Idee und Geschichte
Verlag C.H.Beck
Verfassungen sind konstitutiv für die Etablierung und Aufrechterhaltung einer politischen Ordnung. Die Verfassung begründet die Grundstrukturen eines politischen Systems, legt fest, wer sich wie an politische Entscheidungen beteiligt und wer als Träger legitimer staatlicher Macht zur Ausübung von Ämtern und Führungspositionen befugt ist. In einer Verfassung drücken sich die Wertvorstellungen einer Gesellschaft und ihr Selbstverständnis aus.
Das vorliegende Buch gibt einen Überblick über die Entwicklung des Verfassungsgedankens seit der Antike, zeigt die unterschiedlichen Verfassungsmodelle und skizziert die deutsche Entwicklung bis zum Grundgesetz und bis zur Verfassungsdiskussion nach der deutschen Wiedervereinigung. Das Buch endet mit einem Ausblick auf die Zukunft der Verfassungsidee.
Hans Vorländer, Jahrgang 1954, ist Professor für Politikwissenschaft, insbesondere für Politische Theorie und Ideengeschichte, an der Technischen Universität Dresden. Von ihm liegen zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte des politischen Denkens und zur vergleichenden Politikanalyse vor. Bei C.H.Beck erschien zuletzt: «Demokratie. Geschichte, Formen, Theorie» (2003).
I. Die Idee der Verfassung
II. Verfassungen in Antike und Mittelalter
III. Die Entstellung des modernen Konstitutionalismus
1. England
2. Nordamerika
3. Frankreich
4. Wege und Entwicklungen des modernen Konstitutionalismus
IV. Die deutsche Verfassungstradition
V. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
VI. Die Wiedervereinigung und die Diskussion um eine neue Verfassung in Deutschland
VII. Die Zukunft der Verfassung und die Idee einer Europäischen Verfassung
Literaturverzeichnis
Register
Mit Verfassungen ist fast immer die Hoffnung auf eine gute und gerechte politische Ordnung verbunden. Das war 1776 der Fall, als sich die Kolonien in Nordamerika vom englischen Mutterland lossagten und zu den Vereinigten Staaten von Amerika konstituierten. Das galt für 1789, als mit dem Sturm auf die Bastille das Alte Regime in Frankreich zusammenbrach und 1791 eine Revolutionsverfassung an die Stelle des alten monarchischen Systems trat. Neue Ordnungen mußten hier wie dort geschaffen werden. Und mit den Verfassungen, so war die allseitige Erwartung, war der Wechsel auf eine bessere, freiheitliche und demokratische Zukunft ausgestellt. Die Verfassung, so war es dem aus England stammenden Revolutionär in Nordamerika, Thomas Paine, vorgekommen, „ist für die Freiheit das, was die Grammatik für die Sprache ist“. Ohne eine Verfassung schien also Freiheit nicht möglich zu sein. Und ganz ähnlich hieß es dann in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, daß man bei einer gesellschaftlichen Ordnung, die weder die individuellen Rechte noch die Teilung der Gewalten garantiert, nicht von einer verfassungsmäßigen Ordnung sprechen könne.
Auch in Deutschland brach zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein „Zeitalter der Konstitutionen“ an, wie der badische Liberale Karl von Rotteck formuliert hatte. Doch in Deutschland lagen die Dinge anders. Erst die Revolution von 1848/49 gab der Verfassungsbewegung für einen kurzen Moment politischen Rückenwind – bevor sie an innerer Schwäche und äußeren Machtverhältnissen scheiterte. Zuvor, nach den napoleonischen Befreiungskriegen, war die liberale Bewegung zunächst darauf angewiesen gewesen, daß, wie in den süddeutschen Ländern, Verfassungen erlassen oder, wie in Württemberg, Verfassungen zwischen der Krone und den Ständen vereinbart wurden. Gleichwohl hatte auch in Deutschland die liberale, bürgerliche Bewegung ihre Hoffnung auf die Einrichtung einer freiheitlichen Ordnung aufs engste mit dem Verfassungsgedanken verknüpft. Diese Hoffnung überstand auch die Enttäuschung des Scheiterns der Frankfurter Paulskirchenverfassung. Selbst ein Skeptiker wie Ferdinand Lassalle, der Begründer der deutschen Arbeiterbewegung, konnte von der Verfassung als etwas „Heiligerem, Festerem als ein gewöhnliches Gesetz“ sprechen. Und auch über die wenig geliebte Reichsverfassung von 1871 und das Scheitern der Weimarer Verfassung hinweg wurde mit dem Grundgesetz von 1949 die Hoffnung verbunden, daß sich hier, nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, das „bessere Ich des deutschen Volkes“ (Herbert Krüger) gegen sich selbst durchsetzen werde. Der Parlamentarische Rat hatte die Lehren aus Weimar gezogen und nun ein Grundgesetz verkündet, das einer freiheitlichen und demokratischen Ordnung Bestand geben sollte.
Auch nach den Revolutionen in Mittel- und Osteuropa 1989/90 wurde die Verfassung bisweilen der „Gegenstand allen Sehnens“. Die Transformation der ehemaligen realsozialistischen Staaten in freiheitliche Demokratien schien am besten durch die Schaffung einer neuen Verfassung nach dem Vorbild Westeuropas und Nordamerikas garantiert zu werden. Aber sind Verfassungen wirklich „Zauberpergamente“, wie ein Amerikaner zu Beginn dieses Jahrhunderts seine eigene Verfassung idealisierte? Oder sind Verfassungen ein mehr oder minder wirkungsloses „Blatt Papier“, wie Ferdinand Lassalle, mit Blick auf die preußisch-deutschen Verhältnisse, die Verfassung auch charakterisierte? Gehören Verfassungen zu dem bloßen „Luxus der Einrichtung“ im Hause von Nation oder Staat, wie Bismarck nach Herstellung der deutschen Einheit 1871 die Bedeutung von Verfassungen abwertete? Und zeigt nicht auch die deutsche Vereinigung aus dem Jahre 1990 in erhellender Weise genau jene Ambivalenz, die Verfassungen eigen ist? Einerseits eröffnete das Grundgesetz der DDR den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland; andererseits schien es den führenden politischen Kräften nicht zwingend zu sein, nach Vollzug der Vereinigung eine neue Verfassung beraten und verabschieden zu lassen, wie es das Grundgesetz auch als Möglichkeit vorgesehen hatte. Immerhin hatten sich einige der politischen Akteure in Ost- wie Westdeutschland die Gründung einer vereinigten, deutschen Republik nur durch den Akt einer neuen Verfassungsgebung vorstellen können.
In Revolutions-, Umbruch- und Gründungszeiten kommt dem Verfassungsgebungsakt eine besondere Bedeutung zu. Verfassungen entwerfen eine neue Ordnung und versuchen in der Folge, diese neue Ordnung zu bewahren und gegen ihre Widersacher und die Zeitläufte zu behaupten. Aus dieser Genese erklärt sich die hohe normative Erwartung, daß die geschaffene Ordnung gut und gerecht sei und sie sich auf Dauer bewähre. Verfassungen eignet deshalb ein normativer Überschuß, der aus der ihnen entgegengebrachten Erwartungshaltung resultiert. In der Folge geht es dann darum, daß die einmal beschlossene und in Kraft gesetzte Verfassung ihre normative Kraft auch erhalten kann. Sie soll die politische Ordnung prägen, gestalten und lebendig halten, kurzum, sie soll eine politische Ordnung auf Dauer stellen. Thomas Paine hatte mit Blick auf die Geltung der Verfassung in den amerikanischen Einzelstaaten bemerkt: Die Verfassung „war die politische Bibel des Staates. In kaum einer Familie fehlte sie. Jedes Mitglied der Regierung hatte ein Exemplar; und nichts war üblicher, als daß, wenn eine Meinungsverschiedenheit über das Prinzip einer Regelung oder den Umfang irgendeiner Befugnis entstand, ihre Mitglieder die gedruckte Verfassung aus der Tasche zogen und den Abschnitt lasen, der sich auf den kontroversen Gegenstand bezog.“ Verfassungen verfassen also eine politische Ordnung in einer so grundlegenden Weise, daß aus ihr die Maßstäbe gewonnen werden, um Problem- und Streitfälle des politischen Lebens zu entscheiden. Da muß die Verfassung nicht immer den sakralen Rang einer säkularen Bibel erlangen, wie es Paine für die Vereinigten Staaten von Amerika beobachtet hatte. Aber eine herausragende Stellung im politischen Leben eines Gemeinwesens nehmen sie allemal ein.
Was in den Verfassungsgebungsakten zum Ausdruck gebracht wird, läßt sich verallgemeinern. Verfassungen geben dem Politischen eine institutionelle Ordnung. Sie bestimmen die Regeln politischer Entscheidungsfindung. Sie legen fest, wer, wie, welche Entscheidungen zu treffen befugt ist. Die Verfassung ist deshalb, wie schon Aristoteles in seiner Politik definierte, „eine Ordnung des Staates hinsichtlich der verschiedenen Ämter und vor allem der wichtigsten von allen. Das Wichtigste ist überall die Regierung des Staates.“ Die Verfassung beinhaltet also Regeln der Organisation und der Ausübung von Herrschaft. Es sind dies Regeln der Bestellung, der Zusammensetzung und der Kompetenzen der „höchsten“ Staatsorgane. Aber in dieser Funktion des Spielregelwerks des Politischen erschöpft sich die Verfassung nicht. Sie ist darüber hinaus auch ein gesellschaftlicher Ordnungsentwurf, der die Ziele, die Zwecke und die Prinzipien der gesellschaftlichen Verfaßtheit festlegt. Für die moderne Verfassung sind diese Prinzipien direkt einsichtig. Es ist die Geltung der Menschenrechte, es ist der Grundsatz der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Sozialstaatlichkeit, es sind besondere Trennungs- und Verschränkungsregeln der verfaßten politischen Gewalten. In der Antike zeichnete sich eine Ordnung durch Tugend, durch Glückseligkeit, durch Gerechtigkeit, durch Werte und Vorstellungen aus, die es dem Menschen ermöglichten, seiner göttlichkosmologischen Bestimmung gemäß zu leben. Immer aber verweist eine Verfassung über ihr Regelwerk hinaus auf die grundlegenden Prinzipien, nach denen sich eine Gesellschaft sinnvollerweise ordnen, das heißt verfassen will. Eine Verfassung legt „das Ziel jeder einzelnen Gemeinschaft“ fest, wie schon Aristoteles formulierte.
Moderne Verfassungen legen in der Regel über Ziel und Zweck der politischen Ordnung Rechenschaft in den Präambeln oder in den leitenden Staatszielbestimmungen ab. In der Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 heißt es in der Präambel dann auch, daß „we the people“ sich eine Verfassung geben, um „unseren Bund zu vervollkommnen, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für die Landesverteidigung zu sorgen, das gemeine Wohl zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren“. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 hatte in der Präambel dem Willen Ausdruck gegeben, die „nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Zugleich sollte „dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung“ gegeben werden, bis daß das deutsche Volk in die Lage versetzt werde, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“. Das Grundgesetz hatte aber eben auch, trotz seines Charakters als Provisorium, Lehren aus der Geschichte, dem Scheitern Weimars und dem totalitären Regime des Nationalsozialismus ziehen wollen und den Grundrechten einen besonderen Rang zugesprochen. So stand dem Grundgesetz in Artikel 1 der Schutz der Menschenwürde voran, dem sich das Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft anschloß. Folgerichtig wurde dann bestimmt, daß die einzelnen Grundrechte „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“ binden.
Wenn die Idee der Verfassung, dem Politischen eine Ordnung zu geben, auch alt ist, so unterscheiden sich doch antike Verfassungen von modernen Verfassungen, genauso wie sich antike Ordnungsvorstellungen von modernen Ordnungsvorstellungen unterscheiden. Die Verfassung modernen Typs entsteht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zuerst in Nordamerika und dann in Frankreich. Es ist die typische Kombination eines Grundrechtskatalogs mit dem Entwurf einer gewaltenteiligen Staatsorganisation in der Form der geschriebenen Verfassungsurkunde, die Vorrang vor dem einfachen Gesetz hat und die durch die verfassunggebende Gewalt des Volkes konstituiert worden ist, die den Begriff der modernen Verfassung ausmacht. Die Verfassung wird in einem besonderen Akt der Verfassungsgebung formuliert und in die Form eines Verfassungsgesetzes gekleidet. Die Regeln, Institutionen und Prinzipien der Verfassung werden also positivrechtlich normiert. Die Verfassung erhält zugleich Vorrang vor dem einfachen Gesetz, das sich, von den verfaßten Gewalten (Parlament, Regierung, Gerichte) beschlossen und angewandt, an der Verfassung selbst messen lassen muß. „Eine Verfassung ist nicht der Akt einer Regierung“, so noch einmal Thomas Paine, sondern „der Akt eines Volkes, das sich eine Regierung gibt“. Die Verfassung geht der Regierung und den staatlichen Gewalten nicht nur in der Genese, sondern auch in der Geltung vor, und dieser Vorrang drückt sich in der erschwerten Änderbarkeit der Verfassung (in der Regel durch eine qualifizierte Mehrheit) genauso aus wie, wo vorhanden, in einer eigenen Verfassungsgerichtsbarkeit.
Es zeichnet moderne Verfassungen also aus, daß sie der staatlichen Herrschaft rechtliche Schranken ziehen. Macht wird beschränkt, zum einen durch besondere Mechanismen der Trennung und Verschränkung der politischen Gewalten, damit diese sich gegenseitig kontrollieren, zum anderen durch rechtliche Schranken, die es der staatlichen Gewalt verwehren, in den grundrechtlich geschützten Bereich des Einzelnen einzugreifen. Die moderne Verfassung konstituiert ein politisches Gemeinwesen, und sie limitiert zugleich die politische Herrschaft, sie gibt der freien Betätigung der Bürger in sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Hinsichten einen breiten Raum, und sie tut dies, indem sie ihrem normativen Vorrang Rechtskraft verleiht. Es ist vor allem dieser Vorrang der Verfassung, der den einfachen Gesetzgeber, das Parlament oder auch das Volk selbst, wo es durch Referenden und Abstimmungen tätig wird, an die Verfassung bindet. Dieser Vorgang unterscheidet die Verfassung des modernen Typs von den Verfassungen der Antike. Zugleich gibt diese Selbstbindung der souveränen, verfassunggebenden Gewalt des Volkes auch Entlastung für den politischen Alltag eines Gemeinwesens. Die Regeln, nach denen Politik sich vollzieht, müssen nicht immer wieder neu verhandelt und festgelegt werden. Auch bei einem gewöhnlichen Spiel, sei es Schach, „Mensch-ärgere-dich-nicht“ oder Fußball, liegen die Spielregeln von vornherein fest. Täten sie dies nicht, wäre das eigentliche Spiel überschattet von der fortwährenden Diskussion um die richtigen Regeln und ihre Anwendung. Das muß nicht heißen, daß die Regeln und ihre Anwendung ‚sakrosankt‘, also weder diskutier- noch änderbar wären, aber es entlastet das Spiel von Dauerkontroversen, wenn man sich vorab auf bestimmte Regeln und ihre strikte Anwendung geeinigt hat.
So verhält es sich auch mit Verfassungen. Sie stellen bestimmte Regeln vorab und auf Zeit unstreitig und entlasten damit das politische Alltagsgeschäft. Die moderne Verfassung trifft Vorentscheidungen über die institutionelle Struktur, über die Geltung von Menschenrechten und über Ziele des Gemeinwesens und legt damit vorab einen Minimalkonsens fest, der nicht immer wieder – und bisweilen auch leichtfertig – zur Disposition gestellt werden kann. Verfassungen treffen Vorentscheidungen, die, wenngleich nicht unumstritten, dem politischen Prozeß vorausliegen und beschränkend wieder auf ihn zurückwirken. Diese Selbstbindung der verfassunggebenden Gewalt hat die Schutzwirkung, die sich Odysseus erhoffte, als er sich an den Mast seines Schiffes binden ließ, um nicht den Verlockungen der Sirenengesänge zu erliegen. Verfassungen sind Ketten, schrieb ein Amerikaner 1871, „mit denen sich die Menschen in ihren lichten Augenblicken binden, um in der Raserei nicht selbstmörderisch handeln zu können.“ Noch plakativer formulierte der Sozialphilosoph und Ökonom Friedrich A. Hayek: Verfassungen spiegeln den Gedanken wider, daß Peter, wenn er nüchtern ist, tätig werden kann, um Peter, wenn er betrunken ist, Beschränkungen aufzulegen.
Der Übergang von den alten Verfassungsvorstellungen eines Piaton und eines Aristoteles als einer Lehre von den Staatsformen zum modernen Verfassungsbegriff ist ein kontinuierlicher Prozeß gewesen. Viele der schon von Aristoteles diskutierten Typen gemischter Verfassungen finden sich in veränderter Form in modernen Verfassungen wieder. Auch kennt die englische Verfassungstradition Vorformen der Garantie allgemeiner staatsbürgerlicher Freiheiten. Als solche können die Magna Carta von 1215, die Petition of Rights von 1628, die Habeas-Corpus-Akte von 1679, die Declaration of Rights von 1689 oder das Agreement of the People aus der Zeit der Revolution von 1647 angesehen werden. Doch es handelte sich bei ihnen, genau besehen, um Abkommen einer feudalen Aristokratie mit ihrem Lehnsherrn und um die Absicherung exklusiver Privilegien für die führenden Stände. Auch die Ausdifferenzierung eines besonderen und eigenständigen Verfassungsrechts, die rechtliche Regelung und Organisation von Herrschaft, hat ihre punktuellen und vertraglichen Anfänge im sogenannten mittelalterlichen Konstitutionalismus, in Abmachungen, Herrschaftsverträgen oder Statuten, die die Handlungsgrenzen von Herrschern, allerdings auf ständisch-vertraglicher Basis, festlegten. Und auch die Schriftlichkeit moderner Verfassungen läßt sich zum einen auf das mittelalterliche Ordenswesen und dann auch auf die altenglische Tradition der Freiheitsbriefe und die sogenannten Colonial Charters, die Ordnungen, die das englische Mutterland den Kolonien in Nordamerika gab, zurückführen. Diese hier nur angedeuteten Entwicklungen waren wichtige Marksteine auf dem Weg zu einem modernen Verfassungsverständnis.
Doch mußte der eigentliche Begriff der Verfassung erst noch gefunden werden. Die aus dem gemeineuropäischen Prozeß herausgewachsenen politischen Fundamentalgesetze waren als zusammengehörig und als Einheit zu begreifen, um sie dann unter dem Namen der Verfassung, im Singular, als Inbegriff der politischen Grundgesetze zusammenzufassen. Der Völkerrechtler Emer de Vattel war der erste, der 1758 in einem einflußreichen Lehrbuch des Völkerrechts von der Verfassung im Singular sprach: „Le règlement fondamental qui détermine la manière dont l’autorité publique doit être exercée est ce qui forme la Constitution de l’Etat.“ Damit war auch die Vorstellung der schriftlichen Fixierung von Verfassungsgrundsätzen in einem Dokument, wie sie dann für Nordamerika und Kontinentaleuropa leitend wurde, möglich geworden. England, das bis auf den heutigen Tag keine geschriebene Verfassung kennt, gleichwohl eine Reihe von Bestimmungen, Verbriefungen und Rechte als Fundamentalgesetze der eigenen Verfassungsordnung ansieht, blieb bei dem weiteren Begriff von Verfassung und verstand darunter immer die Gesamtheit von Gesetzen, Institutionen und Sitten, die aus historischer Vernunft und geschichtlicher Tradition abgeleitet sind, auf die sich eine Gemeinschaft verständigt hat und die handlungsleitend für die jeweilige Regierung geworden sind. So in etwa hatte es der englische Politiker und Schriftsteller Bolingbroke 1733 formuliert. Paine wie Bolingbroke schrieben der Verfassung eine bedeutende konstitutive Funktion zu, die Verfassung wurde als die Grundlage der Regierung angesehen. Und doch unterschieden sich Paine und Bolingbroke in einer entscheidenden Hinsicht. Für Paine, genauso für die Nordamerikaner und die Kontinentaleuropäer, war der Akt der Verfassungsgebung und die daraus hervorgehende Urkunde konstitutiv für das politische System, die Institutionen und die Regierung: ohne schriftliches Dokument keine Regierung. Bei Bolingbroke, wie überhaupt in England mit seiner Tradition ungeschriebener Verfassung, stellte sich das Verhältnis anders dar. Die Verfassung war das Ensemble von Gesetzen, Institutionen und Gewohnheiten, das sich historisch herausgebildet hatte und das einer nochmaligen dokumentarischen Erfassung in einer schriftlichen Urkunde nicht bedurfte. Es ist die auf die geschichtliche Erfahrung zurückzuführende Vermutung der Vernünftigkeit der Regeln und Institutionen, die die tatsächliche – ungeschriebene – Verfassung lebendig hält.
Wir begegnen hier also zwei unterschiedlichen Verfassungsverständnissen, die beide für den modernen Verfassungsbegriff charakteristisch sind. Paine, die Nordamerikaner und die Kontinentaleuropäer geben sich als Anhänger eines rational-voluntaristischen Verfassungsverständnisses zu erkennen. Sie sind der Auffassung, daß man eine Verfassung rationalistisch, durch Vernunftüberlegungen geleitet, konstruieren kann, und daß diese Verfassung Ausdruck des Willens der am Verfassungsgebungsprozeß Beteiligten ist. Mit einer Verfassung beginnt die Geschichte einer politischen Ordnung von neuem. 1776 hatte sich in der Tat in Nordamerika eine neue Nation gegründet, und die Verfassung konstituierte in einem ganz buchstäblichen Sinne die Vereinigten Staaten von Amerika. So war es auch 1791, als die französische Revolutionsverfassung nach dem Sturz des Ancien Régime die Nation neu zu begründen suchte. Und so war es 1918/19 in Deutschland, als nach dem Ersten Weltkrieg und dem kurzen Intermezzo der Novemberrevolution die Nationalversammlung die Weimarer Republik institutionell aus der Taufe hob. Und erst die Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 ließ die Bundesrepublik Deutschland entstehen. In allen Fällen also geht die neue Ordnung auf den konstitutiven Akt einer Verfassungsgebung zurück. Die jeweiligen Verfassungen konstruierten in rationaler und voluntaristischer Weise die neue politische Ordnung.
Anders der englische Fall: Bolingbroke zeigt in der oben zitierten Definition ein historisch-evolutionäres Verfassungsverständnis. Die Institutionen, die Gesetze und die sie stützenden Gewohnheiten und Anschauungen haben sich organisch, das heißt in einem historischen Kontinuum, herausgebildet. Sie sind nicht das Ergebnis eines einmaligen schöpferischen Aktes. Der englische Kritiker der Französischen Revolution, Edmund Burke, glaubte, daß ein solcher Versuch, eine gänzlich neue Verfassung auf einem „weißen Blatt Papier“ zu erfinden, nur der Hypertrophie menschlichen Denkens entsprungen und letztlich zum Scheitern verurteilt sein mußte. Hierin hatte er, wie die Geschichte der äußerst erfolgreichen amerikanischen Verfassung von 1787 zeigt, unrecht. Recht aber hatte Burke, wie kurze Zeit später auch Hegel in seiner Kritik des rationalen Konstruktivismus der Französischen Revolution, darin, daß eine Verfassung, will sie gelten, auf der Anerkennung ihrer Bürger beruhen muß und daß sich diese Anerkennung nicht nur punktuell – im Zeitpunkt der Verfassungsgebung – einstellen, sondern über Zeit, über geschichtliche Erfahrung und Bewährung erworben werden muß. Das historisch-evolutionäre Verständnis von Verfassung sieht diese als ein Produkt des geschichtlichen Wachsens und weniger als ein Produkt des einmaligen Aktes. So groß auf den ersten Blick der Unterschied zwischen dem rational-voluntaristischen Verständnis und dem historisch-evolutionären Verständnis von Verfassungen ist, und so konstitutiv dieser Unterschied für die nordamerikanischkontinentaleuropäische Tradition einerseits und die englische Verfassungstradition andererseits ist, so relativiert sich dieser Unterschied, wenn die konstitutive Bedeutungszuschreibung von Verfassungen von der Vorstellung abgelöst wird, daß es eines besonderen Aktes der Kreation von Verfassungen bedarf, um einer Verfassung die normative Bedeutung zu verleihen, die für die moderne Verfassung so wesentlich ist. Denn die normative Kraft von Verfassungen ergibt sich nur zu einem Teil aus dem Akt der Verfassungsgebung selbst, zu einem sehr viel größeren Teil resultiert sie aus der Zustimmung und Anerkennung, die ihr über einen langen Zeitraum zuteil wird. Zwar ist es richtig, daß der Verfassung in Gründungs-, Umbruch- und Revolutionszeiten eine ganz besondere Bedeutung für die Etablierung einer neuen Ordnung zukommt, doch kann sich die Verfassung auf ihrem Charakter als Gründungsurkunde nicht „ausruhen“. Sie bedarf, will sie auch nach der Konstitutionsphase Geltung beanspruchen, der fortwährenden Zustimmung.
Damit sind zugleich auch zwei wesentliche Funktionen von Verfassungen benannt. Zum einen haben moderne Verfassungen konstituierende Funktion. Die Verfassung etabliert die Grundstrukturen eines politischen Systems, sie trifft Aussagen über den Kreis derjenigen, die an politischen Entscheidungen beteiligt und die als Träger von legitimer staatlicher Macht zur Ausübung von Ämtern und Führungspositionen befugt sind. Eine Verfassung formt Institutionen und verfaßt die staatlichen Gewalten in den drei Bereichen von gesetzgebender Gewalt (Legislative), ausführender Gewalt (Exekutive) und rechtsprechender Gewalt (Judikative). Sie bestimmt die Zuordnung, die Trennung und die Verschränkung von Gewalten, indem sie die Kompetenzen und die Verfahren politischer Willens- und Entscheidungsbildung festlegt.
Die zweite wesentliche Funktion ist die der Legitimierung der konstituierten Ordnung. Die Legitimation einer bestehenden politischen Ordnung bedeutet, daß diese Ordnung als gut und gerecht, das heißt als legitim anerkannt wird. Die Verfassung kann eine politische Ordnung dadurch legitimieren, daß sie auf den Ursprung und die besonderen Umstände ihrer Gründung zurückverweist. Im Akt der Verfassungsgebung haben „we the people“, wie es in der amerikanischen Verfassung