DIE ARABISCHE
REVOLUTION
VERÄNDERT
DIE WELT
C.H.BECK
Große historische Umwälzungen geschehen oft unerwartet. So war es im Herbst 1989 beim Zusammenbruch des Ostblocks, und so war es im Frühling 2011, als die arabische Welt sich in «Tagen des Zorns» gegen ihre Diktatoren erhob. Erst Tunesien, dann Ägypten, schließlich Libyen und Syrien: nach kurzer Zeit stand die ganze arabische Welt in Flammen. Und im Westen rieb man sich erstaunt die Augen. Michael Lüders erklärt in diesem Buch, wie es zur arabischen Revolution kommen konnte, warum sie sich wie ein Lauffeuer ausbreitete und was sie für uns in Europa bedeutet. Dabei stellt er die gängigen Klischees über die Region infrage, führt prägnant und anschaulich in die Verhältnisse ein und zeigt, wie sich unser Blick auf die arabische Welt und den Islam ändern muss, wenn wir den neuen Herausforderungen gerecht werden wollen.
Bisher glaubte die westliche Politik, sich mit Hilfe von menschenverachtenden Despoten Stabilität und Sicherheit im Nahen Osten erkaufen zu können. Eine Demokratisierung der arabischen Welt, so die Befürchtung, bedeute den Sieg der Islamisten. Die Zukunft ist offen. Aber eines ist jetzt schon klar: Wir brauchen eine andere Wahrnehmung dieser Weltgegend, in der auch Arabern und Muslimen das Streben nach Freiheit und Demokratie zugestanden wird.
Michael Lüders, Autor und Berater, war lange Jahre Nahost-Korrespondent der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT. Alle Länder der Region hat er intensiv bereist, unter anderem in Damaskus studiert und über das ägyptische Kino promoviert. Mit seinen anschaulichen Erklärungen ist er bei allen großen Fernseh- und Radiosendern im deutschsprachigen Raum ein häufiger Gast.
Wohl lag etwas Gewaltiges und Erhebendes in dieser ohne feste Leitung unter den zufällig gegebenen Feldherren von der Menge selbst begonnenen und ohne Blutvergießen durchgeführten Revolution, und gern und stolz erinnerten sich ihrer die Bürger. Empfunden wurden ihre Folgen durch viele Jahrhunderte; ihr entsprang das Volkstribunat.
Theodor Mommsen (1817–1903) über die Erhebung der Bauernschaft gegen die Schuldgesetze im Römischen Reich 495 vor Christus
Sultandämmerung. Vorwort
Wie alles anfing. Der Weg zur Revolution
Warum eigentlich gab es keine Demokratien in der arabischen Welt?
Enttäuschte Hoffnungen. Das Beispiel Ägypten
Von der Friseurin zur Milliardärin. Macht und Mafia (nicht nur) in Tunesien
Die Angst vor dem Wandel. Weshalb der Westen sich schwertut mit dem arabischen Frühling
Kairo, Tahrir-Platz. Wir sind das Volk
Libyen. Ghaddafi und die Folgen
Über Inseln. Al-Jazeera in Katar und die Gegenrevolution in Bahrain
Über Greise. Saudi-Arabien zieht die Fäden, auch im Jemen
Religion und Revolution. Sind am Ende Islamisten die Sieger?
Die heimliche Reformation. Martin Luther, islamisch gedacht
Syrien in der Revolte. Ein Augenarzt verteidigt seine Macht
Wir wollen rein! Der Aufstand macht vor Israels Grenzen nicht halt
Ausblick. Was nun?
Abbildungsnachweis
Niemand hat die arabische Revolution kommen sehen. Doch dann war sie da, eine Naturgewalt, die Regime stürzte und Gegenrevolutionen entfesselte. Die arabische Welt durchlebt einen epochalen Wandel wie Osteuropa seit 1989. Doch anders als der Fall der Berliner Mauer ruft der arabische Aufstand vielfach Skepsis hervor. Auch deswegen, weil er eigene Glaubensgewissheiten erschüttert. Muslime fordern Demokratie? Nicht den Gottesstaat? Stürzen ohne einen einzigen Schuss Mubarak den Pharao? Erheben sich gegen Ghaddafi, und die Nato hilft ihnen dabei? Wohin soll das führen?
Wie schwer sich westliche Politik tat, die Veränderungen anzunehmen, zeigten die Reaktionen in Washington, Berlin und anderswo. Zurückhaltung, Zögerlichkeit, ein verbissenes Abwägen. Öffentlich bekundete Freude über den Wandel erst, nachdem er unwiderruflich erschien. Die eigene, jahrzehntelang betriebene Politik, mit den übelsten Gewaltherrschern zu paktieren, solange sie Erdöl liefern, Terroristen jagen und Flüchtlinge von Europas Grenzen fern halten, war buchstäblich über Nacht hinfällig geworden. Zusätzlich fehlgeleitet durch eine Islamophobie, die auf komplexe gesellschaftliche Fragen einfache Antworten bereithält, haben viele Europäer lange nicht verstanden, verstehen wollen, dass die arabische Revolution nicht Gefahren heraufbeschwört, sondern neue Chancen eröffnet. Auch die Verlierer stehen fest, neben den Diktatoren. Das ist zum einen der islamische Fundamentalismus bis hin zu Al-Qaida. Und zum anderen die sogenannte «Islamkritik», die der hiesigen Öffentlichkeit seit Jahren einzuflüstern versucht, der Islam sei in erster Linie eine Bedrohung. Die Werte, für die Menschen aller Schichten und Altersgruppen zwischen Marokko und Oman eintreten, sind universelle Werte. Islam oder Nicht-Islam spielt in dem Zusammenhang keine Rolle. Vielmehr geht es um Freiheit und Glück, um Zukunft und Demokratie. Um Hoffnung und Gerechtigkeit. Das mag erklären, warum der friedliche Massenprotest Nachahmer finden wird, schon gefunden hat. Bei den Regionalwahlen in Spanien, als Tausende Jugendliche in der Innenstadt von Madrid campierten. Bei den anhaltenden, noch viel größeren Demonstrationen gegen Sozialabbau in Athen und Tel Aviv, wo ebenfalls zentrale Straßen oder Plätze wochenlang in Besitz genommen wurden. Nicht anders als auf dem Tahrir-Platz in Kairo, wo alles angefangen hatte.
Das «Wunder» der arabischen Revolution handelt vom Sturz einer historisch überlebten, vormodernen Herrschaftsform, verkörpert von sultanähnlichen Diktatoren. Von außen besehen mochten Regime wie die von Mubarak oder Ghaddafi unerschütterlich erscheinen. In Wirklichkeit waren sie schon seit längerem verletzlich und anfällig, weil sich ihre innere Antriebskraft, Machterhalt um jeden Preis, Selbstbereicherung, kaum noch mit der äußeren Wirklichkeit vertrug: Die große Mehrheit der Araber lebt in Armut, die Jugend hat wenig Perspektiven und will nicht länger nur träumen.
Eine «sultanische» Herrschaftsform entsteht, wenn ein nationaler Herrscher seine Macht auf Kosten staatlicher Institutionen ausbaut. Moderne Sultane sind keiner Ideologie verpflichtet, auch wenn sie das Gegenteil behaupten. Der einzige Sinn und Zweck ihrer Politik ist die Wahrung ihrer Autorität. Sie mag formalen Anforderungen einer Demokratie genügen, indem Wahlen stattfinden, Parteien im Parlament miteinander streiten. Mubarak, Ghaddafi & Co sorgen allerdings dafür, dass alle Schlüsselpositionen mit ihren Gefolgsleuten, meist Verwandten oder Angehörigen derselben religiösen/ethnischen Gruppe, besetzt werden. Wie das im Einzelnen aussieht, beschreibt dieses Buch. Gleichzeitig häufen sie milliardenschwere Vermögen an, die auf ausländische Konten verschoben werden oder dazu dienen, die eigenen Anhänger für ihre Loyalität zu belohnen. Washington oder den Europäern dienen sie sich als verlässliche Partner an, die als Gegenleistung für Hilfe und Investitionen für Ruhe und Ordnung sorgen: Ohne den jeweiligen Sultan drohten Chaos oder Al-Qaida. Um keinen Militärputsch zu riskieren, untersteht die Armee in der Regel keinem geeinten Oberkommando. Vielmehr hat jede Waffengattung ihre eigenen Hierarchien. Zahlreiche Geheimdienste kontrollieren sich gegenseitig und gemeinsam die Armee, von der eigenen Bevölkerung ganz zu schweigen. Diese Herrscher inszenieren sich als Väter der Nation, deren salomonischen Ratschlüssen sich Zivilisten wie Militärs in Demut zu beugen haben.
Der Keim des Zerfalls moderner Sultanate ist ihre unermessliche Gier. Je länger der Sultan an der Macht ist, umso schwerer fällt ihm die Balance zwischen Selbstbereicherung und Gunstbeweisen gegenüber den eigenen Anhängern. Die jeweiligen Volkswirtschaften sind in der Regel nicht produktiv, jenseits von Erdöl und Erdgas, und generieren zu wenig Einkommen. Subventionen für Grundnahrungsmittel, Strom und Benzin, mit denen Mubarak, Ghaddafi & Co die Gunst der einfachen Bevölkerung zu kaufen suchen, leeren zusätzlich die Staatskasse. Gleichzeitig ist in den letzten zehn, 15 Jahren eine neue Generation junger, gut ausgebildeter Internetnutzer herangewachsen, die sich als Avantgarde der Revolution bewährte. Ihr folgten Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft, die der Lügen der Machthaber überdrüssig waren. Das Volk beschloss, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Seit ihrer Unabhängigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Araber wie in einer Zeitkapsel gelebt – bevormundet von autoritären Regimen, die kein einziges der drängenden Probleme ihrer Länder gelöst haben, von der Geburtenkontrolle bis zur Umweltverschmutzung. Die arabische Welt verharrte in Stagnation und Resignation, flüchtete in fragwürdige Ideologien. Bis zum Schicksalsjahr 2011, dem Jahr Null der Zeitenwende.
Dieses Buch erzählt, wie es dazu kam. Es spannt einen essayistischen Bogen von den Anfängen in Tunesien über saudische Greise, den Islam und Israel bis zu unserem, dem westlichen Blick auf die arabische Revolution. Der Nachrichtensender Al-Jazeera spielt ebenso eine Rolle wie Martin Luther. Einen eigenen Standpunkt einzunehmen heißt auch, Glaubensgewissheiten nicht blind zu vertrauen. Die Beschäftigung mit der arabischen Revolution geht zwangsläufig einher mit einer kritischen Selbstbefragung. Wer darauf beharrt, Islam und Moderne, Islam und Demokratie vertrügen sich nicht, kann besagte Zeitenwende nicht verstehen oder kommt zu sachlich falschen Schlussfolgerungen.
Die arabische Revolution ist widersprüchlich, verläuft in verschiedenen Bahnen, bezeichnet einen offenen Prozess. Schon über Worte ließe sich streiten. Ist es wirklich eine Revolution? Ein Aufstand? Ein Frühling? Die Antwort variiert von Land zu Land, der Autor verwendet die Begriffe vielfach synonym. Angesichts der historischen Zäsur, die unstrittig ist, erscheint der Oberbegriff «arabische Revolution» auf jeden Fall gerechtfertigt – unabhängig davon, dass auch die meisten Araber ihren Kampf als Revolution bezeichnen. Wohin sich diese entwickelt, ob ihre Resultate in jedem Fall vor der Geschichte Bestand haben werden – das ist eine ganz andere Frage.
Ein Buch zu schreiben, während die Dinge noch im Fluss sind, ist nicht ganz einfach. Stets lauern sie im Unterholz, die nicht auszuschließenden Irrtümer oder Fehleinschätzungen. Und in einem Monat, in einem halben Jahr tritt der Fluss möglicherweise an einer Stelle über das Ufer, mit der niemand gerechnet hätte.
Der besseren Lesbarkeit halber wurde auf Fußnoten verzichtet. Wichtige Quellen waren persönliche Kontakte, Erfahrungen und Recherchen des Autors, die drei Jahrzehnte umfassen. Des Weiteren tagesaktuelle Medien, die Internetarchive von Al-Jazeera, Al-Arabiya, The Guardian, Qantara.de, ein Dialog-Projekt des Auslandssenders Deutsche Welle mit der islamischen Welt, sowie zahlreiche Blogs aus verschiedenen arabischen Ländern. Ferner Nader Hashemi «Islam, Secularism, and Liberal Democracy», Oxford 2009; Luis Martinez «The Libyan Paradox», London 2007; Richard P. Mitchell «The Society Of The Muslim Brothers», New York 1993; Bruce K. Rutherford «Egypt after Mubarak», Princeton 2008; Eric Selbin «Revolution, Rebellion, Resistance. The Power of Story», London 2010.
Trostlose Orte gibt es überall auf der Welt. Die Trostlosigkeit der arabischen Provinz aber hat etwas Beklemmendes. Stagnation und Armut inmitten einer Architektur, die überwiegend aus unverputzten Betonquadern besteht. Kargheit prägt die Natur wie die Menschen, denen die Resignation vielfach ins Gesicht geschrieben steht. Selten nur stellt sich ein Gefühl von Aufbruch und Hoffnung ein, viel zu sehr sind die Bewohner damit beschäftigt, ihr eigenes Überleben und das der Familie zu organisieren, jeden Tag aufs Neue. Das geflügelte literarische Wort von der «Endstation Sehnsucht» findet in der arabischen Provinz, ob in Marokko oder im Jemen, seine Entsprechung in der Wirklichkeit. Nicht überall, nicht ausnahmslos, doch in aller Regel. Und vielleicht ist die arabische Provinz auch deswegen besonders unwirtlich, weil ihre Bewohner wissen, dass es ein besseres, schöneres, verheißungsvolleres Leben irgendwo da draußen gibt, weit weg, unerreichbar, doch über Satellitenfernsehen allgegenwärtig.
Sidi Bouzid ist ein solcher Ort. Tiefstes tunesisches Hinterland, 250 Kilometer südlich der Hauptstadt Tunis. Ackerflächen, Weideland und Obstbäume prägen die Landschaft. Entlang der Straßen liegt Abfall, in den Feigenkakteen haben sich Plastiktüten verfangen. Die ersten Wohnblöcke sind zu sehen, unverputzt und hässlich. Das Zentrum der ärmlichen Provinzstadt, 40.000 Einwohner, hat wenig zu bieten. Ein paar Cafés, Verwaltungsgebäude, Schulen und einfache Geschäfte. Kultureller Höhepunkt sind laut Internetauftritt der Stadtverwaltung die «Ramadan-Nächte», die jährlich in der zweiten Hälfte des Fastenmonats abgehalten werden. Ansonsten lebt die Region vom Getreide-, Obst- und Gemüseanbau – nicht zu vergessen die Aufzucht von Lämmern und die Milchviehhaltung.
Und doch hielt in Sidi Bouzid zweimal die Weltgeschichte Einzug, mehr oder weniger aus Zufall. Im Rahmen des Tunesienfeldzuges, der den geordneten Rückzug des deutschen Afrikakorps und seiner italienischen Verbündeten nach der Niederlage bei El Alamein im November 1942 gewährleisten sollte, griffen deutsche und italienische Panzerdivisionen am 14. Februar 1943 US-amerikanische Panzerverbände bei Sidi Bouzid an («Unternehmen Frühlingswind»). Die Kämpfe rund um den Kasserine-Pass dauerten zehn Tage und kosteten 12.000 Soldaten das Leben. Über die Verluste in der tunesischen Zivilbevölkerung gibt es keine Angaben, die Stadt allerdings wurde dem Erdboden gleichgemacht. Es war eine der letzten großen Panzerschlachten in Nordafrika, bevor die Achsenmächte dort im Mai 1943 kapitulierten.
Die zweite Begegnung Sidi Bouzids mit der Historie verdankt sich dem Schicksal seines Bewohners Mohammed Bouazizi, dessen Selbstverbrennung am 17. Dezember 2010 erst die tunesische, dann die arabische Revolution und den Sturz des langjährigen tunesischen Diktators Zine al-Abidine Ben Ali auslöste.
Mohammed Bouazizi wurde am 29. März 1984 geboren. Sein Vater starb früh, die Mutter heiratete ein zweites Mal, einen gesundheitlich angeschlagenen, die meiste Zeit arbeitslosen Mann. Schon im Alter von zehn Jahren kam der Schüler als Gemüseverkäufer für den Unterhalt der Familie auf. Kurz vor dem Abitur wurde die Doppelbelastung zuviel, wie so viele seiner tunesischen und arabischen Altersgefährten verließ Mohammed Bouazizi die Schule ohne Abschluss. Zum Studium hätte ohnehin das Geld gefehlt. Mittlerweile hatte er fünf jüngere Halbgeschwister, für die er sich verantwortlich fühlte. Er bewarb sich auf staatliche Stellen, auch bei der Armee, wurde jedes Mal abgelehnt. Ihm blieb nur ein Leben als Gemüseverkäufer. Jeden Tag zog er frühmorgens auf den Großmarkt für Obst und Gemüse, belud seinen Karren und schob ihn anschließend wieder die zwei Kilometer zurück zum lokalen Souk, wo die Ärmeren einkauften. Sein Tagesverdienst lag bei fünf bis sechs Euro. Allerdings hatte er keine Verkaufslizenz. Dafür reichte das Einkommen nicht. Machte die Polizei eine ihrer zahlreichen Razzien, um Bestechungsgeld zu kassieren, blieben ihm zwei Möglichkeiten. Bezahlen oder aber davonrennen, unter Verlust seines Karrens. Eine Zeit lang hatte Mohammed Bouazizi eine Freundin, mit der er eine, wie häufig unter konservativen Muslimen, platonische Beziehung führte. Sie scheiterte am Geld. Ein junger Mann, der sein Dasein als Straßenhändler fristet, hat auf dem arabischen Heiratsmarkt so gut wie keine Chance. 2008 versuchte er, über das Mittelmeer nach Sizilien zu flüchten, nach Europa zu kommen, ein besseres Leben zu führen. Die tunesische Grenzpolizei fing ihn ab, zwei Wochen saß er im Gefängnis. Ein Jahr später versuchte er sein Glück erneut, dieses Mal über Libyen. Wieder wurde er abgefangen, saß ein halbes Jahr im Gefängnis.
1 Mohammed Bouazizi, der sich selbst verbrannte.
Im Sommer 2010 unternahm er einen letzten Versuch seinem Leben eine andere Wendung zu geben. In der Hafenstadt Sousse trat er in einem Restaurant eine Stelle als Hilfskraft an, wusch Geschirr, putzte den Boden. Als sein Arbeitgeber ihm den Lohn verweigerte, erstattete er Anzeige. Doch die Gesetze in seinem Land waren nicht für Hungerleider gemacht, sondern für Leute mit Beziehungen, die sich Polizei und Justiz gegenüber erkenntlich zeigen.
Gedemütigt und betrogen fand er sich als Gemüseverkäufer in Sidi Bouzid wieder. Offenbar war die dortige Polizei auf den Querulanten aufmerksam geworden und schikanierte ihn nach Kräften. Einige Wochen vor seinem Selbstmord erhielt er einen Strafbescheid über 250 Euro – eine Summe, die fast zwei Monatseinkommen entsprach. Am 17. Dezember schließlich tritt eine Polizistin auf dem Markt an ihn heran, verlangt seine Waage. Er weigert sich, sie auszuhändigen. Es kommt zu einem Handgemenge, die Polizistin ohrfeigt ihn, gemeinsam mit einem Kollegen wirft sie Mohammed Bouazizi zu Boden. Seine Waage wird ihm ebenso abgenommen wie sein Obst und Gemüse. Der in aller Öffentlichkeit Erniedrigte sucht Gerechtigkeit, begibt sich zur Stadtverwaltung und verlangt, einen Verantwortlichen zu sprechen. Man sagt ihm, das ginge nicht, die Beamten hätten zu tun.
Daraufhin kauft er Brennspiritus, kehrt zurück zur Stadtverwaltung, entleert den Inhalt des Kanisters über sich und entzündet ein Streichholz. Schwer verletzt wird er in ein Krankenhaus eingeliefert. Bedenkt man, mit welchen Schmerzen eine Selbstverbrennung einhergehen muss, so lässt sich das Ausmaß der zugrunde liegenden Verzweiflung erahnen.
Er war nicht der erste Tunesier, der sich selbst verbrannte. Andere hatten es vor ihm getan, aus ähnlichen Gründen. Doch wurden ihre Fälle nicht bekannt, weil die Behörden alles daran setzten, die Vorfälle zu vertuschen. Die einheimischen Medien durften darüber nicht berichten, die Angehörigen wurden unter Strafandrohung zum Schweigen gebracht. In Sidi Bouzid dagegen versammelten sich unmittelbar nach der Tat Dutzende Demonstranten vor der Stadtverwaltung, «in der einen Hand ein Handy, in der anderen einen Stein», erzählte ein Verwandter, Abdesslem Trimech, dem Nachrichtensender Al-Jazeera. Die Polizei löste die Kundgebung auf, wie in Tunesien üblich.
Dieses Mal aber kam alles anders. Die Demonstranten stellten ihre Handy-Videos über Facebook ins Internet. Ebenso die Bilder eines weiteren Protestmarsches am 20. Dezember, angeführt von Mohammed Bouazizis Mutter. Noch am selben Tag wurden diese Aufnahmen von Al-Jazeera ausgestrahlt, auf dessen Spartenkanal Mubaschir (Live). Al-Jazeera, 1996 im Golfemirat Katar gegründet, ist neben Al-Arabiya, seit 2003 aus Dubai auf Sendung, das arabische Leitmedium schlechthin. Jeder politisch interessierte Araber, und das sind die meisten, sieht regelmäßig diese Satellitensender, die weitgehend zensurfrei sind und äußerst professionellen Journalismus betreiben. Bei Mubaschir arbeitet ein Medien-Team, das systematisch das Internet durchforstet, auf der Suche nach Storys. Über Facebook wurde es in Sidi Bouzid fündig.
Damit begann der Countdown zur Revolution. Einer Revolution, die den berühmten Lehrsatz der Chaostheorie zu bestätigen scheint, demzufolge der Flügelschlag eines Schmetterlings über Hongkong einen Wirbelsturm in New York auslösen kann. Unmittelbar nach der Ausstrahlung kam es erst in Sidi Bouzid, dann in benachbarten Provinzstädten und schließlich im ganzen Land zu spontanen Protesten, die sich schnell zu Kundgebungen gegen den Diktator Ben Ali und sein Regime ausweiteten. Der ließ auf die Demonstranten schießen, auch mit Scharfschützen. Mehrere Menschen starben. Doch wurde damit der beginnende Aufstand nicht etwa niedergeschlagen, im Gegenteil. Der Flügelschlag erwuchs zu einem Wirbelsturm, der einen Monat später den Diktator selbst in die Flucht schlug.
Das Internet spielte dabei eine wesentliche Rolle, vor allem als Sprachrohr und Resonanzboden. Doch die Saat der Revolution war schon in den Jahrzehnten zuvor gelegt worden. Sie verdankt sich maßgeblich politischer Repression, endemischer Korruption, sozialen Umbrüchen, Armut, Perspektivlosigkeit, der Sehnsucht nach Freiheit und einem Leben in Würde – ein Begriff, mit dem Nordeuropäer in der Regel wenig anfangen können. Im mediterranen Kulturraum dagegen ist er ebenso prägend für die Identität des Einzelnen oder einer Gruppe wie die bei uns ebenfalls eher zu vernachlässigende «Ehre». Was wiederum damit zusammenhängt, dass sich die Öffentlichkeit rund um das Mittelmeer sehr viel mehr entlang familiärer, privater, beruflicher oder sonstiger Seilschaften und Netzwerke organisiert als nördlich der Alpen.
Während sich die Handy-Videos aus Sidi Bouzid mit Hilfe von Al-Jazeera in Tunesien und den arabischen Staaten explosionsartig verbreiteten, schwiegen sich die zensierten tunesischen Medien über die Selbstverbrennung und die nachfolgenden Demonstrationen weiterhin aus. Zwar wurde unter Ben Ali auch das Internet zensiert, mit zwei Ausnahmen allerdings: Facebook und Twitter. Offenbar hatte das Regime beider Bedeutung gewaltig unterschätzt. Statistisch verfügt jeder dritte Tunesier über Internetzugang, das entspricht der größten Dichte an Nutzern in Afrika. Die für Ben Ali böse Ironie: Er wollte Tunesien zum «Wissenszentrum» ausbauen und setzte dabei bewusst auf das Internet. Vielleicht hätte er sich mit Modernisierungstheorien befassen sollen. Denen zufolge ist Unfreiheit plus Repression und Korruption bei gleichzeitig hohem Bildungsstandard ein geradezu perfektes Rezept für Revolte. Als auch andere Satellitensender über Mohammed Bouazizis Schicksal berichteten, war der Damm endgültig gebrochen. Am 29. Dezember griff erstmals ein tunesischer Staatssender, Nessma TV, das Thema auf und stellte eine «unabhängige Untersuchung» in Aussicht. Gleichzeitig schaltete das Regime in Sidi Bouzid und Umgebung den Strom und das Internet ab. Am 3. Januar 2011 begann eine umfangreiche «Phishing-Operation» mit dem Ziel, regimekritische Videos aus dem Internet zu entfernen. Zahlreiche Blogger, Webaktivisten und Tunesiens bekanntester Rapper, Hamada Ben Amor, genannt El Général, wurden verhaftet oder verprügelt. Sein Protestsong «Herr Präsident, Ihr Volk stirbt!» wurde via Facebook und Twitter zur Hymne der «Jasmin-Revolution».
75 Prozent der arabischen Bevölkerung, nicht allein der tunesischen, sind jünger als 30 Jahre. Das erklärt die hohe Akzeptanz neuer Medien und sozialer Netzwerke. Darüber hinaus hat sich vor allem in Algerien und Tunesien eine politisch engagierte Generation junger Musiker etabliert, die mit Hilfe von Rap Korruption und Vetternwirtschaft der Herrschenden anprangern. In dem genannten Song kritisiert der 22-jährige El Général aus der Hafenstadt Sfax Verschwendungssucht und Selbstbereicherung der Präsidentenfamilie sowie die grassierende Armut. Ihren Anfang nahm die arabische Hip-Hop-Szene Ende der 1990er Jahre in Algerien und trat von dort ihren Siegeszug auch in die arabischen Nachbarländer an. Hip-Hop trifft das Lebensgefühl einer desillusionierten Jugend, die von der Zukunft wenig bis nichts zu erwarten hat.
2 Ben Ali am Krankenbett von Mohammed Bouazizi, 4. Januar 2011.
Mittlerweile waren die Massendemonstrationen in der Hauptstadt Tunis angekommen. Um die Lage zu beruhigen, besuchte der Präsident Mohammed Bouazizi im Krankenhaus, kurz vor dessen Tod am 4. Januar. Von dieser Begegnung gibt es ein Bild, eine Ikone der tunesischen Revolution: Ben Ali am Krankenbett, umgeben von beflissen aussehenden Ärzten und Beamten, Mohammed Bouazizi bandagiert wie eine Mumie. Ben Ali mustert ihn, als wäre er ein Außerirdischer. Was mag der Sterbende gedacht haben, in dem Moment?
Wie erwähnt verdankt sich die tunesische Revolution nicht allein dem Internet. Andere Faktoren kamen hinzu. So spontan die ersten Demonstrationen in Sidi Bouzid und Umgebung auch waren, stießen sie doch nicht allein über die neuen Medien auf Resonanz. Von Anfang an spielte der Allgemeine Gewerkschaftsverband Tunesischer Arbeiter (UGTT) eine wichtige Rolle bei der Organisation und Verbreitung der Proteste. Tunesien verfügt, ähnlich wie auch Marokko und Algerien, über verhältnismäßig starke Berufsverbände und Gewerkschaften – eine Errungenschaft noch aus der französischen Kolonialzeit. In allen drei Ländern sind sie überaus regierungsnah, ihre Funktionäre werden vom Staat bezahlt. Revolutionen sind mit ihnen von Amts wegen kaum zu machen. In der Provinz aber, zumal in der allertiefsten, wohin sich kein Amtsträger freiwillig versetzen ließe, herrscht bisweilen ein anderer Geist. Vielleicht, weil die Menschen dort weniger zu verlieren haben. Aus Empörung. Oder aus schierer Lust, es «denen da oben» endlich mal zu zeigen.
Und dann ist da der Brotpreis. Jeder dritte Tunesier ist arbeitslos, jeder zehnte lebt unterhalb der Armutsgrenze von zwei Dollar pro Tag. Unter solchen Rahmenbedingungen, die in anderen arabischen Staaten noch schlimmer ausfallen, besitzt der meist staatlich subventionierte Brotpreis eine enorme soziale und politische Sprengkraft. Wiederholt ist es in Nordafrika, vor allem in Ägypten, zu Aufständen und Unruhen gekommen, sobald die Regierung die Subventionen kürzte und das Brot teurer wurde. Meist geschieht das auf Drängen der Weltbank, im Zuge neuer Kreditvergaben oder Umschuldungen. Im Januar 1984 erhöhte die tunesische Regierung unter dem damaligen Präsidenten Habib Bourguiba die Brotpreise über Nacht um 150 Prozent. Daraufhin brachen die schwersten Unruhen seit der Unabhängigkeit 1956 aus. Landesweit kam es zu Aufständen, die Arbeiter in den Phosphat-Bergwerken im Süden des Landes legten spontan die Arbeit nieder. Bourguiba schickte die Armee, mehr als 500 Menschen wurden getötet. Die Erhöhung der Brotpreise aber musste er zurücknehmen.
3 Das Baguette als Protestsymbol: Demonstration in Tunis am 18. Januar 2011.
2010 wurde Brot in Tunesien so teuer wie nie. Das hängt zusammen mit der Entwicklung auf den Weltmärkten, einem sinkenden Angebot an Weizen bei wachsender Nachfrage. Nach dem Platzen der Immobilienblase in den USA und dem Beinahe-Zusammenbruch des Bankensystems in mehreren westlichen Staaten 2008/09 wurden Agrarrohstoffe ein weiteres Objekt der Börsenspekulation, was die Preise zusätzlich anheizte. Baguette ist im ehemals französischen Teil Nordafrikas so beliebt wie in Frankreich selbst. Mittlerweile haben sich die Preise hier wie dort fast angeglichen. Mohammed Bouazizi hat fünf bis sechs Euro am Tag verdient. Kostet ein Baguette fast einen Euro, ist der Weg zu Hunger und Revolte nicht mehr weit. «Würde und Brot!» skandierten die Demonstranten, die Ben Ali in die Flucht schlugen. Ein weiteres ikonenhaftes Bild der tunesischen Revolution zeigt eine Menschenmenge in Tunis: Ein Mann macht mit der linken Hand das Siegeszeichen, in der rechten hält er ein Baguette.
Doch warum gelang es Bourguiba 1984, die Unruhen im Land militärisch niederzuschlagen, nicht aber seinem Nachfolger Ben Ali 2011?
Banal gesagt war die Zeit damals noch nicht reif für eine Revolution. Zunächst einmal stellte sich die geopolitische Lage in der Zeit des Kalten Krieges ganz anders dar als heute. Weder die USA noch Frankreich hätten zugelassen, dass Tunesien möglicherweise an «Kommunisten» fällt – wenngleich Moskaus Einfluss in Nordafrika und im Nahen Osten begrenzt war. Nach der Abkehr des ägyptischen Präsidenten Sadat von der Sowjetunion Anfang der 1970er Jahre hatte diese nur noch zwei verlässliche Verbündete in der Region: Syrien und den Südjemen. Gute Beziehungen bestanden daneben zu Algerien und mit dem Irak. Hinzu kommt, dass die Generation Facebook damals gerade erst geboren wurde. Die Regierungssysteme der arabischen Welt, die 2011 hinweggefegt oder im Mark erschüttert wurden, hatten damals ihren historischen Zenith noch nicht überschritten, weder in Tunesien noch in Ägypten, in Libyen ebenso wenig wie im Jemen oder anderswo. Davon abgesehen sind Revolutionen immer auch Mysterien und mit rationalen Kriterien allein nicht zu ergründen. Psychologische Momente spielen ebenso eine Rolle wie die rechte Fügung zur rechten Zeit – in diesem Fall der tragische Tod eines Menschen, von dem die Welt unter normalen Umständen nie erfahren hätte, dass er überhaupt existierte. Doch mit Mohammed Bouazizis Leidensweg konnte sich jeder Tunesier und jeder Araber identifizieren, soweit er nicht durch die Gnade der rechten Geburt zur Oberschicht gehört. So sehr, dass seine Selbstverbrennung zahlreiche Nachahmer fand, in Tunesien ebenso wie in Ägypten, Algerien, Mauretanien. Das erklärt, warum sein Tod eine solche Massenmobilisierung auslösen konnte, über alle sozialen und politischen Grenzen hinweg. Studenten, Lehrer, Arbeitslose, Rechtsanwälte, Frauen mit und ohne Kopftuch, Junge, Alte, sie gingen gemeinsam auf die Straße und überwanden ihre Furcht. Angefangen in Sidi Bouzid. Schließlich hatten sie sogar die Armee auf ihrer Seite, die es angesichts der wogenden Menschenmengen vorzog, nicht länger auf das eigene Volk zu schießen.
Diese Frage ist naheliegend und nicht in einem Satz zu beantworten. Es sei denn, man behauptet der Einfachheit halber, Islam und Demokratie seien eben nicht miteinander zu vereinbaren. In dem Fall allerdings dürfte es die arabische Revolution und deren Forderung nach Freiheit und Demokratie gar nicht geben. Eine Revolution, die ja in erster Linie von Muslimen getragen wird.
Gemeinsames Schicksal der Region ist ihre blockierte Entwicklung von einer ländlich geprägten Feudal- in eine städtische Industriegesellschaft. Das gilt selbst für die Golfstaaten. Äußerlich haben sie, etwa mit Blick auf die avantgardistische Architektur, den Sprung in die Moderne längst vollzogen. Politik und Gesellschaft jedoch, einschließlich der vorherrschenden Wertesysteme und Mentalitäten, sind noch immer feudalistisch geprägt. Einzelne Familien und Clane gebieten mit Hilfe des Militärs und der Geheimdienste über ganze Staaten – am Sichtbarsten in Saudi-Arabien, wo der Name der Herrscherdynastie, Al Saud, mit dem Landesnamen eins geworden ist.
Die sozialen Strukturen sind in allen arabischen Staaten vergleichbar und ähneln in ihrem Aufbau einer Pyramide. An der Spitze befindet sich eine kleine Machtelite, die seit der Unabhängigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg Zugriff auf die staatlichen Ressourcen hatte und deren Einfluss, bei teilweise ausgetauschtem Personal, auch nach den revolutionären Umbrüchen fortbesteht. Die Führungspositionen in Politik, Wirtschaft und Verwaltung wurden bis zur Revolution ausschließlich von dieser Machtelite besetzt, die untereinander vielfach versippt und verschwägert ist. Der soziale Aufstieg in diese Kaste ist so gut wie ausgeschlossen. Die Machtelite umfasst drei bis fünf Prozent der Bevölkerung und hatte nie Skrupel, die Staatskasse hemmungslos zu plündern. Die Herrscher in den Golfstaaten unterscheiden gar nicht erst zwischen öffentlichem Haushalt und Privatvermögen. Der offiziell angegebene Staatshaushalt gibt nur einen Teil der Einnahmen aus dem Öl- und Erdgasgeschäft wieder. Die Details sind Chefsache. Die Mentalität der Herrschenden, sich die Volkswirtschaft untertan zu machen, erklärt ganz wesentlich, warum die Infrastruktur in den meisten arabischen Staaten schlichtweg verrottet ist, das Bildungssystem am Boden liegt, die Analphabetenquote teilweise mehr als 50 Prozent beträgt (Jemen, Sudan), Armut und Arbeitslosigkeit grassieren und drängende Herausforderungen, allen voran die Bevölkerungsexplosion, Stadtplanung, Wassermangel und Klimawandel, nur in Ansätzen, wenn überhaupt, angegangen worden sind.
Die bürgerlichen Mittelschichten, zu denen im westlichen Europa die große Mehrheit rechnet, wenngleich bei fallender Tendenz, umfassen in der arabischen Welt 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung. Kennzeichen der arabischen Mittelschichten, überwiegend Universitätsabsolventen, ist ihre vielfach prekäre Lage – sie verdienen wenig und sind dauerhaft vom sozialen Absturz bedroht. Der Hochschullehrer, der gleichzeitig Taxi fährt, um seine Familie zu ernähren, ist die Regel, nicht die Ausnahme. Soziale Sicherungssysteme wie Arbeitslosen- oder Krankenversicherung, Rente gibt es nur in Ansätzen. Allein die Solidarität der Großfamilie sichert das Überleben in Zeiten der Not.
In Großstädten wie Kairo oder Beirut gibt es eine wachsende Zahl gut verdienender Dotcom-Angestellter oder Startup-Unternehmer, die seit einigen Jahren eine neue soziale Gruppe bilden und als einzige an den traditionellen Eliten vorbei zu teils beträchtlichem Vermögen gekommen sind. Aufgrund ihrer Ablehnung der bestehenden politischen Verhältnisse unterstützen sie mehrheitlich die Revolution.
Die meisten Araber allerdings finden sich am unteren Rand der sozialen Pyramide wieder. 60 bis 70 Prozent zählen, je nach Land, zum sogenannten informellen Sektor. Als Tagelöhner leben sie von der Hand in den Mund, wie Mohammed Bouazizi und seine Familie. Besonders in Ägypten haben viele Arme durchaus einen Job in der Verwaltung. Der ist allerdings eine reine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme und so schlecht bezahlt, dass niemand davon leben kann.
Nicht bürgerliche Mittelschichten also prägen Staat und Gesellschaft, sondern kleine Machteliten, die ihre Privilegien um jeden Preis zu verteidigen suchen. Vor diesem Hintergrund konnte es Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Pluralismus, Gewaltenteilung nicht geben – damit hätte sich die Elite zwangsläufig selbst entmachtet. Ein Gottesgnadentum für die Selbstbereicherung einer kleinen Minderheit vermag keine Verfassung ernsthaft zu begründen. Zwar gab und gibt es in vielen vorrevolutionären arabischen Staaten Parteien und Parlamente, doch sind sie bloße Fassade. Im Kern betreiben sie Klientelismus.
Legitimation ist der Schlüsselbegriff, um arabische Politik vor der Revolution zu verstehen. Alle Herrscher sind – waren – bemüht, sich als Vollstrecker höherer Werte zu inszenieren. So hieß der Tunesier Habib Bourguiba (er regierte 1956–1987) in der staatlichen Propaganda «Oberster Kämpfer» (wider den Kolonialismus), der Libyer Muammar al-Ghaddafi (1969–2011) lief unter dem Titel «Bruder Revolutionsführer», der Syrer Hafiz al-Assad (1971–2000) galt als «Säule der Standhaftigkeit und Konfrontation» (wider den Imperialismus und Israel), wahlweise als «kämpfender Kamerad», der saudische König Abdallah firmiert als «Hüter der beiden Heiligen Stätten», nämlich von Mekka und Medina.
Bis zur Revolution gab es im Wesentlichen zwei Kategorien politischer Ordnung. Einerseits traditionelle Monarchien, deren Legitimation auf Stammesherrschaft oder religiösem Führungsanspruch beruht. Dazu zählen die Golfstaaten, Jordanien und Marokko. Die dortigen Könige Mohammed VI. (Marokko) und Abdallah II. (Jordanien) sehen sich beide als direkte Nachkommen des Propheten Mohammed. Und andererseits säkulare Einparteiensysteme, deren mit außerordentlicher Machtfülle ausgestattete Präsidenten in der Regel aus den Reihen des Militärs stamm(t)en. In Libyen verlieh das exzentrische Auftreten Ghaddafis diesem System operettenhafte Züge, im Irak das Saddam Husseins stalinistische.
Ein zusätzliches Legitimationsproblem stellten vielerorts die bruchstückhafte Nationalgeschichte und das Fehlen von Gründungsmythen dar. Die Grenzen der meisten arabischen Staaten waren von den Kolonialmächten willkürlich mit dem Lineal gezogen worden. Jordanien und die kleineren Golfstaaten gibt es überhaupt nur, weil es Briten und Amerikanern so gefiel.
Historiker datieren den Beginn des Kolonialismus in der arabischen Welt gemeinhin auf Napoleons Ägypten-Expedition 1798. In der Folgezeit teilten Frankreich und Großbritannien Nordafrika und den Nahen Osten unter sich auf. Paris erhielt den Maghreb (Marokko, Algerien, Tunesien, Mauretanien) und sicherte, verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende des Osmanischen Reichs, seinen Einfluss im Libanon und in Syrien. London wiederum kontrollierte Ägypten und den Sudan, nach dem Ersten Weltkrieg kamen Palästina, das heutige Jordanien und der Irak hinzu. Unter Mussolini erklärte Italien seine Besitztümer in Libyen 1934 zur Kolonie. Die Kolonialmächte interessierten sich vor allem für Rohstoffe und Handelsrouten. Der 1869 mit großem Pomp eröffnete Suezkanal, der den Seeweg von Europa nach Indien um rund 10.000 Kilometer verkürzt, ist dafür das sinnfälligste Beispiel. Finanziert wurde sein Bau vom ägyptischen Staat, den Großbritannien zu diesem Zweck militärisch unterworfen hatte. Bewusst wurde er mit Hilfe von Krediten, die London großzügig gewährte, in den Bankrott getrieben. Anschließend ruinierten die Kolonialherren die im Aufbau befindliche ägyptische Textilindustrie, die für die britische zur ernsthaften Konkurrenz geworden war. Der Baumwollanbau in Ägypten brach daraufhin zusammen, die erste große Landflucht setzte ein. Frankreich wiederum betrieb in Algerien,