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Bethany Hamilton

mit Sheryl Berk und Rick Bundschuh

SOUL SURFER

Meine Geschichte

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Titel der amerikanischen Originalausgabe:
„Soul Surfer -
A True Story of Faith, Family, and Fighting to Get Back on the Board“
Original English Language Edition © Copyright 2004, 2011 Bethany
Hamilton

MTV Music Television and all related titles, logos, and characters are trademarks of MTV Networks, a division of Viacom International Inc.All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with the original publisher, Pocket Books, a division of Simon & Schuster, Inc., New York.
Alle Rechte vorbehalten.

© der deutschen Ausgabe 2006, 2012 Brunnen Verlag Gießen
www.brunnen-verlag.de
Redaktion: Ralf Tibusek und Konstanze von der Pahlen
Alle Fotos stammen von Noah Hamilton und der Familie Hamilton.
Umschlagfoto: Noah Hamilton
Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger
Satz: DTP Brunnen
ISBN 978-3-7655-2106-5
ISBN E-Book 978-3-7655-7082-7

Inhalt

Vorwort

  1. Am Morgen des Halloween

  2. Wurzeln

  3. Ernst zu nehmende Konkurrenz

  4. Beinahe ein normales Leben

  5. Attacke

  6. Dunkle Stunden

  7. Die OP

  8. Der Weg zurück

  9. Warum ich es mache

10. Im Glauben bleiben

11. Überströmendes Aloha

12. Wie es ist, so etwas wie eine Berühmtheit zu sein

13. Wieder in den Wellen

14. Nachschlag

15. Teil eines Plans

16. Das war damals – und heute ... ?

Die Top 5 meiner Lieblingserlebnisse der letzten fünf Jahre

17. Mein Filmtagebuch

18. Sogar eine Surferin kann Hollywood überleben!

Ein paar Gedanken zum Schluss

AnnaSophia Robb

Sean McNamara

Lorraine Broussard Nicholson

Schlussbemerkung

Danksagung

Vorwort

Ehrlich gesagt wollte ich nie ein Buch schreiben.

Meine Familie und meine Freunde mussten mich regelrecht überreden, denn ich erzähle nicht gern viel über mich selbst, geschweige denn denke ich, ich wäre etwas Besonderes. Aber sie meinten, meine Geschichte könnte hilfreich und interessant für andere sein – und sie ermunterten mich, sie aufzuschreiben.

Das ist sie also. Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, weiß ich, dass es richtig war. Denn sie zeigt meinen Glauben, meine Familie und alle die Menschen, die mich wieder aufs Wasser gebracht haben, in einem größeren Zusammenhang. Aber eins sage ich gleich: Es war nicht einfach.

Es brauchte eine ganze Menge Leute, um meine Gedanken auf Papier zu bringen. Zuerst war da Rick Bundschuh, mein Pastor und Seelsorger der Kauai Christian Fellowship Church. Es gab bestimmte Sachen, über die ich einfach nicht reden wollte – erst recht nicht vor Fremden. Also erbot sich Rick, den „Vermittler“ zu übernehmen. Wir haben stundenlang dagesessen und geredet, geredet, geredet. Ich schüttete ihm mein Herz aus und er hörte geduldig zu und brachte es auf Papier.

Dann kam unsere Autorin Sheryl Berk, die mir half, diese Gedanken zu ordnen und auf fünfzehn Kapitel zu verteilen (wer hätte gedacht, dass über 130 Seiten in mir stecken?). Wenn man selbst in einer bestimmten Situation steckt, ist es schwierig, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich waren oder sind. Daher halfen mir Sheryl und meine Lektorin Lauren McKenna, die einzelnen Punkte zu einem Bild zu fügen. Sie stellten mir die unangenehmsten Fragen! Manchmal habe ich mich regelrecht gewunden, aber letztendlich brachten sie mich dazu, etwas tiefer zu schürfen und wirklich aufrichtig mit mir selbst und mit dir zu sein.

Jetzt bin ich richtig stolz auf das, was wir hier geschrieben haben. Ich denke, es ist wahrheitsgetreu, und ich hoffe, es inspiriert und motiviert die Menschen, jedes Hindernis in ihrem Leben anzugehen. Ich hoffe, es trägt dazu bei, dass Menschen zum Glauben an Gott finden und ihre eigenen Stärken und Fähigkeiten zu sehen. Ich hoffe, es motiviert den einen oder anderen, der gerade schwere Zeiten durchmacht, weiter zu kämpfen, bis er sich durchgeboxt hat. Du kannst und wirst da durchkommen. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg – dafür bin ich der lebende Beweis.

Was ich nicht will ist, dass die Leute mich bedauern oder meinen, mein Leben sei vollkommen ruiniert. So sehe ich das nicht. Meine Mutter sagt immer: „Wenn das Leben dir Zitronen beschert, dann mach Zitronenlimonade daraus.“

Das ist eine tolle Sichtweise, wenn du tatsächlich über die Zitronen hinausschauen kannst, obgleich du bis zum Hals drinsteckst! Meine Kraft habe ich von der Beziehung zu Christus und von der Liebe und Ermutigung meiner Familie und Freunde bekommen.

Auf vielerlei Weise bin ich wie jedes andere fünfzehnjährige Mädchen, und auf vielerlei Weise bin ich es wiederum nicht. Wenn mir jemand gesagt hätte, dass sich mein Leben so darstellen würde, hätte ich es niemals geglaubt. Das wäre mir zu bizarr vorgekommen. Manchmal ist es das auch noch. Oft träume ich, ich hätte wieder beide Arme. Dann wache ich auf und erwarte, die ganze Sache mit dem Hai wäre nur ein Albtraum gewesen. Ist sie aber nicht. Sie ist jetzt meine Lebenswirklichkeit und ich habe gelernt, sie zu akzeptieren. Ich bin weitergezogen.

Ich behaupte nicht, ich wüsste die Antworten darauf, warum guten Menschen schlimme Dinge zustoßen. Jedenfalls weiß ich, dass Gott alle Antworten kennt. Und manchmal lässt er sie dich in diesem Leben erfahren, aber manchmal bittet er dich zu warten, bis er sie dir von Angesicht zu Angesicht geben kann.

Ich weiß, dass ich das, was mir widerfahren ist, als Gelegenheit nutzen will, um den Menschen zu sagen, dass Gott unseres Vertrauens wert ist, und ihnen zu beweisen, dass man weitergehen und wunderbare Dinge machen kann trotz schrecklicher Ereignisse, die eintreten. Ich halte es nicht für gut, herumzusitzen und sich selbst zu bedauern. Ich habe mir selbst eins versprochen: dass ich mich nicht in Selbstmitleid ergehe und jammere: „Ach, ich Arme!“

Noch etwas solltest du unbedingt wissen: Dieses Buch hat noch kein richtiges Ende, da ich noch immer lerne, jeden Tag neu anzupacken. Ich rede nicht davon, wie ich lerne, mein Oberteil mit einer Hand zuzuknöpfen. Ich rede davon, damit umzugehen, mit meinen fünfzehn Jahren schon berühmt zu sein, was ich mir nie hätte vorstellen können. Oder damit umzugehen, dass die Leute mich anstarren – entweder weil sie mich erkennen, oder weil sie nicht daran gewöhnt sind, jemanden zu sehen, der mit einem Arm den Strand entlangläuft. Oder damit umzugehen, den Medien endlos Fragen zu beantworten oder mein Gesicht in Zeitungen und Zeitschriften zu sehen.

Außerdem muss ich lernen, mit dem Frust umzugehen, wenn ich erkenne, dass ich in einem Wettkampf etwas besser abgeschnitten hätte, wenn ich beide Arme zum Paddeln gehabt hätte.

Ich freue mich über die Gelegenheit, die ganze Welt zu bereisen und zu surfen – weil ich nach dem Unfall wieder zu surfen angefangen habe. Am spannendsten finde ich zu sehen, was die Zukunft bereithält. Werde ich es bis zum Profi-Surfer schaffen? Wird meine „uralte“ Freundin und Surfkameradin Alana in den nächsten Jahren noch neben mir paddeln, wie sie es heute tut und wie sie es während des Haiangriffs getan hat? Werde ich auf irgendeine Art und Weise das Leben von Menschen verändern, indem ich ihnen meine Geschichte erzähle?

Was hat Gott für mich auf Lager? Ich weiß es wirklich nicht. Aber eins ist gewiss: Das Abenteuer hat erst begonnen.

1. Am Morgen des Halloween

Es kam buchstäblich aus heiterem Himmel.

Es gab keinerlei Vorwarnung; nicht das kleinste Anzeichen einer Gefahr am Horizont. Das Wasser war kristallklar und ruhig – es wirkte eher wie ein Pool als die tiefe See von Kauai, Hawaii, wo ich jeden Morgen mit meiner Freundin Alana Blanchard oder den anderen Mädchen vom Mädchen-Surfteam von Hanalei surfen gehe. Die Wellen waren klein und brachen dauernd in sich zusammen. Ich ließ mich von ihnen tragen, hatte meinen rechten Arm an der Nase meines Surfbretts und den linken Arm locker im kühlen Wasser. Ich weiß noch, dass ich dachte: „Hoffentlich kommt die Welle bald mal auf Touren ...“, als plötzlich ein grauer Schatten auftauchte.

Der Bruchteil einer Sekunde – das war alles. Ich nahm einen großen Druck und mehrmaliges blitzschnelles Zerren wahr. Ich konnte keine Details ausmachen, aber ich wusste, dass ein über vier Meter langer Tigerhai seine gewaltigen Kiefer vorne in mein Surfbrett und meinen linken Arm geschlagen hatte. Dann sah ich unter Schock zu, wie sich das Wasser um mich herum hellrot färbte. Irgendwie schaffte ich es, ruhig zu bleiben und Richtung Strand zu paddeln. Mein linker Arm war fast bis zur Achsel weg, ebenso wie ein halbmondförmiges Stück aus meinem rot-weiß-blauen Surfbrett ...

Ein Morgen wie jeder andere

Es war noch dunkel, so gegen fünf Uhr früh, als meine Mutter Cheri die Zimmertür aufstieß, hineinlugte und rief: „Na, wie wärs mit surfen?“

Bevor ich auch nur meine verschlafenen Augen öffnen konnte, sprang Ginger, unser Sharpei, auf mein Bett und gab mir ihren feuchten Guten-Morgen-Kuss.

Ich hoffte, es würde ein perfekter Morgen zum Surfen. Die letzten drei Tage hatte es geschüttet, aber jetzt hörte ich keine Regentropfen auf die großen Pflanzen vor meinem Fenster platschen. Ja! Vielleicht hatte sich der Sturm verzogen und die warme Tropensonne kam heute wieder zum Vorschein.

Ich blieb noch ein paar Minuten im Bett und hörte meiner Mutter bei ihren morgendlichen Ritualen zu: Zuerst schaltet sie den Fernseher im Wohnzimmer ein und lauscht dem Wetterbericht für unsere Insel, während sie einen starken Kaffee aufbrüht. Sie hört sehr aufmerksam zu, und zwar nicht nur der Vorhersage, sondern auch den Buoy Reports, den Berichten von den Bojen draußen im Meer, die etwas über die „Swell“, die Dünung der Wellen, aussagen.

Ich knipste meine Nachttischlampe an. Meine Lampe ist ziemlich cool: Sie hat einen durchsichtigen Fuß, den ich mit Muscheln gefüllt habe. Eigentlich ist mein ganzes Zimmer voll von Muscheln. Keine Frage: Ich habe jede Menge coolen Schnickschnack und Dutzende Pokale von Amateur-Surfwettkämpfen. Aber ich bin mir sicher, das Erste, was ich mir schnappen würde, wenn das Zimmer in Flammen stünde, wären meine hübschen Sunrise Shells, die ihren Namen von ihren Farben – wie ein Sonnenaufgang – haben. Sie sind selten und unbeschädigt nur schwer zu finden, aber sie sind die atemberaubendsten Muscheln, die ein Strandurlauber auf Kauai finden kann.

Ich weiß, viele Mädchen machen sich Gedanken, was sie in der Schule oder zu einer Verabredung anziehen sollen. Und ich? Meine größte Sorge ist immer, welchen Badeanzug ich zum Surfen anziehe. An meinen Garderobenhaken hängen mindestens ein Dutzend verschiedene Modelle (tja, das sind die Vorteile, die man genießt, wenn man von einer großen Bekleidungsfirma gesponsert wird – in meinem Fall Rip Curl).

Mein Blick fiel auf etwas Schwarzes in meinem Kleiderschrank: Eine schwarze Hose, die ich wenige Tage zuvor in einem Secondhand-Laden erstanden hatte und die zu einem Halloween-Kostüm gehörte. Meine beste Freundin Alana kaufte sich auch eine. Und dazu kauften wir uns noch tolle schwarze Schuhe, die richtig gut dazu passten. Wir wollten als „mexikanische Mafia“ gehen, weil sich das albern anhört. Zuerst wollten wir dann in unseren Zwillingskostümen zur Halloween-Party unserer Gemeinde gehen und dann in der Nachbarschaft umherziehen. Auf einmal fiel es mir ein: Heute ist ja Halloween.

Halloween auf Hawaii ist ein bisschen kompliziert. Anders als auf dem Festland, wo die Leute ihre Kürbisse eine Woche vor dem Feiertag aushöhlen, ist es hier so warm und feucht, dass ausgehöhlte Kürbisse höchstens ein, zwei Tage stehen können, bevor sie sich einen Schimmelbart wachsen lassen oder von alleine schlapp machen.

Als ich mich fertig machte, wachte auch der Rest meiner Familie auf. Ich hörte meinen Vater Tom oben durchs Schlafzimmer poltern. Mein Vater ging oft mit mir surfen (er und Mama haben mir das Surfen beigebracht), doch heute musste er wegen einer Knieoperation ins Krankenhaus. Nichts Kompliziertes – am Abend würde er sogar wieder zu Hause sein. Allerdings müsste ihn jemand – meine Mutter oder einer meiner älteren Brüder, Noah oder Timmy – ins Krankenhaus bringen und wieder abholen.

Ich zog einen rot-weiß-blauen Badeanzug (passend zu meinem rot-weiß-blauen Surfbrett) an und ging ins Wohnzimmer. Meine Mutter wartete schon mit Schlüsselbund, Geldbörse, Sonnenbrille, Videokamera und meinem Frühstück für unterwegs auf mich. Sie ist, glaube ich, genauso begeistert vom Surfen wie ich. Sie ist ja auch schon eine Surfnärrin, seit sie so alt war wie ich jetzt.

„Die Bojen zeigen kaum Wellentätigkeit an“, informierte sie mich. „Wir können ja mal schauen, wie es in Pauaeaka ist – gestern soll es da ganz gut gewesen sein.“

Ich mag Pauaeaka sehr. Es liegt an der Nordküste von Kauai. Es hat seinen Namen von den kreisrunden Wellen, die hohl sind und richtig schnell. Beim Surfen fühlt man sich oft, als würde man aus einem Kanonenrohr herausgeschossen kommen. Das ist nur was für Profis, denn die Wellen können sehr gewaltig und ein bisschen gefährlich sein.

Surfer beurteilen die Qualität einer Welle nach ihrer Form; je hohler und schneller der obere Rand zum Wellental hin abfällt, desto besser. So bildet die Welle eine kleine Röhre – auch „tube“ (englisch ausgesprochen!) genannt –, in die der Surfer hineingleiten kann.

Meine Hündin Ginger wollte mit uns nach Pauaeaka kommen – sie fährt immer gerne Auto. Also bugsierte ich sie nach hinten und suchte meine Badelatschen (auf dem Festland nennt man sie Flip-Flops). Sie steckten irgendwo zwischen den ganzen Schuhen vor unserer Haustür.

Auf Hawaii gilt die feste Regel, dass man seine Schuhe vor dem Betreten des Hauses auszieht. Niemand hat Schuhe im Schrank; alle stehen draußen im Vorbau. Diese Tradition ist vielleicht noch ein Überrest aus früheren hawaiischen Zeiten, oder die japanischen Einwanderer, die vor langer Zeit hier auf den Zuckerrohrfeldern arbeiteten, haben sie hier eingeführt.

Es war noch ganz dunkel, als wir in unseren „Beater“ kletterten. Viele Leute meinen, Surfer fahren mit solch alten holzverkleideten Kombis, wie man sie in Surfer-Zeitschriften oder alten Beach-Boys-Videos sieht. In Wirklichkeit fahren die meisten hartgesottenen Surfer auf Hawaii einen so genannten „Surf Beater“. Das ist ein altes Auto mit viel Rost, verblichener Farbe und, wenn man Glück hat, ohne Ungeziefer! Um solche Autos ist es nicht schade, wenn man sie mit Sand, nassen Handtüchern, Badeanzügen, geschmolzenem Wachs und Surfbrettern belädt. Das verleiht dem Auto nur noch mehr Charme. Unseres ist ein ’88er Dodge Caravan mit einer gesprungenen Windschutzscheibe (durch ein zu langes Surfbrett), den mein Vater für dreihundert Dollar gekauft hat. Er versuchte (nicht allzu erfolgreich!), es mit dick aufgetragener blauer Farbe vor Rost zu schützen.

„Wie scheußlich!“, verkündete Mama, als sie Papas Werk betrachtete. Wir verpassten ihm den Spitznamen „Blue Crush“ nach einem Film über surfende Mädchen. Und weil wir alles – crush! – hineinquetschen: Familie, Freunde und die ganze Gang.

Unser Auto mag ja heruntergekommen sein, aber immerhin funktioniert die Stereoanlage sehr gut. Meine Brüder und ich sind musikbegeistert. Ich mag Switchfoot, 12 Stones und moderne geistliche Musik. Meine Mutter mag sie ebenfalls. An jenem Morgen entschieden wir uns für eine CD von der David Crowder Band. Ich drehte sie auf, als das Lied „O Praise Him“ anfing. Mama ermahnte mich: „Nicht so laut! Wir wollen doch nicht die ganze Nachbarschaft wecken.“

Wir platschten auf der langsamen Fahrt durch ein paar Pfützen, vorbei an Princeville, unserer Stadt an der Nordküste. Alles war ruhig und pechschwarz, als wir die windige Straße von den Steilufern zu den Surf-Spots in und um Hanalei Bay entlangfuhren.

Wir ratterten über die einspurige Stahlbrücke, den offiziellen Beginn des North Shore. Diese Brücke ist zu schmal und zu niedrig für große Lastwagen, sodass in diesem Teil der Insel nur Pkw unterwegs sind. Manchmal ist die Brücke wegen starker Regenfälle gesperrt. Die Menschen auf der anderen Seite sind dann von der Außenwelt abgeschnitten. Ich persönlich glaube, dass es den Kindern dort nichts ausmacht: Sie verpassen eben die Schule!

In der Dunkelheit kamen wir an sehr vielen Surf-Spots vorbei: Bay, Bowl, Pavilions, Pine Trees, Middles, Chicken Wings, Wai Koko. Wir steuerten auf das hinterste Ende der Straße namens Pauaeaka zu. Es war zwar noch dunkel, aber bei geöffneten Fenstern konnten wir die Schönheit Hawaiis riechen: duftende Blüten, nasser Boden, Gras und salzige Luft. Ich atmete tief ein und schloss die Augen, damit ich es mir im Geiste ausmalen konnte.

Hawaii kann einen mit allen Sinnen betören. Hier ist es wahrlich zauberhaft und ich möchte an keinem anderen Ort der Welt leben. Ich schaute hinüber zu meiner Mutter, die auch vor sich hinlächelte – ihr ging es genauso wie mir.

Wir fuhren an der alten Waioli-Kirche und dem Missionshaus vorbei, wo einige der ersten Missionare auf Hawaii lebten, arbeiteten und starben. Schließlich überquerten wir am Ende unserer Fahrt eine sehr schmale Holzbrücke.

Die Ruhe vor dem Angriff

Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Ich stieg aus dem Auto und schaute aufs Wasser, aber es war noch zu dunkel, um etwas zu erkennen. Zu hören war ebenso wenig. Wenn die Brandung richtig groß ist, hört man sie schon von Weitem auf das Riff klatschen. „Ist anscheinend nicht viel los heute“, sagte ich zu meiner Mutter.

Schon bald wurde der Himmel im Osten heller und ich konnte sehen, dass die Brandung auch nicht annähernd so stark war wie am Vortag. Die kleinen Wellen dümpelten in das spitze Korallenriff, anstatt darüber hinwegzutosen. Es juckte mich, aufs Brett zu steigen, doch das Wasser würde nicht mitspielen. Wenn man viel surft, gewöhnt man sich an so etwas. Die Insel bietet einige der besten Wellen überhaupt, aber meine Freundinnen und ich werden manchmal an der Nase herumgeführt. Nichts zu machen: Man geht wieder heim und beschäftigt sich anderweitig.

„Kehren wir um“, seufzte meine Mutter. Sie war genauso enttäuscht. „Vielleicht kommt die Brandung ja morgen.“

Ich wusste, wenn ich jetzt nicht surfen ging, würde ich mich mit Sozialkunde, Englisch oder Mathematik befassen müssen. Ich will zwar Profi-Surferin werden und werde zu Hause unterrichtet, um dieses Ziel zu erreichen, aber doch überhäufen mich meine Eltern mit Hausaufgaben.

Als wir losfuhren, machte ich einen letzten Vorstoß: „Lass uns doch mal schauen, wie es am Tunnels Beach aussieht“, schlug ich vor. Tunnels ist nicht weit von Pauaeaka. Er heißt Tunnels, weil sich sandgefüllte Gänge durch die seichten Stellen des Riffs ziehen. Für Touristen ist er eine beliebte Stelle zum Schnorcheln. Surfer lieben ihn, weil es etwas hinter dem Riff eine blitzschnelle Welle gibt, die im Sommer wie im Winter toll ist.

„Na klar, schauen können wir ja mal“, erwiderte meine Mutter. Sie machte unter den Bäumen eine Kehrtwende und fuhr in die letzte freie Parkbucht. Ich ging über den kleinen Sandweg und schaute eine Zeit lang den Wellen zu. Auch nicht viel los. Und entsprechend entwickelte ich auch gar keine Lust, selbst hinauszupaddeln. Ich war also dazu verurteilt, Schularbeiten zu machen, und trabte wieder zu unserem Wagen.

Plötzlich bog ein schwarzer Pick-up auf den Parkplatz ein. Es waren Alana Blanchard, meine beste Freundin, ihr sechzehnjähriger Bruder Byron und ihr Vater Holt. Sie waren wie ich unterwegs, um eine Stelle zum Surfen zu finden. „Okay“, dachte ich, „wird das Ganze doch nicht eine totale Pleite.“

Die Wellen waren zwar lausig, aber alles andere lief glatt: Es war sonnig, das Wasser war warm und ich konnte hier mit meinen Freunden abhängen.

„Mama, kann ich hier bleiben?“, fragte ich. „Wir paddeln vielleicht zu den kleinen Wellen hinaus.“

Man musste nur das Beste daraus machen.

„Dann klär doch bitte mit Holt, ob er dich nach Hause bringt“, rief sie, und damit rannte ich mit meinen Freunden über den Dschungelpfad zum Tunnels Beach. Ich grub meine Zehen in den warmen Sand und betrachtete die aufgehende Sonne, die das blaue Meer anstrahlte. Hier hatte der Regen das Wasser erstaunlicherweise nicht getrübt. An anderen Surf-Spots ergossen sich schlammige Flüsse ins Meer, aber diese Stelle hier war glasklar.

Holt wachste sein Brett ein (damit seine Füße nicht abrutschten). Ich befestigte die Fangleine an meinem linken Fuß und nahm mein Surfbrett von Tim Carroll unter den Arm. Ich freute mich aufs Surfen; ich freute mich, bei meinen Freunden zu sein. Ich spürte das warme Wasser an meinen Knöcheln. Bevor ich hineinsprang, schaute ich auf die Uhr.

Es war 6.40 Uhr an einem wunderschönen Halloween-Morgen.

2. Wurzeln

Ich habe viel von meinen Eltern. Sie haben schon immer unglaublich hart daran gearbeitet, ihre Ziele zu erreichen. Ich weiß, dass viele Teenager ihre Eltern für Außerirdische von einem anderen Stern halten, aber meine finde ich ganz cool. Sie unterstützen mich nicht nur in allem, was ich tun will. Sie inspirieren mich regelrecht, eine tolle Surferin und vor allem ein toller Mensch zu sein.

Mein Vater war absolut verrückt aufs Surfen. Man stelle sich Folgendes vor (ich lache mich bei der Vorstellung jedes Mal halb tot): Ein bitterkalter Winter in Ocean City, New Jersey. Von den Dächern hängen Eiszapfen, über die Gehwege wirbelt der Schnee. Bald sind die Bordsteine zugeweht und an den Hauswänden türmen sich kleine Schneehügel auf. Alle sind schön warm eingemummelt und kratzen das Eis von den Autoscheiben. Da kommt ein hagerer Siebzehnjähriger mit seinem Surfbrett angestapft, Tom Hamilton, mein Papa. Seine Biberschwanzkappe (à la Davy Crockett!) flattert ihm hinterher. Er trägt einen primitiven schwarzen Taucheranzug und hat sich die Achselhöhlen dick mit Vaseline eingeschmiert, damit sie durch den Anzug nicht aufscheuern. Und dieses sonderbare Wesen stapft nun, egal wie es stürmt und schneit, zu seinem Lieblings-Spot von Ocean City, Tenth Street.

Hier trifft er sich mit Monk, seinem besten Kumpel. Die beiden überqueren einen verwaisten, zugefrorenen Strand, um auf dem eisgrauen Atlantik unter Bedingungen zu surfen, die ihnen die Augenbrauen gefrieren lassen. Tom und Monk haben im Sommer 1962 mit dreizehn, vierzehn gemeinsam angefangen zu surfen. Innerhalb weniger Jahre waren die beiden Jungs so von ihrem Sport besessen, dass sie ihn das ganze Jahr über ernsthaft betrieben.

„Im Winter veranstalteten wir die unmöglichsten Dinge, um uns warm zu halten“, erzählte mir mein Vater. „An den Surfbrettern gab es noch keine Leinen. Wenn man also in den Wintermonaten ins Wasser fiel, musste man in brutaler Kälte zum Strand zurückschwimmen. Eine unserer verrückten Ideen war, vor dem Surfen heißes Wasser über unsere Anzüge zu gießen, damit die Kälte nicht gar so schneidend war. Unterwegs zum Strand dampften wir wie Teekessel.“

Ich frage mich immer noch, woher mein Vater wusste, dass er zum Surfen geboren war. Wenn ich ihn darauf anspreche, sagt er mir, das Schicksal habe ihn wohl an die Hand genommen und zu den Wellen geführt.

Seine Eltern George und Mary Hamilton zogen mit ihren vier Kindern mehrmals innerhalb New Jerseys um, bevor sie sich in Ocean City niederließen. Während George seine Zahnarztpraxis aufbaute, sorgte Mary dafür, dass mein Vater, seine beiden Brüder und seine Schwester tüchtig Schwimmsport betrieben.

Eines Tages brachte „Dr. George“, mein Großvater, meinem Vater ein Surfbrett mit. Es war in einer Fabrik maschinell gefertigt worden (im Gegensatz zu einem normalen handgearbeiteten Surfbrett) und man konnte es ausgerechnet in einem Eisenwarenladen kaufen. Ein einziger Versuch und mein Vater war davon gefesselt. Bald gehörten er und Monk zur Surferszene an der Küste von Jersey. Hätte Opa nur geahnt, was für ein tägliches Ritual er damit eingeführt hatte!

Weitergehen

1968 machte mein Vater seinen Abschluss an der Ocean City High School. Aus diesem Anlass schenkten ihm meine Großeltern eine Reise nach Manhattan Beach, Kalifornien, wo er den ganzen Sommer lang surfen konnte. Das war das beste Geschenk, das er sich je vorstellen konnte. Hier konnte er höchstpersönlich die Wellen ausprobieren, die er bisher nur aus Zeitschriften kannte.

Doch Amerika war in einen Krieg verwickelt. Schüler und Studenten wurden nicht mehr zurückgestellt und achtzehnjährige Jungen wurden von überall her eingezogen und in die Urwälder von Vietnam gebracht. In der Hoffnung, er könne noch etwas länger im Land bleiben und surfen, ging mein Vater zu den Reservisten. Aber seine Einheit wurde rasch aufgestellt. Damit er nah am Wasser bleiben konnte, meldete er sich zur Marine.

1970 wurde er nach Vietnam geschickt. Durch den Lärm der schweren Geschütze, mit denen er vom Schiff aus die Truppenbewegungen unterstützen sollte, wurde sein Hörvermögen dauerhaft geschädigt. Und obwohl ein Kriegs-schiff nicht der Ort ist, an dem ein Surfer unbedingt landen will, entpuppte sich auch das letztendlich als Schicksal.

Auf dem Schiff freundete sich mein Vater mit dem jungen Seemann Robby aus Hawaii an, der auch liebend gerne surfen ging. Papa staunte über die unglaublichen Surfgeschichten, die Robby anschaulich erzählte. „Wenn das hier vorbei ist“, sagte Robby wieder und wieder, „kommst du nach Hawaii!“

Weihnachten 1971 besuchte mein Vater erstmals die Inseln. Es war Liebe auf den ersten Blick. Wer könnte schon den warmen tropischen Passatwinden, dem durchsichtigen, einladenden Wasser, den kräftigen Winterwellen und dem lässigen, entspannten Lebensstil widerstehen? „Eines Tages ...“, sagte er zu Robby und machte eine sehnsüchtige Geste zu den Wellen.

Als Vater seinen Militärdienst beendet hatte, ließ er sich in San Diego, Kalifornien, nieder, schrieb sich am Mesa Junior College ein und verbrachte natürlich seine gesamte Freizeit mit Surfen an den Riffs von Sunset Cliff.

Doch er konnte sich nicht gut auf sein Studium konzentrieren. Seine Gedanken wanderten ganz weit weg. Er wurde von dem Wunsch verzehrt, wieder nach Hawaii zu kommen. Und nach zwei Semestern hielten ihn meine Großeltern für vollkommen übergeschnappt, denn Papa schmiss das Studium, nahm seine gesamten Ersparnisse von seinem Teilzeitjob, einen Rucksack und sein Surfbrett und machte sich mit einem einfachen Ticket auf nach Hawaii.