der Unnachahmliche
BIOGRAPHIE
Verlag C.H.Beck
Der «Unnachahmliche» wurde Charles Dickens von seinen Freunden genannt, und er übernahm den Beinamen selbstironisch, doch voller Stolz. Hans-Dieter Gelfert widmet sich in anschaulichen Kapiteln Dickens’ Leben und entwirft ein weites Panorama der Zeit, in der er wirkte. Im Wechsel mit biographischen Abschnitten werden in eigenen Kapiteln alle wichtigen Werke vorgestellt und interpretiert. Gelfert zeigt, wie Dickens seine traumatische Kindheitserfahrung als zwölfjähriger Hilfsarbeiter ohne jede Hoffung dichterisch so verarbeitete, dass daraus Romane hervorgingen, in denen sich Menschen gegen eine übermächtige Fremdbestimmung behaupten müssen. Politik und Gesellschaft erscheinen dabei als eine labyrinthische Sphäre totaler Entfremdung. Dieses Gefühl der Entfremdung ist seither immer mehr zum Lebensgefühl der Moderne geworden, und es führt Dickens aus der Welt des 19. Jahrhunderts an unsere Gegenwart heran.
Hans-Dieter Gelfert war bis zu seiner Emeritierung Professor für englische Literatur an der Freien Universität Berlin und ist seither freier Autor kulturwissenschaftlicher Werke und Übersetzer englischer Gedichte. Bei C.H.Beck ist zuletzt von ihm erschienen: Edgar Allan Poe: Am Rande des Malstroms (2008).
Vorwort
Dickens’ England
LEBEN UND WERK
Kindheit und Jugend – (1812 bis 1829)
Erste Liebe, erster Ruhm – (1829 bis 1835)
Skizzen von Boz
Im Schaffensrausch – (1836 und 1837)
Die Pickwickier
Lust und Last des Schreibens – (1838)
Oliver Twist
Auf der Erfolgsspur – (1839)
Nicholas Nickleby
Gute Gesellschaft und eigene Zeitschrift – (1840)
Der Raritätenladen
Aufbruch zu neuen Ufern – (1841)
Barnaby Rudge
Amerika, eine enttäuschte Liebe – (Januar bis Juni 1842)
Notizen aus Amerika
Zurück in England – (Juli 1842 bis Ende 1843)
Ein Weihnachtslied in Prosa
Neue Verleger – (Januar bis Juni 1844)
Martin Chuzzlewit
Italienische Reise – (Juli 1844 bis Juni 1845)
Die Glocken
Drang zur Bühne – (Juli bis Dezember 1845)
Das Heimchen am Herde
London, Lausanne und Paris – (Januar 1846 bis März 1847)
Der Kampf des Lebens
Wettstreit mit Thackeray – (April 1847 bis April 1848)
Dombey und Sohn
Tod der Schwester – (April bis Dezember 1848)
Der Heimgesuchte
Der autobiographische Roman – (1849 und 1850)
David Copperfield
Tavistock House – (1851 bis 1853)
Bleakhaus
Schreiben in Zeiten von Krieg und Cholera – (1854)
Harte Zeiten
Midlife-Krise – (1855 bis Juli 1857)
Klein-Dorrit
Ellen Ternan – (August 1857 bis Ende 1859)
Eine Geschichte zweier Städte
Gad’s Hill Place – (Anfang 1860 bis August 1861)
Große Erwartungen
Nachlassende Kreativität – (September 1861 bis Ende 1865)
Unser gemeinsamer Freund
Lesetourneen und Amerikapläne – (1866 und 1867)
Sackgasse (mit Wilkie Collins)
Lesetour in Amerika – (November 1867 bis April 1868)
Tod in den Sielen – (Mai 1868 bis Juni 1870)
Das Geheimnis um Edwin Drood
Dickens’ Testament
Epilog
ANHANG
Dickens’ Familie
Dickens’ Freundeskreis
Zeittafel
Dickens’ Werke
Quellenverzeichnis
Ausgewählte Literatur
Personenregister
The Inimitable, «der Unnachahmliche» – so nannte sich Dickens selbstironisch, doch voller Stolz, seit William Giles, sein erster Schullehrer, ihm 1836 aus Bewunderung eine silberne Schnupftabakdose mit der Gravur The inimitable Boz schickte. Damals war von Dickens nicht mehr als die unter diesem Pseudonym erschienenen Skizzen von Boz auf dem Markt, während sein in Fortsetzungen publizierter erster Roman Die Pickwickier noch im Erscheinen begriffen war. Deshalb gebührt dem jungen Lehrer und Baptistenprediger das Verdienst, als erster das Genie eines Mannes erkannt zu haben, dessen Name heute stellvertretend für eine ganze Epoche steht. Nur Shakespeare und Dr. Johnson werden in England als ähnlich repräsentativ für ihr Zeitalter empfunden.
Dickens’ Name beschwört eine Welt von unverwechselbarer Eigenart, weshalb das Adjektiv Dickensian zu einem festen Bestandteil der englischen Sprache geworden ist. Mit seinen Romanen schuf er einen Kosmos, aus dem mehr unvergessliche Figuren in die Alltagsmythologie der Engländer übergegangen sind als aus den Werken aller übrigen Dichter der Insel, Shakespeare eingeschlossen. Bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts umgab ihn aber auch die negative Aura des bloß Populären und nicht ganz Seriösen. Anspruchsvolle Leser neigten dazu, zwar seine Genialität anzuerkennen, zugleich aber auf ihn als einen Erzähler von Märchen für Erwachsene herabzublicken.
Es ist vor allem das Verdienst des amerikanischen Kritikers Edmund Wilson, dieses Fehlurteil korrigiert zu haben. Mit seinem 1939 gehaltenen Vortrag Dickens: The Two Scrooges leitete er eine Wende in der Dickenskritik ein, die danach – dank weiterer Arbeiten vorwiegend von Amerikanern wie Dorothy van Ghent, J. Hillis Miller und Mark Spilka – Dickens’ Werke nicht länger im viktorianischen Kontext, sondern eher in der Nähe Kafkas sah. Dieses neu erwachte Interesse, das 1970 in den Publikationen zum 100. Todestag kulminierte, ist inzwischen abgeflaut. In Deutschland war es gar nicht erst angekommen. Hier entspricht das allgemeine Dickensbild noch immer weitgehend dem seiner ersten Leser im 19. Jahrhundert. Für sie war Dickens der große Humorist und Sozialkritiker, der ein warmes Herz für die Mühseligen und Beladenen hatte und das Elend der Welt mit Humor zu lindern versuchte. Dass seine Werke nicht nur diese therapeutische Wirkung haben, sondern vor allem einen diagnostischen Blick in die conditio humana eröffnen, ist vom deutschen Lesepublikum bisher kaum erkannt worden. Da das vorliegende Buch zu dieser Sicht auf Dickens beitragen will, ist es nicht als reine Biographie, sondern als Monographie über Leben und Werk des Dichters angelegt.
Mit Dickens-Biographien ist der englische Buchmarkt bestens versorgt. Schon kurz nach seinem Tod brachte sein lebenslanger Freund und Ratgeber John Forster eine heraus, in der Dickens selber ausgiebig zu Wort kommt, da Forster aus den über tausend Briefen zitiert, die der Freund an ihn schrieb. Weitere Meilensteine in der akribischen Erforschung von Dickens’ Leben sind die Biographien von Edgar Johnson, Fred Kaplan, Peter Ackroyd und die 2009 erschienene von Michael Slater, dem hervorragenden Dickens-Kenner und Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze über ihn. Weniger Beachtung bei der kritischen Zunft fand die 1979 erschienene Biographie von Norman und Jeanne Mackenzie, die sich als erste auf die kritische Edition der Briefe stützte und auf eine sehr leserfreundliche Weise das Leben des Dichters erzählt. Dass sie so wenig gewürdigt wurde, rührt wohl daher, dass schon neun Jahre später Fred Kaplan seine mit festerem Zugriff geschriebene Biographie folgen ließ. Deutschen Lesern steht nur die Biographie der Mackenzies in einer guten Übersetzung von Edmund Jacoby zur Verfügung. Sie enthält, trotz einiger Ungenauigkeiten, alles Wesentliche. Eine noch akribischere Lebensbeschreibung als die von Michael Slater zu schreiben erscheint dem Verfasser des vorliegenden Buches überflüssig und für deutsche Leser wohl auch von geringem Interesse. Was dagegen hierzulande fehlt, ist ein Dickensporträt, das zugleich eine Vorstellung vom literarischen Rang des großen Erzählers vermittelt.
Beim biographischen Teil dieses Buches wäre es müßig gewesen, das von Slater gesichtete Material noch einmal an den Quellen zu überprüfen. Die wenigen Rätsel, die Dickens’ Leben aufgibt – hauptsächlich das seiner Beziehung zu Ellen Ternan –, werden sich nicht weiter aufklären lassen; alles andere hat Slater so gründlich erforscht, dass sich der Autor getrost auf ihn verlassen und ihm hier vorab seinen Dank abstatten kann. Weitere Informationsquellen, die das gleiche Lob und den gleichen Dank verdienen, sind das von Paul Schlicke herausgegebene Handbuch Oxford Reader’s Companion to Dickens (1998) und das von Paul Davis zusammengestellte Nachschlagewerk A Charles Dickens A to Z. The Essential Reference to his Life and Work, das ebenfalls 1998 zum ersten Mal erschien und 2009 in einer erweiterten Fassung herauskam. Hilfreich ist auch noch immer Norman Pages A Dickens Companion (1984). Die Hauptquelle für biographische Information war selbstverständlich die zwölfbändige Ausgabe von Dickens’ Briefen, deren Herausgebern deshalb der größte Dank gebührt.
Deutsche Leser mag es irritieren, wenn in dieser Biographie immer wieder Dickens’ Einkünfte erwähnt werden. Das war bereits in Forsters Biographie ein auffälliges Merkmal. Berechtigt sind diese Angaben insofern, als Dickens wie kein anderer Autor seiner Zeit seinen Wert zum Höchstpreis auf den Markt brachte. Deutsche Dichterbiographien behandeln das Geld meist als eine anrüchige Sache und lassen sich selten dazu herab, Honorare zu beziffern. Bei einem Autor wie Dickens, der mehr Zeit und Arbeit in philanthropische Unternehmungen investierte als die Mehrzahl seiner Kollegen, tut es seiner Ehre keinen Abbruch, wenn man ihn auch als einen hart verhandelnden Geschäftsmann vorstellt.
Ein anderes Ressentiment, das ebenso weit verbreitet ist wie das gegenüber dem Geld, ist der Verdacht, dass ein populärer Autor keiner von den ganz Großen sein kann. Dieses Vorurteil, gegen das wohl nur Amerikaner immun sind, war schon bei Dickens’ Zeitgenossen im eigenen Land zu spüren und hat bis heute dazu geführt, dass selbst mancher Kritiker, der Dickens als Künstler anerkannte, dies mit intellektuellem Naserümpfen tat.
Noch ein drittes Vorurteil stand einer gerechten Beurteilung seiner Erzählkunst von Anfang an im Wege: es betrifft seinen Gebrauch von unwahrscheinlichen Koinzidenzen. Nun ist aber in Forsters Biographie zu lesen: «Auf Koinzidenzen, Ähnlichkeiten und Überraschungen im Leben kam Dickens besonders gern zu sprechen, und wenige Dinge beschäftigten seine Fantasie so angenehm. Die Welt, pflegte er zu sagen, ist so viel kleiner als wir glauben; wir alle sind ohne unser Wissen schicksalhaft miteinander verknüpft.» Wenn dieser Gedanke von Forster an anderer Stelle als Dickens’ «Lieblingstheorie» bezeichnet wird, darf man auch die Koinzidenzen in seinen Romanen nicht einfach als bloße Spannungsmittel abtun, sondern muss sie als Teil seiner Weltsicht ernstnehmen.
Das Ziel des vorliegenden Buches ist es, neues Interesse für einen der größten Prosadichter der englischen Sprache – wenn nicht den größten überhaupt – zu wecken. Wer die Beschwörungskraft von Dickens’ Sprache, ihre geniale Sprachkomik und ihre von heiterer Skurrilität bis zu makabrem Grausen reichende Ausdrucksskala im Original kennt, wird jeden Übersetzer bedauern, der sich daran versucht. Der volle Genuss dieser Sprache ist nur im Original zu haben, während sich der tiefere Gehalt der Werke auch aus Übersetzungen entnehmen lässt – vorausgesetzt, man ist bereit und willens, über die Ausbrüche von Pathos und Sentimentalität hinwegzusehen, die den heutigen Leser erst einmal abschrecken. Lässt man sich dann aber in die Romane hineinziehen, wird man in ihnen eine in Bilder übersetzte Weltsicht finden, die eher an Kafka als an die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts erinnert. Diese vom viktorianischen Gewand verdeckte Modernität des Dichters harrt in Deutschland noch immer der Entdeckung.
Da Dickens’ Hauptwerke deutschen Lesern unter deutschen Titeln vertraut sind, werden sie hier unter diesen Titeln besprochen. Daneben werden aber auch die Originaltitel verwendet, um das Nachschlagen in englischsprachigen Informationsquellen zu erleichtern. Bei Nebenwerken wird auf die deutsche Übersetzung der Originaltitel verzichtet, wenn anzunehmen ist, dass heutige Leser sie ohne weiteres verstehen werden. Zur Erleichterung lexikalischer Informationsentnahme wird ein Teil des Faktenmaterials im Anhang nachgetragen oder zusammenfassend wiederholt.
Dickens lebte in einer Zeit, die als die viktorianische bezeichnet wird. Zwar war er schon 25 Jahre alt, als Viktoria den Thron bestieg, doch da die Epoche auch als das Zeitalter der Reformen gilt, lässt man sie gewöhnlich mit dem Jahr 1832 beginnen, in dem das erste große Reformgesetz verabschiedet wurde. Dieses Gesetz war lange überfällig und wäre wahrscheinlich schon früher von den fortschrittlichen Kräften durchgesetzt worden, wenn nicht die Französische Revolution die Angst geschürt hätte, dass eine Demokratisierung des Wahlrechts die Schleusentore für einen Umsturz öffnen könnte. Als die Briten dann lange Zeit allein den Krieg gegen Napoleon führen mussten, waren selbst die Sympathisanten der Revolution patriotisch genug, der eigenen Regierung nicht mit Reformforderungen in den Rücken zu fallen. Doch sobald Frankreich besiegt war, brachen die alten Konflikte neu auf.
Im 18. Jahrhundert hatte das englische Bürgertum einen stetigen Aufstieg erlebt. Sein politischer Anwalt war das House of Commons, das als Unterhaus jahrhundertelang dem Oberhaus der Lords nachgeordnet war, aber schon unter Elisabeth I. die politische Initiative an sich gezogen hatte und durch die Glorreiche Revolution und die dem König abgetrotzte Bill of Rights von 1689 zum Zentrum der Macht geworden war. Doch von Demokratie konnte trotzdem keine Rede sein, da die Zusammensetzung des Unterhauses in keiner Weise das Volk repräsentierte. Die älteste Hürde für eine Demokratisierung des Wahlrechts waren die sogenannten rotten boroughs, die ‹verrotteten Wahlkreise›. So nannte man jene Städte, die seit dem Spätmittelalter das verbriefte Recht hatten, zwei Abgeordnete ins Parlament zu schicken, obwohl sie nach der industriellen Revolution und der dadurch ausgelösten Bevölkerungswanderung nur noch wenige Einwohner hatten, während umgekehrt die erst vor kurzem aus Dörfern hervorgegangenen bevölkerungsreichen Industriestädte im Parlament nicht vertreten waren. Typische Beispiele, die in diesem Zusammenhang immer genannt werden, sind Old Sarum, das nur noch sieben Einwohner hatte, und Dunwich, dessen größter Teil von mehreren Sturmfluten ins Meer gespült worden war. Beide Orte behielten trotzdem ihre Parlamentssitze, deren Besetzung die jeweiligen Grundeigentümer bestimmten. Die Wahl der Abgeordneten erfolgte in den einzelnen Boroughs auf ganz unterschiedliche Weise, je nachdem, was vor Jahrhunderten im Stadtbrief festgeschrieben worden war. In einigen Städten hatten fast alle Männer das Wahlrecht, in anderen nur wenige Honoratioren, in wieder anderen alle, die auf einem Herd einen ‹Pott› zum ‹wallen› bringen konnten: das waren die potwaller-Städte, die man verächtlich auch potwallopers nannte. Wenn das Wahlrecht demokratischer werden sollte, musste zuallererst das Problem der rotten boroughs gelöst werden. Diesen Anfang machte das Reformgesetz von 1832, das nur gegen den massiven Widerstand des landed interest, d.h. der Großgrundbesitzer, durchgesetzt werden konnte. Nachdem es das Unterhaus passiert hatte, konnten die Lords im Oberhaus nur durch Androhung eines Peerschubs zur Zustimmung bewegt werden. Würden sie sich noch länger weigern, so die Drohung, würde König Wilhelm IV. so viele neue Lords aus dem liberalen Lager kreieren, bis dieses die Mehrheit hätte. Die unmittelbare Auswirkung des Reformgesetzes war gering. Die Zahl der Wahlberechtigten stieg nur von 478.000 auf 814.000. Doch der Damm war gebrochen, und die beiden folgenden Gesetze von 1867 und 1884 sorgten für die weitere Ausdehnung des Wahlrechts, allerdings nur für Männer.
Das zweite gravierende Problem, das unmittelbar nach dem Sieg über Napoleon aufbrach, war das der corn laws. Während des Krieges war England durch die von Napoleon verhängte Kontinentalsperre von seinen früheren Getreidelieferanten abgeschnitten, was die Kornpreise in die Höhe getrieben hatte. Da die Großgrundbesitzer fürchteten, dass mit dem Wiederbeginn des Seehandels die Preise durch Importe fallen würden, setzten sie im Parlament hohe Kornzölle durch, die ihnen weiterhin die gewohnten Einkünfte aus dem Getreideanbau sicherten. Für die Arbeiterschicht bedeutete das einen hohen Brotpreis, weshalb sie die Abschaffung der Zölle forderten. Hierbei hatten sie die Fabrikbesitzer auf ihrer Seite; denn die brauchten gut genährte Arbeiter, wollten aber keine höheren Löhne zahlen. So spalteten die corn laws das Volk in zwei Lager.
Bei einem anderen Problem verlief die Lagerbildung umgekehrt. Hier ging es um den Kampf der Arbeiter für bessere Arbeitsbedingungen, vor allem um die Verkürzung der täglichen Arbeitszeit, um Einschränkung der Kinderarbeit und später auch um ein Verbot von Frauen arbeit in Bergwerken. Jetzt standen die konservativen Grundbesitzer, sofern sie nicht zugleich Fabrikbesitzer waren, auf der Seite der Arbeiter, während die Unternehmer mit allen Mitteln versuchten, die sogenannten factory acts zu verhindern. Ihren einflussreichsten Freund unter den Konservativen fanden die Arbeiter in Lord Ashley, der 1851 nach dem Tode seines Vaters Graf Shaftesbury wurde und meist unter diesem Namen in den Geschichtsbüchern erscheint. Doch schon vorher hatte er eine Reihe von factory acts durch das Parlament gebracht, was zur schrittweisen Verbesserung der Arbeitsbedingungen und zur Beseitigung der schlimmsten Missstände in den Fabriken führte.
Die Arbeiter selber hatten bereits im Jahr nach Waterloo ihren Unmut artikuliert, als sie in Spa Fields in London eine Protestversammlung abhielten, auf die die Regierung mit der Suspendierung der Habeas Corpus-Akte reagierte. Dieses Gesetz von 1679 verbot es, Bürger ohne richterlichen Beschluss für längere Zeit festzunehmen. Es galt deshalb als das nach der Magna Charta wichtigste Bollwerk zum Schutz des Bürgers gegen die Staatsmacht. Ein Jahr nach Spa Fields folgte der Protestmarsch der Blanketeers, so benannt nach den blankets, den Wolldecken, die sie zum Schutz gegen Polizeiknüppel trugen. 1819 kam es dann in Manchester zum sogenannten Peterloo-Massaker, als sich auf dem St. Peter’s-Feld 60.000 Demonstranten zusammenfanden. Ihr Protest wurde mit brutaler Gewalt niedergeschlagen, wobei elf Personen getötet und weitere vierhundert verletzt wurden. Dieser Vorfall steht am Anfang einer Bewegung, die mit dem Begriff radicalism bezeichnet wurde, den auch Dickens für sich in Anspruch nahm. Der zunächst noch spontane Protest der Arbeiter nahm 1837 eine organisierte Form an, als einige besonnene Wortführer die People’s Charter verfassten, in der fünf Forderungen aufgestellt wurden: allgemeines Wahlrecht für alle erwachsenen Männer, geheime Wahl, Bezahlung der Abgeordneten, Abschaffung aller Eigentumsqualifikationen für das passive Wahlrecht und alljährliche Wahl. Der unter dem Banner dieser Carta geführte Kampf, der als chartism in die Geschichtsbücher einging, dauerte bis 1849. Zu diesem Zeitpunkt war zwar keine der fünf Forderungen erfüllt, doch drei Jahre zuvor hatte das Parlament unter dem Eindruck einer furchtbaren Missernte mit anschließender Hungersnot den von Premierminister Robert Peel eingebrachten Gesetzesentwurf zur Abschaffung der Kornzölle passieren lassen. Damit war der Protestbewegung der Wind aus den Segeln genommen, und der nun einsetzende Freihandel tat ein Übriges, den Lebensstandard der Arbeiterschicht zu heben, so dass das Interesse an organisiertem Protest erlahmte.
Die durch Radikalismus geprägte Epoche pflegt man als Frühviktorianismus vom Hochviktorianismus abzugrenzen, wobei als Einschnitt meist das Jahr 1851 gewählt wird, in dem England seine führende Position als erste Wirtschaftsmacht der Welt mit der Großen Weltausstellung in London demonstrierte. Die darauf folgende Epoche zeichnete sich durch Wirtschaftswachstum und dadurch bedingten sozialen Frieden aus. Jetzt richteten sich die politischen Energien auf den Auf- und Ausbau des zweiten Empire mit dem «Kronjuwel» Indien. Dort herrschte, zunächst mit den unblutigen Waffen des Handels, die East India Company. Doch als es 1857 zum Aufstand von Teilen der indischen Bevölkerung kam, nahm die Regierung dies zum Anlass, den Subkontinent der englischen Krone zu unterstellen. Das war der Beginn einer imperialistischen Politik, die 1876 in der Krönung Königin Viktorias zur Kaiserin von Indien kulminierte. Dieses Ereignis hat Dickens nicht mehr miterlebt, doch mit der imperialen Entwicklung kam er familiär in Berührung: Sein zweiter Sohn Walter war an der Niederschlagung des Aufstands beteiligt, und sein dritter Sohn Francis diente ebenfalls in Indien bei der berittenen Polizei von Bengalen.
Für die imperiale Entwicklung steht Benjamin Disraeli. Dessen sechsjährige Regierungszeit als Premierminister hatte Dickens ebenfalls nicht mehr erlebt, doch kennengelernt hatte er den acht Jahre älteren Politiker bereits in den dreißiger Jahren, da Disraeli wie er selber Romane schrieb. Disraelis politischer Widersacher war der Liberale William Ewart Gladstone, mit dessen Namen sich nach Dickens’ Tod vor allem die Kampagne für die Selbstregierung Irlands, die sogenannte Home rule debate, verband. Diese Kampagne setzte zwar erst in Dickens’ Todesjahr ein, doch das Irland-Problem war spätestens seit der durch die Kartoffelfäule 1845 ausgelösten Hungersnot ständig virulent. Dickens schätzte Gladstone mehr als Disraeli, doch er war auch ihm gegenüber kritisch. Von Carlyle ist die Äußerung überliefert, dass Dickens «nur Tweedledum dem Tweedledee vorgezogen» habe, zwei Figuren aus einem englischen Kinderreim. Der Widerstreit zwischen Imperialismus und Liberalismus spaltete England in der hochviktorianischen Epoche so, wie es in der frühviktorianischen der Konflikt zwischen konservativen Grundbesitzern und industriellen Unternehmern getan hatte.
Obwohl sich im 19. Jahrhundert eine rasant fortschreitende Verstädterung der englischen Gesellschaft vollzog, blieb das verinnerlichte Selbstbild der städtischen Mittelschicht dennoch stark vom Vorbild des Landadels, der gentry, geprägt. Städte und Gentry waren seit dem Hochmittelalter, als sich beide im Unterhaus zusammenfanden, durch eine Interessenallianz verbunden. Kulturell bewirkte diese Allianz, dass sich das Bürgertum seit dem 18. Jahrhundert an der sozial höher stehenden Schicht des Landadels orientierte, was im 19. Jahrhundert zu einem Prozess der Gentrifizierung der Mittelschicht führte. In der Literatur ist dies schon daran abzulesen, dass der allergrößte Teil der Romane im Umkreis des Landadels spielt. Die große Ausnahme ist Dickens, dessen Gesamtwerk wie ein Sozialatlas der Stadt London anmutet. Dennoch strebte auch er nach dem Ideal eines Lebens als Gentleman auf einem standesgemäßen Landsitz, und er verwirklichte es als Krönung seines Lebens mit dem Kauf seines Altersruhesitzes Gad’s Hill Place in der Grafschaft Kent.
Eines der drängendsten Probleme der frühviktorianischen Phase war die Armenfürsorge. Das ganze Mittelalter hindurch hatte die Verantwortung dafür bei der Kirche gelegen. Mit der Auflösung der Klöster unter Heinrich VIII. verschwand diese wichtigste karitative Institution, und an ihrer Stelle mussten die Gemeinden die Fürsorgepflicht übernehmen. Das führte während der industriellen Revolution dazu, dass die Armen sich nicht in den Industriezentren Arbeit suchten, weil sie dadurch den Anspruch auf Unterstützung durch ihre Heimatgemeinde verloren hätten. Dies Problem wurde 1834 mit einer harten Maßnahme gelöst, als der Poor Law Amendment Act das geltende Armenrecht dahingehend veränderte, dass Unterstützung nur noch den Alten und Gebrechlichen gewährt wurde, während alle arbeitsfähigen Armen, getrennt nach Geschlecht, in Arbeitshäusern ihren Unterhalt verdienen sollten. Diese Härte, gegen die Dickens immer wieder zu Felde zog, hatte den gewünschten Effekt und trieb die Arbeitslosen dorthin, wo es Arbeit gab. Damit erwies sich das, was für die unmittelbar Betroffenen grausam war, für das Gemeinwohl als positiv.
Die ökonomische Basis des Reformprozesses war die zweite Phase der industriellen Revolution, in der zur Textilindustrie, die im 18. Jahrhundert das Feld beherrschte, nun die Schwerindustrie hinzukam, die durch den Eisenbahnbau in ihrer Entwicklung dramatisch beschleunigt wurde. Überall, wo es Kohle gab und die Verkehrsanbindung günstig war, entstanden Stahlwerke. Das schon im 18. Jahrhundert gut ausgebaute Kanalsystem erlaubte preisgünstige Massenguttransporte, während das rasant anwachsende Eisenbahnnetz den schnellen Transport der Fertigprodukte zu den Verbrauchern und zu den Häfen ermöglichte. Darüber hinaus veränderte die Eisenbahn die Gesellschaft insgesamt. Reisen wurde nun auch für die ärmeren Schichten erschwinglich. Das förderte die Mobilität und die soziale Durchmischung.
Was in England am meisten im Argen lag, war das Rechtswesen. Das älteste Rechtskorpus ist hier noch heute das Common Law, ein ungeschriebenes Gewohnheitsrecht, das erst durch die Niederschrift von Gerichtsentscheidungen zum corpus iuris wird. Da sich im Laufe der Zeit die gesellschaftliche und ökonomische Lebenswelt der Bürger veränderte, waren alte Präzedenzfälle oft nicht mehr der aktuellen Realität angemessen. Das führte schon früh dazu, dass der König seinen Kanzler in dessen Rolle als «Behüter des königlichen Gewissens» beauftragte, ungerechte Urteile nach dem Prinzip der Billigkeit zu korrigieren. Ein Urteil, das nach dem Common Law rechtmäßig war, sollte nach Möglichkeit auch gerecht und billig sein. Der Kanzler, der bis zur Reformation fast immer ein kirchlicher Würdenträger war, griff dabei auf das am römischen Recht orientierte Kirchenrecht zurück. So entstand neben den königlichen Gerichtshöfen, die Recht nach dem Common Law sprachen, ein zweites Rechtssystem, das dem Kanzleigerichtshof, dem Court of Chancery, unterstand und nach dem Billigkeitsprinzip, auf Englisch equity, Recht sprach. Bis weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus existierten diese beiden Systeme nebeneinander und machten es dem Bürger oft unmöglich, sein Recht zu bekommen. Manche Fälle ließen sich, wenn überhaupt, nur auf der Basis von Fiktionen lösen. So war es üblich, dass man zur Klärung von Rechtstiteln an Grundbesitz, die weit in die Zeit des Feudalismus zurückreichten, davon ausging, dass ein fiktiver John Do mit einem ebenfalls fiktiven Richard Roe ein Rechtsgeschäft über den strittigen Gegenstand getätigt hatte. Nur wenn beide Parteien diese Fiktion akzeptierten, ließ sich der Streit lösen. Doch bevor es zum Prozess kam, musste erst einmal festgestellt werden, welches Rechtssystem überhaupt zuständig war. So wurde der Rechtsuchende in vielen Fällen vom Common Law zum Equity und vom Equity wieder zurück zum Common Law verwiesen, was nicht nur zeitraubend, sondern außerordentlich kostspielig war. Zu einer Vereinigung der beiden Rechtssysteme kam es erst 1873 mit dem Judicature Act; doch selbst unter dem gemeinsamen institutionellen Dach bestanden Common Law und Equity als getrennte Rechtscorpora mit unterschiedlichen Normen und Verfahrensweisen fort. Dickens hat der desolaten Rechtsprechung seiner Zeit mit Bleak House einen ganzen Roman gewidmet.
Der soziale Fortschritt, der in der Wirtschaft durch die industrielle Entwicklung und in der Politik durch die stetige Ausweitung des Wahlrechts vorangetrieben wurde, hatte seine kulturelle Entsprechung in der stetig fortschreitenden Alphabetisierung der Bevölkerung. Das Verdienst dafür gebührt vor allem den Sonntagsschulen, die sich ab 1780 über das ganze Land ausgebreitet hatten. Sie sorgten dafür, dass auch die Unterschicht Zugang zu Gedrucktem hatte. Anfangs beschränkte sich deren Lektüre auf die Bibel und auf religiöse Traktate. Romane waren für sie unerschwinglich. Sir Walter Scott, der in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts der prominenteste Autor war und als erster fünfstellige Auflagen erzielte, hatte mit dem Preis von 31 Shilling und 6 Pence für einen «Dreidecker» – dreibändige Ausgaben waren die Regel – den Standard gesetzt. Das war mehr als der Wochenlohn eines gut verdienenden Handwerkers. Als Henry Peter Brougham, der später Lordkanzler wurde, 1827 zusammen mit anderen die Society for the Diffusion of Useful Knowledge (‹Gesellschaft für die Verbreitung von nützlichem Wissen›) ins Leben rief, sorgten deren Kampagnen dafür, dass Bücher nach der teuren Erstauflage als popular edition für 6 Shilling und als cheap edition für 2 Shilling nachgedruckt wurden. Breiten Zugang zur Belletristik hatten die Geringverdiener aber nur durch die circulating libraries. Diese kommerziellen Leihbüchereien waren im 18. Jahrhundert entstanden und gewannen im 19. mit der Zunahme des lesefähigen Publikums immer mehr an Bedeutung. Sie trugen nicht nur zur Verbreitung, sondern auch zu einer gewissen Zensierung der Literatur bei. Da die führenden Unternehmen oft über tausend Exemplare eines Romans auf einen Schlag abnahmen und da diese Bücher in der Regel von der ganzen Familie gelesen, oft sogar in ihrem Kreise vorgelesen wurden, konnte es sich kein Autor leisten, etwas zu schreiben, woran vor allem Frauen Anstoß genommen hätten.
Während die deutsche Kultur in dieser Zeit ihre Spitzenleistungen in der Musik hervorbrachte, wurde die englische von der Literatur so sehr dominiert, dass die übrigen Künste daneben deutlich abfielen. Obwohl London das ganze Jahrhundert hindurch ein florierendes Konzertleben hatte, gab es keine englischen Komponisten, die an ihre deutschen, italienischen, französischen und russischen Zeitgenossen heranreichten. In der bildenden Kunst bot England das gleiche epigonale Kostümfest der Stile wie der größere Teil des Kontinents. Die Architektur bewegte sich zwischen Neogotik und Neoklassik, die Malerei zwischen biedermeierlichen Interieurs und großformatigen Historienbildern, und die in England ohnehin schwach entwickelte Bildhauerei erschöpfte sich im Herstellen monumentaler Denkmäler. Auch das Drama spielte eine untergeordnete Rolle und brachte wenig Originelles hervor. Selbst die Lyrik, die auf hohem Niveau den Vorbildern der Romantik folgte, trägt epigonale Züge.
Wirklich kreativ und dynamisch war die Entwicklung nur auf dem Gebiet des Romans, was auf die oben erwähnte Situation auf dem Buchmarkt zurückzuführen ist. Romane erzielten zu Dickens’ Zeiten eine gut zehnmal so hohe Auflage wie im 18. Jahrhundert zur Zeit von Fielding und Richardson. Wenn Dickens’ Werke in wöchentlichen oder monatlichen Fortsetzungsheften erschienen, stürzten sich bis zu hunderttausend Käufer auf jede neue Lieferung. Das brachte den Autoren beträchtliche Einkünfte. Dickens und Thackeray hatten Jahreseinkünfte von 5000 bis 10.000 Pfund. Das war das Hundert- bis Zweihundertfache des Einkommens eines Industriearbeiters. Nimmt man allein die Produktion derjenigen Autoren, die heute in Literaturgeschichten erwähnt werden, so ist die schon eindrucksvoll genug. Doch hinter der ersten Reihe stand eine zweite und dritte, die mit unermüdlichem Fleiß Roman für Roman auf den Markt warfen. Unter den Autoren waren sehr viele Frauen, deren Produktion besonders hoch war. So schrieben Charlotte Yonge und Margaret Oliphant jeweils rund 100, Catherine Gore 56, Ouida (ein Pseudonym für Marie Louise de la Ramée) über 40 und Mrs. Craik 34 Romane. Da Autorinnen lange Zeit gegen Vorurteile ankämpfen mussten, wählten sie zuweilen männliche Pseudonyme. So schrieb Mary Ann Evans ihre bedeutenden Werke unter dem Namen George Eliot. Doch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts galt umgekehrt eine Autorin als sichere Garantie für eine sittsame Familienlektüre, was William Sharp bewog, seine Romane unter dem weiblichen Pseudonym Fiona Macleod zu publizieren. Die Gesamtzahl der während der Regierungszeit Königin Viktorias publizierten Romane wird auf über 60.000 geschätzt. Allein im Zeitraum 1841 bis 1871, in dem Dickens publizierte, kam es zu einer Vervierfachung der Buchproduktion.
Als typisches Merkmal der viktorianischen Kultur gilt aus heutiger Sicht die Prüderie. Nach dem oben Gesagten ist verständlich, dass in Büchern, die im Familienkreis vorgelesen wurden, keine expliziten Schilderungen von körperlicher Erotik enthalten sein durften. Doch so prüde, wie es das gängige Vorurteil nahelegt, waren die Viktorianer nicht. Immerhin erreichte ein Buch von Dr. Drysdale, das sehr liberale Aufklärung zur Empfängnisverhütung bot, zwischen 1854 und 1905 30 Auflagen. Von einer sexfeindlichen Atmosphäre kann jedenfalls keine Rede sein. Ehelicher Geschlechtsverkehr galt als normal und gesund. Die große Zahl von Prostituierten in London – in einer Quelle ist von 80.000 die Rede, was übertrieben sein dürfte – und die florierende Pornographie, die unter dem Ladentisch gehandelt wurde, sind allerdings Indizien dafür, dass die sexuelle Sphäre in den nichtöffentlichen Teil des gesellschaftlichen Lebens verdrängt wurde. Dies ist neben anderen Faktoren der evangelikalen Bewegung zuzuschreiben, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stetig an Boden gewann.
In einem Punkte scheinen die Engländer anders empfunden zu haben als ihre Zeitgenossen auf dem Kontinent. Während dort der Typus der femme fatale auffallend zahlreich auftrat, spielte er in der englischen Literatur eine geringere Rolle. Das Frauenbild der Viktorianer war das des «Engels im Haus», den Coventry Patmore ab 1854 in einer so betitelten mehrteiligen Gedichtsequenz besang. Das viktorianische England war von einer tiefen Sehnsucht nach Unschuld geprägt, im sexuellen wie im moralischen Sinne. Diese Sehnsucht drückt sich in der sentimentalen Darstellung von Kindern ebenso aus wie in der Rückwendung zu idealisierten Formen von Männlichkeit, wie sie König Artus verkörperte, in dem man das mythologische Urbild der eigenen Gentleman-Kultur sah. Die Präraffaeliten suchten die Unschuld der Kunst in der Malerei vor Raffael, und Lewis Carroll suchte sie in dem Wunderland, von dem er seiner kleinen Freundin Alice Liddell erzählte. Wie viel unterdrückte – oder, um es positiver zu sagen, sublimierte – Sexualität darin zum Ausdruck kommt, zeigt sich in den Fotos, die Carroll von kleinen Mädchen machte. Deren Posen haben einen unübersehbaren Zug von Laszivität. Carroll hatte – soviel scheint sicher – keines dieser Mädchen jemals unsittlich berührt, doch die Fotos zeigen deutlich, was in Alice im Wunderland raffiniert verschlüsselt ist. Solcher Verschlüsselung begegnet man auch bei Dickens immer wieder.
Manches spricht dafür, dass die sexuelle Prüderie eine Strategie war, mit der die viktorianische Gesellschaft ihr schlechtes Gewissen beschwichtigte, das die gesamte Epoche unterschwellig prägte. Das Selbstbild der Viktorianer war tief gespalten. Was sich im Großen in der Sympathie für die irische Home Rule-Bewegung auf der einen und in der Begeisterung für einen expansionistischen Imperialismus auf der anderen Seite zeigt, wiederholte sich im Privaten im Bekenntnis zu ideellen Werten bei gleichzeitiger Jagd nach dem Mammon. Moralischen Rechtfertigungs- und Beschwichtigungsstrategien begegnet man in der viktorianischen Kultur auf Schritt und Tritt. So war beispielsweise das Hauptargument gegen die Beschäftigung von Frauen in heißen Kohleschächten nicht etwa die unmenschliche Härte der Arbeit, sondern dass man nicht zulassen dürfe, dass Frauen dort wie Männer mit nacktem Oberkörper arbeiteten.
Dickens selber verkörpert wie kaum ein anderer den viktorianischen Zwiespalt. In seinem realen Leben war er ein hart verhandelnder Geschäftsmann, der gegen Ende seines Lebens den hohen Honoraren für seine Vortragsreisen bis zur Erschöpfung nachjagte, während er in seinen Romanen regelmäßig den Verlust eines Vermögens als moralischen Gewinn darstellt, wobei die Opfer des gesellschaftlichen Wettbewerbs zu moralischen Siegern erklärt werden. Es scheint so, als brauchten die Viktorianer zur Entschuldigung ihres hemdsärmligen Erwerbsstrebens die Identifikation mit solchen Opfern, seien es Kinder wie Oliver Twist und Little Nell oder wie der sich selbst opfernde Sydney Carton in Eine Geschichte zweier Städte.
Es mutet sonderbar an, dass ausgerechnet unter einer Königin, nach der die ganze Epoche benannt wird, die englische Frauenbewegung erlahmte. Im 18. Jahrhundert war diese Bewegung eine englische Errungenschaft. Doch nach den emanzipierten Frauen der Blaustrumpf-Gruppe und nach der Kampfschrift von Mary Wollstonecraft, die 1792 die Gleichberechtigung der Frau einforderte, kam es erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der Suffragettenbewegung wieder zu tatkräftigen Aktionen. Königin Viktoria war strikt gegen das Frauenwahlrecht, und auch Dickens lehnte es ab. Zu den wenigen Rufern in der Wüste, die sich für die Gleichberechtigung einsetzten, gehörte als prominentester Vertreter John Stuart Mill, in dem Dickens nicht den liberalen Genossen, sondern nur den Vertreter des ihm verhassten Utilitarismus sah.
Dringlicher als das Frauenwahlrecht war allerdings die Verbesserung der Eigentumsrechte verheirateter Frauen. Bis zum Married Women’s Property Act von 1870 hatte der Ehemann das alleinige Verfügungsrecht über den Besitz seiner Frau und über ihre Arbeitseinkünfte. So konnte ein trunksüchtiger Mann den Lohn seiner Frau pfänden lassen, um das Geld danach zu vertrinken. Nur für vermögende Frauen ermöglichte das Billigkeitsrecht besondere Rechtskonstruktionen, die es erlaubten, den eigenen Besitz vor dem Zugriff des Ehemanns zu sichern. Eine weitere Benachteiligung der Frau gab es beim Scheidungsrecht. Hier war es schon für den Mann nicht leicht, eine Scheidung zu erwirken, für die Frau war es nahezu unmöglich. Bis 1857 konnte eine Scheidung nur durch einen Parlamentsbeschluss ausgesprochen werden. Erst danach gab es die Möglichkeit einer gerichtlichen Scheidung, wobei die Benachteiligung der Frau bestehen blieb. Denn ein Mann konnte die Scheidung verlangen, wenn die Frau ihm untreu war, während die Frau die Scheidung nur bekam, wenn auf seiten des Mannes zur Untreue eine andere Verfehlung wie Grausamkeit, Vergewaltigung, Inzest oder Sodomie hinzukam. Auf das Scheidungsproblem kommt Dickens in seinem Roman Harte Zeiten zu sprechen. Doch bezeichnenderweise zeigt er dort keine Frau, die an einen trunksüchtigen Mann gekettet ist, sondern einen Mann, der eine Trinkerin am Halse hat.
So sehr Dickens gegen das agitierte, was er als Utilitarismus verstand, so entschieden stand er dennoch im liberalen Lager und auf der Seite des wissenschaftlichen und ökonomischen Fortschritts. Die im konservativen Lager zunehmende nostalgische Sehnsucht zurück ins Mittelalter war ihm zuwider. In den von ihm herausgegebenen Zeitschriften bot er seinen Lesern immer wieder populärwissenschaftliche Information, auch wenn es sich dabei von seiner Seite um ein eher oberflächliches Interesse handelte.
Ob er das folgenreichste wissenschaftliche Werk seiner Zeit, Darwins Buch über den Ursprung der Arten, gelesen hat, ist nicht gewiss. Zumindest besaß er es, hat sich dazu aber nicht explizit geäußert, was insofern erstaunlich ist, als unmittelbar nach Erscheinen des Buches zahlreiche Karikaturen publiziert wurden, die den Menschen als Abkömmling des Affen zeigen. Das Anstößige an Darwins Theorie war nicht der Evolutionsgedanke, sondern die These, dass die Arten das Ergebnis eines gnadenlosen Überlebenskampfes nach dem Prinzip des survival of the fittest seien. Der Evolutionsgedanke selber war lange vorher und das ganze Jahrhundert hindurch in fast allen Köpfen präsent. Schon Darwins Großvater Erasmus hatte ihn in langen Lehrgedichten verkündet. Vor allem die Paläontologie, die durch den englischen Pionier William Smith maßgeblich mitbegründet wurde, hatte dank der zahlreichen Fossilienfunde in englischem Boden ein breites Interesse geweckt. In einem Brief vom 28. Mai 1863 an seinen Freund de Çerjat äußert Dickens die Ansicht, dass die von der Wissenschaft erforschte geologische Schichtung der Erde genauso als Offenbarung Gottes anzusehen sei wie «Bücher großen Alters und von (bestenfalls) zweifelhafter Urheberschaft».
Das zentrale Ereignis in der Mitte des Jahrhunderts war die Londoner Weltausstellung von 1851. Während Königin Viktoria den Eröffnungstag der von ihrem Ehemann Prinz Albert ins Leben gerufenen Ausstellung als «den größten Tag in unserer Geschichte» bezeichnete, blieb Dickens diesem nationalen Triumph gegenüber merkwürdig kühl. Insgesamt fällt auf, dass im Vergleich mit Deutschland, wo im 19. Jahrhundert das naturwissenschaftliche und technische Schrifttum gewaltig anschwoll, die englische Produktion erheblich geringer ausfiel. Hier hielt das gebildete Bürgertum weit stärker als im vermeintlichen Land der Dichter und Denker am schöngeistigen Bildungsideal fest. Die Weltausstellung, die zwischen dem 1. Mai und dem 15. Oktober von über sechs Millionen Menschen besucht wurde, symbolisierte nicht nur Englands Spitzenstellung auf technologischem Gebiet, sie versöhnte das englische Volk auch mit dem deutschen Prinzgemahl, dem es bis dahin reserviert gegenübergestanden hatte. Von jetzt an bis zu Alberts Tod im Jahr 1861 galt das königliche Paar als die Musterfamilie der Nation, weshalb sich in dieser Zeit die Vorstellung eines viktorianischen Zeitalters auszubilden begann.
Als die Königin nach Alberts Tod in tiefe Trauer versank und sich jahrelang kaum noch öffentlich blicken ließ, kühlte sich die Liebe des Volkes für die Monarchin merklich ab. Erst der Schotte John Brown, der als Leibdiener eingestellt wurde, um die Königin bei den ärztlich verordneten Ausritten zu begleiten, holte die trauernde Witwe wieder ins gesellige Leben zurück. Das aber führte nun erst recht zu Unmut beim Volke, da ihr Verhältnis zu dem Diener so eng wurde, dass man es als unschicklich empfand und von der Königin als Mrs. Brown sprach. Erst in späteren Jahren wurde Viktoria, jetzt wohl mehr aus Patriotismus, als positive Repräsentantin der Nation empfunden und verehrt.
Eine zwiespältige Rolle spielte in der ganzen Zeit die Kirche. England hatte – und hat noch immer – eine Staatskirche, deren Bischöfe auf Vorschlag der Regierung von der Krone eingesetzt wurden, während die Pfarrstellen, zumindest die auf dem Lande und in den kleineren Städten, von den Grundherren vergeben wurden. Das bedeutete eine enge Allianz zwischen Kirche und Aristokratie und damit eine ablehnende Haltung gegenüber demokratischen Reformen. Andererseits hatte sich bereits ab 1729 die aus der puritanischen Tradition gespeiste Bewegung des Methodismus daran gemacht, das kirchliche Leben von unten her zu erneuern. Doch der Widerstand der kirchlichen Hierarchie war zu groß, so dass die Methodisten die Church of England verließen und 1784 eine eigene Kirche gründeten. Ein Teil der evangelikalen Bewegung blieb jedoch in der Kirche und erhielt im 19. Jahrhundert vor allem in den Industriestädten starken Zulauf. Dadurch kam es innerhalb der Kirche zu einer Differenzierung in High Church und Low Church. Die Hochkirche stand an der Seite der Aristokratie, während sich die evangelikale Low Church um die Interessen der Arbeiter kümmerte. Dazwischen formierte sich eine wachsende Mittelposition als Broad Church, die ein weitherziges religiöses Bekenntnis und eine pragmatische Haltung gegenüber sozialen Fragen vertrat. Auf religiösem Gebiet war die Staatskirche im Laufe der Zeit immer liberaler geworden. 1829 wurde mit dem Catholic Emancipation Act auch die Benachteiligung der Katholiken endgültig beseitigt, während die Juden noch bis zum Jewish Relief Act von 1858 warten mussten.
Insgesamt war die englische Kirche im 19. Jahrhundert auf religiösem Gebiet durch zunehmende Toleranz geprägt. Ihr geistiger Einfluss auf die Bevölkerung war eher gering. Doch groß war noch immer ihre politische und soziale Macht. Bei der Vergabe von Ämtern in der lokalen und regionalen Verwaltung hatte sie ein kräftiges Wort mitzureden; und im Oberhaus hatten die Bischöfe, die dort qua Amt Sitz und Stimme hatten, weiterhin Einfluss. Die zunehmende Laxheit im Religiösen rief jedoch 1833, kurz nach der Verabschiedung des ersten Reformgesetzes, das sogenannte Oxford Movement ins Leben. Den Anstoß dazu gab John Keble mit einer scharfen Predigt gegen den «nationalen Abfall» vom wahren Glauben. Im selben Jahr publizierten John Henry Newman, R. H. Froude und andere die Schrift Tracts for Our Times (Traktate für unsere Zeit), deren Tenor die Forderung nach einer Rückkehr zu den strengen kirchlichen Ritualen war. Die Tractarians, wie man sie nannte, gewannen stetig an Einfluss. Am konsequentesten war Newman, der die Forderung nach einer Rekatholisierung der anglikanischen Kirche so weit trieb, dass er schließlich die Kirche verließ, zum Katholizismus übertrat und dort Kardinal wurde. Dickens war der Konservatismus der Hochkirche ebenso zuwider wie der religiöse Eifer der Evangelikalen. Besonders wütend machte ihn die als sabbatarianism bezeichnete Kampagne, die eine strikte Einhaltung der Sonntagsruhe forderte. Auch wenn die radikalste Forderung nach völligem Stillstand des öffentlichen Lebens einschließlich der Verkehrsmittel nicht durchkam, wurde damals durch eine Reihe von gesetzlichen Einschränkungen der Grund für die sprichwörtliche Langeweile der englischen Sonntage gelegt, die bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts anhielt.
Sieht man einmal vom Krimkrieg ab, in dem fernab von England zwischen 1854 und 1856 45.000 britische Soldaten verbluteten, so war die viktorianische Epoche bis zu Dickens’ Tod friedlich. Während Frankreich 1831 und noch einmal 1848 von einer Revolution erschüttert wurde, die sich im zweiten Fall auf große Teile des Kontinents ausdehnte, gelang es der englischen Regierung, den revolutionären Druck rechtzeitig abzufangen und in Reformen zu überführen. Auch beim Aufbau des Empires fanden die kriegerischen Auseinandersetzungen weit weg vom Mutterland in Indien statt. Auf dem europäischen Kontinent wurde die Geburt des Deutschen Reiches mit Kriegen Preußens gegen Dänemark und Österreich eingeleitet und zuletzt mit dem Krieg gegen Frankreich vollendet. Über England breitete sich währenddessen ein milder Himmel aus, der gegen Ende des Jahrhunderts den leicht melancholischen Charakter eines Indian summer annahm.
Allerdings zog gerade diese Milde in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Verachtung der Intellektuellen auf sich. Damals erhielt das viktorianische Zeitalter den Stempel des Engherzigen, Muffigen, Heuchlerischen und Spießigen. Es dauerte einige Jahrzehnte, bis sich eine gerechtere Beurteilung durchsetzte. Heute sieht man, dass die viktorianische Gesellschaft nicht nur tatkräftig, sondern auch weltoffen und gar nicht so engherzig war. Im Vergleich mit anderen Gesellschaften der westlichen Welt zeichnete sie sich durch einen nüchternen Sinn für wirtschaftlichen Fortschritt und Verbesserung der sozialen Verhältnisse bei gleichzeitiger Wertschätzung für kulturelle Leistungen aus. Während anderswo Anzeichen von Fäulnis und Gärung zu beobachten sind – man denke an symptomatische Gestalten wie Poe in Amerika, Baudelaire in Frankreich und Nietzsche in Deutschland –, ist die wohl repräsentativste Gestalt jener Zeit in England Charles Darwin, der den Evolutionsgedanken ins Zentrum rückte. Sein Bild eines zwar gnadenlosen, aber auf Gleichgewicht ausgerichteten Wettbewerbs in der Natur entspricht im Wesentlichen der ökonomischen Realität seiner Zeit. Insofern zeichnet sich das viktorianische England gegenüber seinen Konkurrenten durch eine vergleichsweise «gesunde» Entwicklung aus, wenngleich auch hier der Druck im Kessel zunahm.
Bis zu Dickens’ Tod war das Land aber noch in einem steilen Aufstieg begriffen. Die herrschende Ideologie war von Optimismus, Rationalität und Reformbereitschaft geprägt, auch wenn in der Literatur ein unterschwelliger Zug von Melancholie stetig zunahm. An Dickens’ Werk lässt sich wie an einem Seismographen ablesen, dass die Anpassung der Gesellschaft nicht mit der unerbittlichen Entwicklung der objektiven Verhältnisse Schritt hielt. Es ist gewiss kein Zufall, dass das englische Wort für ‹unerbittlich›, nämlich inexorable, und der damit verbundene Vorstellungskomplex in seinem drittletzten Roman, Eine Geschichte zweier Städte, eine zentrale Bedeutung gewinnt. Er schrieb ihn unter dem Eindruck des politischen Katzenjammers nach dem desaströs verlaufenen Krimkrieg und wählte dafür als Stoff die Französische Revolution. Der Dickens-Spezialist Humphry House, der ein kluges Buch mit dem Titel The Dickens World schrieb, prägte den vielzitierten Satz: «In Pickwick war ein schlechter Geruch ein schlechter Geruch, in Our Mutual Friend ist er ein Problem.» Wie es zu dieser Entwicklung von Dickens’ erstem bis zu seinem letzten vollendeten Roman kam, soll nun gegen den hier aufgerollten Hintergrund an Leben und Werk des Dichters aufgezeigt werden.
Das «Leidmotiv»
Am 10. Februar 1812 stand in The Hampshire Telegraph und in The Hampshire Courier unter der Rubrik «Geburten» die folgende Anzeige:
On Friday, at Mile-end Terrace, the lady of John Dickens, Esq., a son.
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