Vom antiken Olympia bis
zur Gegenwart
C.H.Beck
In diesem unterhaltsamen Buch beschreibt Wolfgang Behringer, wie Sport über 3000 Jahre wurde, was er heute ist, wann wer welche Sportarten ausübte und warum, wie es zum Aufstieg des Fußballs kam und wie schon in der Antike Sport und Politik sich wechselseitig beeinflussten. Diese Kulturgeschichte wird Sportmuffeln – no sports! – wie Sportfans gleichermaßen verblüffende Einsichten liefern und zeigt den menschlichen Bewegungsdrang in einem neuen Licht.
776 v. Chr. wurden in Olympia die ersten panhellenischen Spiele angehalten, eine Erfolgsgeschichte, bis sie 393 n. Chr. verboten wurden. Aber warum ließ man sie nicht mehr zu? Und wie kam es, dass sie nach 1500 Jahren wieder belebt wurden und warum sprechen wir von Spielen und nicht von Sport?
Wolfgang Behringer eröffnet in seiner Kulturgeschichte neue Einblicke in die Geschichte des Sports. Er zeigt uns den jungen Kaiser Karl V. als begeisterten Tennisspieler, Heinrich VIII. von England als Sportfanatiker und den Begründer der modernen Physik, Isaac Newton, als aktiven Boxer. Die Kultur der Renaissance brachte den Bau großer Sportanlagen, denn im Florenz der Medici zog der Calcio, der Fußball, zigtausende Schaulustige an. In diesem Buch wird darüber hinaus höchst unterhaltsam und historisch fundiert diskutiert, was Sport überhaupt ist. Warum gehört Turmspringen dazu, Sackhüpfen aber nicht? Wie steht es mit den Stierkämpfen oder dem Motorsport? Wie kam es zum Aufstieg des Fußballs und wie beeinflussen sich Sport und Politik?
Wolfgang Behringer, geb. 1956, lehrt als o. Professor Geschichte, Lehrstuhl Frühe Neuzeit, an der Universität des Saarlandes. Bei C.H.Beck liegen von ihm vor: Hexen. Glaube, Verfolgung, Vermarktung (52009); Geschichte des Saarlandes (zusammen mit Gabriele Clemens, 22009) sowie Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung (52010, auch als Taschenbuch im dtv lieferbar).
Einleitung
Als Erstes: kein Sport!
Kapitel 1
Die Spiele der Antike
Der Geist von Olympia
Vorolympischer Sport im Mittelmeerraum
Panhellenische Sportpraxis
Römische Spiele
Von Sklaven und Frauen
Christliche Sportfeindschaft
Asien und Amerika
Kapitel 2
Die Turniere des Mittelalters
Kampfspiele
Wehrübungen
Auf dem Weg zur Sportifizierung
Mannschaftskämpfe
Herbst des Mittelalters
Kapitel 3
Die Renaissance der Spiele
Vom Kampf zum Spiel
Die Umprogrammierung der Körper
Sportunterricht
Kapitel 4
Die Erfindung des Sports
Sport als Prestigeobjekt
Sportfürsten
Institutionalisierung
Professionalisierung
Kommerzialisierung
Umbruch des Sportgeschmacks
Die Suche nach neuen Formen
Auf dem Weg zum neuen Olympia
Kapitel 5
Der Sport in unserer Zeit
England als Vormacht des modernen Sports
Die Olympischen Spiele der Neuzeit
Entwicklungsprobleme
Globalisierung
Traditionelle Sportarten
Neue Sportarten
Kraftsport und Behinderung
Fußball
Spitzensport
Superlative
Olympia in Perspektive
Gipfelglück
Kapitel 6
Epilog: Was ist Sport?
Anhang
Anmerkungen
Abkürzungen
Literatur- und Quellenauswahl
Abbildungsnachweis
Register
«First of all: no sports!»
Winston Churchill (angeblich)
Im Geschichtsunterricht und auch im Geschichtsstudium an der Universität haben wir von Sport nichts gehört. Aber das sagt über die Geschichte gar nichts aus, sondern nur etwas über die Vorlieben von Bildungspolitikern und von Historikern. Ein Grund, warum wir in der traditionellen Geschichtsschreibung so wenig über Sport erfahren, liegt vermutlich darin, dass sich die Schüler des Bücherwurms Leopold von Ranke historische Akteure wie Kaiser Karl V. oder die Könige Franz I. von Frankreich und Heinrich VIII. von England nicht als schwitzende Sportler oder brüllende Fans vorstellen wollten. Aber wir werden sehen, dass sie genau das waren. Ein Paradebeispiel für das Missverhältnis zwischen historischer Realität und Geschichtsschreibung ist Kurfürst Friedrich IV. von der Pfalz. Dieser Held des Protestantismus wurde vom Herausgeber seines Tagebuchs noch nach 300 Jahren gescholten, weil darin fast täglich von Sport und Spiel und fast überhaupt nicht von Religion und Politik die Rede ist.[1] Der Historiker Moriz Ritter schrieb abfällig: «Der junge Fürst war eben eine innerlich leere Natur, von unersättlichem Hang nach Jagd und Ritterspielen, nach Bällen und lärmenden Lustbarkeiten.»[2] Selbst in der Ablehnung machen sich noch Klischees bemerkbar, denn laut seinem Tagebuch galt die Liebe des Kurfürsten gar nicht dem Tanzen oder der Jagd, sondern dem Tennis. Ein friedliebender Sportler passte aber nicht ins Bild: Im Zeitalter des Nationalismus wollte man heroische Krieger, keine Ballspieler, als Vorbild für die Jugend.
Wir werden sehen, dass sportliche Aktivitäten in den meisten Gesellschaften einen hohen Stellenwert einnahmen und Wissenschaftler wie Politiker entsprechend handelten. Der antike Philosoph Platon nahm in seiner Jugend an den Isthmischen Spielen teil und war ein preisgekrönter Ringer.[3] Der Begründer der modernen Physik Sir Isaac Newton zeigte noch in hohem Alter gerne seinen Bizeps vor und erinnerte an seine Zeit als erfolgreicher aktiver Boxer.[4] Der König von Spanien, der als Kaiser Karl V. hieß, war ebenso ein begeisterter Tennisspieler wie seine politischen Gegenspieler in Frankreich und England. Ihr Körpereinsatz diente nicht nur dem Spaß, sondern demonstrierte auch ihre Regierungsfähigkeit. Wir kennen das aus unserer Zeit: Der alternde Mao Zedong zeigte sich vor Beginn der Kulturrevolution für die Kameras beim Schwimmen im Jangtse-Fluss, um der Welt zu zeigen, dass er noch fit sei.[5] Die englische Zeitung The Mail machte mit dem Wortspiel «Running for Election» auf und zeigte diverse Politiker beim Jogging.[6] Bewerber um die amerikanische Präsidentschaft demonstrieren mit täglichem Sport – haben sie eigentlich nichts anderes zu tun? – ihre Leistungskraft. Präsident Barack Obama zeigt sich beim Basketball und beim Jogging. Ein Schwächeanfall beim Laufen wie 1979 bei Präsident Jimmy Carter macht keinen guten Eindruck.[7] Das berühmte Diktum «Sport ist Mord», auf das sich Sportverächter gerne berufen – es ist nicht verifizierbar: Sir Winston Churchill, Jugendfechtmeister, Leutnant der Kavallerie in Indien und bis in höheres Alter begeisterter Polo- und Golfspieler, hat es ebenso wenig geäußert wie den immer noch viel zitierten Spruch: «First of all: no sports!»[8]
Dennoch scheinen sich manche Sportwissenschaftler dieses Motto zu eigen gemacht zu haben. Angeblich soll es Sport bis vor 100 oder 200 Jahren gar nicht gegeben haben, sondern höchstens zeremonielle Spiele im Rahmen eines religiösen Rituals.[9] Der Soziologe Pierre Bourdieu unterscheidet ganz im Sinne dieser Theorie zwischen modernem Sport und älteren Bewegungskulturen.[10] Die Anglistin Christiane Eisenberg vertritt die Ansicht, Fußball sei erst 1863 in England erfunden und dann von englischen «Missionaren» im Rest der Welt verbreitet worden.[11] Ihrer Meinung nach war nur Soccer eine Sportart, weil es den von der englischen Football Association definierten Regeln folgte, von Clubs mit definierten Statuten organisiert wurde und in regulären Wettbewerben ausgetragen wurde. Wenn man aber Sport über Medien und Institutionen des 19. Jahrhunderts wie Club oder Nationalliga definiert,[12] dann ist es kaum überraschend, dass es vorher keinen Sport gab. Vereine waren typische Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft, und ohne Eisenbahnen konnte es in größeren Ländern keine nationalen Ligen, ohne Flugverkehr kaum Weltmeisterschaften geben. Aber was tun wir bei einer so engen Definition mit all den Leuten, die schon vor dem 19. Jahrhundert Sport getrieben und evidentermaßen Fußball gespielt haben, wenn auch vielleicht noch nach etwas anderen Regeln?[13]
Eine alte Debatte unter Historikern, die inzwischen beigelegt ist, drehte sich um die Frage, ob Sachverhalte oder Dinge, für die es noch keine Begriffe gab, in der vergangenen Wirklichkeit überhaupt existieren konnten.[14] Viele analytische Begriffe sind relativ jung, entsprechen einem neueren Erkenntnisinteresse und sind deshalb nicht in älteren Texten zu finden. Phänomene wie «Politik» oder «Gesellschaft» gab es aber schon, bevor man darüber zu sprechen begann.[15] Ähnlich ist es beim Sport. Die Behauptung in einem Teil der jüngeren Sportwissenschaften, «Sport» habe es als Begriff und als Sache nicht vor dem 19. Jahrhundert gegeben, lässt sich außerdem widerlegen. Etymologisch betrachtet kommt der englische Terminus sport, mittelenglisch disport, vom Altfranzösischen desport bzw. von se desporter. Dieses beruht auf dem lateinischen de(s)portare mit der Bedeutung «sich vergnügen».[16] Wörtlich bedeutet es «wegtragen», und noch heute werden ja Millionen von Menschen von ihren Lieblingssportarten, entweder als Aktive oder als Fans, buchstäblich «davongetragen» (carried away). Das Wort desporter taucht im Französischen im 13. Jahrhundert mit der Bedeutung «unterhalten werden» auf und verbreitete sich Anfang des folgenden Jahrhunderts nach England. Eine Akrobatin wurde Anfang des 15. Jahrhunderts als disporteress bezeichnet. Mit Beginn der Neuzeit wird von aktiven sporters gesprochen, und im Englischen verbreitete sich die Abkürzung sport als generischer Begriff.[17]
Wenn König Heinrich VIII. von England guten Sport hatte, sprach er noch stundenlang darüber («when he hath had good sport, he will talk thereof three or four hours after»). Königin Katharina von Aragón und der gesamte Hofadel «passed the Summer in disports». Ritterspiele, Ringreiten, Wettreiten, Jagen (zu Pferd, mit Hunden, mit Falken etc.), Schwertkämpfe zu Pferd und zu Fuß, Tierkämpfe (von Stieren, Bären, Hunden, Kampfhähnen etc.), Bogen- und Armbrustschießen, Federball, Tennis, Ringen, Bowling, Darts und Weitwerfen, Billard und Schach, Tanzen, Ausreiten und Spazierengehen bildeten ihren täglichen Zeitvertreib. Hunderte von Sportlehrern, Trainern, Schiedsrichtern und Balljungen, Architekten, Landschaftsplanern, Platzwarten und Gerätewarten waren notwendig, um allein für den englischen Hofstaat in seinen Dutzenden von Residenzen und Lustschlössern die notwendige Infrastruktur zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Zu den Hofämtern gehörte «The Keeper of the Tennis Plays». Und für Festzeiten, in denen sich die Freizeitveranstaltungen häuften, wurde zur Koordination zusätzlich ein «Master of Merry Disports» ernannt.[18]
Radikale Protestanten verbrannten 1618 das Book of Sports, in dem König Jakob I. gegen den Willen der puritanischen Geistlichkeit auch am Sonntag populäre Vergnügungen wie Bogenschießen, Tanzen, Springen etc. erlaubte.[19] Sport war im Englischen in etwa gleichbedeutend mit pastimes für Dinge, die aus Spaß oder zum Zeitvertreib gemacht wurden.[20] Diese Doppeldeutigkeit blieb bis ins 19. Jahrhundert erhalten, wie man an der Publikation Joseph Strutts The Sports and Pastimes of the People of England sehen kann, die das Vorbild für alle Sportgeschichten wurde.[21] Natürlich gibt es in allen europäischen Sprachen entsprechende Begriffe, wie man zeitgenössischen Wörterbüchern entnehmen kann. Im Deutschen hieß der entsprechende Oberbegriff im 16. Jahrhundert «Kurzweil».[22] In Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon vereint der Artikel «Wett-Rennen» entsprechende Sportevents (Wettlauf, Wagenrennen, Pferderennen und ein Querverweis zur Regatta) aus der griechischen und römischen Geschichte sowie aus dem zeitgenössischen Deutschland, Frankreich, Italien und England, inklusive der Nennung von Rekordzeiten und der Höhe der Wetteinsätze.[23] Im Italienischen verwandte man für Sportereignisse den Oberbegriff giuochi,[24] im Französischen jeux,[25] im Spanischen juegos,[26] genauso wie man auch im Englischen von games oder im Deutschen von den «Spielen» spricht. Unter diesem Oberbegriff gelangt man bei Zedler zum Billardspiel, zum «Pallemail» (Pallamaglio), aber auch zum Quintanrennen und zum Turnierspiel. Nach unseren heutigen Begriffen handelte es sich dabei – zum Teil im expliziten Unterschied zum Glücksspiel,[27] zu Karten-, Brett- oder Kinderspielen – um Sport im modernen Sinn.[28]
Man findet in der Literatur auch die Vorstellung, zwischen der olympischen Antike oder dem ritterlichen Mittelalter und dem 19. Jahrhundert habe der Sport einen absoluten Tiefpunkt erlebt. Dies zeigt sich an der einzigen Publikation, die den Titel Sportgeschichte der frühen Neuzeit trägt und drei charakteristische Fehlurteile enthält: Zum Ersten soll der Sport im 19. Jahrhundert und im Mittelalter geblüht haben, während er sich in der Frühen Neuzeit angeblich im Niedergang befand. Zum Zweiten sollen frühneuzeitliche Vergnügungen nicht kompetitiv gewesen sein, angeblich wurden keine Punkte gezählt und Preise vergeben. Und drittens soll es eine Zäsur im 17. Jahrhundert gegeben haben: Bis dahin hätten mittelalterliche Militärübungen vorgeherrscht, danach Tanz und Ballett, bis endlich im 19. Jahrhundert der richtige Sport erfunden worden sei.[29] Doch eine zunehmende Anzahl von Historikern neigt der Ansicht zu, dass «Sport eine anthropologische Konstante ist, die innerhalb der jeweiligen Kultur eine eigene Ausprägung erfahren hat, welche von den wechselnden natürlichen, politischen, gesellschaftlichen und historischen Bedingungen bestimmt ist».[30]
Versuche, zu definieren, was Sport ist, haben bisher niemanden glücklich gemacht. Die neuere Sozialtheorie kommt deswegen zu dem vernünftigen Schluss, dass es sich bei Sport überhaupt um eine «soziale Konstruktion» handele. Allerdings überzeugt die Schlussfolgerung, man solle nicht mehr ontologisch fragen, was Sport sei, sondern «kontextualistisch» fragen, «was Sport bedeutet»,[31] nicht wirklich, denn dies setzt ja bereits wieder eine Definition von Sport voraus. Aus Sicht des Historikers muss das Fazit lauten, dass unterschiedliche Formen von Gesellschaft unterschiedliche Formen von Sport hervorbringen. Der amerikanische Sportsoziologe Allen Guttmann hat in einer seiner jüngeren Publikationen eine Art Diagramm binärer Unterscheidungen entworfen, um herauszufinden, in welcher Beziehung Spiel und Sport stehen. Den Oberbegriff sieht er im Spiel (play), dabei gehört Sport seiner Ansicht nach nicht zu den spontanen, sondern zu den organisierten Spielen (organized play = games), unter dieser Subkategorie nicht zu den nichtkompetitiven, sondern zu den kompetitiven Spielen (competitive games = contests), und unter diesen nicht zu den geistigen, sondern zu den körperlichen kompetitiven Spielen (physical contests = sports).[32] Einerseits erscheint diese Differenzierung (play, games, contests, sports) als Denkmodell hilfreich, andererseits auch als sprachlich limitiert, denn dieselben Unterscheidungen gibt es in anderen Sprachen – etwa im Deutschen – gar nicht. Und in der Praxis kann man damit vermutlich wenig anfangen. Gibt es z.B. darüber Auskunft, warum heute Pistolenschießen als Sport betrachtet wird, Sackhüpfen aber nicht?
Wenn unterschiedliche Gesellschaften unterschiedliche Sportarten hervorbringen, müssen wir offenbar anerkennen, dass Sport kein bloßes Konstrukt der Zeitgenossen ist, die unseren Sportbegriff noch nicht kennen konnten, sondern eine Aktivität, die wir als solche identifizieren können. Ist dies der berühmte «Sport aller Völker und Zeiten» des Gustav Adolf Erich Bogeng?[33] In seinem Beitrag «Ethnologie des Sports» kommt der Leipziger Völkerkundemuseumsdirektor Karl Weule zu der Einsicht, dass nur eine solche Ethnologie die Grundlage für eine umfassende Betrachtung liefern könne. Dafür trägt er aus der ethnographischen Literatur seiner Zeit erstaunliche sportliche Leistungen von Naturvölkern – wie man damals sagte – aus allen Teilen der Erde zusammen. Er kann zeigen, dass in den anderen Zivilisationen im Wesentlichen dieselben Sportarten betrieben wurden wie im Alten Europa: Laufen, Springen, Werfen, Klettern, Stockfechten, Ringen, Schießen, Schwimmen, Rudern, Jagen, Turnen, dazu Mannschaftswettbewerbe in den Fuß-, Hand- und Schlagballspielen etc. – mit dem einzigen Unterschied, dass die Sportler in vielen Gegenden Afrikas, Amerikas, Asiens und Australiens ihren Sport nackt (oder fast nackt) betrieben.[34] Das hatten sie immerhin mit den alten Griechen gemeinsam. Seit den 1980er Jahren wird Sport in traditionalen Gesellschaften von der neueren Anthropologie intensiv erforscht. Dass man es bei den körperbetonten Wettkämpfen anderer Zivilisationen mit Sport zu tun hat, steht nach ihren Befunden nicht mehr in Frage.[35]
Jeder Leistungsvergleich enthält ein spielerisches Element. Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga hat Spiele als eine der Wurzeln der menschlichen Zivilisation bezeichnet. Homo ludens – der spielende Mensch – hob sich vom Tier ab und setzte Kräfte frei für höhere Kulturleistungen. Die These lautet: Spiel ist «die agonistische Grundlage der Kultur».[36] Hauptkennzeichen sind nach Huizinga Interessefreiheit, «Außeralltäglichkeit», räumliche und zeitliche Begrenztheit, Wiederholbarkeit, Bindungskraft und «Regelgeleitetheit».[37] An dieser Definition brachte der Anthropologe Edward Norbeck einige Korrekturen an, die sie für eine kulturvergleichende Analyse tauglich machten: Er betonte, dass menschliches Spielverhalten, zu dessen Äußerungen außer Spiel und Sport auch Theater, Musik und Kunst gehören, durch eine genetische Neigung bedingt sei und kulturspezifische Formen annehme.[38]
In den Sozialwissenschaften gibt es die Annahme, dass Sport einen Schlüssel für die Analyse der kulturellen Leitideen oder sogar für die Funktionsweise einer Gesellschaft bilde. Vorbild ist ein Essay des amerikanischen Anthropologen Clifford Geertz über den Hahnenkampf auf der Insel Bali. Darin wird der Nachweis versucht, dass dieser – damals schon illegale, aber trotzdem häufig durchgeführte – Hahnenkampf zentrale Werte der balinesischen Gesellschaft verkörpere. Man lerne mehr über diese, wenn man den Kampf untersuche, als wenn man sich anderen Gegenständen – wie etwa Verwandtschaft – zuwende. Wichtigste Erkenntnis war, dass die Hähne als Stellvertreter ihrer Besitzer und deren Verwandtschaft, auch deren Dörfer betrachtet werden und dass die Performanz der Kämpfe zusammen mit dem Wettverhalten der Zuschauer entlang aller möglichen Sozialbindungen eine andere Tiefendimension bekommt – und damit zum auf mehreren Ebenen bedeutungsvollen Deep Play wird.[39] Allen Guttmann hat in ähnlicher Weise die Bedeutung des Baseballs als typisch US-amerikanische Sportart interpretiert, ein Ballspiel, das weder in Europa noch in anderen Teilen der Welt großen Anklang gefunden hat, aber den Pioniergeist Amerikas repräsentiere.[40] Nachdem Baseball an Zuspruch verloren hat, konstruierte der Politikprofessor Michael Mandelbaum eine chronologische Abfolge der beliebtesten US-Teamsportarten: Baseball sei die Idealsportart einer «timeless rural world»; das schnelle und brutale Kampfspiel American Football der Teamsport des industriellen Amerika, dessen Bedeutung ebenfalls abnehme; und das im Aufstieg begriffene Basketball mit seiner gewaltfreien Virtuosität, das auch für Frauen spielbar ist und über die Grenzen Amerikas hinaus Anhänger findet, sei das Spiel der postindustriellen USA.[41]
Guttmann wollte mit seinem grundlegenden Werk Vom Ritual zum Rekord das «Wesen des modernen Sports» herausarbeiten.[42] Seine Diagnose vom religiösen Charakter früher Sportübungen und der Rekordsucht des 20. Jahrhunderts lohnt eine Auseinandersetzung. Denn die kultische Bedeutung des Sports in traditionalen Gesellschaften ist unübersehbar. Nach der Definition heutiger Anthropologen erscheinen auch zeitgenössische Sportereignisse hochgradig ritualisiert, denn auch sie sagen etwas über gemeinsame Werte der Zuschauer aus und laufen immer nach denselben Formen ab: die Anfahrt zum Stadion, Schlangestehen am Eingang, das Aufsuchen der eigenen Kurve, das Abspielen einer Hymne, die Beflaggung mit der eigenen Fahne, gemeinsames Trinken, die Verwendung bestimmter Accessoires (Schal, Kappe, Abzeichen), gemeinsame Bewegungen (Aufspringen, Arme heben), Sprechchöre, Singen, Jubeln, evtl. Siegerehrung, Stadionansagen etc. Wir nehmen dies nur nicht als Ritual wahr, weil es uns selbstverständlich erscheint.
Seit wann gibt es überhaupt Sport? Die Befähigung zu körperlichen Leistungen ist sicherlich ein entwicklungsgeschichtliches Erbe der Menschheit. Ausdauerndes Laufen, Springen und Werfen gehörten zu den Voraussetzungen des Überlebens für unsere entferntesten Vorfahren, die sich von Jagen und Sammeln ernährten. Man kann nur darüber spekulieren, seit wann es dabei zu Leistungsvergleichen gekommen ist. Aber der Vergleich von Leistungen im Tierreich spricht dafür, dass auch schon unsere entfernten Vorfahren ihre Kräfte «gemessen» haben.[43] Das Sesshaftwerden des Menschen nach dem Ende der letzten großen Eiszeit und die Vermehrung der Nahrungsproduktion durch Ackerbau und Viehzucht ist wiederholt mit der Entstehung von Sport und Spiel in Beziehung gebracht worden.[44] Doch wir wissen seit den Forschungen von Marshall Sahlins über die «original affluent society», dass Jäger und Sammler besser ernährt waren als Ackerbauern, über mehr freie Zeit verfügten und wegen ihrer vielseitigeren Bewegungen auch in besserer körperlicher Verfassung waren.[45] Vielfach ist angenommen worden, dass sich mit Beginn der Sesshaftigkeit vor etwa 10.000 Jahren die Arten der Körperübungen verändert haben, aber sicher ist das nicht. Denn der Prozess der Sesshaftwerdung ist höchst komplex, mit Übergängen vom Halbnomadentum zur periodischen Sesshaftigkeit. Außerdem bewahrten in den bäuerlichen Kulturen seit der Jungsteinzeit die aristokratischen Oberschichten ihre Liebe zur Jagd und zum Kampf, mit entsprechendem Training und Wettkämpfen. Die Domestizierung von Wildtieren ermöglichte neue Formen der Jagd, der Kriegführung und der Wettkämpfe. Die Nutzung des Pferdes erforderte ein systematisches Training, das dem Pferd ermöglichte, das Gleichgewicht zu halten. Erst seit etwa 2000 v. Chr. finden wir in Assyrien den Einsatz des Pferdes als Reittier. Die Ausbildung für das Fahren von Streitwagengespannen dauerte im 18. Jahrhundert v. Chr. drei Jahre. Erst im 16. Jahrhundert v. Chr. wurden Streitwagen für die Jagd und den Krieg, zu Prozessionen und Wettrennen im Alten Orient üblich, aber es dauerte weitere 1000 Jahre, bis man auch in Griechenland so weit war.[46]
Natürlich kann man die Sportgeschichte mit den üblichen soziologischen Konzepten traktieren, etwa Staatsbildung, Reformation, Zivilisationsprozess, Industrialisierung, Professionalisierung etc. Der Soziologe Norbert Elias, der im Exil zu einem Pionier der Sportwissenschaften wurde, hat die Methode der Figurationsanalyse, die er in den 1930er Jahren zur Interpretation der höfischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit entwickelt hatte,[47] auf die Sportgeschichte angewandt und untersucht, in welcher Weise Veränderungen in den Körpertechniken Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur reflektieren.[48] Solche Ansätze wurden von Henning Eichberg aufgegriffen, der für das 17. Jahrhundert zeigen konnte, wie «Geometrie als barocke Verhaltensnorm» so unterschiedliche Bereiche wie den Tanz, Fechten, Reiten, Gartengestaltung und Schlossbau durchdrang.[49] Eichberg entwickelte sich allerdings später zu einem Vertreter der Sattelzeit-Hypothese, der zufolge ein tiefer Zeitgraben die Welt um 1800 in ein Vorher und ein Nachher trennt. Seiner Ansicht nach war es die Industrialisierung, welche die Gesellschaft so sehr veränderte, dass sich Körperübungen «vom Fest zur Fachlichkeit» entwickelten. Vor diesem Zeitgraben habe es nur das Fest gegeben, erst danach den Sport.[50]
Diese ältere Sportgeschichte wurde von der Kategorie des Fortschritts geleitet. Angesichts der Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts tut man sich aber heute mit dem Konzept eines unaufhaltsam fortschreitenden Zivilisationsprozesses schwer. Theodor W. Adorno schrieb in einem Anhang zur Dialektik der Aufklärung: «Schon der Sport ist kein Spiel, sondern ein Ritual. Unterworfene feiern die eigene Unterwerfung. Sie parodieren Freiheit durch die Freiwilligkeit des Dienstes, den das Individuum dem eigenen Körper noch einmal abzwingt [...]. Die Leidenschaft für den Sport, in der die Herren der Massenkultur die eigentliche Massenbasis ihrer Diktatur wittern, gründet darin.»[51] Und auch die Skepsis gegenüber Makrotheorien und Globalkonzepten steigt. Dies hat Konsequenzen, wenn frühere Verhältnisse an der Elle der gegenwärtigen gemessen werden. Gerade in unserer Zeit befindet sich der Sport in einem so rapiden Wandel, dass man nicht genau sagen könnte, worin der Maßstab eigentlich bestünde, außer in einer chaotischen Nachfrage auf einem Markt der Möglichkeiten. Das Feld der sportlichen Betätigung hat sich vom Breitensport bis zum Behindertensport oder auch Funsport so ausgeweitet, dass das olympische Motto «schneller, höher, stärker» (citius, altius, fortius) nicht mehr richtig greift.[52] Was bei der Halfpipe noch Sinn ergibt, tut das in der rhythmischen Sportgymnastik nur noch bedingt und im Synchronschwimmen überhaupt nicht mehr. Leistungssport ist nur (und war auch nie mehr als) eine Komponente in einem breiten Spektrum sportlicher Betätigung.
Seit der eher zufälligen Teilnahme an der Gründungstagung der Zeitschrift Ludica, die von Gherardo Ortalli und Bernd Roeck mit Hilfe der Fondazione Benetton unter Beteiligung führender Sportsoziologen wie Eric Dunning veranstaltet wurde,[53] hat mich Sportgeschichte als ein Bereich der Alltagsgeschichte, der in den Geschichtsbüchern nicht vorkommt, interessiert. Vertiefen konnte ich das Interesse mit der Einladung zu einem Vortrag auf einer Sport-Tagung der German History Society in London[54] sowie als Fachherausgeber der Enzyklopädie der Neuzeit (16 Bde., Stuttgart 2005–2012).[55] Mit der zunehmenden Konzentration auf die Kulturgeschichte des Sports wuchs die Erkenntnis, dass nach Lage der Literatur entscheidende historische Quellen bis dahin kaum genutzt worden waren. Dazu zählen Briefwechsel, Memoiren, Tagebücher, Rechnungsbücher, Protokollbücher von Kirchengemeinden, Stadtgerichten oder Regierungen, die Auskunft geben über das tägliche Leben und die Einstellungen der Zeitgenossen, aber auch Zeitungsartikel und überhaupt das weite Feld der zeitgenössischen gedruckten Literatur. Nach der Lektüre neuer Publikationen namentlich von Arnd Krüger und John McClelland, die viele Aspekte in neuem Licht erscheinen lassen,[56] schien mir der Versuch einer Gesamtdarstellung sinnvoll zu sein.
Ein Anliegen des Buches besteht in der Darlegung der Erkenntnis, dass die sogenannte Frühe Neuzeit, also etwa die Periode zwischen der Erfindung des Buchdrucks und dem Eisenbahnbau,[57] eine Scharnierfunktion einnimmt zwischen der olympischen Antike und dem Aufschwung des modernen Sports seit dem 19. Jahrhundert, ohne deren Kenntnis man die neuere Sportentwicklung gar nicht verstehen kann. Die These ist nicht völlig extravagant, denn der historischen Forschung ist nicht verborgen geblieben, dass im Zeitalter der Renaissance der antike Sport wiederentdeckt wurde und in diesem Zusammenhang «die Anfänge des modernen Sports» gefunden werden können.[58] Im Verlauf der Frühen Neuzeit wurde der Körper des Menschen geformt und trainiert.[59] Dies geschah im Rahmen eines Normensystems, das in der neu entstehenden Pädagogik und in Verhaltenslehrbüchern ausformuliert wurde. Dieses Trainingsprogramm können wir noch heute als Sport bezeichnen, und so wurde es in England auch damals schon bezeichnet.
Doch nicht allein die Tatsache, dass in der Frühen Neuzeit mehr Sport betrieben wurde als jemals zuvor in der europäischen Geschichte, soll hier ins Bewusstsein gehoben werden, sondern der grundlegende Charakter dieses Vorgangs, der – wenn man so will – Auswirkungen bis heute hat. Am Ende des europäischen Mittelalters bzw. zu Beginn der Neuzeit finden wir eine Sportifizierung sowohl der militärischen Übungen als auch der populären Spiele. Wir haben es mit einer Konvergenz der Entwicklungen zu einem neuen Verständnis des Körpers und seiner Bewegungen sowie mit einer Veränderung der Rahmenfaktoren wie des Verhältnisses von Arbeit und Freizeit zu tun. Die Forschung argumentiert seit einigen Jahren, in der Frühen Neuzeit – und nicht erst im 19. Jahrhundert – seien die Freizeit und die dazugehörigen neuen Freizeitaktivitäten quasi erfunden worden. Der Begriffskomplex für divertissement, leisure, pastime, passare il tempo, Zeitvertreib und Kurzweil – also ein ganzes semantisches Feld – habe sich seit dem 15. Jahrhundert in Europa verbreitet. Und diese Beobachtung passt mit der Entwicklung des Wortfeldes der sports in England und entsprechender Begriffe in anderen Sprachen zusammen.[60]
Die These des Buches besteht darin, dass der Vorgang der Sportifizierung zu den Fundamentalprozessen der Moderne gerechnet werden muss. Er sollte als einer von etwa einem Dutzend Schlüsselbegriffen der Neueren Geschichte verstanden werden, die grundlegende Prozesse der Veränderung beschreiben, wie Disziplinierung, Verrechtlichung, Säkularisierung, Modernisierung, Globalisierung etc. Sie setzen in der Frühen Neuzeit ein und dauern bis heute an, sind also konstitutiv für die Neuzeit überhaupt. Solche Begriffe dienen dem Vorverständnis der Geschichte, indem sie als heuristisches Instrument neue Themen erschließen und erklären.[61] Wie zentral der Vorgang der Sportifizierung ist, zeigt sich daran, dass er mit allen vorgenannten Prozessen Schnittmengen aufweist, aber darüber hinaus noch ganz neue Dimensionen erschließt, nämlich die des Körpers und der Perspektive des Individuums. Die Einstellung zum Körper hat sich zu Beginn der Neuzeit verändert.[62] Überhaupt haben sich der Alltag und die materielle Kultur gegenüber früheren Perioden der Geschichte grundlegend gewandelt.[63] Dass der Fundamentalprozess der Sportifizierung von den Klassikern der Gesellschaftstheorie nicht als solcher erkannt worden ist, liegt daran, dass sie sich ebenso wie die Historiker mindestens bis in die 1920er Jahre nicht für Sport interessierten.[64] In dieser Hinsicht waren die Anthropologen weiter, weil die erste Generation von empirischen Feldforschern einfach verblüfft war über die Intensität sportlicher Aktivitäten bei traditionell lebenden Völkern und darüber zu publizieren begann.[65]
Welche Bedeutung in der heutigen Gesellschaft Sport hat, kann man an vielen Indikatoren ablesen, etwa an der großen Zahl der aktiven Sportler, am Beliebtheitsgrad und der Einkommenshöhe von Spitzensportlern, am Fassungsvermögen der Sportstätten, die ein weit größeres Publikum zulassen als Kirchen, Theater oder andere Versammlungsbauten, sowie am Anteil des Sports am Freizeitbudget, an den Tageszeitungen oder am Fernsehprogramm. Man kann seine Bedeutung ablesen an der Präsenz von Politikern bei sportlichen Großereignissen – selbst die eher sportferne Bundeskanzlerin Angela Merkel fühlte sich verpflichtet, bei der Fußball-WM in Deutschland im Stadion zu erscheinen. Zum Teil sind dies Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, in diesem Buch möchte ich aber zeigen, dass einige dieser Phänomene eine sehr lange Vorgeschichte haben. Die Frage ist nicht nur, wo genau man historisch ansetzen soll, sondern auch, in welcher Beziehung der europäische Sport zu dem in anderen Zivilisationen und in welcher Beziehung der moderne Weltsport zu den traditionellen Sportkulturen innerhalb und außerhalb Europas steht. Und schließlich eine Frage, deren Beantwortung umso schwerer fällt, je mehr man darüber nachdenkt: Was ist überhaupt Sport?
Für ein einzelnes Buch sind dies viele Fragen. Als Methode der Darstellung bleibt daher, große Schneisen in das Dickicht der Informationen zu schlagen, um die Grundzüge der historischen Entwicklung darzulegen. Wichtige Aspekte wie Sportrecht,[66] Sportpublizistik,[67] die moderne Sportmedizin,[68] auch manche wichtige Einzelprobleme wie das Doping,[69] kommen dabei leider zu kurz. Auch konnten nicht alle sportlichen Disziplinen gleichermaßen behandelt werden. Ein Autor hat kürzlich allein 320 Ballspiele beschrieben und angemerkt, dass er sich nicht zutraue zu sagen, wie viele es tatsächlich gebe.[70] Die Auswahl der Sportarten folgt ein wenig den eigenen Vorlieben. Worum es aber immer geht, ist, ein Thema nicht um seiner selbst willen zu behandeln, sondern als Mittel zur Darlegung von übergreifenden Aspekten. Als Historiker liegen mir der Aspekt der Veränderung in der Zeit und die Ursachen dafür am Herzen, doch hängen die Antworten zusammen mit der Frage nach den Funktionen des Sports in der Gesellschaft. Zur Schärfung des historischen Blicks sind die Kapitel chronologisch angeordnet. Zur besseren Lesbarkeit sind die Kapitel in kurze und auch einzeln verständliche thematische Portionen aufgeteilt. Da Zeit nicht nur im Sport, sondern auch im wirklichen Leben kostbar ist, möchte dieses Buch informieren, erstaunen und unterhalten. Ganz im Sinne der älteren Definition von Sport möchte es keine Rekorde brechen, sondern zur Kurzweil beitragen.
Die Belege in den Fußnoten sind wegen ihrer großen Zahl auf das Nötigste beschränkt. Die benutzte Literatur wird aus Platzgründen ohne Untertitel und die üblichen Angaben zur verwendeten Auflage und Übersetzung zitiert. Cluster-Artikel in Enzyklopädien werden unter dem Lemma zitiert. Steht ein Beleg am Ende eines Absatzes, bezieht er sich auf den gesamten Absatz. Eine kleine Literaturauswahl zum Weiterlesen wird im Anhang mit vollem Titel angeboten. Unkontroverse Informationen stammen – wenn nicht anders angegeben – von den Homepages der Sportverbände oder den Wikipedia-Übersichten zu Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen. Ebenso wurden Informationen über Finanzdaten, Stadien, Sportergebnisse, Vereine und Sportler offiziellen Websites wie sports-reference.com u.Ä. entnommen. Internet-Ressourcen wurden im Dezember 2011 und Januar 2012 eingesehen. Zur Durchsicht von Fachzeitschriften wurde JSTOR benutzt, das digitalisierte Volltextarchiv. Dank zahlreicher Digitalisierungsprojekte sind Frühdrucke zunehmend online benutzbar.
Ohne die Institution des Forschungsfreisemesters und fähige Mitarbeiter, die sich um Buchausleihe, Fernleihen, Kopien und Korrekturlesen kümmerten und für Diskussionen zur Verfügung standen, wäre dieses Buch nicht zu schreiben gewesen.[71] Im Rahmen des internationalen DFG-Netzwerkes Körpertechniken der Frühen Neuzeit von Rebekka von Mallinckrodt ergab sich in den letzten Jahren auf produktiven Workshops in Berlin, Paris und Saarbrücken die Möglichkeit, Kontakte auf europäischer Ebene zu knüpfen, zuletzt auf einer am GHI London 2011 von Angela Schattner mitorganisierten Tagung.[72] Den Teilnehmern dieser Tagungen sowie denen des internationalen Sommerkurses an der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel[73] und den Studenten meiner Seminare zur Geschichte des Sports sei für zahlreiche Anregungen gedankt. Ebenfalls möchte ich erwähnen, dass diverse Landesund Stadtarchive in Österreich und Deutschland großzügig auf schriftliche Anfragen mit eigenen Recherchen reagiert haben. Dank gilt schließlich meiner langjährigen Ansprechpartnerin und Lektorin Christine Zeile beim Verlag C.H.Beck für ihr Interesse an kulturgeschichtlichen Projekten und ihre kompetente Betreuung und ihrer Mitarbeiterin Simone Gundi sowie Bettina Braun für Kürzungsvorschläge und kompetentes Lektorat. Besonders bedanken muss ich mich natürlich bei meiner Familie, in der jeder eine andere Sportart betreibt.
«Griechenland kennt viele Übel,
am schlimmsten aber ist das
Volk der Athleten.»
Euripides, 5. Jh. v. Chr.
Was nützt es wohl den Menschen, dass irgendwann einmal ein Athlet in Olympia im Wettkampf unbesiegt geblieben ist? Als sich der römische Architekturtheoretiker Vitruv so über die Nutzlosigkeit des Sports und der Sportler mokierte, stellte er sich in eine lange Tradition der Sportkritik. Der Philosoph Platon hat den Verdacht geäußert, dass die Konzentration auf die Funktionsfähigkeit der Muskeln möglicherweise die Ausbildung des Verstandes hemmen könnte. Der griechische Dramatiker Euripides verhöhnt in seinem Theaterstück Autolykos die Athleten wegen ihres hohen Kalorienbedarfs als «Diener ihrer Kauwerkzeuge» und «Sklaven ihrer Mägen». Die Bürger der griechischen Staaten sollten lieber darauf achten, dass sie gut regiert werden, als ständig in Scharen nach Olympia zu pilgern, um dort Menschen zu bejubeln, deren Lebensziel das Fressen sei. Und die Politiker ließen diesen Unsinn aus purem Populismus zu, anstatt darauf zu achten, dass die wahren Tugenden der Menschheit gefördert werden.[1]
Erfolge in Sportwettbewerben konnten bereits in der griechischen Antike den Weg für eine geschäftliche oder politische Karriere bereiten. Wie der Historiker Thukydides berichtet, schickte der reiche Jungpolitiker Alkibiades, der ein militärisches Kommando für einen Kriegszug nach Sizilien anstrebte, in Olympia sieben Pferdegespanne ins Rennen, um sich durch einen Sieg zu qualifizieren. Und bereits frühe Geistesgrößen wie Herodot sollen die Olympischen Spiele zur Verbreitung ihres Ruhms genutzt haben, wie der römische Schriftsteller Lukian von Samosata, der selbst im Jahr 165 n. Chr. die Olympischen Spiele besuchte, schreibt: «Nun stand gerade das große Kultfest in Olympia bevor. Herodot erkannte, dass sich ihm hier genau die Gelegenheit bot, nach der er suchte. So reiste er nach Olympia und trug dort im rückwärtigen Raum des Zeustempels aus seinem Geschichtswerk vor. Danach gab es in Griechenland niemanden mehr, dem der Name des Herodot noch fremd gewesen wäre. Wer ihn nicht in Olympia selbst gesehen hatte, hörte von ihm, als die heimkehrenden Festteilnehmer in der Heimat über das in Olympia Erlebte berichteten.»[2]
Die Kritik an der Sportkultur war – anders als seit der Spätantike – nicht religiös begründet, denn die Wettkämpfe fanden zu Ehren der Götter und an religiösen Kultstätten im Rahmen eines Kultfestes (Panegyris) statt. Olympia war vermutlich zuerst der Ort eines lokalen Kultes. Seit dem 11. Jahrhundert v. Chr. finden sich Votivgaben in Tiergestalt, meist Rinder oder Pferde, aber auch Widder und Hunde. In antiken Texten ist auch immer von der besonderen Fruchtbarkeit dieser Gegend die Rede. Fruchtbarkeit galt im alten Griechenland – wie in vielen anderen Kulturen – als eine Gabe der Götter. So liegt es nahe, dass hier eine Göttin der Fruchtbarkeit verehrt wurde, Artemis oder Aphrodite, Demeter oder die Erdmutter Gaia. Spätestens seit dem 7. Jahrhundert war Olympia ein Heiligtum des Zeus. Neben dem Zeus Olympios wurden weitere Götter verehrt, denen erst später Tempel errichtet wurden, z.B. Hera oder der athletische Göttersohn Herakles.
Olympia zeichnete sich also durch eine Akkumulation von Kultstätten aus. Der Grund dafür liegt sicher darin, dass die Orakelsprüche aus Olympia erfolgreich waren, durch entsprechende Propaganda begleitet wurden und immer mehr Pilger anzogen. Olympia war auf dem Höhepunkt seines Erfolges ein regelmäßiger Treffpunkt der Auslandsgriechen aus dem gesamten Mittelmeerraum, die alle vier Jahre dort zusammenkamen. Um das Jahr 700 v. Chr. wurden im Tal von Olympia zur Vergrößerung des Sakralgeländes weite Flächen für größere Besuchermassen planiert, der Fluss Kladeos verlegt und eine Schutzmauer gegen sein Hochwasser errichtet. Gleichzeitig wurden tiefe Brunnenschächte gegraben, um eine Versorgung der Pilger mit Trinkwasser sicherzustellen. Aufwändige Tempelanlagen und Unterkünfte für die Pilger sowie Schatzhäuser für die Weihegeschenke wurden errichtet. Für die Überlieferung zentrale Autoren wie der Odendichter Pindar oder der Geograph Strabon sprechen vom großen Glanz der Feierlichkeiten, die sich außer durch Kulthandlungen wie in Griechenland üblich auch durch Tänze, Bankette und Gespräche auszeichneten.[3]
Seit wann in Olympia Wettkämpfe von Athleten stattfanden, kann man aufgrund der Schwierigkeiten des archäologischen Nachweises nicht mit völliger Sicherheit sagen. Doch vieles spricht dafür, dass wenigstens die Laufwettbewerbe sehr alt sind und vielleicht ins 11. Jahrhundert zurückreichen. Bei den Bauarbeiten um 700 v. Chr. wurden erstmals feste Anlagen für Sportveranstaltungen geschaffen: eine mehrspurige Laufbahn mit Start, Ziel und einer Zuschauertribüne, ein erstes, noch etwas schlichtes Stadion. Vermutlich nicht viel später wurde parallel dazu eine sehr viel größere Sportanlage für Pferderennen angelegt, das Hippodrom. Die Bauten zeigen, dass zu diesem Zeitpunkt Kultfest (Panegyris) und Wettkämpfe bereits untrennbar miteinander verbunden waren. Vermutlich gehörten die Sportveranstaltungen zum Rahmenprogramm des überregionalen Treffens. Die Institutionalisierung der Wettkämpfe bedeutete aber auch, dass die Wettkämpfer nicht mehr aus dem Kreis der normalen Pilger kamen, sondern spezialisierte Athleten waren, die an ihren Heimatorten in der gesamten griechischen Welt für dieses Treffen trainierten.
Der Münchner Althistoriker Christian Meier interpretiert die Bedeutung der Olympischen Spiele im Hinblick auf einige Besonderheiten der griechischen Kultur. Diese war geprägt durch Stadtstaaten, die peinlich genau auf ihre politische Unabhängigkeit achteten. Auch im Zeitalter der griechischen Kolonisation seit dem 8. Jahrhundert v. Chr., als neue Städte rund um das Mittelmeer und das Schwarze Meer gegründet wurden, bildeten die Griechen kein Großreich, sondern verteidigten vielmehr ihre Welt der Stadtstaaten durch politisch-militärische Bündnisse gegen innere und äußere Feinde. Die unabhängigen Stadtstaaten benötigten Orte der Verständigung, um die Gemeinsamkeiten ihrer Kultur aufrechtzuerhalten. Dazu dienten die Heiligtümer ihrer gemeinsamen Götterwelt. Das abseits gelegene Olympia wies den Vorteil auf, dass sein Aufstieg keiner der griechischen Städte einen Heimvorteil verschaffte und das Heiligtum in der gesamten griechischen Welt anerkannt war.[4] Die Attraktivität der Sportwettbewerbe erhöhte das Ansehen der Heiligtümer und umgekehrt. Sowohl in der archaischen Adelskultur als auch während der Periode der Demokratie spielten in der Magna Graecia die Öffentlichkeit und der Wettbewerb eine große Rolle. Rivalitäten zwischen den Stadtstaaten wurden eher durch sportliche Wettbewerbe als durch Krieg ausgetragen. Der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt hat in dem Wettbewerb das Wesensmerkmal der griechischen Kultur gesehen und dafür den Begriff des Agonalen geprägt, das er als Motor der griechischen Kultur sah: Wetteifer, öffentlicher Wettkampf, Leistung, Ehrsucht. Dies sei schon in einem Zitat von Homer zusammengefasst: «Immer Bester zu sein und überlegen den anderen».[5]
Griechische Wettbewerbe waren stets Einzelkonkurrenzen, es gab bei den Spielen keinen Mannschaftssport. Durch diese Individualisierung wuchsen einzelne Sportler in die Rolle von Repräsentanten ihrer Städte hinein, ihre Erfolge stärkten die Identität und die innerstädtische Solidarität. Entsprechend stark wurden sie in ihren Heimatstädten gefördert und im Falle des Erfolgs gefeiert. Sport wurde zu einer wichtigen Institution in allen griechischen Städten, weil Erfolg bei den Olympischen Spielen nur durch jahrelanges systematisches Training zu erlangen war. Und die Olympischen Spiele stiegen zu einer den ganzen griechischen Kulturkreis überwölbenden Einrichtung auf. Die Spiele, deren Ausrichtung durch Herolde alle vier Jahre in allen griechischen Städten publik gemacht wurde, waren in jeder Stadt präsent. Sie wurden seit ihrer Etablierung 293-mal alle vier Jahre ausgerichtet, bestanden als Einrichtung also über 1000 Jahre lang und überlebten den Übergang von der Adelskultur zur Demokratie und schließlich sogar den Übergang zum Hellenismus und die Integration in das Römische Weltreich. Die Olympischen Spiele waren damit ein zentrales Element der Kultur des antiken Griechenland. Die Götter, die nach Ansicht der Griechen so große Freude an den Wettbewerben hatten, haben zum Aufstieg des Sports beigetragen. Aber der Sport hat das Bild der Götter geprägt, die wie Sportler dargestellt wurden, mit nacktem und perfektem Körper.[6]
Obwohl die Geburtsstunde – und damit die Grundlage der Zählung – der Olympischen Spiele bereits seit der Antike auf das Jahr 776 v. Chr. gelegt wurde, wird sie in der Forschung mit einem späteren zentralen Ereignis in der altgriechischen Geschichte in Zusammenhang gebracht, nämlich mit den Perserkriegen. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts v. Chr. machte das Persische Weltreich zweimal den Versuch, das griechische Mutterland zu unterwerfen. Aufgrund ihrer Zersplitterung in einzelne Stadtstaaten fiel den Griechen die Gegenwehr schwer. Trotzdem gelang ihnen im Jahr 490 v. Chr. mit knapper Not die Abwehr der Perser in der Schlacht von Marathon. Als die Perser zehn Jahre später erneut anrückten, ergaben sich viele Städte freiwillig der scheinbar unbezwingbaren Übermacht. Quasi im letzten Moment gelang einem Zweckbündnis von Athen, Sparta und Korinth doch noch eine Wende, zuerst in der Seeschlacht von Salamis, dann im Jahr 479 in der Schlacht von Platäa. Der siegreiche Feldherr Themistokles besuchte im Jahr 476 v. Chr. Olympia, wo er – sehr zum Ärger der Athleten, die einmal nicht im Mittelpunkt standen – von der Menge als Held gefeiert wurde. Da die persische Gefahr nur durch eine gemeinsame Aktion hatte abgewehrt werden können, entstand die Idee, am Zeusheiligtum von Olympia ein Schiedsgericht einzurichten, das innergriechische Streitigkeiten unkriegerisch beilegte. Zwei solcher Schiedssprüche aus den Jahren 476 und 472 v. Chr. können auch archäologisch belegt werden.
Olympia wurde damit zum Symbol der Eintracht aller Griechen. In diesem Zusammenhang taucht für die olympischen Wettkämpfe erstmals der Begriff «Gottesfriede» (Ekecheiria) auf. Das Schlüsseljahr 476 v. Chr. bildete einen Höhepunkt in der Geschichte des olympischen Heiligtums. Die Bedeutung dieses Jahres wird durch den Baubeginn eines neuen, gewaltigen Zeustempels hervorgehoben, der in den folgenden Jahrhunderten das Heiligtum von Olympia prägen sollte. Weitere Tempel- und Saalbauten sowie Verwaltungsgebäude und erweiterte Tribünen- und Theaterbauten ließen die Gesamtanlage sehr viel repräsentativer erscheinen als jemals zuvor. Dieser olympische Bauboom setzte sich im 5. und 4. Jahrhundert fort. Nun entstanden auch große repräsentative Gästehäuser, Badehäuser und Trainingsanlagen, gestiftet teils durch reiche Freunde (Leonideion), teils durch die makedonischen Könige (Philippeion, Echohalle) oder die griechischen Könige von Ägypten, die Ptolemäer (Palästra).
Die Spiele wurden «Olympien» genannt, während die «Olympiade» eigentlich den Zeitraum von vier Jahren zwischen den Spielen meinte. Allerdings verwenden einige Autoren – z.B. Pindar und Herodot – den Begriff «Olympiade» auch für die Spiele selbst.[7] Die Zeitrechnung der Olympiaden, die für sich genommen schon für die Bedeutung dieser Spiele spricht, setzte sich erst mit deren zunehmender Popularität durch. Anders als in den orientalischen Großreichen gab es in der Welt der griechischen Stadtstaaten keinen dominierenden Herrscher, nach dessen Regierungsjahren man hätte zählen können, und keine Herrscherlisten zur Strukturierung längerer Zeiträume. Und anders als in Rom genügte es auch nicht, von der Stadtgründung an zu zählen, denn in Griechenland gab es viele konkurrierende Städte. Damit konnte man auch gut leben, solange diese Staaten vor allem für sich selbst blieben.
Olympische Chronik89