Eine kleine Geschichte
der Aufklärung
Verlag C.H.Beck
Terence James Reed, intimer Kenner der deutschen Geistesgeschichte, zeichnet in einem großen historischen Essay die Geschichte der deutschen Aufklärung im europäischen Zusammenhang nach. Dabei erlaubt der «Blick von außen» auf Deutschland manch eine ungewöhnliche Akzentuierung. Doch Aufklärung ist für Reed kein bloß historisches Ereignis. Hier wurden die Grundlagen der modernen Gesellschaft formuliert, deren Anspruch bis in die Gegenwart gilt.
Terence James Reed war bis zur Emeritierung Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Oxford. Er hat auf Deutsch und Englisch zahlreiche Bücher und Aufsätze zur deutschen Literatur und Ideengeschichte veröffentlicht, hauptsächlich zur Weimarer Klassik und zu Thomas Mann.
Für Claudia
In memoriam Ulrich
Vorbemerkung
Einleitung
1. Eine christliche Gesellschaft? Zweifel an einem Klischee
2. Heimspiel: der deutsche Beitrag
3. Die ausgesparten Großen: wer gehört alles dazu?
Selbstdenken in (der) Gesellschaft
4. Vernunft, domestiziert: Denken oder nicht Denken?
5. Lichtblick: Fritzische Freiheit
6. Nachfolge: Ging’s überhaupt weiter?
7. Stimme von oben: Felix Austria?
8. Beispiele: schön widerspenstig!
Mensch und Macht
9. Weibliche Aufklärung: ‹Der Frauen Zustand…›
10. Zwei Seelen? Dichtung gegen Wahrheit
11. Außenseiter: Input unerwünscht
12. Mit Tyrannen konversieren: Rat ohne Tat
13. Konfrontation zweier Mündiger: Dichter versus Durchlaucht
14. Theaterpolitik: Bühne als Ersatz
Geschichte: Absicht und Aussicht
15. Plan der Natur: Im Dunkeln pfeifen
16. Kants Newton: Geschichte konkret
17. Deutsche Weltbürger: Vorteil eines Nachteils
Aufklärung und Kunst
18. Eher Mensch sein (Aber was wäre das?)
19. Licht verkörpern: Wie setzt man Ideen um?
20. Die endlich freien Künste
21. Säkularisierung: Neuer Wein in alten Schläuchen
22. Popularisierung: Herr Nickel und die Publizität
Erkenntnis, Religion, Ethik
23. Logik der Intoleranz: Rechthaberei und Gewalt
24. Ketzer und Kompromisse: das Christentum retten?
25. Befreiende Grenzen: Alles, was dem Menschen zukommt
26. Grund legen: Ethik von ganz unten
27. Schaltstelle Erziehung: der erste Kulturkampf
28. Verdunkeltes Licht: die Geheimgesellschaften
Was ist der Mensch?
29. Unter Wilden: Wer ist wer?
30. Warten auf Darwin: Das Tüpfelchen auf dem i
31. Kosmos, hingesudelt: Aufklärung im Kleinen
Reaktion
32. Bar jeder Vernunft: das Licht löschen!
Errungenschaften
33. Gesang im Freien: Möglichkeiten aufgeklärten Lebens
34. Die langsamste Beschleunigung: Krieg und kein Ende?
35. Eine aufgeklärte Gesellschaft?
Quellenangaben
Personenregister
Was hier vorgelegt wird, ist keine chronologisch geordnete faktische Darstellung der deutschen Aufklärung, sondern ein historischer Essay, der anhand von Texten und Episoden grundlegende Argumente der Dichter und Denker des deutschen 18. Jahrhunderts in ihrer lebenswichtigen Aktualität zeigen will. Die Aufklärer und ihre Zeit kommen unmittelbar zu Wort. Auf die Sekundärliteratur wird selten Bezug genommen. Nicht der Fachmann wird in erster Linie anvisiert, sondern eine breite Leserschaft, die die Grundwerte des modernen Europa an der Quelle nachvollziehen will. Es geht um uns. Der Gegenstand Aufklärung erlaubt keine wissenschaftlich wertfreie Behandlung.
Die einzelnen Abschnitte sind unter thematischen Rubriken locker gruppiert, die Trennwände zwischen den Kapiteln sind jedoch durchlässig. Die großen Fragen hängen schließlich, wie im Leben, organisch eng zusammen.
Die im Folgenden entwickelten Gedanken gehen auf ein Gastjahr zurück, das die Alexander-von-Humboldt-Stiftung 2004/05 mit einem Forschungspreis großzügig finanziert hat. Für den Arbeitsaufenthalt zum Thema Aufklärung hätte es keinen geeigneteren Ort geben können als die Göttinger Georg-August-Universität. Mein Dank gilt dem Freund und Kollegen Werner Frick für den Vorschlag, dort vorzusprechen, und den dortigen Kolleginnen, Kollegen und dem Sekretariat, die mir eine so freundliche Aufnahme bereitet haben. Ich danke auch der Leverhulme-Stiftung, die seit Herbst 2007 weitere Arbeitsaufenthalte in Weimar ermöglicht.
Zwei andere Freunde haben mir den Dienst erwiesen, meinen Text zu lesen und hilfreiche Hinweise zu geben: Kevin Hilliard (University of Oxford) und Eckart Goebel (New York University). Was so geblieben ist wie es ist, verantworte ich allein.
Geholfen haben mir mit ihren Reichtümern und ihrer guten Arbeitsatmosphäre neben der Göttinger Universitätsbibliothek die Anna Amalia Bibliothek in Weimar und die Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek in Jena. Auf meine Heimatbibliotheken, die Oxforder Tayloriana und Bodleiana sowie die Bibliothek des Germanistischen Instituts der Universität London, war wie immer Verlass. Für fortgesetzte Kollegialität und Bereitstellung eines Arbeitszimmers seit der Emeritierung danke ich dem Queen’s College.
Ein ganz besonderer Dank für hilfreichen Rat gilt Heinz Ludwig Arnold.
Die Widmung des Bandes drückt meinen innigsten Dank an Familie Zwiener für langjährige Gastfreundschaft aus und feiert zugleich das Gedächtnis eines großen Wissenschaftlers, Aufklärers und Weltbürgers.
Jim Reed |
Oxford im März 2009 |
Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. So differenziert Immanuel Kant 1784 in seiner Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?. Diese sei noch lange keine vollendete Tatsache, sondern allenfalls ein im Gang befindlicher Prozess. Was kein Grund zur Entmutigung war, denn Aufklärung ist ihrem Wesen nach immer und zu Recht Prozess, nicht Stand. Neue Umstände, neue Fragen, eine neue Generation fordern immer wieder neues Denken, ein Überdenken des Alten. So ist Aufklärung immer zeitgemäß, immer gefordert, immer unvollendet. Es gilt zu erkennen, welche Prinzipien den Prozess gesteuert haben und jederzeit steuern und durch welche Naturimpulse er vorangetrieben wird – denn ein Naturphänomen ist Aufklärung allemal auch: Ein Heranreifen des Einzelnen zu Selbstdenken und Selbstbestimmung, das im Wesen des Menschen und letztlich im Interesse der Gesellschaft liegt.
Der Prozess hat freilich durchaus konkrete gesellschaftliche Fortschritte gebracht, die bereits durch die Salamitaktik der Aufklärer im 18. Jahrhundert angeschnitten wurden und sich seitdem langsam und mitunter schmerzlich konsolidieren konnten, doch zum Glück inzwischen so fest eingebürgert sind, dass die Lebenswelt zumindest Westeuropas vor allem durch die Aufklärung geprägt ist – sehr viel stärker auf jeden Fall als durch das Christentum. Ab und zu nämlich behaupten Politiker und sonstige öffentliche Wortführer vollmundig, wir lebten in einer christlichen Gesellschaft. Sie ahnen anscheinend nicht, wie eine christliche, eine wirklich christliche Gesellschaft aussehen würde, bzw. sie haben vergessen, wie christliche Gesellschaften historisch ausgesehen haben. Es ist eine Illusion, dass die Werte, zu denen sich der moderne europäische Staat bekennt – Gerechtigkeit, Menschenrechte, Respekt vor dem Einzelmenschen, Unantastbarkeit der Menschenwürde, Denk- und Redefreiheit – christliche Werte seien. Im Gegenteil, es sind Werte, die der christlichen Orthodoxie abgerungen werden mussten, und zwar eben durch die Aufklärung. Wo auch immer die eine oder andere christliche Kirche geherrscht hat, wurden sie nicht praktiziert. Die Einzelseele wurde nur insoweit respektiert, als sie bereit war, sich dem herrschenden dogmatischen Weltbild zu unterwerfen. Unantastbar war die Würde des Menschen keineswegs, wenn sie das nicht tat. Von Denk- und Redefreiheit keine Spur; wer sie ausübte, wurde zum Ketzer erklärt und verfolgt. Ketzer sei, so Bossuet, der führende Prediger Frankreichs im 17. Jahrhundert, eben ‹jemand, der eigene Meinungen hat›. Schon allein das deutsche Wort Ketzer trägt Blutspuren, leitet es sich doch von der südfranzösischen Sekte der Katharer her, mit der die Kirche im 13. Jahrhundert durch einen regelrechten Kreuzzug aufgeräumt hat, dem Tausende zum Opfer gefallen sind. Die aus derselben Zeit (1233) stammende Inquisition ist legendär, schauerlich genug die nackte Wahrheit, falls sie das wirklich ist, in apologetisch gemilderter Fassung: Der Vatikan hat 2004 einen Bericht veröffentlicht, der nachweisen wollte, von den 125.000 aufgearbeiteten Fällen sei nur ein Prozent der Untersuchten hingerichtet worden. Immerhin 1250 Einzelseelen, von den Traumata der übrigen 99 Prozent nicht erst zu reden, die an Verhör und Folter nicht gestorben sind, zu denen zugegebenermaßen eine Dunkelziffer kommt, die durch ähnlich ausgerichtete Instanzen den Tod gefunden hat. Zu den Opfern gehörten bedeutende Selbstdenker wie Giordano Bruno, der gefoltert und verbrannt wurde, und Galileo Galilei, der vor der Folter einlenkte und seine letzten Jahre in Hausarrest verbrachte.
Von Christus wird das Wort überliefert, ‹In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen.› Christen verschiedenster Observanz bestehen aber seit jeher auf die alleinseligmachende Gültigkeit der Wohnung, die sie selber gebaut haben. So war Toleranz nur insofern ein christliches Prinzip, als jede christliche Gemeinde es seinerzeit für sich eingefordert hat. Das taten sie solange sie ihrer bedurften, weil sie selber als eine Minderheit der Verfolgung ausgesetzt waren, und zwar zumeist, trotz des Gebots ‹Liebe deinen Nächsten›, von Seiten anderer Christen. So kann man höchstens von einer Zwecktoleranz reden. Sobald sie sich etabliert hatten, ging es ihnen nur darum – das liegt in der Logik jedes totalen ideologischen Glaubens, auch des ähnlich beschaffenen politischen –, die eigene Orthodoxie absolut zu setzen. Zwar mag Luthers ‹Hier stehe ich, ich kann nicht anders› mitsamt der ganzen Reformation vorerst wie ein Vorhall der Aufklärung klingen, die Formel ist ja beispielhaft für den Mut zur eigenen Position. Nur ist jede solche Station auf dem langen Weg von der Einheitsreligion zur individuellen Denkfreiheit zugleich auch ein Stillstand, um nicht zu sagen ein Rückfall. Denn aus dem Rebell Luther wurde die Autorität Luther, die kaum dadurch abgeschwächt wurde, dass die Existenz zweier Autoritäten, einer protestantischen neben der katholischen, die Autorität als solche logisch in Frage gestellt hat. Das hat nicht verhindert, dass sie sich praktisch im je eigenen Bereich verabsolutierte. Die religiöse Autorität hat sich zudem immer politischen Rückhalt gesichert. Zwecks Machterweiterung hat die jeweils dominante Kirche gern mit den weltlichen Herrschern paktiert und sich so zu einem zweiten, einem Parallelabsolutismus aufgeworfen: Mit Hilfe der weltlichen Macht konnte man den Menschen einen Glauben oder doch eine äußerliche Konformität aufzwingen, die durch Argumente und freiwillige Bekehrung nicht zu erreichen war. Resultate der unheiligen Allianz von Glaube und Macht waren etwa die Pariser Bartholomäusnacht, in der 1572 an die 5000 Protestanten ermordet wurden, oder in größerem Maßstab 1649 der Straffeldzug Cromwells in Irland mit zahllosen katholischen Opfern sowie mit Folgen, die bis in unsere Tage reichen; die spanische Schreckensherrschaft in den Niederlanden um 1570, deren Opfer der nüchterne zeitgenössische Jurist Hugo Grotius auf hunderttausend berechnete; oder der anfangs aus Glaubenskonflikten hervorgegangene Dreißigjährige Krieg, der zwischen 1618 und 1648 Deutschland verwüstet und zum Teil entvölkert hat. So konnte der Historiker des späten Römischen Reichs, Edward Gibbon, im Kapitel über die Verfolgung der Urchristen durch die Römer das Fazit ziehen, die Märtyrer für ihren Glauben hätten eine verschwindend kleine Zahl dargestellt im Verhältnis zu den zahllosen Opfern der späteren Machtkämpfe zwischen christlichen Sekten. Soviel als Beispiele für die Greuel binneneuropäischer Intoleranz, um von den Kreuzzügen in Nahost oder den spanischen Conquistadores in Südamerika nicht erst zu reden.
Die sonst zerstrittenen Sekten waren sich nur einig in der Abwehr aller Kritik an ihrer jeweiligen Auffassung vom Christentum. Eine wahrhaft christliche Gesellschaft war immer schon fast eine Theokratie, bei der der Glaube mit der politischen Macht auf eine Weise verwachsen war, wie es heute gewisse islamische Länder verkörpern. Auch die westliche Welt kennt wieder zur Genüge die Gefahr, dass der religiöse Fundamentalismus in der Politik mitmischt.
So galt der Kampf der Aufklärung grundsätzlich dem Prinzip absoluter Autorität, das das wohl gründlichste aller Vorurteile ist. Ihm setzte sie das Prinzip Kritik entgegen. Erst durch die aufklärerische Kritik konnte der ideologisch-politischen Macht die Spitze abgebrochen, konnten Glaubens-, Denk- und Redefreiheit, Menschenrechte und Toleranz als der Religion übergeordnete, friedlich säkulare Werte festgelegt und der Einzelseele als Bürger garantiert werden. Damit dies geschah, musste der Staat nach jahrhundertelangen Konflikten, die bis hin zu Religionskriegen – sowohl Bürger- als auch Völkerkriegen – gingen, endlich einsehen, dass lediglich die Kontrolle über die Handlungen der Bürger, nicht über ihre Glaubensbekenntnisse, lebenswichtig war und ihm zustand. Der Staat selbst war konfessionsneutral. Seitdem durfte eine Religion nur dann toleriert werden, wenn sie ihrerseits tolerant war, das heißt den Frieden der Gesellschaft nicht durch Fanatismus und Gewalttätigkeit störte. Dieser säkulare Grundsatz nebst den durch ihn gesicherten Freiheiten sind mittlerweile in Westeuropa so selbstverständlich geworden – zumindest prinzipiell, im Einzelfall müssen sie allerdings allzu oft neu angemahnt und erkämpft werden –, dass man sie kaum mehr als die historische Errungenschaft wahrnimmt, die sie sind. Auch das lebensnotwendige Wasser hat kaum einen merklichen Eigengeschmack.
So viel zur Bedeutung der Aufklärung überhaupt. Was hat die deutsche Variante Eigenes dazu beigetragen? Das lässt sich vielleicht mit fremden Augen schärfer sehen – das ist der Sinn des vorliegenden Essays, der eine Parallelaktion zum Versuch bildet, einem englischsprachigen Publikum die deutsche Aufklärung nahezubringen: einem Versuch, der ganz unten anfangen muss, weil man angelsächsischerseits von einer deutschen Variante des Phänomens ‹Aufklärung› jenseits der Spezialistenkreise wenig oder gar nichts weiß, ja die Verbindung Aufklärung und deutsch im Schatten der neueren Geschichte geradezu paradox findet. Daher der Titel des Projekts, ‹Light in Germany›, der als Provokation gemeint ist.
Einer deutschen Leserschaft mag es verwunderlich erscheinen, dass man ‹ihre› Aufklärung außerhalb Deutschlands kaum zur Kenntnis nimmt. Das liegt vor allem daran, dass sie selbst bei verhältnismäßig gebildeten Menschen durch die französische ausgestochen wird. Allbekannt sind Voltaire, etwa durch seinen Frontalangriff auf die Kirche, Stichwort ‹écrasez l’infâme› (die Infame zerquetschen), oder seinen Kampf um Gerechtigkeit für das Opfer eines bigott motivierten Justizmords, Jean Calas; Diderot und D’Alembert durch ihre große Enzyklopädie, die das Gesamtwissen ihrer Zeit umfasste; Rousseau durch seine Zivilisationskritik, sein Ideal des ‹edlen Wilden› und den Begriff des Gesellschaftsvertrags; Montesquieu durch seinen Geist der Gesetze und die Persischen Briefe; Beaumarchais durch seinen aufmüpfigen Figaro; und, last not least, das angeblich aus der aufklärerischen Geistesbewegung hervorgegangene, welterschütternde Ereignis des 18. Jahrhunderts, die Französische Revolution. Wer besser informiert ist, mag beim Stichwort Aufklärung höchstens noch an das Schottland des Philosophen David Hume und des Ökonomen Adam Smith oder an das Italien des Strafgesetzreformers Cesare Beccaria denken. Entsprechend sind die Zentren der deutschen Aufklärung als solche fast unbekannt – Leipzig, Halle, Göttingen, Anhalt-Dessau. Vom wohl wichtigsten, Berlin, weiß man höchstens, dass Voltaire von Friedrich II. dorthin eingeladen wurde, überdies Maupertuis als Präsident einer französisch ausgerichteten, französisch sprechenden und schreibenden Akademie. Diese nimmt sich also nicht gerade wie eine selbständig deutsche Aufklärungserscheinung aus, die Stadt selbst erscheint eher als Außenstelle der französischen Aufklärung. Auf Deutschland als aktiven aufklärerischen Mitspieler wird man jedoch schwerlich verfallen.
Gewiss, man nimmt auch jenseits der deutschen Grenzen die großen Namen des 18. Jahrhunderts zur Kenntnis – Kant, Lessing, Goethe, Schiller, Herder. Sie werden jedoch nicht als eine einheitliche Bewegung, und schon gar nicht als eine Gruppe von Aufklärern wahrgenommen (sie werden es übrigens auch deutscherseits selten), sondern lediglich als große Individuen oder anderen Kategorien zuzuordnende Figuren: Kant als der Philosoph schlechthin, der profundeste aller Erkenntnistheoretiker, ein Spezialist für Spezialisten, der für Laien fast ebenso unzugänglich ist wie, seinem eigenen Denkmodell zufolge, das ‹Ding an sich›; Goethe als Autor des Faustdramas, was von jeher alle anderen Aspekte seines Schaffens, insbesondere die schwer übersetzbare Lyrik, in den Schatten gestellt hat, so dass man von Goethes Größe weiß, ohne ihn richtig zu kennen; Schiller als ein Autor, der mit seinen Dramen den Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts Handlungen zugespielt und Beethoven gleichsam aus heiterem Himmel mit Textschnipseln für den Schlusssatz der Neunten Symphonie versorgt hat. (Zugegeben: in den letzten Jahren sind Schillers Don Carlos, Wallenstein und Maria Stuart auf britischen Bühnen gut bis sensationell angekommen.) Herder wird gern als Gegenaufklärer missverstanden, da doch seine Kritik am Geschichtsdenken der Aufklärung eher beispielhaft zu deren Selbstkritik gehört und eigentlich eine bereichernde Weiterführung dieses Denkens darstellt. Der für deutsche Begriffe einzige Vollaufklärer der fünf, Lessing, ist eine nur unscharf wahrgenommene Figur, eine eher fragmentierte, je nachdem ob ihn ein Theologe, ein Altphilologe, ein Theatergeschichtler oder ein Ästhetiker betrachtet. Ohne die vier anderen gewöhnlich ausgesparten Großen bleibt die Aufklärung auf Gestalten zweiter Ordnung beschränkt – etwa Forster, Lichtenberg, Mendelssohn, Moritz, Garve, Nicolai –, die international kaum ins Gewicht fallen. Auch in Deutschland geraten die Letztgenannten und mit ihnen das ganze Phänomen Aufklärung leicht in den Schatten einer ebenso konventionell gesehenen Klassik. Diese soll es einem vereinfachenden Geschichtsverständnis zufolge als in sich geschlossene Phase abgelöst und überholt haben. So dürfte es ein Dienst nicht nur an der englischen Leserschaft sein, auch noch diese größten Figuren und Werke des späten 18. Jahrhunderts in einem breiteren Aufklärungskonzept mit zu umfassen, sie eben als Mitwirkende an einer alle Periodenklischees übergreifenden Lichtzeit anzusehen. Konventionell würde man die hier behandelten Gestalten und Werke als Spätaufklärung bezeichnen. Die Trennung von Früh und Spät ist aber recht künstlich, denn es handelt sich um Wurzeln und Äste eines einzigen Baums. Auch Vorgänger wie Thomasius, Wolff und Pufendorf werden gelegentlich zu Wort kommen. So darf, falls überhaupt von Phasen, höchstens von einer reifen, einer gereiften Aufklärung die Rede sein: die großen Spätleistungen sind eben die Früchte des Baums.
In der Tat: Nimmt man nun den großen Analytiker Kant, den Dichter und Denker Goethe, den Dramatiker und Theoretiker Schiller und den Kulturhistoriker Herder neben dem Erzdebattierer Lessing unter dem Aufklärungsetikett mit auf, so hat man eine Mannschaft beisammen, die es in ihrer Gesamtleistung an Tiefe und Glanz mit den französischen Aufklärern sehr wohl aufnehmen kann, ja ihnen rein literarisch sogar überlegen ist. Von den Genannten wird entsprechend oft und viel die Rede sein. Sie haben einerseits die aufklärerischen Grundprinzipien theoretisch denkbar vertieft, sie aber auch imaginativ in Kunstwerken von hohem Rang und Ernst verkörpert – diese tragen ebensogut wie philosophische Abhandlungen die Aufklärung, beides muss zusammengesehen werden. Religionskonflikte, Freiheitskämpfe, Laster und Verbrechen der kleinen Höfe, das menschliche (auch spezifisch das weibliche) Mündigwerden, dies alles bringt man als lebendige Dialektik in die Literatur, insbesondere auf die Bühne. Letzteres ist kein Wunder, denn Aufklärung ist im Grunde ein dramatischer Prozess – selbst die Argumentation eines Kant nimmt in seiner wichtigsten Äußerung zur Aufklärung implizit Dialogform an. Diese mit der intellektuellen einhergehende künstlerische Leistung sichert die deutsche Aufklärung ab gegen das Klischee eines nationalen Hangs zu allzu gründlich bohrender Abstraktion, das dem bekannten Elefantenbücherwitz die Schlusspointe liefert. (Der Engländer schreibt seine Erinnerungen an «Elephants I have shot», der Franzose schildert «L’éléphant et ses amours», der Deutsche verfasst «Prolegomena zu einer Einführung ins Wesen des Elefantenhaften».) Dem Klischee widerspricht die dichterische Vielfalt des deutschen 18. Jahrhunderts. Die Stärke der französischen Aufklärung – so über den Daumen gepeilt darf man den Unterschied der beiden nationalen Varianten sehen – liegt vor allem in der Polemik und in deren Umsetzung in die literarisch unmittelbarste Gebrauchsform der Satire. So heißt es bei Voltaire, mit gehirnlosen Einrichtungen lasse sich nicht diskutieren, daher habe er lediglich den Spott benutzen können – ein Spruch, der selber die Satire fortsetzt. Die französische Aufklärung hat den Frontalangriff bevorzugt, wollte metaphorisch wie wörtlich (Schleifung der Bastille!) Mauern einreißen. Die deutsche hat alte Mauern eher langsam, dafür aber mindestens ebenso gründlich untergraben.
Das unmittelbar praktische Engagement der Franzosen hat auf die Gesellschaft in einer Weise ausgestrahlt, die in Deutschland weitgehend gefehlt hat. Hierzulande hat sich die Aufklärung eher allmählich vorwärtsgetastet, hat Konfrontationen möglichst vermieden, obwohl ihr einige von behördlicher Seite aufgezwungen wurden. Ihr Mangel an dauerhafter Wirkkraft ist aber vor allen Dingen auf den gegenaufklärerischen Rückschlag zurückzuführen, der um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eingesetzt und eine radikal andere Tradition eingeleitet hat. Der Rückschlag wurde zunächst durch den Schock der Pariser Schreckensherrschaft und die bittere Erfahrung der auf deutschen Boden übergreifenden Revolutionskriege ausgelöst, in die die französische Umwälzung bald mündete. Das hat ihre aufklärerischen Paten mit diskreditiert. Parallel dazu lief eine kulturinterne Reaktion, bei der, angefangen mit den Romantikern bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, die Aufklärung schlechtgemacht und abgelehnt wurde zugunsten einer bewusst irrationalen Weltanschauung, die ‹tiefer› und – so die extreme Spätausprägung dieser Tradition – erst richtig ‹deutsch› sei, wie es das Bekenntnis zur Vernunft angeblich nicht wäre. Tief ist aber auch der Abgrund, in den man mangels Vernunft stürzt.
Das ist deutsche Geschichte, und nicht bloß Kulturgeschichte. Die Wendung zum Irrationalismus hat sich auch auf die Politik mächtig ausgewirkt. Sie ist letztlich der Grund, warum man im Ausland die Begriffe ‹deutsch› und ‹Aufklärung› schwerlich zusammendenkt. Was zum gängigen Vorurteil über Deutschland wurde, ist also im Ursprung ein deutsches Selbsturteil, auf das man obendrein noch stolz war. Beides ist ein Fehlurteil, das berichtigt werden kann und muss, indem man auf das Licht hinweist, das seinerzeit immerhin als ein luzides Intervall in und aus Deutschland gestrahlt hat und – so potentiell zeitübergreifend ist jede kulturelle Errungenschaft – immer noch zu strahlen vermag.
Indem man solche alten Missverständnisse ausräumt, handelt es sich keineswegs darum, blauäugig ein Loblied auf die Vernunft anzustimmen. Es ist bereits ein gravierendes, dem Ruf der Aufklärung schädliches Missverständnis, dass sie das selber ohne Vorbehalte getan hätte. Eine Abstraktion ‹Vernunft› war für die Aufklärung kein ausreichender und schon gar kein beherrschender Begriff, so oft das Wort fallen mag. Sie war sogar problematisch, wenn man mit ihr nicht richtig, das heißt nicht kritisch umging. Bezeichnend ist, dass das philosophische Hauptwerk der Zeit, Kants Kritik der reinen Vernunft, die Vernunft als alleinige und hinreichende Instanz gerade hinterfragt (das Zeitalter der unangefochten ‹reinen› Vernunft war das vorhergehende, von Leibniz und Descartes beherrschte gewesen). Soweit Vernunft ein ohne Realitätsprinzip arbeitendes, rein spekulatives Denken erlaubte, war ihr Gebrauch gefährlich. So musste man sie vom Standpunkt einer höheren, ‹richterlichen› Vernunftinstanz aus untersuchen. Erst eine auf diese Weise selbstkritische Vernunft konnte für sich Verlässlichkeit beanspruchen – das ist die wahre ‹Dialektik der Aufklärung›, die schon von allem Anfang an bewusst praktiziert wurde.
Gut so, denn programmatisch verabsolutiert hat Vernunft als Aushängeschild wenige Reize: sie ist ein eher blasser Begriff, der den praktischen Belangen der Menschen fernzustehen scheint. Man kann allzuleicht den Eindruck gewinnen, Berufsphilosophen und andere Intellektuelle hätten sie für sich gepachtet. Doch hing von ihrem richtigen Gebrauch – so Immanuel Kant – ‹sogar das wahre und dauerhafte Wohl des menschlichen Geschlechts› ab. Damit man das aber erkennen konnte, musste Vernunft gleichsam domestiziert werden, man musste sie und ihre lebenswichtige Funktion in wirklichen Situationen der Lebenswelt veranschaulichen. Das hat Kant, nachdem er 1781 mit hochtechnischen Argumenten dem Vernunftgebrauch Grenzen gesetzt hatte, 1784 als Essayist für eine breite Öffentlichkeit getan, und zwar dadurch, dass er das Denken des Durchschnittsmenschen in den Vordergrund und das vermeintlich Hochtrabende, Lebensferne an Vernunft und Aufklärung auf den Boden einfacher alltäglicher Tatsachen gestellt hat. Muss man angesichts des Lebens nicht immer denken? Es sei denn, man lasse andere es für einen tun. Vor dieser Wahl steht jedermann.
Kants zweite, weniger bekannte Definition von Aufklärung aus dem Jahr 1786 (die erste kommt noch) ist ganz einfach ‹die Maxime, jederzeit selbst zu denken›: wobei Selbstdenken wiederum heißt, ‹den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen›. Von den Einflüssen und Forderungen seiner Umwelt fällt hier noch kein Wort. Anscheinend soll jeder Mensch einen neuen Anfang machen, was auch Sinn hat: Ist doch jeder ein Neuanfang, gleichsam ein Mensch im Naturstand, dem intellektuellen, etwas anderes, als Rousseau mit seinem Begriff des ‹edlen Wilden› gemeint hatte. Wo Descartes in der wohl berühmtesten aller philosophischen Formulierungen Existenz und Identität des Menschen von der Tatsache ableitet, dass er denkt, leitet Kant umgekehrt das Recht, ja die Pflicht, selbst zu denken, von der Einzelexistenz ab. Statt des cartesianischen ‹cogito, ergo sum› (ich denke, also bin ich), heißt es bei Kant implizit ‹es, ergo cogita› (du bist, bist ebensogut ein Mensch wie andere, also denke!) Mit anderen Worten: zum Selbstdenken gehört, aber es reicht auch, ein Selbst.
Dieses Potential in der Welt zu verwirklichen fällt aber schwer. Wer wird schon so frei sein, noch als Anfänger im Leben seiner Umgebung mit eigenen unabhängigen Gedanken zu kommen? Er wurde ja in eine durch Gesetze und Bräuche und so manche unbewiesene dogmatische Wahrheit geregelte, um nicht zu sagen festgefahrene Gemeinschaft hineingeboren. ‹Wie soll nun ein junger Mann dahin gelangen›, so fasst noch der alte Goethe das Problem zusammen, ‹dasjenige für tadelnswert und schädlich zu halten, was jedermann treibt, billigt, fordert?› Die Gesellschaft wird es ihm nicht gerade danken, über dieses oder jenes längst Eingebürgerte besser wissen zu wollen. Schon das wiederholte ‹Warum›-Fragen von Kleinkindern verärgert die Eltern eher mehr als sie zu belustigen. Alles Junge haben gesetzte Leute im Verdacht, vorwitzig, ja aufmüpfig zu sein – Jung Deutschland, Giovane Italia, Jungtürken. ‹Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort›, gern wird der Spruch von Schillers Octavio Piccolomini zitiert (Wallensteins Tod, II, ii). Implizit sei erst das Alte ehrwürdig, verlässlich. Eltern sind eben die Älteren. (Bekanntlich ist allerdings auch das Alter oft schnell fertig mit dem Wort …)
Gleichwohl ist das Mitspracherecht des neu hinzugekommenen Einzelnen ein mit dem Erwachsensein schließlich zugestandenes Recht. Er wird mit der Zeit für mündig erklärt. Nach Erreichung dieser Schwelle erlaubt ihm das soziale Kollektiv, über seine eigenen Belange zu entscheiden, Wichtiges auf seine Kappe zu nehmen, etwa Verträge zu schließen oder gar die Ehe. Im Englischen heißt das übrigens ‹the age of reason› (das Alter der Vernunft). Man legt es dem jungen Menschen dabei freilich nicht ausdrücklich nahe, alles und jedes in Frage zu stellen. Das hieße für die Gesellschaft, sich extra Schwierigkeiten einzubrocken. Wo verläuft jedoch die Grenze der eigenen Belange des Neulings? Denn jede öffentliche Einrichtung, jede gesetzliche Bestimmung, jeder alte Brauch betrifft auch ihn. Er muss sich also nur trauen, sich dazu zu äußern!
So appelliert Kant, als es 1784 darum geht, eine öffentlich gestellte Frage nach dem Sinn von Aufklärung zu beantworten, eben an das Mündigwerden, genauer, an den Mut, den Ausgang aus der Unmündigkeit zu schaffen. Denn diese Grenze in jedermanns Leben wird zwar organisch unaufhaltbar erreicht, die damit verbundenen Freiheiten aber werden nicht unbedingt von allen wahrgenommen. Das sei jederzeit eine Mutprobe, ein Wagnis: Kant formuliert seine Aufforderung an den Einzelnen mit einem Wort des Horaz, ‹sapere aude›, wage zu wissen! Ohne den Zitatzwang hätte es vielleicht eher ‹cogitare aude›, wage zu denken! gelautet, eine Formel, die später Lichtenberg benutzen wird. Das zitierte Wort ‹sapere› passt jedoch bestens, denn der Mensch wird erst durch diese Tätigkeit richtig zum homo sapiens.
Wir haben es mithin keineswegs mit einer dürren Greisenphilosophie zu tun, wie man es der Aufklärung gerne nachsagt. Im Gegenteil, Kant hat gerade den Beitrag des gesellschaftlichen Neuankömmlings im Auge. Der klassische erste Satz des Essays Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? lautet: ‹Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.› Nebenbei gesagt – aber es ist von mehr als nebensächlicher Bedeutung –, die Formel des Titels, dem der bestimmte Artikel ‹die› fehlt, meint eindeutig Aufklärung schlechthin, nicht nur die in Kants eigener Zeit verortete Bewegung. Wenn es zu diesem Ausgang jedoch noch ‹der Entschließung und des Muts› bedarf, widrigenfalls die Unmündigkeit eben ‹selbstverschuldet› ist, so wird klar, dass es nicht bloß um das organisch unausbleibliche Wachstum bis zum Mündigkeitsalter geht: die Begriffe Mündigkeit/Unmündigkeit sind Metapher geworden – allerdings eine, die an dem Prozess des organischen Wachstums, mithin der Natur, einen starken Rückhalt hat. Kant baut die Metapher zu einer regelrechten Urszene aus, bei der Kräfte und Gegenkräfte einprägsam veranschaulicht werden. Da sind Vormünder, die dem Einzelnen ‹das verdrießliche Geschäft› des Selbstdenkens ‹gütigst› abnehmen wollen. Sie hielten ihn gern – die Darstellung wird zur förmlichen Karikatur – noch als erwachsenen Menschen in einen Gängelwagen eingesperrt, sie möchten ihn gern weiterhin am Gängelband führen, damit er keinen Unfug anstellt. Dem kommt er geradezu entgegen, wenn er es aus ‹Faulheit und Feigheit› geschehen lässt. Wie bauchrednerisch lässt Kant einen Faulen zu Wort kommen: ‹Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.› So die typische Stimme dessen, der Trägheit und Passivität vorzieht, es nicht wagt, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Dadurch verzichtet er freiwillig auf die Rechte seines Mündigseins.
Kants Argumente für das Selbstdenken waren nicht neu – der Aufsatz will ja eine längst bestehende Tendenz des Zeitalters auf den Begriff bringen. Ehre also, wem Ehre gebührt: Schon 1691 hatte Christian Thomasius in seiner Außübung der Vernunftlehre dazu aufgefordert, die Vorurteile ‹hertzhafft zu attaquieren›, die der Ursprung aller Irrtümer seien, vor allem das Vorurteil der Autorität: ‹Traue künftig nicht mehr so leichte, sondern fange an und Zweiffele›, an allem nämlich, wovon ‹du nicht eine innerliche Versicherung bei dir befindest›. Man solle sich auch nicht durch ‹das Geschrey derer› abschrecken lassen, ‹denen sehr viel daran gelegen ist, daß die Welt nicht aus den gemeinen Irrthümern gerissen werde› und die ‹die Autorität deiner Obrigkeit, deiner Eltern oder Praeceptoren vorhalten›, als wäre solches Aufmüpfen ein Verstoß gegen ‹das natürliche Recht›. Allerdings sei man ‹schuldig, unser äußerlich Thun und Lassen nach dem Willen unserer Obern und Eltern einzurichten›. Der Vorbehalt wird ebenfalls bei Kant nachklingen. Nur der Verstand, heißt es bei Thomasius weiter, sei ‹keinen Gesetzen unterworffen›, da er nur ‹von unserm freyen Willen dependiret›. Solche Freiheit zu realisieren wird als eine heroische Arbeit anerkannt, denn eingangs heißt es ‹Miste für allen Dingen deinen Verstand aus.› Als eine seiner zwölf Arbeiten musste der mythische Herkules die Ställe des Augias ausmisten. Trotz der antiken Anspielung hat Thomasius seine Aufforderung nicht in der lateinischen Gelehrtensprache, sondern erstmals auf gut deutsch formuliert, was an sich schon ein entscheidender Beitrag zu aufklärerischer Kommunikation war.
So ganz einfach war es also nicht, auch nur das Selbstdenken zu üben, geschweige denn, es in die gesellschaftliche Praxis umzusetzen. Dafür hat Kant, weit davon entfernt, hochnäsig auf die Feigen und Faulen herabzublicken, ein realistisches Verständnis. Denn bis es mit der Mündigkeit soweit ist, hat man je nach geschichtlichem oder kulturellem Standort 30, 25, 21 oder 18 Jahre der Konditionierung durch die Gesellschaft hinter sich. Die ‹Satzungen und Formeln› der Gesellschaft sind auch viel stärker als bloße Gängelbänder. Sie sind – Kant wechselt zu einer unverblümteren Metapher über – ‹die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit›. So würde ‹selbst, wer sie abwürfe›, mangels Gewöhnung sich schwerlich frei bewegen können. Entsprechend haben nur wenige es auf eigene Faust geschafft, ‹sich aus der Unmündigkeit herauszuwickeln und einen sicheren Gang zu tun›. Man bedarf neben der Hilfe des natürlichen Heranreifens auch noch der Unterstützung vonseiten einer an Aufklärung interessierten Öffentlichkeit, eines ‹Publikums›: die Menge tut’s!
Auch eine solche Aufklärung durch ein Publikum wird ihre Zeit brauchen, was zwar nicht von Übel ist, denn Evolution ist allemal der Revolution vorzuziehen, die nie eine ‹wahre Reform der Denkunsgsart› zustandebringe. So von Kant formuliert, als die ernüchternden Erfahrungen der Französischen Revolution noch fast ein Jahrzehnt entfernt waren. Sonst ist zu dieser erstrebten Kollektivaufklärung ‹nichts erfordert als Freiheit, und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.› Aber halt! Sollte das Publikum nicht dem unfreien Individuum beim Selbstdenken unter die Arme greifen? Jetzt aber bedarf das Publikum selbst dazu erst der Freiheit! Ist doch ein Zirkelschluss. Aus welchen denn doch selber hilfsbedürftigen Einzelnen konnte sich so ein Publikum zusammensetzen? Wo, wie, bei wem konnte man den Anfang machen? Man musste sich anscheinend am eigenen Zopf aus dem Sumpf herausziehen.
In der Tat trifft die unsinnige Methode des Freiherrn von Münchhausen ziemlich genau das Zentralproblem der Aufklärung: Wie fasste man erst Fuß, wie legitimierte man die kritische Diskussion überhaupt, insbesondere bei denjenigen, die die Macht in Händen hielten und eigentlich nur Macht verstanden? Dem Absolutismus lag ja, so die Lehre des Staatsrechtlers Pufendorf, der Gedanke eines ursprünglichen Unterwerfungsvertrags zugrunde, den die Untertanen eingegangen seien. Diese hatten demnach kein formelles Einspruchsrecht. Sie konnten nur hoffen, dass der Herrscher seinerseits den naturrechtlichen Verpflichtungen gegenüber seinem Land gewissenhaft nachkommen werde. Er musste sich jedoch bei seinen Handlungen von niemandem dreinreden lassen. Fatalerweise sah es so aus, als müsse – unwahrscheinlich genug – die benötigte Diskussionsfreiheit gerade von denjenigen Menschen gewährt werden, deren Autorität man trotz Unschuldsmiene und Unschädlichkeitsbeteuerungen doch letztlich in Frage stellen, relativieren, am Ende praktisch unterwandern wollte.
In der Tat hörte man gewöhnlich nur – so Kants Inszenierung der gängigen gesellschaftlichen Praxis – ‹von allen Seiten rufen: Räsonniert nicht! Der Offizier sagt: Räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: Räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: Räsonniert nicht, sondern glaubt!› Das gibt es bekanntlich auch in späteren Zeiten noch, es wird in Döblins Berlin Alexanderplatz fröhlich formuliert: ‹Da ist der gute Vater Staat, Er gängelt dich von früh bis spat. Er zwickt und beutelt dich nach Noten Mit Paragraphen und Verboten! Sein erst Gebot heißt: Mensch, berappe! Das zweite: Halte deine Klappe!› Aber die Lage war nicht hoffnungslos. In einer Provinz Deutschlands nämlich war man doch bereit, Zugeständnisse zu machen. So heißt es bei Kant weiter: ‹Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: Räsonniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht!› Es war sein eigener Landesvater, Friedrich der Große. Der König hatte bekanntlich ein offenes Ohr insbesondere für Religionskritik, aber doch nicht nur dafür. Zwar meinte Lessing, es sei unanständig, gegen die Religion ‹soviel Sottisen zu Markt zu tragen› wie man wolle, während es in diesem ‹sklavischsten Land von Europa› unmöglich sei, ‹seine Stimme für die Volksrechte zu erheben›. Tatsächlich schloss aber das ‹Räsonniert, worüber ihr wollt› auch Fragen und Vorschläge zu der im Entstehen begriffenen Rechtskodifizierung (dem Allgemeinen preußischen Landrecht) ein. Auch war der König bereit, in kommerziellen Fragen auf den Rat preußischer Unternehmer zu hören. Schon als junger Kronprinz war Friedrich in mündiger Reaktion auf die Väterwelt (genauer, auf einen brutal autoritären Vater) aufklärerisch gesinnt gewesen, hatte in aufgeklärtem Geist (und französischer Sprache) geschrieben, weswegen er Träger der Hoffnungen aller Aufgeklärten unter seinen Untertanen war. Er hat denn auch am dritten Tag nach seinem Regierungsantritt die Folter abgeschafft, schon im ersten Jahr jedoch einen Krieg vom Zaun gebrochen, der für die restlichen sechsundvierzig Jahre seiner Regierung und für das Leben und Sterben seiner Untertanen verhängnisvolle Folgen haben sollte. ‹Unser Interesse ist mit dem des Volkes dasselbe›, hat er später gesagt, und sich gern für den ersten Diener des Staates ausgegeben, alle Kräfte seines Landes jedoch eben auf Krieg und Kriegsbereitschaft konzentriert. Man hat mit Recht von einem Königtum der Widersprüche geredet.
Einen solchen Widerspruch bildete eben auch die Lizenz zu räsonnieren unter der Bedingung totalen Gehorsams. Die von Kant zitierten Worte hat Friedrich zwar nie öffentlich ausgesprochen, sie treffen gleichwohl genau seine Position, mit der in Kants Aufsatz ein Dialog geführt wird. Aus diesem dubiosen Angebot hat Kant ein ingeniöses Programm entwickelt, das radikal zugleich und konservativ war: radikal, indem gesellschaftliche Veränderung überhaupt als notwendig eingefordert wurde, konservativ, insofern alle Veränderung erst allmählich und nach allseitigem Einverständnis in Kraft treten sollte. Der mündige Bürger sollte eine doppelte Verantwortung tragen: Zum einen musste er seinen Amtspflichten den bestehenden Vorschriften gemäß nachkommen, was Kant kontraintuitiv den Privatgebrauch der Vernunft nennt (wohl weil es in erster Linie die persönliche Karriere des Beamten betrifft). Er sollte aber parallel dazu seine Reflexionen über Probleme der Amtsführung ‹dem ganzen gemeinen Wesen, ja sogar der Weltbürgerschaft› vorlegen. Eben weil dies eine eindeutig höhere Pflicht war, kam erst ihr die Bezeichnung ‹öffentlicher Gebrauch› zu. Für die Öffentlichkeit bestimmte Meinungen ließen sich auch unschwer veröffentlichen. An der Spitze der damaligen Organe stand die Berlinische Monatsschrift, deren Beiträge zum Teil auf Diskussionen im Kreis der 1783 gegründeten ‹Gesellschaft der Freunde der Aufklärung› bzw. ‹Mittwochsgesellschaft› zurückgingen. Diese bestand neben den Schriftstellern Mendelssohn, Nicolai, Engel und Dohm aus hochstehenden, zum Teil für wichtige Ressorts zuständigen Beamten – den Juristen Klein und Svarez, dem Finanzminister Struensee, den Oberkonsistorialräten Spalding, Teller und Zöllner, dem Leibarzt Möhsen –, die also alle genau die von Kant vorgeschriebene ‹privat/öffentliche› Doppelrolle spielten.
Aus solchen Stellungnahmen und deren Beantwortung, die wohl vor allem aus der konservativen Ecke kommen und auf ganz konkreten Interessen fußen würden, sollte – so Kants Konzept – eine Debatte erstehen, die die Gesellschaft langsam voranbringen würde. Denn die parallel laufenden Linien von ‹privater› Amtspflicht und ‹öffentlicher› Reflexion, mussten sich irgendwann doch berühren und zu einer ‹besseren Abfassung› der Institutionen beitragen. Die vernünftige Reflexion war ja ein Gärmittel, das bei aller taktischen Beruhigung an die Adresse der Macht kaum wirkungslos bleiben konnte. Auch Herrscher und Adlige liebäugelten im 18. Jahrhundert mit aufklärerischen Ideen, diese waren geradezu modisch. Nur galt es, aus den Lippenbekenntnissen von hochgestellten Dilettanten Wirklichkeiten zu schaffen. Kants Vision zufolge sollte die Gesellschaft zu etwas wie einer permanenten Diskussionsrunde werden, aus deren zerstreuten Einzelinitiativen sich eine fruchtbare Wechselwirkung ergeben würde. In der Kritik der reinen Vernunft feiert er ausdrücklich ‹die allgemeine Vernunft, in der jeder seine Stimme hat›; die Aussagen der Vernunft seien ‹jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger›. Diese Formulierungen weisen bereits auf die Demokratie voraus, für die Kants Denken im Grunde eine Blaupause liefert.
Dabei würde nach Kant, so erstaunlich dies bei einem Berufsphilosophen und erst recht bei diesem strengsten aller Denker scheinen mag, niemand je ganz im Irrtum sein. Das ist der Umkehrschluss der aufklärerischen These, dass die absolute Wahrheit für den einzelnen Menschen unerreichbar bleiben muss. (Darüber später mehr.) Kant hat als Hochschullehrer in Königsberg ausdrücklich nicht Philosophie als festes Thesenkorpus, sondern nur ‹Philosophieren› gelehrt: nicht das Was, sondern das Wie des Denkens. Mangels bestimmter Glaubenssätze müsse man sich aber auch die scheinbar allerunsinnigsten Meinungen ruhig anhören. Ist doch die Redefreiheit nur die halbe Nussschale, sie setzt eine entsprechende Hörpflicht voraus: Was hilft frei reden können, wenn die Gegner für einander taub bleiben? Man muss die Thesen des Gegenübers darum nicht akzeptieren, doch immer bereit sein, auf sie einzugehen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Es handelt sich um eine unter Diskutanten vereinbarte formelle Toleranz, die eine inhaltliche allmählich nach sich ziehen muss. Von dort ist es nicht weit zur Äußerung Rosa Luxemburgs, die Freiheit sei immer die des Andersdenkenden. Es kann sogar der Fall eintreten, dass mich ein überlegenes Argument besiegt, das heißt: überzeugt. Was dann? Man streckt die Waffen. ‹Wo ich etwas antreffe,› – so Kant – ‹was mich belehrt, da eigne ich es mir zu. Das Urteil desjenigen, der meine Gründe widerlegt, ist mein Urteil…› Das ist freilich so ganz leicht nicht, man muss sich schon überwinden, so dass es weiter heißt: ‹…nachdem ich es vorerst gegen die Schaale der Selbstliebe und nachher in derselben gegen meine vermeintlichen Gründe abgewogen und in ihm einen größeren Gehalt gefunden habe.› Man sehe die Frage aber dann nicht mehr vom eigenen alten Standpunkt an, sondern ‹jetzt setze ich mich in die Stelle einer fremden und äußeren Vernunft, und beobachte meine Urteile samt ihren geheimsten Anlässen aus dem Gesichtspunkte anderer›. Aus dieser ‹Parallaxe› oder doppelten Optik geht eine Annäherung an die Wahrheit hervor, die letztlich nicht bloß eine individuelle, sondern immer nur eine gemeinschaftliche Leistung sein wird. Der Einzelne maßt es sich nicht an, fremde Autorität selbstherrlich durch seine eigene zu ersetzen. Schön wär’s, könnte man sagen, wenn die Menschen so gelehrig und nicht eher so rechthaberisch und renitent wären, wie man sie kennt. Es bleibt sicherlich ein nur teilweise erfülltes Ideal. Aber Kant ist eben der Mann der Ideale, der hohen Forderungen an die Mitmenschen; und die entgegengesetzte skeptisch bis zynische Meinung Goethes, ‹daß niemand durch seines Gegners Argument überzeugt wird›, schießt in der anderen Richtung ebenso sicherlich über das Ziel hinaus. Wie dem auch sein mag, zum Selbstdenken gehören immer auch Selbstzweifel.