Ein Porträt für seine Leser
Verlag C.H.Beck
«Alles Große steht als ein Trotzdem da», heißt es im Tod in Venedig. Es ist trotz Kummer, Qual und tausend Hemmnissen zustande gekommen. Zehn Jahre nach seinem Buch über das Leben Thomas Manns legt Hermann Kurzke nun einen Gang durch das dichterische Werk vor, der die Lebensbeschreibung an Dichte und Innigkeit womöglich noch übertrifft. Was alles dazugehörte, um Romane wie Buddenbrooks, Der Zauberberg, Joseph und seine Brüder oder Doktor Faustus zu schreiben, – was dazugehörte an Bedingungen, Umständen, Vorlieben, Prägungen, Überzeugungen, Kenntnissen, Techniken, Leidenschaften, Widrigkeiten, Glücksfällen und Katastrophen, und wie es dann jeweils zu einem Werk zusammenschoß, das wird hier in einer kunstvoll verflochtenen Kette von in sich geschlossenen thematischen Abschnitten gezeigt. Sie heißen «Lange Sätze» oder «Lebensausbeutung», «Erotik» oder «Feinde», «Süßer Schlaf» oder «Der Sinn der Welt» und sind stets unterhaltsam geschrieben, kurz und bündig, aufs sorgfältigste pointiert und von dem Wunsch beseelt, über das voluminöse Werk Thomas Manns auf knappstem Raum das Entscheidende zu sagen.
Hermann Kurzke ist Professor em. für Neuere deutsche Literatur an der Universität Mainz. Er ist Herausgeber einer kommentierten Ausgabe der Essays von Thomas Mann und Mitherausgeber der Großen kommentierten Frankfurter Thomas Mann-Ausgabe. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: «Novalis» (2. Auflage, 2001), «Unglaubensgespräch» (2005, zus. mit Jacques Wirion), «Geistliches Wunderhorn» (Hrsg., 2. Auflage, 2003), «Thomas Mann. Epoche-Werk-Wirkung» (3. Auflage, 1997), «Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk» (2. Auflage, 2009).
Prolog
1 Porträt
2 Süßer Schlaf
3 Meeresmetaphysik
Tonio Kröger
4 Sohn des Senators
5 Julia Mann, geborene da Silva Bruhns
6 Geschwisterkonstellation
7 Gymnasium
8 Hochschule
9 Italien
10 Nietzsche
11 Schopenhauer
12 Tonio Kröger
Buddenbrooks
13 Musik
14 Samuel Fischer
15 Buddenbrooks
16 Notizen
17 Inspiration
18 Episch, lyrisch, dramatisch
Königliche Hoheit
19 Liebesgeschichten
20 Ehepflichten
21 Schwiegereltern
22 Königliche Hoheit
23 Lebensausbeutung
24 Schreibtechnik
25 Telefon
26 Briefe
Der Tod in Venedig
27 Der Tod in Venedig
28 Apollinisch und dionysisch
29 Ehrgeiz
30 Sanatorien, Grandhotels, Sommerhäuser
Betrachtungen eines Unpolitischen
31 1914
32 Heinrich Mann
33 Publikum
34 Betrachtungen eines Unpolitischen
35 Lesetechnik
36 Gelehrsamkeit
37 Antisemitismus?
38 Dostojewski
39 Rußland
Der Zauberberg
40 Herzensmonarchist und Vernunftrepublikaner
41 Reden und Essays
42 Der Zauberberg
43 Ironie
44 Erotik
45 Psychoanalyse
46 Leitmotiv
47 Zigarre
48 Kirgisenaugen3
49 Kino
Joseph und seine Brüder
50 Reisen
51 Verkehrsmittel
52 Nobelpreis
53 Hunde
54 Frauen
55 Männer
56 1933
57 Emigrant
58 Hitler und Roosevelt
59 Mythos
60 Der Sinn der Welt
61 Joseph und seine Brüder
62 Lange Sätze
63 Bibliothek
64 P. E.
65 Keuschheit
Lotte in Weimar
66 Gott
67 Goethe
68 Opfer
69 Lotte in Weimar
70 Schweiz
71 Amerika
72 Staatsbürgerschaften
Doktor Faustus
73 Erika, Klaus, Elisabeth
74 Golo, Monika, Michael
75 Frido und Echo
76 Doktor Faustus
77 Der Teufel
78 Adorno
79 Feinde
80 Tagebücher
81 Buchenwald
82 Deutschland
83 Slums
84 Ein moderner Klassiker
Der Erwählte und Die Betrogene
85 Gesundheit
86 Papst
87 Der Erwählte
88 Sünde
89 Gnade
90 Natur
91 Die Betrogene
Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
92 Lob der Vergänglichkeit
93 Glück
94 Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
95 Parodie
96 König
97 Kuckuck
98 Franzl
99 Gruppe47
100 Süßer Tod
Daten und Fakten
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Personenregister
Register der Werke Thomas Manns
Im persönlichen Verkehr wirkte er unscheinbar. Er war kein Goethe, bei dem ein Eckermann fortwährend Bedeutendes mitzuschreiben gehabt hätte. Er produzierte schriftlich, nicht mündlich, allein, nicht in Gesellschaft. Wenn er irgendwo etwas sagen mußte, improvisierte er nicht, sondern bereitete sich sorgfältig vor. Das Herz lag ihm nicht auf der Zunge. Er wirkte infolgedessen auf die meisten Mitmenschen fern und temperamentlos, allzu gemessen, wenig spontan und schwer zugänglich. Viele verachteten ihn wegen dieser dauernden Selbstkontrolle und empfanden ihn als personifizierte Bügelfalte oder als sitzfleischgesteuerten Literaturbeamten.
Die Innensicht ist eine ganz andere. Wir kennen sie aus den Tagebüchern und aus den versteckten Selbstporträts im literarischen Werk. Sie zeigt unter dem Panzer der gepflegten Erscheinung ein scheues Reh – einen vielfältig bedrohten, nervösen, überanstrengten, von Panikattacken heimgesuchten und von unterdrückten Emotionen geschüttelten Mann, der mit Mühe sein Ich zusammenhält, wegzuckend bei jeder Berührung. Aber das sollte niemand sehen. Es war sehr aufreibend, so zu leben. Aber er hatte keine Wahl oder glaubte jedenfalls, keine zu haben.
Warum hatte er so große Angst davor, aus der Rolle zu fallen? Warum konnte er sich nicht faul zeigen, nicht schlampig, nicht nackt und preisgegeben, ungepflegt und schlecht rasiert, warum nicht wütend, ungerecht, maßlos, leidenschaftlich, warum nicht betrunken, untreu oder unzuverlässig? Da gab es natürlich die gute Erziehung, die er als Sohn eines Senators der Freien und Hansestadt Lübeck genossen hatte, und die preußisch-kantisch-protestantische Pflichtethik, die zu dieser Erziehung gehörte. Aber hätte er nicht gerade dagegen rebellieren und aus dieser Rebellion sein Selbstgefühl gewinnen müssen? So etwas Ähnliches erwarteten jedenfalls seine Kritiker. Aber wo wäre Thomas Mann gelandet, wenn er die Schleusen geöffnet hätte?
Bei seiner Homosexualität. Sie bildete die Mitte des Strudels, um den herum er ein verwickeltes System von Dämmen und Schutzringen errichtet hatte. Wenn er in seinem Leben auch den einen oder anderen Wall schleifen, das eine oder andere Schleusentor öffnen mußte, so wurde doch immer nur eine begrenzte Kam mer geflutet. Die Abwehr insgesamt blieb immer intakt. Seiner Männerliebe sexuelle Wirklichkeit zu geben hat er sich niemals erlaubt. Er war ja verheiratet. Er hat kein Doppelleben geführt. Er hat sich nicht heimlich zu jungen Männern geschlichen. Das hätte für ihn Sünde und Schande bedeutet und hätte sowohl seine religiöse Würde als auch das bürgerliche Leben zerstört, das zu führen er sich verpflichtet fühlte.
Hat er also den gleichgeschlechtlich gepolten Anteil seiner Sexualität verdrängt? Ja, zweifellos. Aber aus dieser Verdrängung resultierte seine wunderbare Literatur. Wir hätten sie nicht, wenn er seiner Liebe zu attraktiven Kellnern und zu Gärtnerburschen mit starken Armen nachgegeben hätte. Das wirklichkeitsreine Traumreich der Phantasie war ihm wichtiger als die immer unvollkommene, immer ein Stück weit peinliche Berührung in der konkreten Lebensrealität. Nur in seinen Dichtungen war er frei. Da konnte er ausschweifen, konnte sich Geschichten ausdenken mit dem Thema «Was wäre, wenn ich mich preisgäbe» – Geschichten vom Verlust der Würde, die oft mit einem Todesfall endeten, wie Gustav von Aschenbachs Liebe zu dem schönen Tadzio im Tod in Venedig.
So mag letzten Endes Todesangst der Grund dafür sein, warum er seinem Leben einen so überkorrekten Anstrich gab. Zweifellos aber geht jeder fehl, der auf die Gediegenheit hereinfällt und die Abgründe von Leidenschaft nicht sieht und nicht spürt, die hinter dieser Maske verborgen sind. «Man ist als Künstler innerlich immer Abenteurer genug», sagt Tonio Kröger. «Äußerlich soll man sich gut anziehen, zum Teufel, und sich benehmen wie ein anständiger Mensch …»[1]
Als Kind schlief Thomas Mann in einem Gitterbettchen mit grüner Gardine.[2] Das Schlafen hat in seinem Leben und in seinem Werk eine tiefe Bedeutung. Sie hat zu tun mit des Lebens Anfang und Ende, die wir berühren, indem wir schlafen. Das Bett nennt Thomas Mann geheimnisvoll «dies metaphysische Möbelstück, in dem die Mysterien der Geburt und des Todes sich vollziehen».[3] Der Geburt und des Todes gedenkt er unaufhörlich – das ist seine Art von Frömmigkeit.
Er hatte «Schlaflust», wie sein Felix Krull.[4] Der Schlaf lindert jedes Leid. Nie, so bekennt er, nie schlief er köstlicher, als wenn er unglücklich war.[5] Grausam und grell ist der Tag, die Nacht aber ist Bad und Balsam, Labe und Lethe. Thomas Mann respektierte den Tag, aber er liebte und verehrte die Nacht. Wachen und Schlafen, das ist wie Ausatmen und Einatmen, wie Aufstehen und Zurücksinken, wie Denken und Träumen, wie Progression und Regression. Am Tag mühen wir uns ab, in der Nacht aber wandern wir mühelos zurück in den Schoß, aus dem wir kommen. Im Bett eingehüllt liegen wir «warm, unbewußt und mit emporgezogenen Knien wie einst im Dunkel des Mutterleibes, wieder angeschlossen gleichsam an den Nabelstrang der Natur».[6] Ob wir nachts gleich weit zurückgehen, wie wir tags vorangegangen sind? Möglicherweise. Jedenfalls liegen hier die tiefsten Wurzeln aller Fortschrittsskepsis und allen Konservatismus.
Aber nicht nur zurück gehen wir im Schlaf, sondern zugleich weit voraus, fast bis ins Paradies. Der Schlaf ist Sozialist. Jede Nacht vollzieht sich eine spöttische Gleichmacherei aller Menschen. Die Hungri gen wie die Satten, die Armen wie die Reichen, die Bösen wie die Guten, die Klugen wie die Dummen, sie alle sind im Schlaf von ihrem Kummer und ihrem Können erlöst, keiner hat mehr einen Vorteil, und alles Begehren erlischt. Tagsüber mit Anstrengung aufgebaut, zerfließt nachts alle Konzentration, alle Gestalt, alle Begrenzung, und alles Geschaffene gleitet zurück in ein formloses Nirwana. Vielleicht ist ja der Schlaf der eigentliche, dem Menschen natürlichste Zustand, vielleicht wachen wir ja nur, um zu schlafen?[7] Alles Wachen wäre dann Wahn. Schlafen aber ist Freiheit, Unendlichkeit, Ewigkeit, ist «Schlummern und Weben in raum- und zeitloser Nacht».[8]
Hanno Buddenbrook schläft, als wenn er niemals wieder erwachen wollte.[9] Schlafen ist Rückkunft, Heimkehr, Weltflucht und Ahnung des Todes. Süß wie der Schlaf wird auch der Tod sein. So nötig es ist, hienieden tüchtig zu sein, so wenig zählt es doch am Ende. Schlafen ist ein religiöser Zustand, Arbeiten nicht. Das Gegenteil der Hingabe an den Schlaf ist die Gewöhnlichkeit, die sich ohne höhere Sehnsucht in der platten Wirklichkeit zu Hause fühlt und nicht heraus will in jene andere Welt, in der jedes Verlangen gestillt ist. In Thomas Manns Vorstellung ist der Tod bei aller Schrecklichkeit ehrwürdig. Sterben ist wie Musik hören.[10] Wer religiös unmusikalisch ist und die Andacht zum Tode nicht kennt, dem fehlt etwas Ausschlaggebendes. Es gibt Menschen, die so sehr nur Leistung bringen und so sehr nur ordentlich und tüchtig sind, daß man sich, so schreibt Mann mit erstaunlicher Pointe, gar nicht vorstellen kann, sie «könnten jemals der Weihe und Verklärung des Todes teilhaftig werden.»[11]
Meta-physik ist die Metareflexion der Physik; sie sucht die Physik der Physik; sie bemüht sich, durch die Physik hindurchzudringen zu den Prinzipien, die sie bestimmen. Dazu eignet sich zwar theoretisch gesehen jeder beliebige Gegenstand der Welt, aber poetisch gesehen gibt es für eine solche Prinzipienreflexion ein paar besonders geeignete, besonders anschauliche Ausgestaltungen des Seins. In vorderster Linie sind es die «metaphysischen Landschaften»: die Gipfel und die Höhlen, die Wüste und das Meer.
«Meine Liebe zum Meer», schreibt Thomas Mann, «ist so alt wie meine Liebe zum Schlaf […]». Jede Nacht schaukeln wir hinaus «auf das Meer des Unbewußtseins und der Unendlichkeit».[12] Raum und Zeit und Maß und jedes Bewußtsein davon sind matt gesetzt – eine Erfahrung, die schon die Mystik des Mittelalters kannte: «schach unde mat/zît, formen, stat!»[13] Im Bild des Meeres und seiner rollenden Monotonie erfährt Thomas Mann (und erlebt auch sein Leser) die Grundstimmungen einer diskret religiös getönten Metaphysik: Ewigkeit, Unendlichkeit, Befreiung aus dem Hier und Jetzt, Erlösung vom Ich und seinen Begrenzungen. Vorerst ist es eine Metaphysik ohne Gott. Das Meer selbst erscheint als mysterium tremendum et fascinosum, ungeheuerlich und begeisternd zugleich. In einem gebetähnlichen Hymnus preist der Erzähler des Zauberberg-Romans das Meer und seine erlösende Macht:
O Meer, wir sitzen erzählend fern von dir, wir wenden dir unsere Gedanken, unsre Liebe zu, ausdrücklich und laut anrufungsweise sollst du in unserer Erzählung gegenwärtig sein, wie du es im stillen immer warst und bist und sein wirst … Sausende Öde, blaß hellgrau überspannt, voll herber Feuchte, von der ein Salzgeschmack auf unseren Lippen haftet. Wir gehen, gehen auf leicht federndem, mit Tang und kleinen Muscheln bestreutem Grunde, die Ohren eingehüllt vom Wind, von diesem großen, weiten und milden Winde, der frei und ungehemmt und ohne Tücke den Raum durchfährt und eine sanfte Betäubung in unserem Kopfe erzeugt, – wir wandern, wandern und sehen die Schaumzungen der vorgetriebenen und wieder rückwärts wallenden See nach unseren Füßen lecken. Die Brandung siedet, hell-dumpf aufprallend rauscht Welle auf Welle seidig auf den flachen Strand, – so dort wie hier und an den Bänken draußen, und dieses wirre und allgemeine, sanft brausende Getöse sperrt unser Ohr für jede Stimme der Welt. Tiefes Genügen, wissentlich Vergessen … Schließen wir doch die Augen, geborgen von Ewigkeit![14]
Es ist angesichts so geheimnisvoller Kräfte nicht verwunderlich, daß auch der überanstrengte Künstler Gustav von Aschenbach, der mit seinem Autor vieles gemeinsam hat, das Meer hochschätzt. Schon aus Ruhebedürfnis. Auf der Flucht vor der anspruchsvollen Vielgestaltigkeit der Erscheinungen, die er täglich zu bändigen hat, birgt er sich, am Meere weilend, «an der Brust des Einfachen, Ungeheueren» und gibt im Liegestuhl dem «verführerischen Hange zum Ungegliederten, Maßlosen, Ewigen, zum Nichts» nach.[15] Aus dem verlockenden Nichts aber schreitet der schöne Knabe auf ihn zu …
Der bürgerlichen Arbeitswelt indessen begegnet das Meer mit vernichtender Gleichgültigkeit. Am Strand von Travemünde, in friedlicher und kummerloser Abgeschiedenheit, träumt Hanno Buddenbrook sich aus Lübeck hinaus, auch ihn erfaßt dort «eine gedämpfte Betäubung, in der das Bewußtsein von Zeit und Raum und allem Begrenzten still selig unterging …»[16] Auch in Buddenbrooks schon ist das Meer der Ort der verbotenen, aber beglückenden und wie keine erlaubte jemals beseligenden Liebe, als das feine Fräulein Tony Buddenbrook mit Morten Schwarzkopf, dem Sohn des Lotsenkommandeurs, unvergeßliche Sommerwochen verbringt.
Sein Vater Thomas Johann Heinrich Mann war sehr angesehen, nicht nur als Chef eines traditionsreichen Handelshauses, sondern auch als Politiker. Er wurde mit «Euer Wohlweisheit» angeredet, denn er war Steuersenator der Freien und Hansestadt Lübeck, also immerhin Finanzminister eines kleinen Stadtstaats. Ob Thomas Mann ihn wirklich liebte, ist naturgemäß schwer zu sagen, aber er hatte jedenfalls großen Respekt vor ihm. Noch in hohem Alter erinnerte er sich:
Noch sehe ich ihn, den Zylinder lüftend, zwischen den präsentierenden Infanterie-Wachtposten vorm Rathaus hindurchgehen, wenn er eine Senatssitzung verließ, sehe ihn mit eleganter Ironie den Respekt seiner Mitbürger entgegennehmen und habe nie die umfassende Trauer vergessen, mit der, als ich fünfzehn Jahre alt war, seine Stadt, die ganze Stadt, ihn zu Grabe brachte.[1]
Auch sein Sohn Thomas wollte einmal mit eleganter Ironie den Respekt seiner Mitbürger entgegennehmen. Die vierzehn unordentlichen Jahre, die auf den Tod des Vaters folgten, die Jahre als verstockter Gymnasiast und als verbummelter Poet, diese ganzen Jahre hindurch hörte das Vorbild des Vaters nicht auf, ihm vor der Seele zu schweben. 1905, im dreißigsten Lebensjahr stehend, gelang es ihm, durch die Heirat mit einer Multimillionärstochter, die er überdies liebte, in die ersten Kreise der Münchener Gesellschaft Eingang zu finden. Aber auch das war nur ein Etappenziel. Der zähe Ehrgeiz, es dem allzu früh verstorbenen Vater recht zu machen, bleibt eine der Triebfedern seines Lebens. Noch als Achtzigjähriger will er ihm gefallen, wünscht er sich, «er hätte wenigstens meinen Weg noch etwas weiter verfolgen und sehen können, daß ich mich eben doch, gegen alles Erwarten, auf meine Art als sein Sohn, sein echter erweisen konnte.»[2] Sogar zum Senator hatte er es ja noch gebracht, wenn auch nur in einer unbedeutenden Münchener Akademie.[3]
Aber wenn man Senator sein wollte, mußte man sich ordentlich anziehen und gut benehmen. Die Welt des Vaters, das ist die Welt der bürgerlichen Ordnung und der Pflichterfüllung, die Welt von Abstand und Respekt, die Welt des parfümierten Schnurrbarts und der gesitteten Maskerade, der Abschirmung der Seele und der Bändigung der Gefühle, der Zensur jeder unbefangenen Äußerung und der eisernen Dressur der Triebe. Wer oben sein will, muß seine Seele verkaufen. Diesen Verdacht wird jedenfalls der Dichter nicht los, bei aller Sehnsucht nach Rang und Respekt. So ist es nicht die Vaterwelt allein, auf die sein Können sich gründet. In der Erzählung Der Bajazzo von 1897 wägt ein Nichtsnutz von Sohn ab zwischen mütterlichem Träumen und väterlichem Handeln und entscheidet sich schließlich für die Mutter:
Ich saß in einem Winkel und betrachtete meinen Vater und meine Mutter, wie als ob ich wählte zwischen beiden und mich bedächte, ob in träumerischem Sinnen oder in That und Macht das Leben besser zu verbringen sei. Und meine Augen verweilten am Ende auf dem stillen Gesicht meiner Mutter.[4]
Kam vom Vater der Sinn für Pflicht und Leistung, so von der Mutter der für das Schöne und die Kunst. Nicht nur war sie selbst eine wirkliche Schönheit, «mit dem Elfenbeinteint des Südens, einer edelgeschnittenen Nase und dem reizendsten Munde, der mir vorgekommen»,[5] sondern sie verstand auch etwas vom Schönen. Sie hatte Geschmack, beim Einrichten des Hauses, beim Vorlesen, beim Klavierspielen und beim Singen. Die feinsten Nuancen konnte Thomas Mann bei ihr lernen, denn sie besaß jenen künstlerischen Takt, «der das Sentimentale so selbstverständlich wie das Theatralische ausschloß». Die Kunst und Gabe, später auch literarisch immer den richtigen Ton zu treffen, kam aus der Erziehung in einem guten und auch musisch überaus gepflegten Hause.
Julia da Silva Bruhns hatte eine brasilianische Mutter und hatte ihre Kindheit in der Nähe von Rio de Janeiro verbracht. Wenn sie erzählte, wie sie bei den lustigen Negern am roten Feuer saß und gebratenes Zuckerrohr lutschte,[6] weitete Sehnsucht die Herzen ihrer Kinder. Lebenslang ging von ihr ein exotisches Aroma aus. Mit der Mutterwelt verbindet Thomas Mann später das Motiv des Südens, während der Norden zur Vaterwelt gehört. Süden bedeutet Romantik, Fernweh, Musik, Lebenslust und einen Hauch von Liederlichkeit. Norden bedeutet Wirklichkeitssinn, Arbeit, Pflicht und strenge Ordnung. Daß die Mutter 1893, bald nach dem Tod des Vaters, in den Süden zog, nach München-Schwabing, dorthin, wo das liederliche Künstlervölkchen zu Hause war, paßte ins Bild, auch, daß sie dabei ihren Sohn im Stich zu lassen schien.
Der Vater traute weder ihr noch seinen fünf Kindern, darunter drei Söhnen, die Leitung der Firma zu und verfügte testamentarisch deren Auflösung. Das war ein radikaler und folgenreicher Schritt. Er bedeutete für den damals sechzehnjährigen Thomas Mann ein Doppeltes: einen rasanten sozialen Abstieg und zugleich eine Befreiung. Die Mutter hatte ihn nicht mitgenommen, sondern in Lübeck in Pension gegeben. Aus dem Senatorssohn, vor dem die Hafenarbeiter den Hut zogen, war ein alleingelassener Gymnasiast geworden, vor dem niemand mehr Achtung zu haben brauchte. Aber das nahm auch den Druck weg, den Zwang zur Anpassung und zum guten Benehmen, und war darüber hinaus auch ökonomisch eine Befreiung, denn Thomas Mann erfreute sich bald einer vollkommenen finanziellen Unabhängigkeit. Aus dem Verkaufsertrag stand ihm wie auch seiner Mutter und seinen Geschwistern eine monatliche Rente zu, die zum Leben auf einem manierlichen Niveau ausreichte. Als er endlich sein Abschlußzeugnis hatte, folgte er deshalb seiner Mutter in den Süden, nahm sich in Schwabing ein Zimmer und gehörte, obgleich er niemals mit wollenem Schal und verglastem Blick in Anarchistenkneipen[7] zu finden war, für ein gutes Jahrzehnt mehr oder weniger zur dortigen Boheme.
Als Thomas Johann Heinrich Mann 1891 starb, hatte Julia Mann für fünf (nach damaligem Recht) unmündige Kinder zu sorgen: Heinrich (20), Thomas (16), Julia (14), Carla (10) und Viktor (1). Heinrich hatte das Gymnasium ohne Abitur verlassen, auch eine Buchhandelslehre bald abgebrochen, war dann kurze Zeit Volontär im Verlag von Samuel Fischer, las viel, reiste viel und hatte bald erste Erfolge als Schriftsteller. Julia heiratete einen Bankdirektor, dem sie drei feine Töchter schenkte. Carla wurde Schauspielerin. Viktor zählte vorerst kaum mit; später wurde er Diplomlandwirt, Soldat und ebenfalls Bankdirektor, wenn auch nur ein kleiner.
Jedes Ich ist ein Kreuzungspunkt von Identifikationslinien, von anziehenden und abstoßenden Kräften, und infolgedessen stets ein widersprüchliches Gebilde. Je nach Situation überwiegt das Vorbild des Vaters oder das der Mutter. Zusätzlich wirken sich weitere, stärkere oder schwächere Linien aus. Auch die Geschwisterkonstellation gehört in dieses Kräftefeld. Thomas Mann war der zweite von fünfen. Heinrich war ihm vier Jahre voraus. Hätte der Jüngere Kaufmann oder Ingenieur werden wollen, wäre es einfacher gewesen. Aber er hatte nun einmal die gleichen Begabungen wie sein älterer Bruder. So mußte er erleben, daß zunächst einmal alle Positionen, die er gerne eingenommen hätte, schon besetzt waren. Anfangs der Unterlegene, blieb ihm nichts anderes übrig, als den Bruder nachzuahmen und mit ihm gemeinsame Sache zu machen. Trotzdem bestand zwischen beiden ein Konkurrenzverhältnis. Heinrich wurde zum Nicht-Ich stilisiert, von dem sich abzustoßen das Ich von Thomas zunehmend bestrebt war. Als er zwanzig war und sein Bruder vierundzwanzig, begann er, sich seines Könnens bewußt zu werden, und als er sechsundzwanzig war und der Bruder dreißig, hatte er es geschafft. Von heute aus gesehen stand seit Buddenbrooks, erschienen 1901, der Sieger in der Brüderkonkurrenz fest. Von damals aus gesehen war das nicht so deutlich, denn Heinrich würde mit den Romanen Professor Unrat (1904) und Der Untertan (1918) noch zwei Welterfolge vorlegen, während Thomas erst mit dem Zauberberg (1924) wieder im großen Stile punkten konnte. Endgültig davonziehen sollte er erst mit dem Literaturnobelpreis von 1929, obgleich Heinrich 1930 mit den Beinen der Marlene Dietrich, das heißt mit dem Film Der blaue Engel noch einmal groß ins Gespräch kam, dessen Vorlage der Roman Professor Unrat war.
Die jüngeren Schwestern Julia und Carla wurden auf die beiden älteren Brüder und ihre Machtsphären aufgeteilt. Thomas zog Julia auf seine Seite, Heinrich Carla. Das tiefe Unglück der Schwestern konnten die Brüder nicht verhindern. Carla nahm sich 1910 das Leben, Julia 1927. Beiden hat Thomas Mann in seinem Roman Doktor Faustus ein Denkmal gesetzt, in Gestalt der Schwestern Clarissa und Ines Rodde. Sein bürgerliches Ich verabscheute diese gräßlichen Taten, aber sein künstlerisches Ich kannte die Sehnsucht nach Tod und Auflösung und sympathisierte mit ihr.
Der sechzehn Jahre jüngere Bruder Viktor spielte bei der Identitätsbildung keine Rolle. Erst spät, als er während der NS-Zeit im Deutschen Reich verblieben war, wird ihm eine kleine Rolle im Bereich des Abzustoßenden zugeteilt: die eines verächtlichen Mitläufers, dem nur aus Gründen der Familiensolidarität herablassende Gutmütigkeit zu erweisen war.
Thomas Mann ist tatsächlich dreimal sitzengeblieben, bevor er nach Absolvierung der Untersekunda (der 10. Klasse nach heutiger Zählung) mit fast neunzehn Jahren das Gymnasium verließ, «um Versicherungsbeamter zu werden», wie das im übrigen miserable Abschlußzeugnis bescheinigt.[8] Daraus wurde nichts. Ein Volontariat bei einer Münchener Feuerversicherungsgesellschaft wurde nach fünf Monaten abgebrochen. Ohne klares, jedenfalls ohne von der Gesellschaft anerkanntes Berufsziel verbrachte Thomas Mann einige Jahre, in denen er weder Geld verdiente noch einer geregelten Ausbildung nachging. Vom bürgerlichen Standpunkt aus war er ein Gammler, vom eigenen «ein träumerischer Faulpelz».[9] Ein Abitur hat er nie gemacht, weshalb es eine höchst persönliche Seite hat, wenn er später «diese tagelange Schraubmarter, in der junge Leute, unter Anwendung schlafvertreibender Mittel, sich als wandelnde Enzyklopädien erweisen müssen», entschieden ablehnt und den generösen Vorschlag macht, man solle jedem, der die neun Klassen des Gymnasiums durchlaufen habe, «mit einem anerkennenden Händedruck den Ausgang zur Hochschule freigeben und nicht noch ein halsbrecherisches Hindernis davorlegen.»[10] Wie belastet sein Verhältnis zum Gymnasium war, zeigt das berühmte Kapitel in Buddenbrooks, das einen Schultag des jungen Hanno schildert. Die Schule erscheint dort als eine gefühllose Abrichtungsanstalt, in der entmenschte Pädagogen abgestumpften Schülern entseelte Lehrinhalte eintrichtern.[11]
Seine beträchtliche Bildung erwarb Thomas Mann als Autodidakt und enthusiastischer Leser. Sie erstreckte sich erst einmal fast ausschließlich auf Literatur des 19. Jahrhunderts – etwa auf Platen und Heine, Flaubert und Verlaine, Dostojewski, Turgenjew und Tolstoi. Da diese Literatur sehr welthaltig war, vermittelte sie auch viele Kenntnisse. An Schulwissen in Fächern wie Mathematik, Geschichte, Geographie, Biologie, Latein oder Englisch fehlte es freilich lebenslang. Doch wurde das ausgeglichen durch eine verblüffende Gabe, sich das gerade Benötigte ad hoc aus irgendwelchen Quellen anzueignen.
Die vernichtende Beurteilung der Schule bedeutete nicht, daß Thomas Mann Ansprüche als Sozialkritiker oder Schulreformer anzumelden beabsichtigt hätte. Im Gegenteil war er der Meinung, weder die Schule noch das Leben überhaupt ließen sich so einrichten, «daß die höchste sittliche und ästhetische Reizbarkeit, daß die Sensitivität und der Geist sich darin zu Hause fühlen».[12] Der Feinfühlige ist übel dran; er muß sich notgedrungen mit dem Elend arrangieren. Der Künstler ist ein Ausnahmefall, der nicht erwartet, daß die Welt sich nach ihm richtet. Wie schon anläßlich der fast religiösen Verehrung des Schlafes zeigt sich auch hier der fundamentale Pessimismus, ja Fatalismus Thomas Manns. Allen Weltverbesserungshoffnungen begegnet er mit ungläubiger Skepsis, allenfalls mit höflicher Ironie. Bei einem Politiker oder einem Kaufmann mag es noch hingehen, wenn er in der Welt etwas ausrichten will. Aber bei einem Wortkünstler? «Ein Dichter ist, kurz gesagt, ein auf allen Gebieten ernsthafter Tätigkeit unbedingt unbrauchbarer, einzig auf Allotria bedachter, dem Staate nicht nur nicht nützlicher, sondern sogar aufsässig gesinnter Kumpan», und nicht nur das, sondern, die Selbstbezichtigung wird fortgesetzt, außerdem auch «ein innerlich kindischer, zur Ausschweifung geneigter und in jedem Betrachte anrüchiger Charlatan, der von der Gesellschaft nichts anderes sollte zu gewärtigen haben – und im Grunde auch nichts anderes gewärtigt – als stille Verachtung.»[13]
Ein bißchen bilden wollte er sich freilich schon. Da er keine Hochschulzugangsberechtigung hatte, schrieb er sich als Gasthörer ein, an der Technischen Hochschule in München, die sich einen geisteswissenschaftlichen Zweig mit allgemeinbildenden Vorlesungen leistete. Er gab an, Journalist werden zu wollen, «und hörte ein paar Semester lang an den Münchener Hochschulen in buntem und unersprießlichem Durcheinander historische, volkswirtschaftliche und schönwissenschaftliche Vorlesungen.»[14] Das ist im Rückblick geschrieben und etwas geprahlt, denn faktisch waren es nicht mehrere, sondern nicht einmal ganz zwei Semester, und er studierte auch nicht an mehreren Hochschulen, sondern nur am Polytechnikum. Er hatte sich das gemütlich eingerichtet. Da sein Kollegheft erhalten geblieben ist, kann man seine Stundenpläne rekonstruieren. Die Vorlesungen, die er besuchte, begannen «zu bequemer Stunde»,[15] niemals vor vier Uhr nachmittags, denn er liebte es damals, bis drei Uhr zu schlafen.[16] Es gab Zeiten, in denen er erst um vier oder halb fünf Uhr morgens nach Hause kam.[17] Er war «frei und glücklich».[18] Das gesellschaftliche Leben in München faszinierte ihn. «Ich komme zu keiner Arbeit, auf die Dauer verbummele ich hier ganz und gar.»[19] Eigenem Bekunden nach war er «ein sozialer Nichtsnutz».[20] Aber seinem Felix Krull hat er die Erkenntnis mitgegeben, daß solche Perioden des Müßiggangs wichtige Inkubationszeiten sind. «Bildung wird nicht in stumpfer Fron und Plackerei gewonnen, sondern ist ein Geschenk der Freiheit und des äußeren Müßigganges; man erringt sie nicht, man atmet sie ein; verborgene Werkzeuge sind ihretwegen tätig, ein geheimer Fleiß der Sinne und des Geistes, welcher sich mit scheinbar völliger Tagedieberei gar wohl verträgt, wirbt stündlich um ihre Güter, und man kann wohl sagen, daß sie dem Erwählten im Schlafe anfliegt.»[21]
Der Studiereifer erlahmt denn auch rasch. Im Kollegheft kommt es zu Kommentaren wie: «Außerordentlich langweilig.»[22] Das Urteil fällt anläßlich einer Vorlesung über Kunstgeschichte, läßt sich aber verallgemeinern zu einem Urteil über den universitären Lehrbetrieb überhaupt. Er besucht die Kollegien bald «nur noch sehr sporadisch und grundsätzlich uninteressiert.»[23] Am 12. Juli 1895, bevor das Sommersemester zu Ende gegangen ist, reist er nach Italien ab.
Sein Verhältnis zu Universitäten entspannte sich, seit sich Professoren der Germanistik für ihn interessierten, und als er 1919 von der Universität Bonn den ersten Ehrendoktor bekam, freute er sich doch sehr. Schon wenige Tage später ergab sich in einem Berliner Hotel eine gute Gelegenheit: «Bei der Anmeldung erstmalige Benutzung des Doktor-Titels.»[24] Zahlreiche weitere Doktorhüte folgten noch im Lauf des Lebens, und in Princeton sollte er es später sogar zu einer Honorarprofessur bringen. Das Lehren lag ihm freilich nicht. Es verlangte zuviel Ironieverzicht.
Die Unabhängigkeit in München war immer noch nicht groß genug. Der erste Italienaufenthalt von 1895 hatte eine Sehnsucht hinterlassen, die auf Wiederholung und Fortsetzung drängte. Vom Oktober 1896 bis April 1898 lebte Thomas Mann anderthalb Jahre lang in Italien, kurz in Venedig und Neapel, die meiste Zeit aber in Rom und im Sommer wieder in Palestrina, in den Sabiner Bergen. Nicht nur der monatliche Wechsel, «der sich in italienischer Währung besser ausnahm»,[25]» veranlaßte dazu, sondern der Wille zur Freiheit, der Wille zur Kunst. Der Hauptinstinkt war, sich «so weit nämlich wie nur immer möglich aus deutschem Wesen, deutschen Begriffen, deutscher ‹Kultur› in den fernsten, fremdesten Süden auf- und davonzumachen …»[26] Nur so war die Rücksichtslosigkeit möglich, mit der Thomas Mann in Buddenbrooks die Welt seiner Herkunft porträtierte. Er mußte dazu weit weg sein von Lübeck. Die für einen 23- bis 25jährigen fast unglaubliche Souveränität, Überlegenheit und bittere Weltkundigkeit dieses Romans ist eine Frucht der Distanz. Die Erinnerungsschärfe, mit der Thomas Mann schreibt, ist die von Träumen, die von keiner Gegenwartsrealität mehr gestört werden. Er kann träumerisch frei operieren mit dem Material, das seine Erinnerung bereithält. In der Distanz zur Heimat ist Thomas Mann mit seinem Bruder vollkommen einig. Tagsüber arbeiten sie getrennt an ihren Romanen, Heinrich Mann an Im Schlaraffenland, Thomas Mann an Buddenbrooks. «Abends spielten wir Domino in einem Café und tranken Punsch dazu. Wir verkehrten mit keinem Menschen. Hörten wir Deutsch sprechen, so flohen wir. Wir betrachteten Rom als Berge unserer Unregelmäßigkeit, und wenigstens ich lebte dort nicht um des Südens willen, den ich im Grunde nicht liebte, sondern einfach, weil zu Hause noch kein Platz für mich war.»[27] Das «noch» verrät, daß später Veränderungen kommen werden. Vorerst jedoch flieht Thomas Mann aus der Vaterwelt der Pflichten in die Kunst, in die Boheme, nach Italien. Italien ist Kultur. Deutschland hingegen: «– ich kann mir nicht helfen: diese vage Tiefe … das Unsalonmäßige, Ungehobelte, Stumme, Ernste und Einsame der dortigen Kulturart –»[28] Erst ganz allmählich wird sich das Herkunftsbewußtsein wieder durchsetzen. «Gott, gehen Sie mir doch mit Italien, Lisaweta!» wird Tonio Kröger sagen.[29]
Da künstlerisch mit dem Motiv «Süden» oder «Italien» die Sujets «Liederlichkeit», «Sinnlichkeit» oder auch «Sexualität» verknüpft sind, könnte man auf den Gedanken kommen, es habe in Italien, dem großen Vorbild Goethe folgend, einen Durchbruch auf diesem Gebiet gegeben. Es sieht aber eher so aus, als wären die durchaus vorhandenen Angebote mit einer gewaltsamen Anstrengung zur Askese beantwortet worden. Als Quelle steht lediglich die lückenhafte Korrespondenz mit dem Jugendfreund Otto Grautoff zur Verfügung. Aus Neapel schreibt Thomas Mann ihm einen aufschlußreichen, aber doch auch rätselhaften Brief.[30] «Woran leide ich?» fragt er. «An der Geschlechtlichkeit …», so lautet der Bescheid, aber «wird sie mich denn zugrunde richten? […] Wie komme ich von der Geschlechtlichkeit los? Durch Reisessen?» Es gäbe für den Bedarfsfall Lustknaben. «Hier und da, unter tausend anderen Verkäufern, schlau zischelnde Händler, die einen auffordern, sie zu angeblich ‹sehr schönen› Mädchen zu begleiten, und nicht nur zu Mädchen …» Aber sie sind wohl nicht zum Ziel gekommen. «Sie lassen nicht ab, sie gehen mit und preisen ihre Waare an, bis man grob wird. Sie wissen nicht, daß man beinahe entschlossen ist, nichts mehr als Reis zu essen, nur um von der Geschlechtlichkeit loszukommen! …»
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