander Purger
Wolfgang Schüssel
Offengelegt
Aufgezeichnet von Alexander Purger
Umschlagidee und -gestaltung: kratkys.net
1. Auflage
© 2009 Ecowin Verlag, Salzburg
Lektorat: Dr. Arnold Klaffenböck
Bildredaktion: Sophia Puttinger
Umschlagfoto Dr. Schüssel: Martin Vukovits
Gesamtherstellung: www.theiss.at
Gesetzt aus der Sabon
Printed in Austria
ISBN 978-3-7110-5064-9
www.ecowin.at
Der Flug an die Spitze
Mit Märchen zum Sieg
Jörg Haider und die Creditanstalt
Im Chefsessel der EU I
Vom lustigen Radfahrer zur Wende
Im Schatten der Sanktionen
Blitzstart von Schwarz-Blau
Bildteil
Bildteil I
Bildteil II
Bildteil III
Bildteil IV
Bildteil V
Bildteil VI
Bildteil VII
Bildteil VIII
Bildteil IX
Bildteil X
Bildteil XI
Ein Hauch von Normalität
Unterwegs nach Knittelfeld
Ein Hochwasser und ein Erdrutsch
Wieder Blau statt Grün
Die Zeit der Ernte
Am Gipfel der Karriere
Das überraschende Ende
Nachwort von Dr. Helmut Kohl (CDU),
Abbildungsnachweis
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Am 17. April 1995 sitzt Wolfgang Schüssel im Flugzeug von Peking nach Wien. Hinter dem seit sechs Jahren amtierenden Wirtschaftsminister liegt eine Woche mit politischen Gesprächen und neuen Eindrücken: Eine Ostermesse im überfüllten Pekinger Dom, deren religiöse Inbrunst den ehemaligen Diözesanjugendführer ungeheuer beeindruckt. Eine zufällige Begegnung im Flugzeug mit dem niederösterreichischen Himalaya-Bergsteiger Fritz Moravec, der daheim Schulbänke, Hefte und Kleider sammelt, um sie zu Not leidenden Kindern in Tibet zu bringen. Und ein Spaziergang über einen chinesischen Flohmarkt, wo Schüssel eine stark versengte Thangka, ein buddhistisches Meditationsbild, ersteht. Daheim lässt er das Bild voll von Göttern und Dämonen aufwendig restaurieren. Es hängt bis heute in seinem Büro – als Erinnerung an diese denkwürdige Reise.
Am Tag nach der Ostermesse fliegt Schüssel mit seiner Tochter Nina, die ihn begleitet hatte, heim. Er ist sicher, dass es die letzte Reise als Regierungsmitglied ist. Seine Tage als Wirtschaftsminister scheinen nach sechs Jahren gezählt zu sein, denn die Zeichen in der ÖVP stehen auf Sturm. Während sich Schüssels Flugzeug irgendwo über Zentralasien befindet, treten in der Wiener Parteizentrale die ÖVP-Granden zusammen. Einziger Tagesordnungspunkt: Die Suche nach einem neuen Parteichef und Vizekanzler. Und dieser wird sich, da ist sich Schüssel sicher, eine neue Mannschaft und also auch einen neuen Wirtschaftsminister suchen. Als sein Nachfolger ist der Wiener Bernhard Görg im Gespräch. So stellt sich Schüssel darauf ein, die Politik zu verlassen und mit 50 Jahren noch einmal etwas Neues zu beginnen. Er freut sich darauf.
Der noch amtierende ÖVP-Obmann Erhard Busek steht parteiintern längst schwer unter Beschuss. Seine Gegner lasten ihm drei Dinge an: Am 12. Juni 1994 hatte er im Überschwang der Jubelgefühle über die mit Zweidrittelmehrheit gewonnene EU-Volksabstimmung im SPÖ-Festzelt die rote „Internationale“ mitgesungen. Wenige Monate später hatte er die ÖVP bei der Nationalratswahl am 9. Oktober 1994 mit seiner Ansage, die Koalition mit der SPÖ „ohne Wenn und Aber“ fortsetzen zu wollen, in eine schwere Niederlage mit einem Stimmenanteil von nur noch 27,7 Prozent geführt. Und: Jörg Haiders Freiheitliche sind bei dieser Wahl erstmals auf mehr als 22 Prozent geschnellt und sind der ÖVP damit schon dicht auf den Fersen. Seither steht die Partei unter Schock. Der liberale Busek muss weg, heißt es fortan in den konservativen Zirkeln – und damit wackelt auch Schüssel, der als ausgewiesener Busek-Mann gilt.
Was folgt, ist eine monatelange, quälende Obmanndebatte, während der Busek sogar mit der Auflösung der Bundespartei droht. Am 17. April 1995 – ausgerechnet dem 50. Geburtstag der ÖVP – kommt es zum letzten Akt. Bei der Sitzung in der Parteizentrale lautet das Match Andreas Khol gegen Christoph Leitl. Seit Wochen hat sich die Debatte auf eine Entscheidung zwischen dem konservativen Klubobmann aus Tirol und dem liberalen Wirtschaftslandesrat aus Linz zugespitzt. Konservativ gegen liberal, Land gegen Stadt, Stahlhelm gegen bunter Vogel: Diese holzschnittartigen Zuordnungen in der ÖVP stimmen zwar nie, aber die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Polen zieht sich dennoch durch die gesamte Parteigeschichte. So auch diesmal.
Andere Kandidaten als Khol und Leitl sind nicht ernsthaft im Gespräch. Schon gar nicht Wolfgang Schüssel, der zu diesem Zeitpunkt etwas für ihn Ungewöhnliches tut: Er schläft im Flugzeug ein. Normalerweise liest er auf seinen Langstreckenflügen, arbeitet Unterlagen durch oder zeichnet Bilderbücher für seine Kinder. Diesmal sinkt er in den Schlaf und träumt Überraschendes: Er ist neuer ÖVP-Obmann und hält auf dem Parteitag seine Antrittsrede. So ein Unsinn, denkt er beim Aufwachen. Fünf Tage später wird Schüssel einzelne Passagen der geträumten Rede tatsächlich halten. Auf einem Parteitag. Und als künftiger Bundesparteichef der Volkspartei.
Denn die stundenlange Parteisitzung in der Wiener Lichtenfelsgasse entwickelt sich dramatisch. Die beiden Flügel der ÖVP halten einander gegenseitig in Schach, weder Khol noch Leitl können bei Probeabstimmungen ausreichende Mehrheiten erzielen. Gekämpft wird mit allen Tricks, sogar mit dem Gerücht, der deutsche Kanzler Helmut Kohl habe vor einer Wahl Khols gewarnt, weil dieser die Deutschen nicht möge. Und in einem nahen Innenstadt-Café wartet der Linzer Universitätsprofessor Johannes Hengstschläger, den maßgebliche Kräfte in der ÖVP als Quereinsteiger aus dem Hut und an die Parteispitze zaubern möchten. Grund: Hengstschläger hatte einmal bei einer Parteiveranstaltung als Gastredner eine beeindruckende Ansprache gehalten. Doch auch diese Variante ist nicht mehrheitsfähig.
Da bringt Wirtschaftskammerpräsident Leopold Maderthaner plötzlich Wolfgang Schüssel ist Spiel. Und siehe da: Der liberale (für manche in der Kammer schon zu liberale) Wirtschaftspolitiker mit der konservativen gesellschaftspolitischen Ausrichtung ist für beide Lager als neuer Parteichef tragbar. Eine Abstimmung unter den ÖVP-Granden ergibt acht Stimmen für Schüssel, nur je drei für Khol und Leitl. Ein Kompromiss scheint gefunden.
Für Schüssel spricht seine Erfahrung. Er ist seit den späten 60er-Jahren in der Politik – zunächst als Klubsekretär, dann als Generalsekretär des Wirtschaftsbundes, seit 1979 als Nationalratsabgeordneter und seit 1989 als Minister. Jeder in der Partei kennt ihn. Schon in seiner Zeit im Wirtschaftsbund hatte er engen Kontakt zum Bauernbund und zum ÖAAB gehalten. Mit seinen dortigen Kollegen Wilhelm Molterer und Walter Heinzinger hatte er Jahr für Jahr die Generalsekretärswanderungen unternommen, bei denen jeweils drei Tage lang Themen an der Schnittstelle von Ökologie und Ökonomie propagiert wurden, von Wasser bis Holz, von Nationalparks bis zur Nahversorgung. Die enge Freundschaft zwischen Schüssel und Molterer, der später sein wichtigster Weggefährte wird, entstand bei diesen politischen Wandertagen.
Auch kennt Schüssel beinahe jede österreichische Gemeinde. In der Kampagne vor der EU-Volksabstimmung hatte er unzählige Auftritte in ganz Österreich absolviert und auch viele Termine von Außenminister Alois Mock übernommen, der ausgerechnet damals wegen eines Bandscheibenvorfalls außer Gefecht war. Und in den sechs Jahren im Wirtschaftsministerium hat sich Schüssel den Ruf eines Machers erworben: Die Zusammenlegung der skandalgeschüttelten Straßenbausondergesellschaften zur späteren ASFINAG, die Ausgliederung von Schloss und Tiergarten Schönbrunn, die Privatisierung des Verkehrsbüros, die Einführung des Elektronischen Akts, die erfolgreichen Beitrittsverhandlungen zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR – vieles spricht nach Ansicht der ÖVP-Granden jetzt für ihn. Als Erhard Busek dann auch noch zusagt, für Schüssel freiwillig seinen Platz an der Parteispitze zu räumen, ist die drohende Kampfabstimmung am Parteitag abgewendet und eine Lösung zum Greifen nahe.
Schüssel ahnt von all dem noch nichts. Als er in Wien aus dem Flugzeug steigt, nach Hause fährt und sich gerade unter die Dusche stellt, läutet das Telefon. Leopold Maderthaner macht es kurz: „Komm in die Partei. Du musst den Obmann machen!“ Schüssel reagiert unwirsch: „Lass mich in Ruhe, Leo. Ich geh’ jetzt schlafen.“ Doch Maderthaner gibt keine Ruhe. Schüssel bespricht sich also eingehend mit seiner Frau Gigi – die ihm eher abrät –, dann fährt er unter Mitnahme seines Jetlags in die Lichtenfelsgasse. Dort zeigt er wenig Interesse an der Übernahme der Parteiführung, denn die Funktion des ÖVP-Obmannes ist zu dieser Zeit nicht rasend attraktiv. Der schwarze Chefsessel ist, wie die Beispiele von Erhard Busek und dessen Vorgänger Josef Riegler zeigen, ein Schleudersitz. Und in den Umfragen liegt die hoffnungslos zerstrittene ÖVP gerade einmal bei 18 Prozent.
Schüssel stellt zwei Bedingungen, wenn er dieses Himmelfahrtskommando übernehmen soll: Die Partei muss entschuldet werden und er muss völlig freie Hand in der Personalauswahl bekommen. Die hohen Schulden hatten wenige Jahre zuvor dazu geführt, dass die Partei ihren feudalen Stammsitz, das Wiener Innenstadt-Palais Todesco, aufgeben musste. Für viele in der Partei war das eine traumatische Erfahrung gewesen. Daher macht Schüssel klar, dass er die Bundespartei nur schuldenfrei übernimmt, was die Landesparteien und Teilorganisationen schließlich auch ermöglichen. Noch härter ist die zweite Bedingung: Schüssel fordert – abseits des in der ÖVP üblichen Länder- und Bündeproporzes – die uneingeschränkte Verfügung über die Bundesliste bei Nationalratswahlen, über die ersten beiden Listenplätze bei Europawahlen und über sämtliche Regierungsposten. Diese letzte Forderung klingt logisch, denn ein Chef muss sich seine Mannschaft selbst und unbelastet von bisherigen Flügelkämpfen zusammenstellen können. Sie hat es aber in sich, bedeutet sie doch nicht mehr und nicht weniger, als dass Wissenschaftsminister Erhard Busek und auch Außenminister Alois Mock – die Köpfe der beiden Flügel in der ÖVP – die Regierung verlassen müssen.
Die Erfüllung dieser Forderung ist für die ÖVP-Granden ein hartes Stück Arbeit und zieht sich bis zum Parteitag hin, der fünf Tage später angesetzt ist. Schüssel verfolgt die Bemühungen emotionslos. Zu Alois Mock sagt er sogar: „Wenn Du willst, dann bleib’. Du tust mir damit sogar einen Gefallen.“ Bis zum letzten Moment ist Schüssel entschlossen, seine Kür zum Obmann nicht anzunehmen, falls er sich sein Regierungsteam nicht selbst aussuchen kann. Was mit der Partei wird, wenn er die Wahl platzen lässt? Nun, Alternativen gibt es immer, also kann man auch immer Nein sagen, ist Schüssel überzeugt. Denn die Hauptsache ist: Ein Parteichef darf nie erpressbar sein und sich nie und von niemandem ins Ruder greifen lassen, sonst braucht er gar nicht erst anzutreten.
Aber alles geht glatt. Erhard Busek und Alois Mock kündigen ihren Rückzug aus der Regierung an. Daraufhin wird Schüssel am 22. April 1995 beim Parteitag in der Wiener Hofburg mit mehr als 95 Prozent der Stimmen zum zwölften Bundesparteiobmann der ÖVP gewählt. Er nimmt die Wahl an. Mit Mascherl und bunter Brille verbeugt sich einer, der noch wenige Tage davor mit dem Ende seiner politischen Karriere gerechnet hatte, vor den Delegierten. Und hält nun tatsächlich die Rede, von der er auf dem Rückflug von Peking in 10.000 Meter Höhe geträumt hatte. „Ich möchte mit Eurer Hilfe Bundeskanzler werden!“, lautet der Schlüsselsatz.
Der neue ÖVP-Chef wird für diese Großsprecherei eher belächelt. Viele sehen in ihm einen weiteren Übergangsobmann und die Kanzlerschaft scheint völlig unerreichbar zu sein. Nur die wenigsten im Saal ahnen, dass sie soeben einen Parteichef gewählt haben, der die längste Amtszeit in der ÖVP-Geschichte aufweisen und in weniger als fünf Jahren sein angekündigtes Ziel erreichen wird: das Kanzleramt.
In seiner Antrittsrede – die er wie fast alle seiner Reden nur in Stichworten konzipiert hat – zitiert Schüssel aus der Bibel, aber auch aus „Die Abenteuer des Käpt’n Knurps“. Dieses Bilderbuch hat er zwei Jahre davor auf einem Flug nach Tokio für seine Kinder gezeichnet und geschrieben. Es handelt von besagtem Käpt’n, der sich mit dem Raumschiff Germknödl ins All aufmacht, um der Welt das Gute, den Stern des Lächelns, zu bringen. Auf diesem Weg wird Knurps – und diesen Satz zitiert Schüssel – von einem Marsbewohner belehrt: „Merke Dir: Es gibt eine Zeit zum Lachen und eine Zeit zum Weinen. Es gibt eine Zeit zum Kämpfen und eine Zeit zum Friedenschließen. Es gibt eine Zeit zum Drängen und eine zum Warten.“ – Politik in der Nussschale. Beziehungsweise im Germknödl.
Werben um Elisabeth Gehrer
Vorerst ist jedenfalls keine Zeit zum Warten, Schüssel muss seine Mannschaft zusammenstellen. Diese soll vor allem eine Frauschaft sein, denn der neue ÖVP-Chef hat eine Schwäche für starke Frauen. Mit ihnen arbeitet er am liebsten zusammen. Als härteste Nuss bei den vielen Gesprächen, die nun zu führen sind, erweist sich Elisabeth Gehrer. Die Vorarlberger Landesrätin, die zuvor schon Josef Riegler und Erhard Busek einen Korb gegeben hatte, reagiert ausgesprochen ungnädig, als Schüssel sie anruft und ihr das Unterrichtsministerium anbietet. „Ich mag nicht nach Wien“, lautet die knappe Antwort. „Meine Katze verhungert, wenn ich aus Vorarlberg weggehe.“ Und außerdem habe sie gerade an einer Gerbera „Du sollst, Du sollst nicht“ gezupft und es sei „Du sollst nicht“ herausgekommen. So weit der trockene Bescheid von Elisabeth Gehrer.
Doch Schüssel, dem die kantige Vorarlbergerin mit der großen Durchsetzungskraft und der politischen Vielseitigkeit schon lange imponiert, gibt nicht so rasch auf. Er wartet ab. Und richtig: In den folgenden Tagen wird Gehrer von ihren Söhnen mit den Worten „Mama, mach’s!“ bestürmt und denkt auch selbst: Mit einem Ministeramt ist es wie mit einem schönen Stück in der Auslage: „Beim ersten Mal nehme ich es nie, aber wenn es im Ausverkauf noch da ist, dann schon.“ Als Schüssel ein paar Tage später wieder anruft, nimmt Gehrer das Ministeramt an. „Gut“, antwortet Schüssel, „dann sei morgen in Wien.“ Er hat soeben eine Mitstreiterin für zwölf Jahre gewonnen.
Schneller sagt Benita Ferrero-Waldner zu, die Schüssel zuvor als Diplomatin an der Botschaft in Paris aufgefallen war. Er engagiert sie als Staatssekretärin ins Außenamt. Ferrero-Waldner eilt nach Wien, quartiert sich im Gästezimmer von Andreas Khols Haus in Hietzing ein und lässt sich busweise Akten des Außenamtes bringen, die sie emsig durcharbeitet, um vom ersten Tag an voll einsetzbar zu sein.
Die Führung des Außenministeriums übernimmt Schüssel selbst. Er überlegt zunächst, Wirtschaftsminister zu bleiben, was das Einfachste gewesen wäre. Doch viele – darunter Bundespräsident Thomas Klestil – reden ihm zu, die besseren staatspolitischen Auftrittsmöglichkeiten und die hervorragende Beamtenschaft des Außenministeriums zu nutzen, was Schüssel schließlich einleuchtet.
Wer an Vorzeichen glaubt, hätte vielleicht geahnt, dass er ins Außenamt wechseln wird. Denn wenige Jahre davor hatte der Polizeicomputer für Schüssels privaten VW Golf ein Kennzeichen mit einer Ziffernfolge ausgeworfen, die exakt der damaligen Telefonnummer des Außenministeriums entsprach. Und des Bundeskanzleramtes.
Wie viel Arbeit er sich als Außenminister im Vorfeld der ersten österreichischen EU-Präsidentschaft 1998 aufhalst, ahnt Schüssel nicht. Seinen ersten Auftritt vor den Sektionschefs des traditionsreichen Außenamts auf dem Ballhausplatz absolviert er in Sportschuhen, was eine junge Bedienstete des Hauses, als sie davon erfährt, im Stillen erheitert. Sie heißt Ursula Plassnik.
Beim Abschied aus dem Wirtschaftsressort bekommt Schüssel von seinen Beamten eine Ausgabe von Machiavellis „Il Principe“, der berühmten Macht-Fibel für Renaissance-Fürsten, geschenkt. Ein dezenter Hinweis darauf, dass der ungeduldige Minister mit dem starken Veränderungswillen und dem grellbunten Büro voll Designerstücken seinem Ressort immer ein wenig unheimlich gewesen war.
Als neuen Wirtschaftsminister holt Schüssel den unter Alois Mock in Ungnade gefallenen Johannes Ditz. Das Umweltministerium bekommt der Industrielle Martin Bartenstein, der zu einer der Stützen des neuen Parteichefs wird, und mit dem er mehr als zwölf Jahre in der Regierung sitzt. Das Generalsekretariat besetzt Schüssel mit Maria Rauch-Kallat und Othmar Karas. Seine Stellvertreterriege an der Parteispitze besteht aus der Tiroler Landesrätin Elisabeth Zanon, dem Landwirtschaftskammer-Präsidenten Rudolf Schwarzböck und der späteren steirischen Landeshauptfrau Waltraud Klasnic – auch sie eine der starken Frauen, die Schüssel so sehr schätzt.
Andreas Khol bleibt Klubobmann und wird – obwohl der Papierform nach der „gegnerischen“ Mock-Fraktion zugehörig – einer der wichtigsten Mitstreiter Schüssels. Die beiden werden enge Freunde, und der neue Parteichef gibt seinem Klubchef geradezu den Auftrag, lautstark konservative Positionen zu vertreten. Erstens, um Wähler von Jörg Haider zurückzuholen. Vor allem aber, um dem konservativen Parteiflügel zu signalisieren, dass auch er für die ÖVP wichtig ist. Während der jahrelangen Grabenkämpfe zwischen dem Busek-Flügel und der Mock-Fraktion waren in der ÖVP tiefe Wunden geschlagen worden. Sie zu heilen, ist Schüssels vordringliche Aufgabe. In einem Interview im Sommer 1995 skizziert er den notwendigen Brückenschlag: „Der wirkliche Konservative ist einer, der einen Schuss Liberalität und einen Schuss Misstrauen gegen den Staat hat, der genau weiß, dass er die von ihm als wertvoll erkannten Werte nur bewahren kann, wenn er sehr viele Strukturen ändert.“
Schüssel sendet weitere gezielte Signale an die Reihen der Konservativen aus: Der niederösterreichische Ober-Stahlhelm Robert Lichal wird Vorsitzender der ÖVP-Plattform „Freunde der Sicherheit“. Der frühere Verteidigungsminister, der seit seinem Eintreten für Mann stoppende Waffen im Polizeidienst stolz den Beinamen „Revolver-Hofrat“ führt, ist geschmeichelt. Weiters macht sich die Partei für die Einführung der umstrittenen polizeilichen Ermittlungsmethoden „Lauschangriff“ und Rasterfahndung stark. Und gemeinsam mit Verteidigungsminister Werner Fasslabend setzt Schüssel gegenüber dem Koalitionspartner SPÖ durch, dass das Bundesheer am Nationalfeiertag 1995 erstmals seit Jahrzehnten wieder eine Parade über die Wiener Ringstraße abhält. Die dabei stattfindende Bundesheer-Leistungsschau auf dem Wiener Heldenplatz wird ein ungeheurer und völlig unerwarteter Erfolg. Sie zieht Hunderttausende Besucher an und wird seither an jedem 26. Oktober wiederholt. Als absoluter Publikumsmagnet sollte sich in späteren Jahren ein Kampfjet namens Eurofighter herausstellen.
Aus Überzeugung konservativ ist Schüssel in der Familienpolitik: In seinen späteren Pensionsreformen setzt er die bessere Anrechnung der Kindererziehungszeiten durch. Er erwirkt die Anhebung des gesetzlichen Schutzalters für die sexuellen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen. Seine Regierung wird später das Kindergeld einführen. Und die ÖVP verhindert während seiner gesamten Obmannschaft die von der SPÖ propagierte Homo-Ehe. Schüssel ist der Ansicht, Homosexuelle sollen nicht diskriminiert werden und ihre Partnerschaft rechtlich fixieren können. Die Zeremonie auf dem Standesamt und die Vorteile des Zivilrechts wie etwa die Hinterbliebenenpension sollen aber der Ehe vorbehalten bleiben.
Im Juni 1995 feiert der neue ÖVP-Chef seinen 50. Geburtstag. Violette Freunde erfüllen ihm aus diesem Anlass seinen größten Wunsch: Der begeisterte Austria-Anhänger und Hobby-Fußballer darf in einem Testspiel gegen Bayern München eine Zeit lang in der Kampfmannschaft der Wiener Austria mitspielen. Schüssel ist wie immer Stürmer und bekommt die standesgemäße Rückennummer 9. In einem freundlichen Match-Bericht des „Kurier“ heißt es am folgenden Tag: Die meisten Zuschauer hätten gar nicht gemerkt, dass sich unter die Austria-Profis der vergleichsweise betagte Vizekanzler gemischt habe, so schnell sei Schüssel gelaufen.
Die SPÖ merkt, dass beim Koalitionspartner ein frischer Wind weht, und empfängt den neuen Vizekanzler eher frostig. Das Verhältnis von Bundeskanzler Franz Vranitzky zu Schüssel ist korrekt, aber kühl. Bis zum Ende bleiben die beiden beim förmlichen Sie. Der ÖVP-Chef, der ein ausgesprochener Teammensch ist, reagiert enttäuscht, tröstet sich dann aber mit der Erkenntnis, dass Vranitzky zu den eigenen Leuten auch nicht herzlicher ist. Schüssels Vorgänger Erhard Busek hatte er gar als „der Stuhl neben mir“ tituliert. Vranitzky ist nun einmal ein nüchterner und distanzierter Mensch. Ein privates Treffen gibt es nie.
Der SPÖ-Vorsitzende hat mit einem Minus von 7,9 Prozentpunkten ebenfalls eine äußerst unerfreuliche Nationalratswahl 1994 hinter sich und ist seither schwer angeschlagen. – So wie die gesamte Koalition. Dabei hatte es nach der mit 66 Prozent Ja-Stimmen gewonnenen EU-Volksabstimmung im Juni 1994 ganz anders ausgesehen. SPÖ wie auch ÖVP hatten gedacht, sie könnten aus diesem Erfolg neue Schubkraft für die Regierungsarbeit gewinnen und der nach neun Jahren abgenützten Großen Koalition neues Leben einhauchen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Mit dem EU-Beitritt ist das große Projekt, das jede Regierung braucht, abgehakt – und die Ära Vranitzky/Mock/Busek eigentlich zu Ende.
Doch während sich die ÖVP eine neue Führung gibt, bleibt Vranitzky als Kanzler und SPÖ-Chef im Amt. Ein großer Reformer oder Visionär war er nie. Nun kann er sich gegen die beharrenden Kräfte in der Gewerkschaft gar nicht mehr durchsetzen. Die Reformkraft der Sozialdemokratie erlahmt. Gerade jetzt wären im Gefolge des EU-Beitritts aber spektakuläre Richtungsänderungen notwendig: Österreich ist ein überreguliertes Land, in dem die Taxikonzessionen in der Verfassung geregelt sind und die Rauchfangkehrer Gebietsschutz genießen. Die Sozialpartnerschaft, die sich in alle Politikbereiche einmischt, hält ein zünftlerisches, abgeschottetes und typisch austriakisches Wirtschaftssystem aufrecht, in dem sich zwar jeder wohl fühlt, das nach Öffnung der Grenzen der europäischen Konkurrenz aber nicht annähernd gewachsen ist.
Schüssel drängt darauf, die Wirtschaft für den einsetzenden Wettbewerb zu wappnen und auf Export auszurichten, um die neu aus der EU kommenden Warenströme ausgleichen zu können. Langfristig gelingt dies auch, während seiner Kanzlerschaft verzeichnet Österreich erstmals einen Handelsbilanzüberschuss. Doch zunächst sind die Widerstände groß.
Noch dazu kommen Schüssel in dieser Phase zwei wichtige Mitstreiter auf SPÖ-Seite abhanden. Im Zuge einer großen Regierungsumbildung, die Vranitzky als Befreiungsschlag plant, treten im Frühjahr 1995 Finanzminister Ferdinand Lacina und Sozialminister Josef Hesoun zurück. „Jolly“ Hesoun ist ein knorriger Gewerkschafter wie aus dem Bilderbuch. Da sein Sohn erfolgreicher Frächter ist, weiß er aber auch über die Bedürfnisse der Privatwirtschaft genau Bescheid. Mit ihm als Sozialminister hat Schüssel zu Beginn der 90er-Jahre große Reformen wie die Arbeitszeitflexibilisierung oder die Umwandlung der Arbeitsmarktverwaltung ins ausgegliederte Arbeitsmarktservice ausgehandelt. Auch die Einführung des Pflegegeldes ist ein Meilenstein, den die beiden setzen. Der alte Bau-Holz-Gewerkschafter und der Mascherl-Minister aus dem Wirtschaftsbund sind ein seltsames Paar, doch bei Hesoun findet Schüssel das Verständnis für Neuerungen und jene menschliche Wärme, die er zum Arbeiten braucht. Als einer von Schüssels Mitarbeitern einmal während einer endlosen Verhandlungsrunde im Sozialministerium die Nachricht bekommt, dass er gerade Vater geworden ist, unterbricht Hesoun sofort die Sitzung, um auf das freudige Ereignis anzustoßen.
Auch in Ferdinand Lacina verliert Schüssel einen langjährigen Partner. Die beiden kennen einander seit hitzigen Jungökonomen-Debatten in den 70er-Jahren, und in den Beitrittsverhandlungen mit der EU waren sie Seite an Seite gesessen. Lacina hatte großen Anteil daran gehabt, dass die anfänglich äußerst skeptische SPÖ überhaupt auf Europakurs eingeschwenkt war. Und auch die für den Standort Österreich wichtige Abschaffung der Vermögenssteuer hatte Lacina gemeinsam mit Johannes Ditz durchgesetzt.
Nun zieht statt ihm der junge Steuerberater Andreas Staribacher ins Finanzministerium ein. Er ist ein Quereinsteiger in die Politik, und das ausgerechnet in einer Phase, in der Österreich auf eine seiner schwersten Budgetkrisen zusteuert: 1995 liegt das Defizit bei 5,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – nach heutigen Zahlen ein Budgetloch von 15 Milliarden Euro. Für die beiden Folgejahre wird ein Hinaufschnellen des Defizits auf unglaubliche acht Prozent prognostiziert. Bis 1998 muss Österreich sein Defizit aber unter die Maastricht-Grenze von drei Prozent senken, um überhaupt an der europäischen Wirtschaftsund Währungsunion teilnehmen zu können. Eine gigantische Konsolidierungsaufgabe liegt vor der Regierung, und in ihrem Koalitionspakt haben sich SPÖ und ÖVP vorgenommen, diese Aufgabe überwiegend ausgabenseitig, also durch Einsparungen zu bewältigen.
Doch Vranitzky und Staribacher drängen auf eine rein einnahmenseitige Sanierung, also die Erhöhung von Steuern und Lohnnebenkosten. In Schüssels Augen ist das Gift für die Unternehmen und die Arbeitsplätze, daher pocht er auf den Koalitionspakt und verlangt, bei den Ausgaben zu sparen, etwa durch ein Zurückdrängen der Frühpensionen. Die SPÖ kontert mit einer „Pensionsklau“-Kampagne. Die Debatte über die Budgetsanierung zieht sich über den ganzen Sommer 1995 hin und mündet in einen schweren Koalitionskonflikt. Die Gewerkschaften, die von einem fünfprozentigen „Solidarzuschlag“ auf die Lohnsteuer träumen, um Reformen zu verhindern, wollen das unabwendbare Sparpaket nicht mittragen und setzen Vranitzky und Staribacher massiv unter Druck.
Die ÖVP hält dagegen und fordert unter anderem weitere Privatisierungen – etwa der Creditanstalt – sowie die Einführung einer Autobahnvignette. Es folgen nächtelange, quälende Verhandlungen, das Klima in der Koalition wird immer schlechter. Und auch jenes in der SPÖ: Ende September entlässt Parteichef Vranitzky seinen Bundesgeschäftsführer Josef Cap. Dieser erfährt von der Entscheidung aus der Zeitung. Beim SPÖ-Parteitag wenige Tage später werden Rufe nach dem Rücktritt Vranitzkys laut.
Koalitionsbruch nach sechs Monaten
All das ist einer Kompromisslösung in der Regierung nicht förderlich und Neuwahlgerüchte machen die Runde. In der Nacht von 11. auf den 12. Oktober scheitert eine allerletzte Verhandlungsrunde. Schüssel schlägt zuletzt noch vor, Finanzminister Andreas Staribacher – den er für völlig überfordert hält – durch Johannes Ditz zu ersetzen. Aber in den Morgenstunden ist klar: Die Große Koalition ist zehn Monate nach ihrer Neuauflage am Ende. Am 17. Dezember 1995, eine Woche vor Weihnachten, muss neu gewählt werden.
Entgegen der folgenden Wahlkampf-Propaganda, er habe als geborener Spieler mutwillig Neuwahlen vom Zaun gebrochen, war Schüssel in der ÖVP nicht die treibende Kraft hinter dieser Entscheidung. Vor allem die Wirtschaft war es, die eine Erhöhung der Lohnnebenkosten um jeden Preis verhindern wollte – auch um den Preis der Koalition.
Am Beginn des Wahlkampfes sehen die Umfragen für die ÖVP nicht schlecht aus. Die Demoskopen verheißen ihr Platz eins. Die Partei beginnt bereits von Kanzler und Finanzminister in ÖVP-Hand zu träumen. In der SPÖ werden im Gegenzug Rufe nach dem Gang in die Opposition laut, da die anstehenden Probleme unlösbar erscheinen. Auch in den persönlichen Werten liegt Schüssel zunächst vor Vranitzky. Doch rasch kommt die Wahlkampfmaschine der roten Drillinge SPÖ, ÖGB und Arbeiterkammer auf Touren. Die Arbeiterkammer müsste aus Sorge um die Arbeitsplätze eigentlich gegen die Erhöhung der Lohnnebenkosten und somit an der Seite der ÖVP kämpfen. Das tut sie nicht. Sie wird in den Augen Schüssels immer mehr zu einer Propagandaabteilung der SPÖ.
Die sozialdemokratischen Strategen führen in diesem Wahlkampf 1995 ein für Österreich neues Stilmittel ein – das Dirty Campaigning: In einem auf offiziellem Kanzlerpapier gedruckten Brief an alle Pensionisten unterstellt Vranitzky der ÖVP, massiv in bestehende Pensionen eingreifen zu wollen, und preist sich selbst als Garant gegen jede Verschlechterung im Pensionssystem an. Dieser legendäre Pensionistenbrief – vermutlich einer der wahlentscheidenden Faktoren – wird von der ÖVP als ungeheuerliche Verleumdung empfunden. In eisiger Atmosphäre fliegen Vranitzky und Schüssel wenige Tage vor der Wahl zum EU-Gipfel nach Madrid. Dort legt die EU-Kommission ein Papier vor, in dem sie den Mitgliedsländern dringend empfiehlt, das Frühpensionsalter anzuheben und die Lohnnebenkosten zu senken. Theoretisch Wasser auf die Mühlen Schüssels. Was den Wahlkampf betrifft, jedoch praktisch wirkungslos. Dennoch gefällt sich die ÖVP auch in der heißen Phase der Wahlauseinandersetzung unverdrossen im Verkünden unangenehmer Wahrheiten: „Wir können Euch in den nächsten Jahren nichts an sozialen Wohltaten geben“, sagt Schüssel in Anspielung auf die legendäre Weihnachtsansprache Leopold Figls im Jahr 1945. Der wirtschaftspolitische Schüssel-Ditz-Kurs verheißt den Österreichern die Anhebung des Frühpensionsalters um zwei Jahre, Maßnahmen gegen den Missbrauch des Arbeitslosengeldes, Selbstbehalte im Gesundheitswesen sowie Studiengebühren oder wahlweise einen kürzeren Familienbeihilfe-Bezug für die Studenten. Eisernes Sparen – so lautet die zentrale Wahlkampfbotschaft der ÖVP. Als Wahlgeschenke gibt es kleine Anstecknadeln in Mascherlform, die Schüssel selbst entwirft, sonst nichts.
Nach dem Wahltag gesteht der ÖVP-Obmann ein, dass er die Wähler in diesem Wahlkampf zu sehr vor vollendete Tatsachen gestellt hat: Die Menschen hätten ein Recht darauf, eine Botschaft – in diesem Fall „Wir müssen sparen“ – ordentlich erklärt zu bekommen. Doch dazu hat im Kurzwahlkampf 1995 einfach die Zeit gefehlt.
Als weitere Hypothek für die Volkspartei erweist sich in dieser Wahlauseinandersetzung die massive Debatte über Schwarz-Blau. Die SPÖ warnt unverdrossen vor einem Zusammengehen Schüssels mit Jörg Haider, und findet bei dieser Kampagne wie immer auch willige Helfer innerhalb der ÖVP. Seit den 70er-Jahren, seit dem Slogan „Taus und Götz – nein, danke!“, gehört das Warnen vor einer Koalition mit den Freiheitlichen zum fixen Wahlkampfrepertoire der SPÖ. Dass sie selbst die erste Partei war, die – von 1983 bis 1986 – mit der FPÖ eine Regierung gebildet hat, ist für die steten Warnungen der SPÖ kein Hindernis.
Schüssel – ein überzeugter Großkoalitionär – denkt zwar überhaupt nicht an eine Koalition mit Haider, schließt Schwarz-Blau aber auch nicht aus. Er weiß spätestens seit der Wahl 1994: Wer sich auf eine Koalition mit der SPÖ festlegt, hat schon verloren. Viele Stammwähler der ÖVP wollen die Große Koalition nicht mehr und gehen deshalb direkt zu Haider oder bleiben zu Hause. Diesen Wählerverlust will Schüssel diesmal verhindern, indem er die Koalitionsfrage offen lässt. Wobei er hinzufügt, dass die ÖVP mit ihrer Reformpolitik der einzige Garant dafür sei, dass Jörg Haiders Bäume nicht in den Himmel wachsen. Vranitzkys Zauderei hingegen habe Haider groß gemacht.
Das Wahlergebnis am 17. Dezember 1995 ist ernüchternd: Die ÖVP gewinnt nur ein Mandat dazu, die SPÖ sechs. Schüssel ist zunächst maßlos enttäuscht, dass der perfide Pensionistenbrief Vranitzkys vom Wähler honoriert wurde, der Kurs der ÖVP, das Notwendige zu tun, hingegen nicht. Doch bald sieht er auch die positiven Aspekte des Wahlausgangs: Erstmals seit 1986 hat die ÖVP Stimmen und Mandate hinzugewonnen. Erstmals hat Jörg Haider mit einem Minus von zwei Mandaten eine Niederlage einstecken müssen. Und in der SPÖ ist Franz Vranitzky durch seinen Wahlsieg wieder so gestärkt, dass er den von der ÖVP vorgeschlagenen Budgetsanierungskurs, den er innerlich wohl auch schon vor der Wahl für richtig gehalten hatte, nun gegenüber der Gewerkschaft durchsetzen kann. Keine zwei Wochen nach der Wahl lässt er Finanzminister Andreas Staribacher fallen und ersetzt ihn durch den bisherigen Verkehrsminister Viktor Klima. Gemeinsam mit Johannes Ditz soll der frühere OMV-Manager im Zuge der Koalitionsverhandlungen die harten Schritte zur Budgetsanierung vorbereiten.
Klima und Ditz zur Seite gestellt werden die penibelsten und trockensten Rechner, die in den beiden Großparteien aufzutreiben sind: die Landeshauptleute Karl Stix aus dem Burgenland und Herbert Sausgruber aus Vorarlberg. Schüssel weiß: Wenn man will, dass bei Finanzverhandlungen nichts übers Knie gebrochen und kein Schilling zu viel ausgegeben wird, dann ist Herbert Sausgruber für die ÖVP der richtige Mann. Aus ganz ähnlichem Holz ist der Sozialdemokrat Karl Stix geschnitzt. In Windeseile machen die vier Finanzexperten einen Kassasturz und einigen sich Anfang 1996 auf einen budgetären Kraftakt, der seinesgleichen sucht: Binnen zwei Jahren wird das Defizit von 5,8 auf 1,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes gesenkt. Im Jahr 1996 werden 60, im Jahr 1997 sogar 100 Milliarden Schilling eingespart. Genauso wie es die ÖVP schon vor der Wahl durchzusetzen versucht hatte, erfolgt die Sanierung zu zwei Dritteln ausgabenseitig, also durch Einsparungen, und nur zu einem Drittel durch neue Einnahmen.
So mancher – auch Schüssel selbst – fragt sich, wozu überhaupt gewählt wurde. Diese Einigung hätte man ohne Neuwahlen billiger haben können. Das Wiener Nachrichtenmagazin „profil“ hebt mittels Fotomontage einen nackten Vranitzky aufs Titelblatt, um auszudrücken, dass der SPÖ-Vorsitzende in den Koalitionsverhandlungen von Schüssel ausgezogen worden sei. Denn das ausgehandelte Sparpaket sieht – trotz Garantie in Vranitzkys Pensionistenbrief – auch Einsparungen im Pensionssystem vor. Sie sind wie alle anderen Einschnitte notwendig, damit das Budget nicht völlig aus dem Ruder läuft.
In der heißen Phase der Koalitionsverhandlungen fliegt Schüssel im Februar 1996 als erster Außenminister nach dem Ende des Bosnienkrieges nach Sarajewo. Die Landung in der lange belagerten bosnischen Hauptstadt ist abenteuerlich, denn der Flugplatz ist vereist, der Pilot kann die Maschine kaum zum Stehen bringen und in der Umgebung rauchen noch die Dörfer. Als Schüssel ein ausgebranntes Gehöft besichtigen will, reißen ihn seine Begleiter zurück: Landminen! Aber die Reise ist wichtig, denn Schüssel eröffnet die neue österreichische Botschaft in Sarajewo – für Bosnien-Herzegowina ein Zeichen der Normalisierung. Österreichischer Botschafter ist Valentin Inzko, der spätere internationale Bosnien-Beauftragte.
Im März 1996 unterzeichnen Vranitzky und Schüssel den neuen Koalitionspakt. Die Regierungsmannschaft der ÖVP bleibt nahezu unverändert. Gehen muss allerdings Familienministerin Sonja Moser. Die Tirolerin hatte am 17. Dezember in ihrer Heimatgemeinde Reutte gewählt, obwohl sie dort als Ministerin mit Dienstort Wien gar nicht mehr hauptgemeldet gewesen war. Mit diesem Versehen gibt sie der FPÖ, die ein Reststimmenmandat nur um zwölf Stimmen verpasst hatte, die Möglichkeit zur Wahlanfechtung. Diese ist ein Jahr später auch erfolgreich. Bei Nachwahlen in Reutte und einer zweiten Gemeinde gewinnt die FPÖ auf Kosten der ÖVP ein Mandat dazu. Da ist Moser schon nicht mehr Ministerin. Der Regierungsmannschaft in Wien erhalten bleibt allerdings die ebenfalls aus Tirol stammende Pressesprecherin Sonja Mosers. Sie heißt Heidi Glück.
An eine schwarz-blaue Koalition, den großen Renner des Wahlkampfes, hatte während der gesamten Regierungsbildung 1995/96 übrigens niemand auch nur einen Gedanken verschwendet. Schüssel nicht, weil er – solange sie ihre Arbeit macht und nicht nur blockiert – immer für eine Große Koalition ist. Und auch Jörg Haider nicht, weil er genau weiß, dass die FPÖ noch Zeit braucht. Nach der gewonnenen Nationalratswahl 1994 hatte er intern das „Projekt 1998“ gestartet, mit dem er die Partei binnen vier Jahren inhaltlich wie auch personell auf eine Regierungsbeteiligung vorbereiten wollte. Durch die Zwischenwahl 1995 verschiebt sich dieses Zieldatum Haiders für den Eintritt in die Bundesregierung nun um ein Jahr: auf die Zeit nach der Nationalratswahl 1999.
Aber der FPÖ-Chef sorgt vor: Am 17. Dezember 1995 hatte nicht nur die Nationalratswahl, sondern auch eine dramatische Landtagswahl in der Steiermark stattgefunden. Die ÖVP musste eine schwere Niederlage einstecken und blieb nur um knapp 2000 Stimmen vor der SPÖ. Die Ära von Langzeit-Landeshauptmann Josef Krainer ist damit zu Ende. Mithilfe von Haiders FPÖ kann die steirische Volkspartei aber den Landeshauptmannsessel für Waltraud Klasnic retten. Sie wird vier Jahre später in der ÖVP eine der vehementesten Befürworterinnen von Schwarz-Blau sein.