WELTBILD
PRAKTIKEN
RITUALE
Verlag C.H.Beck
Die Wurzeln der Magie reichen bis in vorgeschichtliche Zeiten zurück, und doch begleitet die magische Praxis den Menschen bis in die Moderne. Bis heute erfährt sie Ablehnung und Zustimmung gleichermaßen. Was wirkt ist wahr? Ist Magie Aberglaube oder doch eher Lebenshilfe?
Leander Petzoldt stellt in diesem Buch die Prinzipien des magischen Weltbilds dar und verfolgt die zwei großen Entwicklungslinien in der Geschichte der abendländischen Magie, deren Wirkungen bis in die Neuzeit zu beobachten sind: die zauberisch-dämonologische Tradition mit Spiritismus und Okkultismus sowie die magisch-naturphilosophische Tradition, die über die Alchemie zu den modernen Naturwissenschaften führt. Er erläutert die wichtigsten magischen Werke und Zauberbücher und führt in magische Praktiken und zauberische Rituale ein. Zum Schluss wirft er einen Blick auf die Alltagsmagie unserer Tage, die – oft nur halbernst betrieben – manchmal zum Religionsersatz geworden ist.
Leander Petzoldt ist em. Univ.-Professor für Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck. In der Beck’schen Reihe ist von ihm lieferbar: Kleines Lexikon der Dämonen und Elementargeister, 3. Aufl. 2003.
Einleitung. Das Faszinosum oder: Was ist Magie?
I. DAS MAGISCHE WELTBILD
1. Die magischen Prinzipien
2. Magia naturalis. Empirie und frühe Naturwissenschaft
3. Magie und Religion
4. Die interpretatio christiana und der Indiculus superstitionum et paganiarum
II. ABERGLAUBE UND VOLKSGLAUBE
1. Magie im Alltag
2. Der dämonisierte Mensch
3. Magische Elemente in der narrativen Volkstradition
III. MAGISCHE PRAKTIKEN UND ZAUBERISCHE RITUALE
1. Divination und Mantik
2. Zauberbücher und magische Werke
3. Los- und Würfelbücher
4. Wortmagie: Die Sator-Formel
IV. MAGIE UND ZAUBEREI IN BIBLISCHER ZEIT
V. MAGIER UND SCHOLAREN
1. «Hohe Schulen» der «Schwarzen Kunst»
2. Begegnungen mit dem Satan
Nachbemerkung
Bibliographie
Abbildungsnachweis
Register
Im 18. Jahrhundert hatte der Begriff «Faszination» noch eine völlig andere Bedeutung als heute: Das lateinische Wort fascinare meinte so viel wie «behexen, verzaubern». Wenn wir heute von einer «faszinierenden» Frau sprechen, könnten wir sie ebenso gut «bezaubernd» nennen. Freilich denken wir dabei nicht mehr an Magie oder Zauberei. Das Wort hat einen Bedeutungswandel erfahren, was aber nicht heißt, dass Magie und Zauberei aus unserem Blickfeld, oder besser: aus unserer Kultur, verschwunden wären. Eher drängt sich der Eindruck auf, als seien magisches Denken, okkultistische Betätigung und obskure Teufelskulte zu einem kulturellen Kennzeichen unserer modernen Welt geworden. Das Phänomen ist so alt wie die Menschheit, und die magische Praxis hat den Menschen bis in die Moderne begleitet. Eine sozialpsychologische Untersuchung stellt in diesem Zusammenhang die Frage, ob «das Zunehmen irrationaler Verhaltensweisen durch äußere Faktoren der gegenwärtigen sozialen Situation bedingt ist» (Angst 1972, 135).
In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden im Allgäu in mehreren Teichen und Fischgewässern Hunderte randvoll mit Urin gefüllte Flaschen und Kanister entdeckt. Nach 39 bitterkalten Nachtwachen konnte der Gewässerbesitzer einen Landwirt stellen, der erneut Urinflaschen versenken wollte. Im anschließenden Prozess stellte sich heraus, dass die Ehefrau des Bauern an Depressionen litt und dieser sie heilen wollte, indem er den Urin auf den Rat einer Sympathieheilerin hin nachts in den Gewässern versenkte. Die Ehefrau behauptete vor dem Richter, ihr Allgemeinbefinden habe sich mit Hilfe der Urinversenkungen deutlich gebessert, die vielen von den Nervenärzten verordneten Tabletten hingegen hätten ihre Gesundheit ruiniert. Zwar habe sich ihr Zustand nach den medikamentösen Behandlungen manchmal für einige Wochen stabilisiert, doch seien die depressiven Schübe danach nur umso schlimmer gewesen. Die jahrelange große Not infolge der Krankheit seiner Frau, erklärte der Bauer, habe ihn dazu gebracht, dem Rat der Heilerin zu folgen. Der Landwirt stand übrigens, dies ist noch zu bemerken, wegen Umweltverschmutzung vor Gericht (Schwäbische Zeitung vom 19. November 1982).
Dieser Fall zeigt, dass Menschen in ihrer Hilflosigkeit auch noch in unseren Tagen zu einem völlig irrationalen Verhalten veranlasst werden können und auf magische Praktiken zurückgreifen, von denen man annimmt, sie seien mit dem Mittelalter vergangen. Der Urin als eine mit dem kranken Menschen eng verbundene Materie, als Ausfluss der Krankheit sozusagen, wird gemäß dem Grundsatz der sympathetischen Magie in einem tiefen Gewässer versenkt: Die Krankheit soll – so der hier übliche Analogieschluss – ebenso verschwinden, wie die Urinflüssigkeit in der Tiefe des Wassers verschwindet. Als noch wirksamer wird das Ritual angesehen, wenn es bei abnehmendem Mond geschieht, denn die Abnahme des Mondes soll mit dem Rückgang der Krankheit korrelieren. Dies sind Rezepte und magische Verhaltensweisen, die bei einer leichtgläubigen Bevölkerung immer wieder Resonanz finden; bei Menschen, die sich in ihrer leiblichen oder seelischen Not nicht anders als durch den Besuch obskurer Heiler und Besprecher zu helfen wissen, welche die Situation ihrer Klienten dann ausnutzen und deren Unaufgeklärtheit zum eigenen Vorteil missbrauchen.
Abgesehen davon, dass sich eine Zunahme irrationaler Verhaltensweisen bzw. die Existenz einer magischen Subkultur schon durch einen Blick in die Tageszeitungen belegen lässt, findet sich unter denen, die ihre Zuflucht zu magischen, esoterischen und okkultistischen Praktiken nehmen, oder diesen zumindest nicht ablehnend gegenüberstehen, ein signifikant hoher Anteil an Akademikern. Es ist dies eine Beobachtung, die auch amerikanische Soziologen bestätigen, dass nämlich das größte Interesse an Astrologie «nicht auf dem Lande, bei den Bauern oder den Vertretern niedriger Berufe zu finden ist, sondern eher in den am dichtesten besiedelten Stadtzentren, bei Angestellten und Beamten.» (Tiryakian 1972, 496) Wachsender Bildungstand und Zugehörigkeit zur sozialen Oberschicht stellen also keineswegs ein Hindernis dar, wenn es darum geht, sich einer sozusagen «privaten» Magie zu bedienen, um jene Anforderungen der Umwelt, die Unlust erzeugen und die auch für den Intellektuellen zunächst nicht rational durchschaubar sind, als irrational auszuweisen und auf diese Weise zu bewältigen. Und wer wüsste sich selbst vollkommen frei von jenem alltäglichen Aberglauben, der beim Überqueren der Straße das Umschalten der Verkehrsampel von Grün auf Rot gleichsam spielerisch als Orakel für den guten oder schlechten Verlauf eines Vorhabens in Anspruch nimmt?
Georg Christoph Lichtenberg hat dieses quasi-magische Verhalten in seinen Sudelbüchern, wie er seine Tage- bzw. Notizbücher nannte, sehr klar und selbstkritisch beschrieben: «Ist das nicht ein herrlicher Zug in Rousseau’s Bekenntnissen, wo er sagt, er habe mit Steinen nach Bäumen geworfen, um zu sehen, ob er selig oder verdammt würde? Großer Gott, wie oft habe ich Ähnliches getan, ich habe immer gegen den Aberglauben gepredigt und bin für mich immer der ärgste Zeichendeuter. Als N… auf Tod lag, ließ ich es auf den Krähenflug ankommen, wegen des Ausgangs, mich zu trösten. Ich hatte, wenn ich am Fenster stand, einen hohen Turm mir gegenüber, auf dem viele Krähen waren. Ob rechts oder links vom Turm die erste Krähe erschien. Sie erschien von der linken, allein da tröstete ich mich wieder damit, dass ich nicht festgesetzt hatte, welches eigentlich die linke Seite des Turms genannt zu werden verdiene. Es ist vortrefflich, dass Rousseau sich mit Fleiß einen dicken Baum aussuchte, den er also nicht leicht fehlen konnte.» (Lichtenberg 1983, I, 520)
Der engagierte Aufklärer und Freigeist, der – selbst nicht frei von irrationalen Anwandlungen – den «Angang» (obviamentum, obviatio, enodia), wie die Volksglaubensforschung diese Spielform des Aberglaubens bezeichnet, als Antwort auf die Fragen an das Schicksal herausfordert, ist ein treffendes Beispiel für die «Gespaltenheit» des intellektuellen Denkvermögens, das sich je nach Bedarf konträrer Denkweisen bedient: einer Denkweise, die – den Regeln der Logik folgend – zu zwingenden Schlüssen kommt, und einer Denkweise, die irrationalen Vorstellungen Raum gibt, welche sie – würde sie der Kontrolle des Verstandes unterliegen – ablehnen müsste. Ein Zeitgenosse Lichtenbergs, der Schriftsteller und Philosoph Karl Philipp Moritz, stellte 1789 in seinem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde ganz ähnlich fest: «Es giebt eine Sucht, viele Dinge leicht erklärlich zu finden, eben so wie es eine Sucht giebt, viele Dinge unerklärlich zu finden – und man fällt sehr leicht von einem Extrem aufs andere.» (Moritz 1986, VII, 194) Festzuhalten bleibt, dass selbst aufgeklärte, rational denkende Menschen bedenkenlos irrationalen Impulsen folgen, wenn angstauslösende oder stark affektive Situationen sie dazu herauszufordern scheinen. So wird magisches Denken und Verhalten gleichsam zu einem Bestandteil des privaten Lebensstils, der individuelle Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen zu erfüllen verspricht und von dem man sich je nach Situation auch wieder distanzieren kann.
Magie lässt sich zunächst ganz allgemein als eine psychische Reaktion des Menschen auf seine Umwelterfahrungen bezeichnen, die darauf zielt, diese Umwelt in einem bestimmten Sinne zu beeinflussen. Diese sehr allgemein gehaltene Definition bedarf einer Differenzierung, die freilich angesichts der allgemeinmenschlichen und globalen Verbreitung des Phänomens kaum zu leisten ist. Zwar bemerkt Bronislaw Malinowski zu Recht, dass Magie in ihren grundlegenden Denkmustern auf dem ganzen Globus von einer frappierenden Ähnlichkeit, ja Identität sei (Malinowski 1973). Doch muss man feststellen, dass die jeweils angewandten Praktiken historische und lokale Unterschiede aufweisen und nur in ihrem jeweiligen kulturellen Kontext verständlich bzw. interpretierbar sind. Nicht ohne Grund bewegen sich Diskussionen über das Wesen der Magie in einem historisch retrospektiven und ubiquitären geographischen Rahmen; das bedeutet aber auch, dass häufig Unvergleichbares gleichgesetzt wird, indem die Beispiele eklektisch einem historisch und kulturell nicht exakt abgegrenzten Raum entnommen werden – eine Betrachtungsweise, die nicht unbedingt zu stringenten Ergebnissen führt. Mit Recht bezweifeln einige Theoretiker, dass «ein in der europäischen Tradition entstandenes Konzept überhaupt in allen Gesellschaften deskriptiv angewendet werden kann und darf.» (Graf 1996, 21) Nichtsdestoweniger muss man konstatieren, dass Magie ein Urphänomen der Menschheit darstellt und es keine Epoche gibt, die frei wäre von Magie. Hinzu kommt, dass Magie keine innere Entwicklung aufweist, sondern immer gleich bleibt. «Primitive Magie – jeder Feld-Anthropologe weiß dies aus Erfahrung – ist außergewöhnlich monoton und langweilig, streng begrenzt in ihren Aktionsmöglichkeiten, eingeschränkt in ihrem Glauben und in ihren Grundvoraussetzungen kümmerlich», hält Malinowski fest. «Wenn man einem speziellen Ritual nachgeht, eine spezielle Beschwörung untersucht, die Grundbegriffe von Glauben, Kunst und Soziologie der Magie in einem speziellen Fall erfasst, wird man nicht nur alle Handlungen des Stammes kennen, sondern wird, mit einigen Varianten, in der Lage sein, sich in jedem Teil der Welt als praktizierender Magier niederzulassen, wo man noch glücklich genug ist, an diese begehrenswerte Kunst zu glauben.» (Malinowski 1973, 55) Ganz ähnlich resümiert Ludwig Wittgenstein nach der Lektüre von Frazers The Golden Bough: «So einfach es klingt: der Unterschied zwischen Magie und Wissenschaft kann dahin ausgedrückt werden, dass es in der Wissenschaft einen Fortschritt gibt, aber nicht in der Magie. Die Magie hat keine Richtung der Entwicklung, die in ihr selbst liegt.» (Wittgenstein 1967, 246)
Magie bezieht ihre Wirkkraft aus der Exklusivität eines in sich geschlossenen Systems bzw. einer Gruppe. Ihr instrumentaler Charakter manifestiert sich in einer Reihe in sich logischer Prinzipien. Zweifellos ist magisches Denken im Kern «irrational», wenn wir von den kausal-genetisch fundierten Denkkategorien des westlichen Rationalismus ausgehen. Claude Lévi-Strauss hat jedoch gezeigt, dass es sich bei dem «wilden Denken» nicht um ein primitives Assoziationsdenken auf einer prälogischen Stufe handelt, dem jede Fähigkeit zur Abstraktion abgeht, sondern dass in der Sorgfalt, mit der etwa Naturvölker ihre Umwelt beobachten und deren Erscheinungen systematisieren und klassifizieren, eine zweckfreie Logik waltet, durch die eine geistige Ordnung der Wirklichkeit angestrebt wird (Lévi-Strauss 1973).
Schon antike Zeugnisse machen deutlich, dass im magischen Denken eine Verschmelzung von Wunsch und Realität stattfindet, die sich in der magischen Praxis durch die Aktivierung von hinter den Erscheinungen wirksamen Kräften manifestiert. Diese Annahme von Kräften, die die ganze Natur durchdringen, gehört zu den menschlichen Grundvorstellungen und eröffnet dem Eingeweihten zugleich ein ganzes «Netz von Kommunikationsmöglichkeiten» (Daxelmüller 1993, 25).
Betrachtet man die Geschichte der abendländischen Magie, so lassen sich im Wesentlichen zwei Entwicklungslinien ausmachen, deren Wirkungen bis in die Neuzeit zu verfolgen sind: eine zauberisch-dämonologische Tradition, die auch Teufelsglauben, Inquisition, Hexenverfolgung, Spiritismus und Okkultismus umfasst, sowie eine magisch-naturphilosophische Tradition, die über die Alchemie zu den modernen Naturwissenschaften führt (Thomsen u.a. 1983, 688). Diese Differenzierung ist nicht mit der Trennung von «Volksmagie» und «gelehrter Magie» oder gar von «weißer» und «schwarzer» Magie zu verwechseln (beide wären der ersten Tradition zuzurechnen); vielmehr stehen beide Entwicklungslinien in ständiger Wechselwirkung. Albertus Magnus beispielsweise, einer der herausragenden Gelehrten des Mittelalters, bezeichnete sich im Sinne seiner Zeit als Magier; und obwohl er einen naturwissenschaftlich-rationalistischen Ansatz verfolgte, glaubte er an «schwarze Magie», an Inkubus und Sukkubus und an die Möglichkeit der impotentia ex maleficio.
Dabei stellt sich zunächst die Frage nach dem Wesen der Magie. Handelt es sich um eine «Kunst, die sich übersinnliche Kräfte dienstbar zu machen sucht», wie es im Duden heißt? Oder ist Magie «die Technik, irdische Wirkungen mit Hilfe der Weltseele zu erreichen», wie ein Lexikon des Geheimwissens zu wissen glaubt (Miers 1970, 263)? Näher an das Problem scheint eine weitere Definition zu führen, die Magie «als Inbegriff menschlicher Handlungen» bestimmt, welche «auf gleichnishafte Weise ein gewünschtes Ziel zu erreichen suchen». Magie bezeichne des Weiteren «die dahinterstehende Denkform; im besonderen Sinne ein rationalisiertes und konventionalisiertes System von zwingenden Handlungen, bei denen naturwissenschaftlich nicht fassbare, aber von den Handelnden angenommene übernatürliche Kräfte beansprucht werden.» (Brückner 1970, 786) Hier klingen bereits Begriffe und Formulierungen an, die für die weitere Beschäftigung mit dem Phänomen bedeutsam sind. In dieser letzten Bestimmung wie in den zuvor zitierten Definitionsversuchen wird jeweils der instrumentale Charakter der Magie betont: Wenn sie als die «Kunst, sich übersinnliche Kräfte dienstbar zu machen», bezeichnet wird, dann weist das gewollt oder ungewollt auf die volkstümliche Bezeichnung der Magie hin, die entsprechend auch unter dem Stichwort «Kunst» im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens auftaucht (HdA, V, 817ff.). Dienstbarmachen, Technik oder zwingende Handlung – stets wird der Handlungscharakter betont. Ist Magie also eine Handlungsanweisung oder eine Verhaltensweise? Erst die Praxis, die objektivierte magische Denkweise, die als Mittel zur Erreichung eines Zwecks eingesetzt wird, bewirkt, dass Magie zur Macht wird – eine Macht, die freilich nur innerhalb eines mehr oder weniger differenzierten Glaubenssystems Wirkung zeitigt. Fassen wir zusammen: Magie bezieht ihre Wirkkraft aus der Exklusivität eines in sich geschlossenen Systems bzw. einer Gruppe. Ihr instrumentaler Charakter manifestiert sich in einer Reihe in sich logischer Prinzipen oder, wie es in der eben zitierten Definition heißt, in einem «konventionalisierte[n] System von zwingenden Handlungen».
Betrachtet man Magie als Zaubertheorie, d.h. als ein logisches Konstrukt, das im Laufe der Geistesgeschichte tiefgreifende soziale und kulturelle Veränderungen bewirkte (Daxelmüller 1993), so muss man zugleich die Komplexität dieses Phänomens in den verschiedenen Kulturen und Kulturräumen konstatieren. Das schließt die Vorstellung einer anthropologischen Grundkonstante magischen Denkens, das über die historische Dimension hinaus eine entwicklungsgeschichtliche Dimension besitzt (Petzoldt 1978, X), nicht aus. Doch um diese genauer zu fassen, müsste man mehr über die Vermittlungs- und Rezeptionsprozesse altorientalischer Magie, die der antiken mediterranen Welt wohl durch griechisch schreibende Gelehrte aus Mesopotamien vermittelt wurde, bis hin zum Niederschlag magischer Praktiken und Formeln in Texten aus den letzten zweitausend Jahren wissen, als dies zurzeit der Fall ist.
Der Aberglaub’, in dem wir aufwachsen,
verliert, auch wenn wir ihn erkennen,
darum doch seine Macht nicht
über uns.
(Gotthold Ephraim Lessing,
Nathan der Weise)
«Die abendländische Magie», so eine Definition, «beruft sich als Denksystem auf die Vorstellung von den sympathetischen Strukturen des Kosmos. Die Verwobenheit von Makro- und Mikrokosmos ermöglicht ein Netz von Kommunikationsmöglichkeiten zwischen dem Menschen und den Göttern, beziehungsweise Dämonen, wobei das magische Ritual eine bild- und zeichenhafte Handlung für die diese ausführenden medialen Wesen darstellt.» (Daxelmüller 1993, 25f.) So lehrt schon das astral-magische Zauberbuch Picatrix (1256), dass es «für jedes Ding, das im Innern der Erde, auf ihrer Oberfläche und darüber in der Luft und noch höher entsteht, an der Sphäre ein Bild gibt, das seinem Bilde ähnlich, und eine Form, die seiner Form entsprechend ist, und ein Analogon, das seinesgleichen ist.» (Picatrix, 156)
Im Grimmschen Märchen Die Goldkinder wachsen zwei goldene Lilien als sympathetische Pflanzen zusammen mit den beiden Goldkindern heran. Als diese nun in die Welt hinausziehen, beschließen sie: «Die zwei goldenen Lilien bleiben hier, daran könnt ihr sehen, wie’s uns geht; sind sie frisch, so sind wir gesund; sind sie welk, so sind wir krank; fallen sie um, so sind wir tot.» Nachdem der eine der beiden Brüder vorzeitig heimgekehrt ist, bemerkt er, dass die Lilie des anderen plötzlich umknickt. Er reitet hinaus und erlöst den Bruder, der von einer Hexe in einen Stein verwandelt worden war. Als beide nun wieder nach Hause kommen, ist ihr Vater bereits über den glücklichen Ausgang des Geschehens unterrichtet: «Ich wusste wohl, dass du deinen Bruder erlöst hattest, denn die goldene Lilie ist auf einmal wieder aufgestanden und hat fortgeblüht.» (KHM 85) Hermann Hesse berichtet aus seiner Kindheit, er habe einmal eine Hyazinthe erhalten, die er aufziehen und seinem erkrankten Freund schenken sollte. Sogleich habe sich in ihm der Gedanke festgesetzt, dass der Freund gesunde, wenn die Pflanze gedeihe, dass er hingegen sterben würde, wenn sie einginge.
Das magische Weltbild ist bestimmt durch den Grundsatz der «Sympathie des Alls»: durch die Vorstellung, dass alles mit allem zusammenhängt. Dieser Sympathieglaube führt zu der Annahme, dass Gleiches Gleiches bewirkt, zur Vorstellung einer Analogie der Dinge also. Wir können daher von einem bildhaften Handeln sprechen, bei dem die Welt durch Analogien strukturiert ist und «die Dinge nach morphologischen Aspekten geordnet und wechselseitig aufeinander bezogen werden» (Thomsen u.a. 1983, 691).
Bereits die spätantike Naturphilosophie, so Daxelmüller, habe «mit der Feststellung von der Teilhabe der Dämonen sowohl am menschlichen Leib wie an den menschlichen Wünschen» den Rahmen eines magischen Weltbilds abgesteckt, das zugleich als Grundlage einer «Zaubertheorie» dienen konnte. Denn «es bedurfte lediglich der Kenntnis geheimer Symbole, Zeichen und Wörter, um sie [die Dämonen, L. P.] zur Ausführung des menschlichen Willens zu bewegen.» (Daxelmüller 1993, 73) Wichtig für die Entwicklung eines magischen Weltbilds wurden in der Folge insbesondere die Theorien des Neuplatonismus mit ihrer Verknüpfung dämonologischer und kosmologischer Vorstellungen, die von einem hierarchisch geordneten Kosmos ausgingen (Harmening 1991, 10ff.). Ausgehend von einem obersten Prinzip, durch dessen Emanation die einzelnen Stufen des Kosmos belebt werden, konnten in einer späteren Entwicklung diese Emanationen als Kräfte konkretisiert werden. Die Übersetzung magischer und naturphilosophischer arabischer Schriften machte dann das Abendland mit der astrologischen Magie und der Bedeutung der Planeten bekannt. Gegen den Determinismus des magisch-astrologischen Weltbilds wandten sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Vertreter des Florentiner (Neu-)Platonismus, Marsilio Ficino und Pico della Mirandola, indem sie die menschliche Autonomie betonten (ebd., 14ff.).
Die Entwicklung einer christlichen Dämonologie und Superstitionstheorie ist – ausgehend von Augustinus über Albertus Magnus bis hin zur «Wiedergeburt der Magie in der Renaissance» – wiederholt dargestellt worden (Thomsen u.a. 1983, 691ff.; Harmening 1991, 9ff.; Daxelmüller 1993, 72f.). Dabei ist zu beachten, dass die Beschäftigung mit Magie und die damit zusammenhängende theoretische Begründung eines magischen Weltbilds von Anfang an auf eine kleine Schicht der jeweiligen wissenschaftlichen Elite beschränkt blieb. Im für die theoretische Grundlegung des magischen Denkens bedeutsamen 16. Jahrhundert erarbeiteten die Humanisten eine «sublime Systematik» der Magie auf der Grundlage antiker bzw. neuplatonischer Theorien. Sie «bewegten sich innerhalb eines in sich schlüssigen Systems, in dem Welt und Kosmos, Menschen und Gestirne, Amulette und Planetenkonstellationen, Wörter, Zeichen und Wirkungen in unauflöslicher Verbindung zueinander standen. Der Mensch als Mikrokosmos war ein Bild des Makrokosmos.» (Thomsen u.a. 1983, 691) Agrippa von Nettesheim erörtert in De occulta philosophia (1531) den weitreichenden Anspruch einer naturwissenschaftlich orientierten Magie: «Die magische Wissenschaft, der so viele Kräfte zu Gebote stehen, und die eine Fülle der erhabensten Mysterien besitzt, umfasst die tiefste Betrachtung der verborgensten Dinge, das Wesen, die Macht, die Beschaffenheit, den Stoff, die Kraft und die Kenntnis der ganzen Natur. Sie lehrt uns die Verschiedenheit und die Übereinstimmung der Dinge kennen. Daraus folgen ihre wunderbaren Wirkungen, indem sie die verschiedenen Kräfte miteinander vereinigt und überall das entsprechende Untere mit den Gaben und Kräften des Oberen verbindet und vermählt.» (Agrippa von Nettesheim 2008, 56)
Was bis zum Beginn der Neuzeit als Domäne der Wissenschaft galt, wurde im 17. Jahrhundert konkretisiert, simplifiziert und Bestandteil des populären Bewusstseins auch unterer sozialer Schichten, die sich im mechanistischen, auf dem Denken in Analogien gründenden Zauberversuch übten. Im 20. Jahrhundert trat neben den Versuch, sich dem Phänomen Magie historisch zu nähern, der interkulturelle, ethnologische Vergleich. Hier ist vor allem die große Untersuchung La Mentalité primitive des französischen Philosophen und Ethnologen Lucien Lévy-Bruhl (1857–1939) zu nennen, die 1922 erschien und Gedanken früherer Studien von 1910 aufnimmt. Mit dem «Gesetz der Teilhabe» bzw. dem «Gesetz der mystischen Partizipation» (participation mystique) geht Lévy-Bruhl über den Animismus eines Edward Brunett Tylor oder James George Frazer hinaus und beschreibt die Mentalität der Menschen in archaischen Kulturen als «prälogisch» in dem Sinn, dass sie einer von den Kulturvölkern erreichten logischen Phase vorausgehe und also nicht als para- oder anti-logisch verstanden werden dürfe. Lévy-Bruhls «Gesetz der Teilhabe», nach dem Wesenheiten, Phänomene und Gegenstände zugleich sie selbst und andere sein können, fand in der wissenschaftlichen Diskussion weite Beachtung. Lévy-Bruhl exemplifiziert seine These vor allem am Problem der Kausalität: Anstelle kausaler Beziehungen nehme der «Primitive» für die ihn umgebende Natur ein komplexes Gewebe mystischer Partizipationen an, in dem das Natürliche mit dem Übernatürlichen eine magische Totalität bilde. Diese Denkweise schließt nicht zuletzt den Zufall aus dem menschlichen Leben aus, da sich in jedem Ereignis eine übernatürliche Macht kundtut, die allerdings nur intuitiv zu erfassen ist (Petzoldt 1978, XVf.).
Agrippa von Nettesheim, Titelbild der Occulta Philosophia.
Auch wenn Lévy-Bruhls Thesen heute überholt sind, da sie in ihrer evolutionistischen Konsequenz – von der sich Lévy-Bruhl in seinen letzten Lebensjahren weitgehend distanzierte – das Vorhandensein «prälogischer» Strukturen und Reaktionen auch in den fortgeschrittenen Kulturen der Gegenwart nicht hinreichend zu erklären vermögen, so waren sie doch von großer Tragweite. Von ihnen führte der Weg zu einer Aufhellung des Denkens in seinem «wilden Zustand», das sich von dem «zwecks Erreichung eines Ertrages kultivierten oder domestizierten Denken unterscheidet.» (Lévi-Strauss 1973, 257)
Es ist das Verdienst von Claude Lévi-Strauss (1908–2009), die Sorgfalt, mit der Eingeborene ihre Umwelt beobachten und deren Erscheinungen systematisieren und klassifizieren, in ihrer zweckfreien Logik dargestellt und interpretiert zu haben. Er beschreibt das «wilde Denken» als ein in sich «logisches» System, das in einer formalen Analogie zu unserer heutigen Wissenschaft steht. Unübertrefflich hatte diese Erkenntnis schon Honoré de Balzac formuliert, und so stellt Lévi-Strauss dessen Ausspruch seinem Buch La pensée sauvage (1962; dt. «Das wilde Denken») als Motto voran: «Niemand ist in seinen Berechnungen so genau wie die Wilden, die Bauern und die Provinzler; wenn sie vom Gedanken zur Wirklichkeit kommen, ist daher alles schon fertig.» (Lévi-Strauss 1973, 8) Mit seinen Studien schuf Lévi-Strauss die Grundlagen, um das im weitesten Sinne «magische» Denken auch innerhalb unserer zeitgenössischen westlich-rationalen Kultur zu interpretieren.
Und immer beruht die Magie auf der Idee
des Symbolismus und der Sprache.
(Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über Frazers «The Golden Bough»)
Zu den Grundelementen magischen Denkens gehört, wie gesagt, die Vorstellung von der «Sympathie der Alls» – eine Vorstellung, die bereits in der Antike verbreitet war und davon ausgeht, «dass Mensch und Natur im Wesensgrunde identisch seien und alles in der Natur mit allem verwandt sei», wie Eduard Spranger diese Bewusstseinshaltung beschreibt (Spranger 1934, 622). Der Begriff «Sympathie» ist hier in seiner ursprünglichen, aus dem Griechischen stammenden Bedeutung sym-pathein (συμπάθειν, «mit-leiden») zu verstehen. Auf dem Sympathieglauben beruht die altertümliche Vorstellung von Sympathietieren und sympathetischen Pflanzen, wie sie dem bereits erwähnten Grimmschen Märchen von den Goldkindern zugrunde liegt.
Die Metaphysik der sympathetischen Zusammenhänge beruht auf der archaischen Vorstellung der Umweltbeseelung (Animismus), deren einfachste Form die Personifikation bzw. Anthropomorphisierung (Vermenschlichung) von Gegenständen der uns umgebenden Natur darstellt – eine Handlungsweise, wie wir sie auch bei Kindern beobachten können. Arnold Gehlen charakterisiert diesen sympathetischen Zusammenhang als eine «Erkenntnisform des Instinkts», die in ein ritualisiertes Verhalten münde (Gehlen 1975). Dieses Verhalten wird weithin durch das Prinzip der Analogie bestimmt.