Gerd Zipper
Der Tunnel
Kriminalroman aus SchwäbischGmünd
ProlibrisVerlag
Dieser Roman spielt in Schwäbisch Gmünd, im Ostalbkreis und auf der Schwäbischen Alb. Die Schauplätze sind also authentisch. Der Autor hat sich jedoch die Freiheit genommen, bei einigen»Spielstätten« von der Realität abzuweichen, wenn die Geschichtees erforderte.Figuren, Namen, Handlungen und Ereignisse entspringen alleinder Fantasie des Autors. Übereinstimmungen oder Ähnlichkeitenmit lebenden oder verstorbenen Personen und tatsächlichen Begebenheiten sind nichtbeabsichtigt und wären rein zufällig.
Zybura saß von Hering flankiert an einem Tisch im Festsaal der Dienststelle. Die Journalisten warteten gespannt auf den Beginn der Pressekonferenz. Unruhig sah der Chef der Ostalbpolizei zur Eingangstür.
»Na endlich!«, sagte er leise zu Hering.
Schnellen Schrittes kam Hecht auf ihn zu. Der Polizeidirektor blickte ihn vorwurfsvoll an und sah demonstrativ auf seine Armbanduhr.
»Arzttermin! Tschuldigung!« Hecht war noch außer Atem.
»Doch nichts Ernstes?«, fragte Zybura dann doch besorgt.
»Routinecheck.«
»Hätt ich auch mal nötig«, murmelte Zybura vor sich hin. Er bedeutete ihm, rechts neben ihm Platz zu nehmen. Dann strahlte er in die klickenden Kameras. »Meine Damen und Herren, ich darf Sie ...«, begann Zybura seine Ausführungen über die beiden aufgeklärten Mordfälle.
Zehn Minuten lang stellte er die Ergebnisse der Ermittlungen vor. Gegenüber saßen die Vertreter der Printmedien, der regionalen Radiosender und zweier Fernsehsender. Auch vom LKA aus Stuttgart habe man lobende Anerkennung bekommen. Vor allem deshalb, weil es in Gmünd so eine gute, selbständige Kriminaltechnik gebe. Zybura genoss den Erfolg, auch wenn er sich vor der Presse betont bescheiden gab und die Ergebnisse einfach nur als solide Polizeiarbeit seiner Gmünder Dienststelle abtat. Offiziell würde er es nie zugeben, dass er mächtig stolz auf seine Truppe war, die er doch selbst zusammengestellt hatte.
Heute war das auch nicht nötig – man sah es ihm an.
***
Auch den Fall der alten Skelette konnten sie abschließen – wenn auch nicht zu ihrer Zufriedenheit. Obergfell legte Hering und Hecht einen Abschlussbericht vor. Durch umfangreiche Untersuchungen hatte das Denkmalamt herausgefunden, dass die Gebeinenicht von den Wiedertäufern stammten, die im Jahr 1529 enthauptet worden waren. Die Anthropologen grenzten die Lebenszeit der Toten auf etwa 1711 bis 1777 ein.
Aus welchem Grund die Personen außerhalb des Friedhofes am Remswasen beigesetzt worden waren und wer sie gewesen sind, würde wohl für immer ein Rätsel bleiben. Mona Hering hatte nochmals mit dem Stadtarchivar gesprochen. »Die sterblichen Überreste – von wem auch immer sie stammen mögen – werden eine würdige Bestattung auf dem Leonhardsfriedhof bekommen«, berichtete sie.
Trotzdem wollte man endlich der hingerichteten Täufer gedenken, es sollte eine Feier mit der Enthüllung einer Gedenktafel am Schmiedturm geben. Durch dessen Tor waren die zum Tode Verurteilten zu ihrer Hinrichtungsstätte geführt worden. Die Tafel würde neben der Auflistung der sieben Namen folgende Aufschrift bekommen:
Zur Erinnerung
Sieben Täufer wurden am 7. Dezember 1529 durch den Schmiedturm zur Hinrichtung auf dem Remswasen geführt.
Der große Rat der Freien Reichsstadt Gmünd hatte sie am 4. Dezember 1529 zum Tod durch das Schwert verurteilt.
Über neun Monate Haft, Verhör und Folter hatten sie nicht von ihremGlauben und ihrem Weg der Nachfolge Jesu abbringen können.
***
Hering war happy. Sie setzte sich Hecht gegenüber an den Tisch. Der sah sie aufmerksam an.
»Torben hat versprochen, in den Sommerferien nach Gmünd umzuziehen«, strahlte sie. Ihre Augen leuchteten.
»Toll!«, freute er sich mit ihr.
»Und ich habe Herrn Heckenlaible gebeten, das nächste Grillfest für die Dienststelle zu organisieren.«
»Und?«
»Er hat zugesagt!«
Hecht lächelte zufrieden. Dann fragte er: »Ach ja, haben Sie es schon gehört?«
»Was denn?«
»Sie sind durch!«
Hering schaute ihn fragend an. Sie konnte ihm nicht ganz folgen.
»Vor zwei Stunden erfolgte der Tunneldurchschlag im Osten.«
Die beiden Ermittler saßen im Höhenrestaurant auf dem Segelflugplatz Hornberg. Die großen Panoramafenster und der ausgelichtete Wald ermöglichten einen weiten Blick nach Westen aufdie Albkante. Im Gegensatz zu gestern, erlaubte das Wetter heuteeinen atemberaubenden, kontrastreichen Ausblick auf die Drei Kaiserberge Stuifen, Rechberg und Hohenstaufen. Erst am Horizont verlor sich die Alb im bläulich schimmernden Dunst. Die Aussicht gefiel ihr.
»Wenn Ihr Sohn erst einmal hier ist, werden Sie sich schnell wohlfühlen. Ich helfe Ihnen gerne weiter bei der Wohnungssuche. Und dann auch beim Umzug.«
»Aha! Sie waren das wohl mit den Vermietungsinseraten in den Anzeigenblättern«, vermutete Hering.
Hecht sagte nichts, sah verlegen zum Fenster hinaus. Dann griff er in seine Jackentasche, zog ein Stück Papier heraus, faltete es auf, strich es glatt und legte es wortlos vor ihr auf den Tisch. Sie nahm das Papier und überflog es. Erwartungsvoll musterte er sie.
Sie blickte auf und sah ihn mit einem ungläubigen Blick von unten herauf an. Oben auf dem Blatt stand mit großen BuchstabenAltersgenossenverein 1969 – Aufnahmeantrag. Sie faltete es zusammen, steckte es in ihre Handtasche und sagte lächelnd zu ihm: »Ich überleg‘s mir, dauert ja noch bis zum nächsten Fest. Ach übrigens, das mit Ihrer Versetzung nach Aalen ist vom Tisch. Das war wirklich nur ein Gerücht«, sagte Hering und zwinkerte dabei.
Hechts zufriedenem Gesicht sah man die Erleichterung an.
Sie nahm ihr Weinglas und blickte zum Fenster hinaus. »Ist das schön hier, so urig, die Landschaft, und vor allem die Menschen.«
Er griff nach seinem Weizenglas. Sie prostete ihm zu.
Anton Hecht druckste ein wenig herum und begann dann langsam und vorsichtig: »Dafür, dass Sie einen Doppelnamen tragen, dafür sind Sie eigentlich ganz in Ordnung.«
»Eigentlich hab ich ja auch gar keinen Bindestrich-Namen. Den Schweizer habe ich seit der Scheidung abgelegt und im Norden gelassen. Hier bin ich die Hering, Herr Hecht.«
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2012
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Lektorat: Anette Kleszcz-Wagner
Korrektur: Christiane Helms
Titelfoto: © Panther Media/Ingram Vitantonio Cicorella
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN: 978-3-95475-050-4
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich. 978-3-95475-001-6
www.prolibris-verlag.de
HerzlichenDank
an alle, die mich bei den Recherchen zu diesem Kriminalroman und sonst in irgendeiner Weise unterstützt haben. Vor allem an Almut, Christine, Christof, Dagmar, Daniel, Edwin, Helmut, Herbert und Susanne, an Hermann Staudenmaier, den Leiter der Kriminalpolizei-Außenstelle Schwäbisch Gmünd, und an meine Lektorin Dr. Anette Kleszcz-Wagner.
Anton Hecht dachte an die sieben Toten, die man zwei Tage vor seinem Urlaub mit abgetrennten Köpfen am Stadtrand gefundenhatte. Seine Kollegen hatten den Fall nicht lösen können, das hätteer in der Zeitung gelesen.
Der Kriminalhauptkommissar fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut, über drei Wochen war er nicht im Dienst gewesen. So viel Resturlaub hatte er nie zuvor an einem Stück genommen. Außerdem lagen ihm die bevorstehenden Vorsorgeuntersuchungen im Magen, die zu machen er seiner Frau Simone seit Monaten versprochen hatte. Und nun war er auch noch spät dran an diesem Maimorgen, seinem ersten Arbeitstag. In seiner Garage hatte er lange nach dem Grillspieß suchen müssen, den er sich vor dem Urlaub von seinem Freund und Kollegen Gottfried Heckenlaible für ein Grillfest ausgeliehen hatte und den er nun zurückgeben wollte.
Hechts Weg führte aus seinem Heimatort Weiler in den Bergen, einem südlichen Stadtteil von Schwäbisch Gmünd, in die Innenstadt. Das kleine Dorf mit seinen knapp über tausend Einwohnern lag unterhalb der nördlichen Kante der Schwäbischen Alb, idyllisch umrahmt von drei Ausläuferbergen. Sein Fuß drückte das Gaspedal fast ganz durch. Auf keinen Fall wollte er heute zu spät zum Dienst erscheinen.
Vorsorge! Er war gerade mal fünfzig, kerngesund und kräftig. Aufseine breiten Schultern und seine stattliche Größe von einsneunzig war er immer ein wenig stolz gewesen. Leider hatte der muskulöse Oberkörper von einem kleinen Bauchansatz Verstärkung bekommen. Nun, das Alter ging halt nicht spurlos an einem vorüber. Das volle dunkelblonde Haar war seitlich an den Schläfen bereits stark angegraut. Aber es rahmte ein markantes Gesicht ein, das von seiner Nase mit dem flachen Höcker, einem Erbstück seines Vaters, dominiert wurde. Kantig, aber symmetrisch hatte ein Phantombildzeichner der Polizei seinen Kopf einmal eingeordnet.
Langsam fuhr er prüfend mit der Hand seine braun gebrannten,faltenfreien Wangen hinunter. Erst heute Morgen hatte er sichden Bart abrasiert, der über die Urlaubswochen gewachsen war. Simone konnte sich mit diesen wild wuchernden, borstigen Haaren gar nicht anfreunden. In den letzten Tagen hatte sie ihn mit ihrer Abneigung dagegen derart genervt, dass es in aller Frühe zu einem heftigen Streit gekommen war.
Hecht steuerte seinen VW-Bus in Richtung Stadtzentrum. Die Dienststelle lag auf der Westseite der Innenstadt. Sofort fielen ihm die Wahlplakate mit den Porträts der Stadtratskandidaten auf, die an den Masten der Straßenlampen hingen und die bevorstehenden Kommunalwahlen ankündigten.
Er hatte den VW-Bus vor über zehn Jahren als Wohnmobil ausgebaut, benutzte ihn aber schon lange nicht mehr als solches. Die Ölflecken und die Kettensäge, die hinter dem Beifahrersitz nebendem mehrzackigen Grillspieß lag, zeugten davon, dass der Wagenseit Längerem als reines Transportfahrzeug zweckentfremdet wurde.
In den Schubladen und offenen Schränken lagen Baumscheren,Seile und weiteres, für die Garten- und Waldarbeit nützliches Gerät. An der Vorderseite des Wagens war über der Stoßstange eine Seilwinde montiert. Ein Außenstehender konnte den Eindruck gewinnen, es handele sich um ein Fahrzeug des Forstbetriebes.
Hechts Laune hielt sich in Grenzen. Der Zoff heute früh hatte ihm zugesetzt und ging ihm nicht aus dem Kopf. In letzter Zeit kam es oft zu heftigem Streit mit Simone. Der Grund war meistens das jüngere ihrer beiden Kinder – Sohn Stefan.
Hecht fuhr nun auf den rot bemalten Minikreisverkehr zu, von den Gmündern Pizzakreisel genannt, kam dort aber ein wenigvon der Fahrbahn ab und rumpelte über die nur leicht erhöhte,befahrbare Mittelinsel. Dann gab es einen Knall, als hinten imWagen der Grillspieß umfiel. Er war etwa eineinhalb Meter lang und mit vier verstellbaren, doppelten Haltespießen bestückt. An einem Ende befand sich ein Griff aus Holz, am anderen eine Kupplung zum Anschluss eines Elektromotors.
»Das Teil könnte man auch als Waffe benutzen«, schoss es dem Schwaben durch den Kopf. Gleich darauf sprangen seine Gedanken wieder wild in seinem Kopf herum.
Bereits vor Monaten hatte er sich im oberen Stock seines Hausesein eigenes Zimmer mit Bett und Fernseher eingerichtet. Seitdem,so war er sich sicher, hatten die Streitereien mit Simone nachgelassen.
Auch die Gerüchte über seine Versetzung zur Polizeidirektionin die Kreisstadt Aalen bereiteten ihm Kopfzerbrechen. Eine Tätigkeit in der Abteilung Staatsschutz war nicht sein Ding. Und dann noch der lange Weg zur Dienststelle. Das wäre das Letzte, was er jetzt gebrauchen könnte.
Die Fahrt führte ein Stück an der von hohen Bäumen begrenzten Uferstraße entlang. Jetzt war es nicht mehr weit bis zu dem vierstöckigen Jugendstilhaus, in dessen Ostflügel das Polizeirevier und die Kriminalpolizei-Außenstelle untergebracht waren.
Seit 1973 schon war Schwäbisch Gmünd nicht mehr Kreisstadt und hatte auch die Polizeidirektion nach Aalen, den Sitz des neuentstandenen Ostalbkreises, abgeben müssen. Ein Umstand, den vieleältere Gmünder – auch Hecht – heute, fast vier Jahrzehnte später, immer noch nicht verwunden hatten.
***
Der Hauptkommissar bog in den Hof der Dienststelle ein. Kurzvor der Abfahrt in die Tiefgarage stand ein metallicbraunes Käfer-Cabriolet mit dem Kfz-Kennzeichen KI auf seinem Parkplatz.
»So ein Seckel!«, entfuhr es ihm, und er überlegte, ob er denWagen zuparken sollte. Es war ein Oldtimer, für den er schonimmer eine Schwäche hatte. Sein erstes Auto war ebenfalls ein VW gewesen, ein Spar-Käfer. Da war nicht nur an der Ausstattung gespart worden, sondern auch mit nur 34 an der PS-Zahl.
Nein! Das wäre Nötigung und könnte ganz schön teuer werden, sagte er sich.
Er stellte seinen VW-Bus kurzerhand auf einen weiter entfernt liegenden Parkplatz, hinter dem ein kleines Schild mit der Aufschrift »Leiter Kriminalpolizei« stand. Den benutzte derzeit sowieso niemand, denn sein neuer Chef, Kriminaloberrat Jochen Herkommer, sollte erst nächste Woche seinen Dienst antreten. Und so lange war immer noch er selbst, Anton Hecht, Leiter des Dezernats 1, genauer gesagt des Dezernats für Tötungs-, Brand-,Sexual-, Jugenddelikte und Kriminaltechnik, auch der stellvertretende Chef der Kripo Schwäbisch Gmünd.
Hecht schwang sich aus dem Wagen und sah an dem monumentalen Gebäude hinauf. Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht. Er musste sich eingestehen, doch froh zu sein, wieder ins Büro zu kommen. Mit dem Grillspieß bewaffnet, stapfte er in seinen stark profilierten Trekkingschuhen die Treppe zum Reviereingang hoch. Trotz seiner zwei Zentner Gewicht war sein Gang leicht federnd.
Mit dem Spieß zwängte er sich durch die Eingangstür und ging an den großflächigen Panzerglasscheiben vorbei, die den Funk- und Wachraum des Reviers vom öffentlichen Bereich trennten. Hinter der Glaswand fiel Hecht eine gutaussehende Frau in einem grauen Geschäftskostüm auf, die auf einer Holzbank seitlich des Treppenaufganges saß. Neben ihr auf der Bank stand eine großeAktentasche, und an ihrer Seite baumelte eine kleine, goldbesetzteHandtasche aus dunkelgrauem Leder. Ihre makellosen, schlankenBeine, die sie übereinandergeschlagen hatte, endeten in eleganten schwarzen Pumps. Prüfend strich sie über ihr honigblondes Haar,sie hatte es zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. An ihrenOhren blitzten kleine goldene Perlenohrringe. Nun trug sie hastig Lipgloss auf ihre schmalen Lippen auf.
Als die beiden Uniformierten hinter der Glaswand den Vize-Kripochef erblickten, grüßten sie kurz und deuteten heftig mit dem Kopf in Richtung Holzbank. Hecht erwiderte den Gruß und machte den Kollegen gestikulierend klar, dass er nicht blind sei und diese adrett gekleidete Dame bereits bemerkt habe.
Das Surren der Glastür signalisierte endlich deren Öffnung. Hecht trat, den sperrigen Spieß neben sich hertragend, durch dieTür und marschierte auf das Treppenhaus zu. Die Frau, er schätztesie auf Mitte vierzig, packte rasch ihre Utensilien in die Handtasche. Sie stand auf, begab sich ebenfalls in Richtung Treppe, lächelte und nickte ihm grüßend zu.
»Guten Morgen«, murmelte der Hauptkommissar.
Einen kurzen Moment gingen beide nebeneinander die Treppe hinauf. Sofort nahm Hecht ihr Parfüm wahr, sog es regelrecht ein. Für einen Augenblick schloss er die Augen. Es roch leicht süßlich, nicht etwa aufdringlich. Dennoch, in dieser Situation …
»Noch etwas intensiver, das wäre schon übertrieben gewesen«, dachte er sich.
Die Frau sah auf ihre Armbanduhr. Sie ging schneller und nahm plötzlich zwei Stufen auf einmal. Sie zu beobachten forderte Hechts ganze Aufmerksamkeit. Den Spieß in seiner Hand hatte er vergessen. Er schlenkerte an seinem linken Arm, schwang vor ihm weit aus und zurück seitlich in ihren Rock hinein. Zwei der abgewinkelten Metallspitzen verhakten sich in dem Stoff. Die pendelnde Bewegung wurde brüsk gestoppt, und der Spieß entglitt seiner Hand, krachte auf den Boden. Die Frau erschrak.
»Na klasse!«, rief sie. Sie ließ ihre Aktentasche fallen und widmete sich sofort dem Schaden. Die Metallspitzen steckten in dem Rock fest.
Hecht entfuhr ein verlegenes »Tschuldigung«. Er kniete vor ihr nieder und probierte, den Spieß zu befreien. »Des haben wir gleich«, versuchte er, die Situation zu retten und die Frau zu beruhigen.
Mit Geduld und Umsicht wäre dieses Malheur problemlos zu beseitigen gewesen. Hecht aber wollte die Sache so schnell wie möglich in Ordnung bringen. Seine Hände zitterten. Die Frau bemerkte es, doch bevor sie eingreifen konnte, war ein lautes Geräusch von zerreißendem Stoff zu hören. Das Ergebnis waren zwei lange Risse – aber der Rock war vom Grillspieß befreit.
»Das darf doch nicht ...!«, rief die Frau entsetzt.
»Ich, ich ersetz Ihnen den Schaden«, stotterte Hecht kleinlaut.
Fassungslos hielt sie die Stofffetzen in den Händen, schüttelte immer wieder den Kopf.
»Ich glaub’s ja nicht!«
»Kann man vielleicht wieder zusammennähen«, schlug er vor, aber es klang nicht sehr hoffnungsfroh.
»Oh Gott!« Die Frau atmete tief ein, verdrehte die Augen genervtzur Decke und entschwand ohne ein weiteres Wort in den zweiten Stock.
Hecht tat es ja leid, aber warum war sie jetzt so überstürzt verschwunden, ohne mit ihm über eine Schadensregelung zu sprechen? »Sicher wieder eine dieser karrieregeilen Rechtsanwältinnen«, dachte er sich. Und die, die hatte er sowieso gefressen. Hattenseine Kollegen und er nach aufwändigen und langwierigen Ermittlungen die Täter ausfindig gemacht und festgenommen, eisten Leute wie diese sie mit irgendwelchen Tricks wieder los. Und er konnte nichts dagegen tun.
***
Mit einem fröhlichen »Morgen!« rauschte Jennifer Funk in einem kurzen Rock und hochhackigen Schuhen aus dem Vorzimmer, das zwischen Hechts Büro und dem Zimmer des Kripoleiters lag. Verblüfft sah Hecht der jungen Polizeimeisterin nach. Seit sie auf dem Revier war, hatte er die Schwarzhaarige noch nie so gekleidet gesehen.
»Die macht echt was her ohne Uniform«, musste er lächelnd zugeben und fragte sich, warum sie heute keine trug.
Auf Hechts Schreibtisch stand wie immer eine Kanne mit seinem Morgenmuffel-Kräutertee, den Nelli Tomberg jeden Morgen für ihn zubereitete. Er wusste das zu schätzen und freute sich, dass sie auch nach seinem langen Urlaub gleich wieder daran gedacht hatte. Die quirlige Polizeisekretärin kam aus dem Fest- und Versammlungssaal zurück, der wie die Räume der Kripo im zweiten Stock lag. Darin fanden die größeren Veranstaltungen der Dienststelle statt. Schon in aller Frühe hatte sie heute Getränke und Butterbrezeln hergerichtet.
Das Alter von neunundzwanzig sah man der einsfünfundsiebziggroßen, jugendlich wirkenden Frau nicht an. Ihr gewelltes kastanienbraunes Haar reichte bis zu den Schultern. In ihrem immer freundlich dreinschauenden Gesicht lagen ein breiter Mund mitvollen Lippen und dunkelbraune, fast schwarze Augen. Ihr Lächelnhatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem der Mona Lisa, wie Hecht einmal treffend festgestellt hatte.
Noch bevor er sie richtig begrüßen konnte, betrat ein kleiner, untersetzter Mann sein Büro. Behäbig mit dem Oberkörper wiegend, ging der Kriminaltechniker Gottfried Heckenlaible lachend auf seinen Chef zu. Sein rundliches Gesicht und die Glatze mit dem kurz geschorenen grauen Haarkranz erinnerten an das Aussehen eines mittelalterlichen Mönches.
»Ja, lebst du auch noch? Wird Zeit, dass du mal wieder was arbeitest!«, rief er ihm in breitestem Schwäbisch zu. Hecht erwiderteden Gruß und spürte, dass Gottfrieds Freude ehrlich war. Er wolltenach dem Grillspieß greifen, der an seinem Schreibtisch lehnte.
»Später!«, wiegelte Heckenlaible ab.
Der Mittfünfziger war begeisterter Hobbygriller und seit vielen Jahren Vorsitzender des Grillsportvereins Entenbrust.
Auch er hatte sich – anders als sonst – mit Stoffhose und offen stehendem grauen Jackett in Schale geworfen. Hecht musste grinsen, denn das knapp sitzende Teil stammte wohl aus einer Zeit, als er noch nicht diesen stattlichen Bauch vor sich hergeschoben hatte. Dann glitt sein Blick weiter und er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können, als er durch die offene Tür in das Büro des Kripoleiters schaute. Auf dem Schreibtisch stand ein großer Strauß frischer Blumen.
»Heiratet hier jemand?«, fragte er ungläubig.
»Wenn du das so nennen willst«, sagte Heckenlaible und grinsteihn an.
Für eine weitere Antwort blieb keine Zeit, denn Sascha Obergfell erschien hilfesuchend mit einer Krawatte in der Hand in Tombergs Zimmer. Sie wollte nicht so recht zu dem kleinen Silberohrring und dem sehr leichten Hemd passen, durch das ein durchtrainierter Körper schimmerte. »Guten Morgen, Chef«, riefder junge Kriminalkommissar durch die Tür in Hechts Büro hinüber.
Vor dem Spiegel über dem Waschbecken versuchte er, seine Krawatte zu binden. Der Einmeterachtzigmann musste sich ein wenig bücken, um sich richtig betrachten zu können. Frau Tomberg beschlich die Befürchtung, er könne sich strangulieren.
Hecht blickte aus dem Fenster. Gerade verschwand der Dienst-Mercedes des Polizeipräsidenten aus Stuttgart in der Abfahrt zur Tiefgarage.
»Ein Haufen hoher Viecher, Silberfische und Goldfasanen aus Stuttgart und Aalen haben sich angesagt«, sagte Heckenlaible voller Ehrfurcht vor den silberfarbenen Sternen auf den Schulterklappen des gehobenen und den goldenen des höheren Dienstes. Er sah auf die Uhr und verließ eilig Hechts Büro.
Hecht ging seiner Verwunderung nicht nach, sondern wandte sich Obergfell zu, der noch immer mit seiner Krawatte kämpfte.
»Sascha, was hat sich denn bei den sieben Skeletten ergeben?«
Obergfell schaute ihn aus seinen leuchtend blauen Augen an, bei denen Frauen weiche Knie bekamen.
»Tja Chef, das ist echt ein Ding ...,« setzte er zur Antwort an.
»Beeilung meine Herren!«, rief Frau Tomberg mahnend dazwischen.
»... erzähl’ ich dir nachher.«
»Gleich halb neun!«, rief die Polizeisekretärin und versuchte, ihrerMahnung Nachdruck zu verleihen, indem sie mit ihrem abgewinkelten Finger in schnellen Abständen auf ihre Armbanduhr klopfte. Hecht sah sie fragend an. »Ach so, das wussten Sie ja gar nicht. Einführung des neuen Chefs, ähm ...«
»Jetzt schon?«, unterbrach er sie erstaunt.
»Ganz kurzfristig. Wussten wir bis vorgestern auch nicht. Halb neun im Festsaal, dann Pressekonferenz, anschließend Führungskräftebesprechung.«
»Hhm, komisch«, dachte sich Hecht, »dann muss der Herkommer doch früher aus Aalen weggekommen sein.«
Er freute sich schon auf die Zusammenarbeit mit ihm. Der Kriminaloberrat war in seinen Augen ein unkomplizierter, pragmatischer und äußerst kompetenter Polizist. Eben ein Chef nach seinem Geschmack, mit dem man geschirren konnte, wie er es ausdrückte.
Tomberg musterte Hecht von oben bis unten, was diesen dazu veranlasste, ebenfalls an sich hinunterzusehen. Unter seiner sandfarbenen Weste trug er ein kleinkariertes rotbraunes Hemd, das in einer Outdoor-Hose steckte, die in leichten Falten auf den Trekkingschuhen aufstand.
»Chef! Also, ich will ja nichts, ähm, aber mit dem Outfit ... Finden Sie nicht, das ist ein bisschen underdressed? Sieht Crocodile-Dundee-mäßig aus.«
»Ich hab es ja nicht gewusst, hättet mich ja mal anrufen können«,blaffte er. »Mist, was mach ich jetzt?« Hecht blickte bedröppelt drein. Anzug und Krawatte zog er immer nur bei besonderen Anlässen wie Pressekonferenzen an, wenn er von höherer Stelledazu gezwungen wurde.
Die Augen der jungen Frau blitzten auf. »Ich könnte Ihnen schnell was besorgen.«
Hecht war erleichtert.
»Aus unserem Fundus unterm Dach«, sagte Frau Tomberg.
Hecht sah sie skeptisch an. Dort war Kleidung der unterschiedlichsten Art für Undercover-Einsätze und Observationen gelagert.»Bis wir da was Passendes ...« Weiter kam er nicht.
Jenny Funk streckte kurz ihren Kopf zur Tür herein und rief: »Auf, es geht los!«
Hecht schnaufte resignierend. Frau Tomberg verzog das Gesicht und meinte: »Dann ziehen Sie wenigstens diese Weste aus.«
***
Seit zwei Jahren gab es im Talkessel von Schwäbisch Gmünd einekilometerlange Großbaustelle für die neue Ortsumgehung der Bundesstraße 29. Diese sollte auf einer Länge von mehr als zweitausend Metern durch den Lindenfirsttunnel nördlich um die City herumführen und die Stadt vom starken Durchgangsverkehr und Feinstaub entlasten. Zuerst hatte man an den beiden Tunnelenden im Osten und im Westen begonnen, riesige Betonbauwerke für die Tunnelzufahrten zu bauen. Nur von der Westseite aus war man dann in den Berg hineingestoßen, um einen Fahrtunnel und einen parallel dazu verlaufenden Rettungsstollen auszuschachten.
Für Franz Galeitner, den aus Österreich stammenden Baggerfahrer, war heute ein Tag wie jeder andere in den letzten Monaten. Wie immer galt es, Erdreich auszuheben und auf einen Lkw zu verladen. Der Boden hier konnte wichtige historische Spuren enthalten. Deshalb waren die Maschinenführer ausdrücklich zur Umsicht bei den Ausschachtungen angehalten. Er ging also vorsichtig ans Werk.
***
Oberkommissar Heckenlaible hatte sich strategisch geschickt direktneben dem Tisch mit den Butterbrezeln und anderem Partygebäck in Stellung gebracht. Obergfell nestelte immer noch an seiner Krawatte herum, bis Frau Tomberg es nicht mehr mit ansehen konnte. Mit einem schnellen Griff zog sie ihm das Teil über den Kopf und stopfte es in seine Jackettasche. Erleichtert ließ er seinen Blick schweifen und blieb fasziniert an der gestylten Jenny Funk hängen. Sie hatte die Szene von der gegenüberliegenden Seite des Saales amüsiert beobachtet und genoss nun seine stille Bewunderung, ließ sich aber nichts anmerken und konzentrierte sich aufden Landespolizeipräsidenten Horst Schonter, der mit HeinzZybura,dem Leiter der Polizeidirektion Aalen, den Raum betreten und sich in der Nähe des Rednerpults aufgebaut hatte.Währenddessen hatte Hecht versucht, Herkommer unter den Anwesenden auszumachen, hatte ihn allerdings bisher nirgends entdeckt.
Alle Kollegen der Kripo und beinahe die gesamte Gmünder Dienststelle der Schutzpolizei waren angetreten. Darunter auch zwei junge Kollegen in den neuen dunkelblauen Uniformen. Hecht fand, sie sahen mit den weißen Schildmützen wie Angehörige der Küstenwache aus. Nein, mit diesem Outfit konnte er sich nicht anfreunden.
Viele hochrangige Beamte und der Pressesprecher der Polizeidirektion des Ostalbkreises waren aus der Kreisstadt Aalen gekommen. Auch Vertreter der Gmünder Stadtverwaltung, wie der Erste Bürgermeister, die Leiterin des Ordnungsamtes und der Stadtbrandmeister, nahmen sich Zeit für die Amtseinführung. Selbst die Anwältin mit ihrem zerrissenen Rock war zu Hechts Verwunderung unter den Anwesenden. Sie unterhielt sich angeregt mit dem Revierleiter, Polizeioberrat Thomas Eisele. Unauffällig schob sich Hecht in die hinterste Position, die Kollegen als Deckung benutzend.
Der hohe Geräuschpegel der sich unterhaltenden Zuhörer sank langsam, als der Polizeipräsident ans Rednerpult trat. Er begann seine Ausführungen mit der Klage über die andauernde chronische Unterbesetzung der Polizei, kam aber gleich auf die neue Leitung der Gmünder Kripo mit ihren dreißig Mitarbeitern zu sprechen. Vor allem zeigte er sich erfreut, dass diese wichtige Führungsposition so schnell wieder besetzt werden konnte. Nebenbei erwähnte er, dass Herkommer bereits letzte Woche kurzfristig die Stelle beim Landeskriminalamt in Stuttgart angetreten hatte.
Hecht musste schlucken. Was war das jetzt? War er im falschen Film?, fragte er sich. »Herkommer beim LKA? Wer sollte dann die Leitung der Gmünder Kripo übernehmen?« Er schaute sich schnell um und wunderte sich, dass die Nachricht keinen der anderen Anwesenden zu überraschen schien. Niemand erwiderte seinen fragenden Blick in die Runde.
Viele Namen schwirrten ihm durch den Kopf und er malte sich die unterschiedlichsten Szenarien aus. Mit seinen Gedanken war er woanders, nahm Schonters Worte eine Zeitlang nur noch bruchstückhaft wahr. Er wurde erst wieder aus seinen Überlegungen gerissen, als dieser sagte: »... freue ich mich, mit Frau Kriminaloberrätin Mona Hering-Schweizer kurzfristig eine geeignete Leiterin gefunden zu haben. Frau Hering-Schweizer kommt aus Kiel und kann auf viele Einsatzgebiete zurückblicken. Darüber hinaus verfügt sie über eine hohe fachliche und soziale Kompetenz, mit der sie die sehr gute Arbeit der Kripo Schwäbisch Gmünd fortführen und weiterentwickeln wird.«
Die Anwesenden applaudierten. Hecht erbleichte, als er die »Anwältin« neben Schonter ans Rednerpult treten sah. Wäre irgendwo ein noch so kleines Loch gewesen, er wäre am liebsten darin verschwunden. Es dauerte eine Weile, bis er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. »Eine Muschelschubserin«, war das Erste, was ihm einfiel.
Die ganze Zeit über hatte er schon versucht, einen Blick auf den Schaden an ihrem Kostüm zu erhaschen. Doch den verdeckte sie mit ihrer Handtasche so geschickt, dass er von vorn nicht zu sehen war. Außerdem hatte Frau Tomberg – wie er später erfahren sollte – natürlich sofort Sicherheitsnadeln zur Hand, mit denen sie die Risse sehr notdürftig geflickt hatte.
Die nächsten Sätze ließen ihn wieder aufhorchen. Schonter dankte Hecht und lobte ihn für seine mehrmonatige Arbeit als kommissarischer Leiter der Gmünder Kripo. Dann zählte er kurzden Werdegang der neuen Kripochefin auf. Er erwähnte, dassdie Volljuristin zuletzt die Leitung des Dezernats »Beobachtung Organisierte Kriminalität« beim Landesamt für Verfassungsschutz Kiel innehatte.
»Heilig’s Bügeleisen! Und auch noch eine Sesselfurzerin. Des wird interessant«, sagte Hecht leise vor sich hin, doch gerade laut genug, dass Heckenlaible es hören konnte, der inzwischen, nachdem er sich reichlich bedient hatte, neben ihm stand und ihn grinsend ansah. An seiner Unterlippe lief ein Tropfen zerlaufener Butter hinunter.
Schonter übergab an den obersten Chef aller Polizisten im Ostalbkreis, Heinz Zybura. Mit seinen silbergrau melierten, vollen Haaren und seiner feldherrnhaften Gestik hatte der Endfünfziger bei seinen Auftritten etwas von der Zackigkeit eines preußischen Offiziers an sich. In aller Deutlichkeit ging der Polizeidirektor, mit einem kleinen Seitenhieb auf das Innenministerium, ebenfalls auf die schlechte Personalsituation der Polizei ein. Vor allem an dem landesweiten Abbau von über eintausend Stellen und an den vielen Überstunden, die gar nicht mehr abgefeiert werden konnten, nahm Zybura Anstoß. Wegen der dünnen Personaldecke auch in Schwäbisch Gmünd musste manchmal die Bereitschaftspolizei aus dem zwanzig Kilometer entfernten Göppingen hier aushelfen. Er sprach das aus, was alle wussten und kritisierten. Doch ander Situation hatte sich seit Jahren nichts geändert. Manche Stellen waren nach Versetzungen oder Eintritt in den Ruhestand weiter unbesetzt.
»Schwäbisch Gmünd ist trotzdem eine der sichersten Städte in Baden-Württemberg«, verkündete Zybura. »Die Kriminalität in der Stadt ist leicht rückläufig, die Aufklärungsquote liegt bei fastsechzig Prozent«, sagte er stolz. »Das ist der ausgezeichneten Arbeitder Kollegen vor Ort zu verdanken. Die Gmünder Polizei ist überdurchschnittlich präsent und leistet gute Präventionsarbeit.«
Hecht nahm alle diese Worte kaum wahr. Seine Gedanken kreisten um die neue Chefin, versuchten sich die künftige Zusammenarbeit mit ihr vorzustellen. Des wird was werden, nach meinersauberen Einführung von vorhin. Dann ließ etwas in Zyburas Redeihn aufhorchen.
»Kurzum, die außergewöhnliche Situation erfordert eine ungewöhnliche Neuerung.« Der Ton des Polizeidirektors klang jetzt versöhnlicher. Dann erfolgte ein Satz, der Hecht erstarren ließ. »Angesichts der unbesetzten Stellen wird sich Frau Hering-Schweizer bis auf Weiteres bei Bedarf an den Ermittlungen des Dezernats 1 beteiligen.«
Hecht konnte nicht recht glauben, was er da hörte. Es durchzuckte ihn vom Kopf bis zu den Zehen. Das betraf ja ihn. Er würdemit dieser Sesselfurzerin eng zusammenarbeiten müssen, und was am schlimmsten war, nicht mehr sein eigener Chef sein. Ihn schauderte. Dann wurde ihm plötzlich ganz heiß.
Mona Hering-Schweizer verzog indessen keine Miene, sah zufrieden auf den Polizeidirektor. Ab und zu schweifte ihr Blick beobachtend in die Runde.
»Ihnen, liebe Frau Kollegin, wünsche ich alles Gute, stets eine glückliche Hand und einen guten Start in Schwäbisch Gmünd«,schloss Zybura seine Ausführungen. »So, und nun darf ich Sie alle noch zu einem kleinen Imbiss bitten.« Er deutete in Richtung der Tische, auf denen Getränke, Butterbrezeln und weiteres Gebäck hergerichtet waren.
Kurzer Beifall setzte ein. Heckenlaible war der Erste, der wieder eine Brezel und ein Glas Sekt in der Hand hatte. Hecht musste sich erst sammeln. Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Ja, isst du denn nichts«, ertönte eine Stimme hinter ihm. »Wenn es heute schon nichts kostet.« Es war Heckenlaible, der plötzlich erneut neben ihm stand und ihm eine Butterbrezel hinstreckte.
»Mir ist der Appetit vergangen«, sagte Hecht und verzog die Mundwinkel.
»Und? Was meinst du dazu?«, wollte Heckenlaible mampfend von ihm wissen. Ein leichtes Grinsen lag auf seinem Gesicht.
Hecht drehte seinen Kopf zu Heckenlaibles Ohr und beugte sich zu ihm hinunter. »Frauen mit Doppelnamen sind gefährlich«, flüsterte er.
»Hhm«, meinte Heckenlaible mit vollem Munde kauend. Hecht wusste jetzt nicht, ob er das als Zustimmung werten konnte. Heckenlaible entzog sich jeder weiteren Diskussion, indem er sich mit dem Handrücken den Mund abwischte und in Richtung Buffet davonwatschelte.
Abwartend sah Hecht zu seiner neuen Chefin hinüber, die an der Fensterfront stand und sich angeregt mit Schonter unterhielt, dabei immer wieder kleine Schlucke aus ihrem Sektglas nahm. Der Polizeipräsident deutete mehrmals in Richtung Hecht und verabschiedete sich.
Mona Hering-Schweizer atmete tief durch und nahm ein zweites Glas vom Tisch. Entschlossen marschierte sie auf Hecht zu, streckte es ihm hin und sagte in versöhnlichem Ton: »Auf gute Zusammenarbeit!« Und trank einen Schluck.
Hecht war verdattert. Wie in Trance griff er nach dem Glas und hob es kurz in ihre Richtung. Beim Trinken verschluckte er sich fast. Langsam reichte er ihr seine Hand und brachte zunächst keinen Ton heraus. Nur zu einem kraftlosen Gekrächze »Hecht, Anton Hecht«, war er fähig.
»Hering, Mona«, entgegnete sie und musste lachen. Auch er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Tut mir leid, dass ich auf Ihrem Parkplatz stehe. In der Wache unten hat es geheißen, Sie seien auf Urlaub.«
»Schon gut«, wehrte er mit der Hand ab. »Was soll dann ich sagen?«, ergänzte er und deutete auf den Schaden an ihrem Rock. Ihm war diese Nummer, die er da vorhin mit dem Spieß abgeliefert hatte, immer noch peinlich.
Hering sah ihm das an. »Haben Sie für das Ding überhaupt einenWaffenschein?«, fragte sie mit einem Lächeln.
Hecht wollte antworten. Doch er kam nicht mehr dazu. Zybura war zu den beiden herangetreten und prostete ihnen zu.
»Frau Hering-Schweizer! Herr Hecht!« Plötzlich stutzte er und fing an schallend zu lachen. »Hecht und Hering, haha ... da können Sie ...«, Zybura begann sich vor Lachen zu schütteln, »da können Sie ja zusammen ein Aquarium aufmachen«, brachte er zwischen zwei Glucksern heraus.
Hering und Hecht lächelten gequält.
Obwohl die weiter entfernt Stehenden nicht wussten, worum es ging, fielen einige von ihnen in Zyburas lautes Gelächter ein.
»Der war, der war echt saugut, Herr Polizeidirektor«, versuchteHeckenlaible die Situation zu beenden. Hecht sah Heckenlaible nur verständnislos an und verdrehte genervt die Augen.
»Nicht wahr, hhgrr?« Das war zu viel, Zybura verschluckte sich am Bissen einer kleinen Schinken-Schneckennudel und konnte nicht aufhören zu husten, bis ihm Frau Tomberg mehrmals kräftig mit der flachen Hand auf den Rücken klopfte und ihm eine Serviette reichte. Er sah sie dankbar an.
»Herr Hecht, das mit meiner Einbeziehung in laufende Ermittlungen, also nicht, dass Sie glauben … das ist nicht auf meinem Mist gewachsen«, sagte Hering, als sie wieder allein waren.
Hecht nickte verständnisvoll. »Ich kenne den Zybura.«
»Wir sollten die Gunst der Stunde nutzen ...«, sagte Hering.
»... und uns um Verstärkung bemühen?«, fragte Hecht.
»Ja.«
»Können Sie vergessen.«
»Das werden wir ja sehen.«
»Und woher so schnell?«
»Schutzpolizei.«
»Also, wenn Sie des hinkriegen, dann ...«, sagte Hecht.
Hering drückte ihm ihr leeres Sektglas in die Hand und ging zu Zybura hinüber.
***
Die stählern-grauen Schneidezähne der Baggerschaufel gruben sich langsam in den weichen Boden. Gefühlvoll, mit kaum wahrnehmbaren Bewegungen, bediente Franz Galeitner die Steuerungshebel im Führerhaus. In eineinhalb Metern Tiefe legte er ein Stück Tuch frei, das seine Aufmerksamkeit erweckte. Er war nun noch vorsichtiger, räumte weiter Erde ab, bis erkennbar wurde, dass etwas darin eingewickelt war. Was genau es war, konnte er von seinem Führersitz aus nicht erkennen. Über die breite, lehmverschmierte Kette sprang er von seinem Bagger herunter und stieg in den Graben hinab. Vorsichtig schob er mit einem Spaten die brüchige, sackartige Hülle beiseite.
Wie ein Stich fuhr es in seinen Magen. Sein Gesicht wurde augenblicklich aschfahl. Er drehte sich zur Seite und suchte heftig schluckend mit den Händen Halt an der Grabenwand. Aus den Resten des Gewebes schauten ein Menschenschädel und ein skelettierter Fuß heraus.
***
In Herings Büro saß neben Hecht, Obergfell und Heckenlaible auch der Leiter des Dezernats 2, das für Raub, Erpressung, Diebstahl, Fahndung und für Wirtschafts- und Rauschgiftkriminalität zuständig war. Sie hatten sich um den kleinen Besprechungstisch gruppiert. Vor ihnen lagen Aktenmappen mit allen derzeit laufenden Ermittlungen, über die sie die neue Kripochefin in knapper Form informieren sollten. Hecht allerdings hatte damit ein Problem. Während seines Urlaubs sollten seine Mitarbeiter klären, ob die auf der Tunnel-Baustelle gefundenen sieben Leichen zu einem aktuellen Kriminalfall gehörten. Nur hatte er wegen derAmtseinführung immer noch keine genauen Informationen darüber von Obergfell erhalten. Das musste er nun nachholen und wandte sich an den jungen Kommissar: »Was ist jetzt mit den Skeletten, die wir am Remswasen gefunden haben?«
»Wir haben mit dem Stadtarchivar gesprochen.«
»Und?«
»Todeszeitpunkt der sieben könnte der 7. Dezember 1529 sein.«
Hecht machte ein ungläubiges Gesicht und sah seinen jungen Kollegen skeptisch an. »Ach, komm!«, entfuhr es ihm.
Auch die Kriminaloberrätin, die am Kopfende des Tisches saß, lehnte sich langsam in ihren Stuhl zurück und wartete gespannt auf Obergfells weitere Informationen. Außer ein paar knappen Fragen, hatte sie sich bisher zurückgehalten.
»Ja, nach der vollständigen Freilegung mussten wir davon ausgehen, dass sie schon seit mehreren Jahrhunderten in der Erde liegen«, fuhr Obergfell fort. »Also haben wir im Stadtarchiv nachgeforscht. Es könnte sich um Wiedertäufer handeln, die damals hingerichtet wurden, weil sie ihrem Glauben nicht abschwören wollten. Die Auffindesituation spricht dafür.«
Ungläubiges Staunen lag auf allen Gesichtern.
»Auffindesituation?«, fragte Hering.
»Die Toten lagen sehr dicht beieinander. Die Staatsanwaltschaft Ellwangen meint, dass die Knochen aller Voraussicht nach keine strafrechtliche Relevanz haben.«
»Das heißt für uns?«, fragte Hecht.
»Die Gebeine sind zur weiteren Untersuchung freigegeben«, ergänzte Obergfell.
»Im Klartext, die Anthropologen vom Landesdenkmalamt sind jetzt dran«, stellte Hecht fest.
Obergfell bestätigte kopfnickend. »Wir haben die Skelette an die Fachstelle für Knochenuntersuchungen in Konstanz abgegeben.«
»Und das Alter der Knochen kann man so genau feststellen?«, fragte Hering.
»C14-Methode«, mischte sich Heckenlaible ein, der bisher etwas teilnahmslos am Tisch gesessen hatte und dem fast die Augenzufielen. Vermutlich war es der viele Sekt und die restlichen fünfButterbrezeln, die er auf Frau Tombergs Drängen aufessen musste.
Hering sah interessiert zu ihm hinüber und wartete auf weitere Erklärungen. Nun musste Heckenlaible aufwachen.
***
Mit saurer Miene saß Frau Tomberg in ihrem Vorzimmer und sortierte Spesenabrechnungen. Auch dies gehörte, ob sie wollte oder nicht, zu den Verwaltungsarbeiten, für die sie zuständig war.