Volker Gerhardt

Öffentlichkeit

Die politische Form des Bewusstseins

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

Von der «Öffentlichkeit» wird erwartet, dass sie alles ans Licht bringt. Nur sie selber bedarf noch einer philosophischen Klärung. Volker Gerhardt unterzieht den Begriff in seinem grundlegenden Buch einer historischen und systematischen Analyse. Er vermag dabei zu zeigen, dass gesellschaftliches und individuelles Bewusstsein eine strukturelle Einheit bilden – eine «Weltöffentlichkeit des Bewusstseins», in der das Bewusstsein niemals nur «subjektiv» ist, sondern eine gemeinsame Welt unterstellt, unter deren Bedingungen Verständigung überhaupt erst möglich wird.

«Seine Kontakte und seine Meinungsfreude haben Gerhardt zur singulären Erscheinung im deutschen Wissenschaftsleben werden lassen: als Star des jeweiligen Faches, der aber außerhalb der Disziplin die größte Wirkung entfaltet.»

Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Über den Autor

Volker Gerhardt, geb. 1944, ist Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin. Er war von 2001 bis 2008 Vizepräsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und war u.a. Mitglied im Nationalen und Deutschen Ethikrat.

Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen:

Individualität (2000)
Der Mensch wird geboren (2001)
Friedrich Nietzsche (42006)
Partizipation. Das Prinzip der Politik (2007)

Birgit Recki
gewidmet

Homo publica creatura est.
 (Carolus Bovillus, De Sapiente, 1509)

Inhalt

Vorwort

Einleitung: Die Weltöffentlichkeit des Bewusstseins

1. Res publica. Die Kultivierung des öffentlichen Raums

2. Publice age. Die Konstitution der Öffentlichkeit

3. Gesellschaft als offener Raum

4. Politik als Organisation der Öffentlichkeit

5. Bewusstsein als soziales Organ

6. Offener Geist und öffentliche Vernunft

Beschluss: Der Weltbürger als homo publicus

Anhang

Anmerkungen

Abkürzungen

Literatur

Register

Vorwort

 

Das Öffentliche soll
öffentlich sein.
(K. T. Welcker, 1848)

In seinen Vorlesungen hat Hans Blumenberg gelegentlich angemerkt, man solle eine Auffassung, bei deren Nachweis man nicht weiter komme, einfach publizieren. Am besten aber nicht als Frage, sondern in der Form einer mehr oder weniger beiläufigen Behauptung. Dann gebe es gewiss mindestens einen Leser, der es besser wisse und dem Autor widerspreche. So werde man zwar persönlich zurechtgewiesen, aber der Erkenntnis sei gedient.

Blumenberg hatte philologische Lesarten und literarische Fundstellen im Blick. Doch ich nehme mir die Freiheit, seine ironisch auf die Arbeit der Anderen anspielende Bemerkung auf das Problem zu beziehen, für das ich seit Jahren eine Lösung suche, und bei dem es mir beim besten Willen nicht gelingt, den Charakter der Beiläufigkeit zu erwecken. Das Problem besteht in der Verbindung von politischer Öffentlichkeit und individuellem Bewusstsein. Es liegt der Selbstbestimmung von 1999 zugrunde, steht im Hintergrund der Individualität von 2000 und hat 2002 die Frage nach dem Zusammenhang von Vernunft und Leben bei Kant motiviert. In der Partizipation von 2007 habe ich versucht, eine Theorie der Politik darauf zu gründen. Doch bei dem Versuch, dem Gedanken einen historischen Ort und einen systematischen Halt zu geben, bin ich ins Stocken geraten. Angesichts fehlender Vorarbeiten erwies es sich als nicht leicht, das Ineinander von Öffentlichkeit und Bewusstsein angemessen darzustellen, geschweige es zu lösen.

Das Problem des Bewusstseins gibt für sich schon genügend Anlass, ratlos zu sein. Spannt man es mit dem in Soziologie, Politologie und Philosophie keineswegs geklärten Problem der Öffentlichkeit zusammen, ist es zum Scheitern wie geschaffen. Umso willkommener ist mir die Ermutigung, die These von der konstitutionellen Öffentlichkeit eines jeden Bewusstseins einfach der Öffentlichkeit zur Klärung vorzulegen. In Variation eines Nietzsche-Wortes aus der Vorrede zur zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung könnte ich auch sagen: «Ich bin bestrebt eine Einsicht zu schildern, die mich lange genug gequält hat; ich räche mich an ihr, indem ich sie der Oeffentlichkeit preisgebe». (KSA 1, 246)

Die Natur meiner sich Anderen offenbar nicht aufdrängenden Frage macht es nötig, sie in einer Einleitung zu erläutern. Darin werden die Voraussetzungen und Ziele der Untersuchung sowie die leitenden Begriffe vorgestellt. Um das zugrunde liegende Verständnis von Öffentlichkeit, Bewusstsein und Mitteilung klarzustellen, wird auf Einsichten der nachfolgenden Analyse vorgegriffen. Damit bietet die Einleitung einen komprimierten Überblick über das, was im Buch am ausgebreiteten Material erarbeitet wird. Wer sich davon vorab nicht beeinflussen lassen möchte, kann sogleich mit den ersten beiden Kapiteln beginnen, die in exemplarischer Verdichtung geschichtliche Stationen einer Theorie der Öffentlichkeit vor Augen führen. Sie lassen erkennen, dass es hier nicht allein um politische Konstellationen geht. Doch das Übergewicht der politischen Auslegung des Begriffs ist unübersehbar.

Dem versuchen die beiden nachfolgenden Kapitel mit Überlegungen zur soziologischen und politischen Leistung der Öffentlichkeit Rechnung zu tragen. Sie münden in eine Antwort auf eine in der jüngeren Soziologie mehrfach gestellte, aber stets offen gebliebene Frage nach dem «Sinn von Öffentlichkeit». Mit dieser Antwort, deren institutionelle Bedeutung im vierten Kapitel ausgeleuchtet wird, sind wir beim politiktheoretischen Ertrag der Untersuchung. Ginge es nur um Politik und Öffentlichkeit, könnte das Buch hier enden. Doch gesetzt, die mit Blick auf die Politik erläuterte Antwort trifft zu, lässt sich Öffentlichkeit, entgegen der allgemeinen Überzeugung, nicht auf ihre politische Funktion beschränken. Sie muss vielmehr als eine Gesellschaft und Politik tragende Form des Bewusstseins angesehen werden.

Diese Erwartung bestätigt sich in den bewusstseinstheoretischen Analysen der letzten beiden Kapitel. Hier wird zu zeigen versucht, dass Bewusstsein, Geist und Vernunft – ihrer Funktion nach beurteilt – öffentliche Instanzen sind. So wenig es eine Privatsprache gibt, so unmöglich ist es, Begriffe allein für sich selbst zu haben. Gedanken sind nicht deshalb frei, weil sie sich im Kopf verschließen lassen, sondern gerade weil sie – logisch, semantisch und sozial – allgemein sind und die Tatsache, dass einer sie nicht äußert, daran nichts ändert. Die Freiheit der Gedanken beruht auf demselben Grund, der sie auch gefährlich machen kann: Sie sind allgemein in ihrer Geltung, gesellschaftlich in ihrer Mitteilbarkeit, sachhaltig in dem, was sie zum Inhalt haben, und sie folgen ihrer eigenen Logik, die nicht durch die der Macht vorgegeben ist.

Der Akteur hinter den universellen Leistungen des Begreifens ist das individuelle Bewusstsein, das sich in seiner öffentlichen Verfassung sozial und politisch zu organisieren vermag. In seiner Fähigkeit, nicht nur für die leibliche Einheit des jeweiligen Individuums einzustehen, sondern auch als Instanz der unter seiner Mitwirkung konstruierten gesellschaftlichen Einheiten wirksam zu werden, tritt das Bewusstsein in den öffentlichen Formen des Geistes und der Vernunft hervor. Im sechsten und letzten Kapitel wird skizziert, wie sich das aus der Natur heraustretende Bewusstsein gesellschaftlich etabliert: Es kultiviert sich im Geist zu einer Institution und setzt sich mit der Vernunft die Aufgabe einer kritischen Sicherung personaler, institutioneller und politischer Einheit des menschlichen Lebens. In der Vernunft hat das Bewusstsein ein universelles Instrument zur Begründung, zum Aufbau, zum Erhalt und zur Prüfung der von ihm selbst entworfenen Daseinsformen.

Da alles dies unter der Prämisse der Öffentlichkeit zu geschehen hat, erweist sich die Öffentlichkeit als die in allen Fällen geforderte Form des Bewusstseins. Sie dringt auf allgemeine Nachvollziehbarkeit, auf eine niemandem verschlossene Begründung, auf generelle Mitwirkung und ist auf die Entscheidbarkeit der verhandelten Fragen angelegt. Insofern hat sie selbst bei Problemen, die der staatlichen Verfügung entzogen sind, eine politische Form.

Schließlich soll im Beschluss die Formel vom homo publicus als Konsequenz der gewonnenen Einsicht für das Selbstverständnis des Menschen umrissen werden. Es ist bereits das Bewusstsein, das Weltöffentlichkeit schafft und dem jeder Einzelne als Weltbürger politisch gerecht zu werden hat.

Die im Ansatz wie im Ergebnis neu erscheinende Frage nach dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Bewusstsein hätte gut und gerne schon im Zeitalter des Perikles gestellt werden können. Vielleicht gibt schon Heraklit eine Antwort, wenn er sagt, «Einsicht zu haben ist etwas Allgemeines» (Frag 32), was man auch mit «gemeinsam ist allen das Denken» übersetzen kann. Heraklit ist offensichtlich der Ansicht, dass dem Denken nicht nur logische, sondern auch soziale Allgemeinheit zukommt. Denn nach Heraklit ist es ein Irrtum, etwas sachlich richtig Erkanntes überhaupt für «privat» (heoutoisi) (Frag 5) zu halten. Bei Platon hat man den Eindruck, er habe bereits alle Elemente zu einer Antwort beisammen. Das Gleiche wiederholt sich knapp zweitausendzweihundert Jahre später bei Kant. Beiden Denkern, Platon wie Kant, kommt daher in der historischen Darstellung eine zentrale Stellung zu. Im 20. Jahrhundert hätte der späte Husserl besondere Beachtung verdient, hätte er in seinen Analysen zur Intersubjektivität auch der politischen Form des Bewusstseins Aufmerksamkeit geschenkt.

Beim Lesen des vorliegenden Textes stellt sich selbst bei mir der Eindruck ein, manches hätte durchaus kürzer ausfallen können. Da ich aber die Erfahrung machen musste, dass sich mir das Neue der Einsicht erst nach langem historischen Vorlauf in der anschaulichen Rekonstruktion der Leistungen des Bewusstseins erschlossen hat, glaube ich, dass es für den Leser günstiger ist, durch möglichst viel Bekanntes zum Unvertrauten der neuen Einsicht geführt zu werden.

Mit der vorliegenden Untersuchung bin ich Vielen zu Dank verpflichtet, vornehmlich den Teilnehmern eines Sommerkurses der Studienstiftung des deutschen Volkes im August 2008 in St. Johann; ferner den Mitarbeitern der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Nachwuchsforschergruppe Funktionen des Bewusstseins; des Weiteren den Kolleginnen und Kollegen im Humanprojekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; schließlich den Verantwortlichen im Exzellenzcluster Topoi der Humboldt-Universität. Namentlich möchte ich Jan-Christoph Heilinger für vielfältige Anregungen danken. Hanne Müller, Dana Sindermann und Martin Rosie haben mir durch ihre Korrekturhinweise sehr geholfen. Der Dank an meine Frau, die mich einmal mehr durch ihre kritischen Rückfragen gefordert und gefördert hat, geht in die Widmung dieses Buches ein.

Berlin/Hamburg, den 21. Juli 2012

Volker Gerhardt

Einleitung:
Die Weltöffentlichkeit des Bewusstseins

 

Seine Individualität als Mensch
gewinnt der Einzelne erst
in der politischen Öffentlichkeit.
(N. Luhmann 1979, 45)

1. Bewusstsein als Weltöffentlichkeit. Auch wenn es in der Philosophie schon zu den großen Leistungen gerechnet werden kann, die seit Jahrtausenden überlieferten Fragen zu verstehen, muss es in ihr möglich sein, sich um neue Antworten zu bemühen. Wo Wissen ist, kann Fortschritt nicht ausgeschlossen werden. Er ist in der Entdeckung eines jeden Irrtums, ja, im Bewusstsein der geringsten Unzulänglichkeit angelegt, denn beide sind mit der Gewissheit verbunden, dass es eine bessere Auskunft gibt.

In dieser Gewissheit wird im vorliegenden Buch der Versuch gemacht für eines der ältesten Rätsel, das uns das Selbstverständliche aufgibt, eine neue Lösung zu finden. Sie scheint alles Bisherige auf den Kopf zu stellen: Das uns Nächste des individuellen Bewusstseins soll das Allgemeine der Gegenstände und Begriffe sein, während das scheinbar Erste der subjektiven Empfindungen und Gefühle sich als relativ später Ertrag einer individuellen Distanzierung erweist.

Nach der im Folgenden entwickelten These fangen wir in der Welt- und Selbsterkenntnis nicht bei uns selbst und unseren subjektiven Eindrücken an, um von ihnen allmählich zu objektiv versicherten Erkenntnissen über die Welt zu gelangen. Vielmehr erweist sich das scheinbar Privateste, nämlich das Selbstbewusstsein des einzelnen Menschen, als ein Spezialfall des Öffentlichen, in dem alle verständigen Wesen verbunden sind. Die Entwicklung des individuellen Selbstbewusstseins steigt nicht vom Individuellen zum Universellen auf; vielmehr lernt es – mit Gewinn für sich und seinesgleichen – das ursprünglich gegebene Universelle im Rückgang auf das eigene Bewusstsein zu verstehen. In Fällen bewusst erfahrener individueller Abweichung vermag es sich überdies auf einen subjektiven Geltungsraum einzuschränken – dies aber nur so lange, wie ihm der universale Tatbestand einer objektiv gegebenen Wirklichkeit gegenwärtigist

Mit dieser Einsicht darf das Öffentliche nicht länger als der späte Sonderfall eines stets gefährdeten politischen Fortschritts angesehen werden, sondern es ist die bereits im Ursprung der bewussten Tätigkeit eines jeden Einzelnen sich öffnende Dimension, in der sich jedes Bewusstsein in jedem seiner begrifflichen Akte bewegt.

Auf diese Weise kehren sich die gewohnten Relationen um: Wo nach dem Stand der vorherrschenden Theorien angeblich nur Subjektivität sein soll, ist in Wahrheit Objektivität, die so lange als selbstverständlich erfahren wird, wie es keinen Zweifel an der Richtigkeit einer Aussage oder eines Eindrucks gibt. Erst wenn «ich» und «mich» auseinander treten, wenn ein Ich Anderen etwas sagen kann, das es selbst fragwürdig findet (ja, von dessen Unzulänglichkeit oder Unwahrheit es weiß), kommt zur vorgegebenen objektiven eine subjektive Dimension des Bewusstseins hinzu.

Tatsächlich muss in den Anfängen des Bewusstseins des Einzelnen Allgemeinheit sein, damit überhaupt etwas als etwas bewusst werden kann. Denn was etwas (überhaupt oder im Einzelnen) ist, kann einem nur dann deutlich werden, wenn es dem Anderen in eben der gleichen Weise vor Augen steht. Damit können, ja, müssen beide annehmen, dass etwas Wahrgenommenes auch von jedem Anderen gesehen und erkannt werden könnte, sofern er ebenfalls anwesend wäre.

Jedes Denken und Sprechen setzt eine gemeinsame Welt voraus, auf die sich jedes Bewusstsein bezieht, wenn Denken und Sprechen überhaupt etwas bedeuten sollen. Erst unter der Bedingung der elementaren Entsprechung von Welt und Bewusstsein kann es Differenzen zwischen den Auffassungen einzelner Menschen geben. Also gibt es die Subjektivität eines Bewusstseins nur unter den Konditionen der Allen gemeinsamen objektiven Leistungen des Bewusstseins. Die spektakulär erscheinende These im Titel dieser Einleitung, der zufolge das Bewusstsein «weltöffentlich» ist, bringt somit nur den schlichten Tatbestand zum Ausdruck, dass alles auf sachliche Verständigung ausgerichtete Bewusstsein eine gemeinsame Welt unterstellt, unter deren Bedingungen die Verständigung allererst möglich wird. Damit ist das Bewusstsein die ursprüngliche Weltöffentlichkeit des Menschen.

2. Das Individuum als Beispiel. Gesetzt, die skizzierte Antwort lässt sich als tragfähig erweisen, dürfte das Folgen für die Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft haben. Der zwischen beiden immer wieder konstruierte Gegensatz ist eher ein Fall der Exemplifikation: Das Individuum ist nicht der (gleichsam zufällig auftretende) Einzelfall, aus dem man theoretisch durch Induktion und praktisch durch Kooperation eine durch weitere Individuen stets aufs Neue gefährdete Einheit zu ermitteln und herzustellen sucht. Vielmehr gibt jeder durch sein Denken und Handeln ein Beispiel für das, was sich in einzelnen Verhältnissen allgemein entwickelt hat. Jedes Einzelbewusstsein ist bereits Ausdruck einer Partizipation an einem Allgemeinen, das sich im stets konkret gegebenen Dasein zu bewähren hat – wenn es denn Gültigkeit behalten soll.

Das wiederum hat Folgen sowohl für die Konzeption der Ethik wie für die Begründung der Politik, die beide mit der Genese des menschlichen Selbstbewusstseins stärker verbunden sind, als die herrschenden Theorien des Bewusstseins zu erkennen geben. Es hat vor allem Folgen für das Selbstverständnis des Menschen, der nicht nur als Vertreter seiner Spezies und als Repräsentant seiner Kultur, sondern selbst noch in seinem Selbstverhältnis als Individuum ein exemplarischer Fall öffentlich wirksamer Einsichten ist. Bis in seine privaten Innervationen hinein und selbst noch, wenn er allein mit sich zu Rate geht, hat er sich als homo publicus zu verstehen, der seine geheimsten Gedanken nur haben kann, weil sie in Form und Gehalt öffentlich verständlich sind. Andernfalls könnte er sich selbst nicht verstehen. Was immer ein Individuum verstehen können soll: Es muss etwas sein, das auch Andere begreifen können.

Ein Indiz für das Ineinander von Persönlichem und Allgemeinem ist die Tatsache, dass sich die Frage «Wer bin ich?» sogar in Büchern verhandeln lässt. Das Erstaunliche dieses Vorgangs mochte solange nicht offenkundig sein, als man die Frage auf die Seele bezog, von der man glaubte, sie könne nach Art eines Gegenstands ohnehin für jeden erkennbar sein. Heute ist man bescheidener und fragt nur noch nach dem Selbst, das im strengen Verständnis, wie das Ich, an die singuläre Raum-Zeit-Stelle des zugehörigen Körpers gebunden ist. Und da müsste es eigentlich erstaunen, dass nach «dem» Selbst oder «dem» Ich nicht nur allgemein verständlich gefragt, sondern auch unter großer Anteilnahme öffentlich gefahndet werden kann.

Doch das Erstaunen hält sich in Grenzen, was sich daran zeigt, dass niemand fragt, warum denn über Ich und Selbst überhaupt öffentlich verhandelt werden kann. Obgleich sich das Rätsel des eigenen Selbst für jeden neu und anders stellt, nimmt man es hin, dass es von jedem verstanden und als allgemeines Problem begriffen wird. Und tatsächlich ist es so, dass die Frage, wie ich sie mir stelle, jeder Andere mit mindestens ebenso guten Gründen an sich selbst richten kann. Auch wenn sie jeden auf seine Weise trifft und darin etwas Einzigartiges hat, kann sie dennoch öffentlich aufgeworfen und erörtert werden. Es ist bereits dieser Tatbestand, der den Ausgangspunkt für eine Antwort bietet. Ihn gilt es zu beachten.

Das ist schon deshalb nicht schwer, weil die Frage nach dem Ich nicht nur zum seit Jahrtausenden beachteten Problembestand des Philosophierens gehört. Sie ist ein auch in religiösen, forensischen, therapeutischen, moralischen und literarischen Kreisen verhandelter Topos – mit einem hohen öffentlichen Aufmerksamkeitswert. Dass aus ihm schon früh der Imperativ «Erkenne dich selbst» werden konnte, der an jeden Besucher des Apollon-Tempels in Delphi gerichtet war, ist bis heute nicht vergessen. Doch was dieser immer schon gegebene öffentliche Zugang zum Problem des Selbst für das Selbstbewusstsein bedeutet, ist unbeachtet geblieben.

3. Steigerung der Aufmerksamkeit. In der vertrauten Selbstüberschätzung der Moderne wird es gelegentlich so dargestellt, als sei das Problem des menschlichen Selbstbewusstseins erst durch die moderne Philosophie in die Welt gekommen. Daran ist so viel richtig, dass es im neuzeitlichen Denken eine vermehrte Aufmerksamkeit und ein vertieftes Verständnis gefunden hat. Nach Montaigne, Descartes, Pascal, Locke und Shaftesbury sind vor allem Rousseau, Kant, Fichte, Hegel, Kierkegaard und Nietzsche zu nennen, deren Ansätze im 20. Jahrhundert durch die Beiträge von Husserl, Freud, Jaspers und Merleau-Ponty sowie durch die von den Einzelwissenschaften beigesteuerten Einsichten produktiv weiter wirken.

So haben die Erträge aus Phänomenologie, Anthropologie und Psychologie, aus Psychiatrie und Psychoanalyse sowie die in jüngerer Zeit hinzugekommenen medientheoretischen und neurowissenschaftlichen Einsichten die vielfältigen Bezüge aufgedeckt, in denen das Selbstbewusstsein des Einzelnen steht. Wie und was einer erfährt und denkt, ist nicht nur inhaltlich mit seiner genetischen Konstitution, seiner Biographie sowie mit den Konditionen seiner Umwelt verbunden. Auch die formalen Elemente des Selbstbewusstseins, seine logische und seine grammatische Grundstruktur sowie die komplementären Basisoppositionen zwischen Ich und Du sowie zwischen Ich und Welt belegen die über alle Subjektivität und Individualität erhabene Allgemeinheit eines jeden Selbst. Auch dessen Einbindung in den physiologischen Rhythmus des Daseins: Das Wachen, Schlafen und Träumen sowie die psycho-sozialen Bedingungen seiner Aufmerksamkeit verweisen auf Lebensbedingungen, die das Bewusstsein eines jeden mit dem eines jeden Anderen teilt.

Also hat man sich zu fragen, warum ein Selbstbewusstsein auch nur ein einziges anderes Selbstbewusstsein versteht, wenn es denn wirklich ganz auf sich selbst gegründet wäre. Möglich ist das Verstehen nur, wenn das Einzelbewusstsein nicht nach Art einer Isolierstation konzipiert ist, sondern als ein offener Raum, in dem man sich mit allgemeinen Begriffen bewegt. Selbst wenn nicht bezweifelt werden kann, dass ein Ich zu seinem Selbstbewusstsein einen «privilegierten» Zugang hat, bleibt es in seinen bewussten Vollzügen stets auf etwas angewiesen, das so von jedem Anderen in dessen Selbstbewusstsein ebenfalls in Anspruch genommen werden kann.

Wir verstehen einander nur, sofern und insoweit, als jeder in seinem Selbstbewusstsein bei eben demselben Sachverhalt ist, den auch die Anderen denken. Das führt zu der naheliegenden, aber nach dem Stand der herrschenden Theorien eher abwegig erscheinenden Vermutung, dass es kein anderes derart Allgemeines gibt als das Selbstbewusstsein eines Individuums. Nur dort, wo man im Anschluss an die Leistungen der klassischen deutschen Philosophie, vornehmlich an Kant, Fichte, Schelling, Hölderlin und Hegel den «Grund» des Ganzen im Bewusstsein sucht (Henrich 1992), ist man einer solchen Verbindung des Individuellen mit dem Universellen nahe.

Dieser Zugang müsste es verbieten, das den Grund in sich tragende Bewusstsein des Einzelnen überhaupt als «subjektiv» anzusehen, so naheliegend die Terminologie in der Nachfolge Kants auch ist. Denn das, was das Allgemeine begründet, kann so wenig subjektiv sein wie das, was diesen Grund enthält.

4. Selbstorganisation und Weltöffentlichkeit. Auch wenn die Lehrbestände der philosophischen Theorien und die alltägliche Erfahrung dagegen zu sprechen scheinen: «Allgemein» ist nicht die Welt, in der sich jeder an seinem Ort und auf seine Weise bewegt, sondern «allgemein» ist das, worüber jemand mit seinesgleichen einig sein kann. Einig ist er mit Anderen allein in seinem Selbstbewusstsein und nur in Sachverhalten, die auch die Anderen in ihrem Bewusstsein haben.

Diese Exposition des Ausgangsproblems könnte den Verdacht erregen, bei der angekündigten neuen Lösung gehe es um die Wiederherstellung eines Idealismus, der nur das für wirklich hält, was sich im Bewusstsein denkender Wesen findet. Doch der Einsatzpunkt der unternommenen Analyse liegt mitten in der mit Anderen gemeinsam erfahrenen Welt. Wir verstehen das Selbstbewusstsein als Ausdruck der sozio-technischen Dynamik der menschlichen Kultur. Seine Leistung ist die Verständigung mit Individuen, die sich nach eigenen Einsichten und mit eigenen Gründen in komplexen gesellschaftlichen Verhältnissen bewegen.

Hinzu kommt, dass der den philosophischen Idealismus auslösende Zweifel an der Realität der Außenwelt keinen Sinn ergibt. Denn allein der Zweifel, sobald er geäußert oder in Theorien wirksam wird, setzt die Wirklichkeit, in der er von anderen Individuen verstanden wird, voraus. Dann begreift sich nicht nur der Sprecher als eine manifeste Realität, sondern er spricht auch die, von denen er glaubt, sie könnten seine Skepsis teilen, als real existierende Wesen an.

Um deutlich zu machen, dass es bei aller Konzentration auf die grundlegende Leistung des Selbstbewusstseins keinen Grund gibt, es selbst schon für das Ganze zu halten, benennen wir es in der Funktion, in der es der gesellschaftlichen Verständigung dient, und sprechen vom Bewusstsein als einer sozialen Form der Selbstbezüglichkeit, die Menschen als Menschen benötigen, um überhaupt einen Begriff von sich, von ihrer Gemeinschaft mit Anderen und (dies vor allem) von ihrer Welt zu haben. So leben sie gemeinsam in einer Weltöffentlichkeit.

Die Selbstbezüglichkeit lebendiger Wesen basiert auf der Selbstorganisation, die bei allen sozial lebenden Arten auch die soziale Rückkoppelung mit Individuen der gleichen Spezies einbezieht. Beim Menschen ist diese Ausweitung in den gesellschaftlichen Raum besonders ausgeprägt, nicht zuletzt weil sie selbst geschaffene Gegenstände und Einrichtungen umfasst, die besondere Anforderungen an das individuelle Lernen und an die situative Verständigung stellen. Die durch handwerkliche und soziale Techniken zunächst nur ergänzte, dann aber zunehmend auch selbst produzierte Lebenswelt des Menschen nötigt einmal mehr zu sachhaltigen Formen der Verständigung, in denen man sich gemeinsam auf etwas bezieht, das von den beteiligten Individuen als gleich erkannt und behandelt werden kann.

5. Drei Leistungen des Selbstbewusstseins. Das menschliche Selbstbewusstsein bewältigt seine auf Mitteilung in der Welt angelegte Aufgabe, indem es erstens den Ausgangspunkt beim wahrnehmenden und handelnden Individuum zu benennen vermag. In der Abgrenzung gegenüber seinesgleichen kann ein Individuum sich selbst als Ich adressieren. Das ist eine relative Kennzeichnung, die nicht auf eine Seelensubstanz verweist, sondern primär den Unterschied zu Anderen seiner selbst markiert. Sie kann durch eine bleibende Leistungsfähigkeit, durch die Stabilisierung äußerer Beziehungen in Verwandtschaft, Herrschaft oder Besitz sowie mit dem Ausbau einer auch Namen gebenden Sprache von Generationen übergreifender Dauer sein.

Die zweite Leistung des Selbstbewusstseins liegt in der Ansprache von Anderen seiner selbst, also von Lebewesen der gleichen Art, die ebenfalls über Selbstbewusstsein verfügen. Selbstbewusstsein, das bis heute immer noch primär als ein Zustand des Habens von Vorstellungen begriffen wird, ist in Wirklichkeit darauf angelegt, etwas weiterzugeben. Es ist essenziell auf Mitteilung ausgerichtet. Bewusstsein ist Hinwendung und Öffnung gegenüber seinesgleichen und geschieht in der Erwartung einer korrespondierenden Offenheit des Gegenübers. Durch Begriffe, die stets ein sie tragendes und verknüpfendes Selbstbewusstsein benötigen, wird ein Inhalt des Bewusstseins «communicabel» gemacht.[1] Man kann daher sagen, dass alles, was sich im menschlichen Bewusstsein findet, den Status einer Mitteilung hat. Die Funktion des Bewusstseins liegt in der Ermöglichung von Kommunikation, die es unter günstigen Bedingungen verwirklichen, im Einzelfall aber auch verhindern kann.

Das Besondere dieser in Form des Bewusstseins gegebenen Mitteilbarkeit liegt darin, dass nicht einfach nur Stärke oder Schwäche, nicht nur Erregung oder Beruhigung, nicht bloß Zustand oder Stimmung eines Wesens, sondern stets Sachverhalte kommuniziert werden. Das ist das dritte und im Kontext der kulturellen Evolution ausschlaggebende Leistungsmoment des Selbstbewusstseins: Was immer es mitteilt, hat es damit schon in einen Sachverhalt transformiert. Zwischen dem Ich und den in allen Fällen adressierten Anderen wird Etwas zur Kenntnis gegeben, das für sich genommen und als ein bestehendes Moment der Welt angesehen werden kann. Das ursprünglich nicht subjektiv (oder gar «solipsistisch»), sondern von Anfang an sozial angelegte Selbstbewusstsein ist in der gleichen Ursprünglichkeit, in der es sich an seinesgleichen wendet, auf Gegenstände und Ereignisse bezogen, die als Realitäten der gemeinsamen Welt begriffen werden.

Die Sachverhalte sind der notwendige Inhalt der durch das Selbstbewusstsein ermöglichten Mitteilung zwischen Individuen der gleichen Art. Also bewegt sich das Bewusstsein in allen seinen Akten zwischen seinem Ich und dem Du aller Anderen, indem es sich auf Sachverhalte in der Welt bezieht. In diesem «Dreieck» erfahren wir das, was wir als Wirklichkeit begreifen.

6. Soziomorphie in der Realität der Lebenswelt. Die hier nur in wenigen Strichen angedeutete «trianguläre Struktur» des Selbstbewusstseins[2] verbindet in jedem seiner Akte ein Ich mit der Gemeinschaft von seinesgleichen, indem es sich auf ein sachlich verselbständigtes Moment der Welt bezieht, in der die Träger des Selbstbewusstseins miteinander leben. Diese Verfassung des Bewusstseins kann man als soziomorph bezeichnen, um deutlich zu machen, dass es ursprünglich auf Andere seiner selbst gerichtet ist, um mit ihnen in etwas, das allgemeine Bedeutung hat, verbunden zu sein.

Die ursprünglich soziale Anlage des Bewusstseins ist aber nur das eine Wirkungsmoment seiner Organisation. Das damit auf das Engste zusammenhängende andere Moment liegt in der ursprünglich objektiven Einstellung des Bewusstseins, das sich in einer Welt bewegt, in der alles so ist, wie man es gemeinsam mit seinesgleichen erfährt. Diese Welt ist voller Dinge und Ereignisse, die jedem so bewusst sind, wie sie ihm vor Augen stehen. Er sieht und erkennt die Gegenstände so, wie sie (nach seiner zunächst unbezweifelten) Ansicht sind und wie sie folglich auch jeder Andere sehen und erkennen kann.

Nach dem in seiner Leistung begründeten Selbstverständnis begreift das Bewusstsein die Dinge so, wie sie «sind», und indem es dies tut, hat es sie in eine mitteilbare Form gebracht, in der sie auch jeder Andere ebenso erfassen kann. Auf diese Weise hängen Soziomorphie und Objektivität des Selbstbewusstseins auf das Engste zusammen. Jedes einzelne Bewusstsein verfährt so, als sei es mit dem, was es begreift, für jeden Anderen verständlich, dies umso mehr, als sich jedes Bewusstsein auf Vorkommnisse bezieht, die auch jedem anderen Bewusstsein in derselben Weise gegenwärtig sein können.

Es ist der ursprüngliche Realismus, der die Leistungen des Bewusstseins charakterisiert. Das Bewusstsein stellt eine Verbindung zwischen sich wechselseitig benötigenden Individuen her, die sich über nichts anderes als die Wirklichkeit verständigen, in der sie sich zu behaupten haben. Das Insgesamt der Wirklichkeit, zu der wir gehören, ist die Welt. Die stets auf unseresgleichen bezogene, stets auf die Welt verweisende Verständigung vollzieht sich in der Welt und stellt damit Weltöffentlichkeit her. Jeder Idealismus, der aus der Eigenlogik dieser Verständigung entsteht, und jede Phantasie, die erforderlich ist, um frei mit den mitgeteilten Dingen umzugehen, haben ihren Grund im Realitätsbezug der Kommunikation.

Die Realität kann man vereinfachend als gegeben ansehen. Man kann sie aber auch als zunehmend bewusst benötigten Teil eines Lebens ansehen, das in seiner sozialen Organisation auf technisch verfügbare Umstände ausgreift, die damit zum wechselseitig versicherten Lebensmittel der Menschen werden. Als Teil der Organisation einer zunehmend technisch aufgerüsteten Lebenswelt des Menschen ist das Bewusstsein damit selbst ein immer auch technisch eingesetztes Organ zur Bewältigung des Daseins.

Es sollte klar sein, dass bis zu dieser Stelle der Typus anfänglichen Selbstbewusstseins beschrieben wird, das noch nicht vom Zweifel an der Wahrheit seiner Inhalte befallen ist. Es ist die frühe Form des kindlichen Bewusstseins, das noch nicht das Bedürfnis verspürt, einen Sachverhalt nur für sich zu behalten oder ihn in vorsätzlich abgewandelter Weise weiterzugeben.

7. Die Stimulation der Subjektivität. Um nicht schon in der Exposition der Objektivität des Bewusstseins missverstanden zu werden, sei vorgreifend hinzugefügt, dass es im Entwicklungsgang des kindlichen Bewusstseins sehr rasch dazu kommt, das Vertrauen in die Objektivität, d.h. in die Richtigkeit eines einzelnen Eindrucks zu verlieren. Die Erfahrung, dass eigene Eindrücke von denen Anderer abweichen, stellt sich früh ein; hinzu kommt der Unterschied zwischen Träumen und Wachen. Überdies hat man zu lernen, dass man nicht über alles sprechen sollte. Da kann es alsbald bequemer erscheinen, etwas zu erfinden und die Wahrheit hintanzuhalten. Dem kommt die Beobachtung entgegen, dass die Menschen, auch wenn sie Zeugen des gleichen Vorgangs sind, höchst unterschiedliche Beobachtungen machen. Schließlich kommen die Fehler und Unzulänglichkeiten hinzu, die man lieber zu verbergen sucht.

Alles dies sind Gelegenheiten, in denen ein Bewusstsein auf Distanz zur Objektivität seiner Inhalte geht und ihnen eine Gewichtung gibt, die nur für das Individuum von Bedeutung ist. Zwar behält es die Ausrichtung auf Sachverhalte bei. Doch es setzt an die Stelle der dem Ich gegenüber stehenden Anderen zunächst niemand Geringeren als sich selbst! Erst damit wird die kommunikative Leistung des Bewusstseins auf das Individuum, in dem sich Ich und Mich im Gespräch befinden, bezogen. Im Fall einer solchen Selbstbezüglichkeit des Bewusstseins klammert es die Objektivität seiner Auffassung ein und versteht sich selbst als subjektiv.

Der Rückzug des Selbstbewusstseins in sich selbst entspricht nicht der ursprünglichen Funktion des Bewusstseins. Es ist vielmehr eine Inversion seiner im Normalfall unmittelbar auf anderes für Andere bezogenen Leistung auf sich selbst. Der Charakter der Mitteilung bleibt damit freilich erhalten. Anders ist nur, dass ein Ich zu sich selber spricht. Es wendet sich an sich selbst und enthält damit den Anderen etwas vor. Das Selbstbewusstsein übt eine in sich gekehrte Zurückhaltung aus und wird mit diesem Akt – und nur so lange er dauert! – subjektiv. Subjektivität ist eine reservatio mentalis. Sie folgt einem Vorbehalt des Individuums gegenüber seiner eigenen Offenheit für die Welt.

Aus der Sicht der ursprünglichen Funktion des Bewusstseins kann dieser Vorbehalt als eine Unterbrechung der sozialen Kommunikation beschrieben werden: An die Stelle der als objektiv angesehenen Bewusstseinsinhalte treten subjektive Auffassungen, die nicht selten als Störung begriffen, aber auch als befreiend, ja, als die Bedingung individueller Freiheit erlebt werden können. Subjektivität könnte als Defekt, den es zu vermeiden oder zu beheben gilt, erscheinen. Tatsächlich aber ermöglicht sie erst die umfängliche Erfahrung individueller Eigenständigkeit, weil sie die Chance eröffnet, mit ausdrücklich vergewisserten eigenen Gründen das zu denken, zu sagen und zu tun, was man – auch im Unterschied zu Anderen, die ihre ebenfalls subjektiven Eigenheiten haben – für richtig hält.

Unter dem Anspruch totalitärer Verfügung aus religiösen, moralischen oder politischen Gründen gibt es immer wieder die Versuchung, die Subjektivität des Bewusstseins als krankhafte oder kriminelle Abweichung auszugrenzen. Doch das ist eine abnorme Verkennung ihrer unverzichtbaren Leistung für die menschliche Kultur. Ohne die Fähigkeit zum Rückzug in sich selbst, ohne die individuelle Differenz, ohne das Vertrauen auf den abweichenden eigenen Eindruck oder die Überzeugung vom Irrtum der Anderen könnte es kein Bewusstsein der Freiheit, keinen Eigensinn, kein gewolltes und behauptetes individuelles Dasein geben – von Religion, Kunst, Wissenschaft oder Technik ganz zu schweigen. Kein politisches Amt ließe sich ausfüllen ohne den bewussten Einsatz der wahrgenommenen Rolle, die eine subjektive Sicht auf die politische Realität einschließt. Überdies wüsste man nicht, was Liebende sich zu sagen haben könnten, wenn es die Subjektivität nicht gäbe.

Es wird sich noch zeigen, dass auch die Leistungen der Öffentlichkeit wesentlich darauf beruhen, die subjektiven Abweichungen der Individuen zur Geltung zu bringen, um sie in der Vermittlung mit den Fähigkeiten und Fertigkeiten Anderer für Viele ebenso wie für Einzelne produktiv zu machen. Die Entfaltung der humanen Kultur auf der einen und der menschlichen Individualität auf der anderen Seite sind wesentlich auf die Stimulation der Subjektivität gegründet.

In der Politik, die auf Interessengegensätzen beruht, ist die Subjektivität die essenzielle Voraussetzung der Meinung. Im öffentlichen Meinungskampf erleben wir eine gelegentlich kunstvolle, in der Regel triviale, nicht selten aber beschämende Steigerung der zur Schau gestellten Subjektivität. Unter der Voraussetzung rechtsförmiger Regulierung ist die Stimulation der Subjektivität eine wesentliche Voraussetzung für die Ausbildung einer sich ihrer Besonderheit bewussten Person, die mit ihren Fähigkeiten (und den dazugehörenden Widersprüchen) nach Art einer Institution umzugehen lernt. Gerade wegen ihres hohen Anteils an Subjektivität ist die Politik eine Schule der Objektivität des Bewusstseins – unter den Augen der Öffentlichkeit.

Doch das Wichtigste für unseren Zusammenhang liegt in der Analogie zwischen der konstitutiven Relation von Subjektivität und Objektivität zu der nicht weniger grundlegenden Konstellation von privater und öffentlicher Sphäre. In beiden Fällen ist das, was objektives und politisches Bewusstsein leisten, auf das ihnen funktional eingelagerte Moment des Subjektiven und des Privaten angewiesen. Beide haben ihren Gegensatz in sich, ohne den sie – als Objektivität wie auch als Öffentlichkeit – nicht verständlich sind. Mit Blick auf die kulturgeschichtliche Entwicklung des Menschen liegt es nahe, von einer parallelen Entstehung beider Paarungen auszugehen.

8. Die Korrelation von Subjektivität und Objektivität. Ihre Unverzichtbarkeit darf nicht dazu verführen, Subjektivität für die ursprüngliche Verfassung des Bewusstseins zu halten. Sie ist im Gegenteil eine erst im interindividuellen Einsatz des als objektiv angesehenen Gebrauchs des Bewusstseins ermöglichte Ausweitung seiner Leistung. Nur weil das Bewusstsein den Eindruck einer allseits wahren und jedermann verständlichen Auffassung der Dinge vermittelt, kann es mit der Erwartung verbunden sein, auch im Selbstverhältnis für Aufklärung sorgen zu können. Das Selbstverhältnis entsteht aber erst aus der Internalisierung der stets mitadressierten Anderen in der Form des Du, in welchem sich das Ich nunmehr selbst ansprechen kann. Dann hat das Ich sein Mich, auf das es sich wie auf das Du eines Anderen einstellen kann, so als wäre dieses Du ein Anderer seiner selbst.

Das kann freilich erst geschehen, wenn die drei Funktionsstellen des Bewusstseins (Ich, Andere und Weltbezug) ausgebildet sind. Dann kann sich das Ich sowohl als Sprecher wie auch als sein eigener Zuhörer begreifen und selbst Eindrücke, Stimmungen und Erlebnisse nach der Art von Sachverhalten bedenken. Dann kann es in sich gehen und den Versuch unternehmen, sich über sich selbst Klarheit zu verschaffen.

Der Vorrang der ursprünglichen Objektivität des Bewusstseins zeigt sich auch darin, dass die durch Subjektivität bis ins Unendliche vergrößerten Unterschiede zwischen den Individuen erst unter den realen Bedingungen des Lebens hervortreten können. Erst wenn man im gegebenen Dasein sowohl nach tatsächlich unterschiedenen Individuen wie auch nach Situation und Perspektive differenzieren kann, lassen sich die als subjektiv erlebten Unterschiede schätzen. Hinzu kommt die Tatsache, dass man logisch verbindliche Unterscheidungen treffen kann. Sie haben, wie alle elementaren Leistungen der Logik, ihren Referenzraum in einer gemeinsamen Welt mit einer Ordnung, in der sich jeder selbst als deren Teil zu begreifen hat, sobald er etwas wahrnimmt oder etwas tut – erst recht wenn er darin als Person (und insofern auch als etwas) wahrgenommen werden möchte. Hier hat jedes Ich, sofern es sich in seinen Weltbezügen mitteilt, nicht nur einen physischen und sozialen, sondern auch einen logisch bestimmten Ort. So ist das Bewusstsein das Objektiv, durch das alles gehen muss, selbst das, was als Subjektivität erfahren wird.

Subjektivität und Objektivität des Selbstbewusstseins sind somit zwei wohl zu unterscheidende Formen der Beziehung auf anderes vor Anderen. Sie gehören beide zum Vollzug des entwickelten Selbstbewusstseins; in ihm sind beide unverzichtbar, denn erst in ihrem Zusammenspiel entfaltet sich die Außenwelt und Innenwelt verknüpfende mentale Organisation. Zwar liegt die Priorität in der Erkenntnis der mit Anderen gemeinsam erfahrenen Welt. Aber nur wenn man von der Generalperspektive der Objektivität absehen und die Abweichung der eigenen Wahrnehmung der Welt an sich selbst erleben kann, kommt es zur Freiheit im Umgang mit der im Bewusstsein ursprünglich vermittelten Welt.

Sobald man die primäre Position der Objektivität mit der ergänzenden Funktion der Subjektivität zusammen nimmt, kann man das Missverständnis umgehen, die Subjektivität sei die noch rohe, unmittelbare, vielleicht sogar defizitäre Form des Selbstbewusstseins, eine Form, die danach drängt, im objektiven Bewusstsein aufgehoben zu werden. Auch die grobe Aufspaltung der Welterkenntnis in die angeblich logisch eindeutigen Urteile über das, was der Fall ist, und in die angeblich sinnlose Perspektive bloßen Meinens und Glaubens (mit der sich der Wittgenstein des Tractatus behindert) (Tract 6.42 ff.) gehört zu den Missverständnissen eines sich hinter seiner Objektivität verschanzenden Bewusstseins.

Es ist vielmehr so, dass man ein Verhältnis zur Objektivität benötigt, um ihren Wert zu schätzen. Das aber kann erst entstehen, wenn man auf Distanz zur Objektivität gehen kann. So kommt mit der Subjektivität des Selbstbewusstseins die Stärke eines sachbezogen mit seinesgleichen kommunizierenden Bewusstseins zum Tragen. Das Verlangen nach Kommunikation entsteht unter den Bedingungen einer tatsächlichen Differenz zwischen verschiedenen Individuen. Das akzentuiert den Vorrang einer bestehenden Welt, auf die man objektiv referiert. Gleichwohl ist der produktive, innovative und Individualität fördernde Umgang mit ihr an die Fähigkeit zur Distanzierung zu ihr gebunden, die erst unter den Bedingungen der Subjektivität möglich wird. In der Subjektivität, so können wir vorerst abschließend sagen, zieht sich ein kommunikationsfähiges Bewusstsein zeitweilig auf den Umgang mit sich selbst zurück und verstärkt so seine Fähigkeit, mit abweichenden Auffassungen umzugehen.

9. Gesellschaftliche und politische Öffentlichkeit. Nehmen wir die Leistung des Bewusstseins in der geschilderten Form: In ihr bezieht sich ein Selbst durch Mitteilung eines Sachverhalts auf Andere seiner selbst, so dass jeder Andere darauf mit Bezug auf denselben Sachverhalt zustimmend, abweichend oder abwehrend reagieren kann. Das muss nicht mit einer einzigen Erwiderung enden, sondern kann zahlreiche Entgegnungen, Ergänzungen, Ablenkungen und zusätzliche Informationen nach sich ziehen, die Anlass zu einer fortgesetzten Kommunikation aller Betroffenen sind. Damit haben wir das Modell eines Vorgangs, der im politischen Kontext als Herstellung einer Öffentlichkeit bezeichnet werden kann. Idealerweise stehen Alle mit Allen in einer im Ganzen nicht abreißenden Verbindung.

Bei einem solchen Geschehen kann die Beteiligung einer größeren Anzahl von Menschen als erste Bedingung gelten. Des Weiteren muss es eine Vielfalt von Lebensfragen geben, die sich mit den Zeitläuften wandeln. Vor dem Hintergrund gemeinsamer Lebensprobleme kann man eine allgemeine Disposition zur Aufmerksamkeit unterstellen; ein Problem allein wird kaum in der Lage sein, die Wahrnehmung einer Menge lange zu fesseln. Es ist die Vielfalt an Lebenswichtigem, Alltäglichem und Kuriosem, das die Anteilnahme einer Gesellschaft auf sich zieht. Wenn also Neugierde, Mitteilsamkeit und ein Minimum an Vertrauen in die Verlässlichkeit des Gehörten gegeben sind, kann in jeder größeren Ansammlung von Menschen Öffentlichkeit entstehen.

Diese nicht notwendig durch das Interesse an der Leitung einer Gesellschaft als Ganzer stimulierte Form wechselseitiger Verständigung nenne ich die gesellschaftliche Öffentlichkeit. Sie ist auf alles bezogen, was den Menschen in ihrer Gemeinschaft etwas bedeutet. Alles, was Viele, womöglich sogar Alle angeht, ist von besonderem Gewicht. Und so kann man davon ausgehen, dass die gesellschaftliche Öffentlichkeit eine Vorstufe der politischen Öffentlichkeit darstellt.

In der politischen Öffentlichkeit verdichtet sich der Verkehr von Neuigkeiten, sobald es die Chance oder den Zwang zum gemeinsamen Handeln aller Mitglieder der Gesellschaft gibt. Dabei ist es nicht zwingend, dass es bereits eine zentrale Organisation der gemeinsamen Belange gibt; schon das Interesse, eine solche Instanz zu schaffen, kann zum Aufbau einer politischen Öffentlichkeit führen.

Die Erwartung einer zentralen Handlungsoption in der politischen Öffentlichkeit schließt nicht aus, dass vieles kommuniziert wird, was nur mehr oder weniger beiläufiges Interesse auf sich zieht. Es kann auch sein, dass es sich um etwas handelt, das nur einen Einzelnen angeht – wenn etwa dem Übeltäter, dessen Tat lange unentdeckt blieb, zu Ohren kommt, dass die Suche nach ihm wieder aufgenommen wird. Allein die Erwartung, dass Nachrichten dabei sein könnten, die den eigenen Lebensbezirk berühren, die Gefahren oder besondere Glücksumstände anzeigen, erzeugt eine Aufmerksamkeit nicht nur bei denen, die in der Gemeinschaft leben; sie kann auch bei Nachbarn, Partnern und Gegnern Beachtung finden. Der Umschwung der Neuigkeiten wird dadurch in Gang gehalten, dass es Interessen gibt, die Viele – allein durch die Tatsache ihres gemeinsamen Daseins – miteinander verbinden.

Die Aufmerksamkeit auf das Neue, das die Öffentlichkeit bietet, kann als Ausweitung der Wahrnehmung begriffen werden, die man im Umfeld des eigenen Hauses ohnehin aufbringt und über die man sich mit seinen Nächsten, vielleicht auch mit den Nachbarn verständigt. Ihr Radius ist durch die Reichweite der eigenen Sinne vorgegeben sowie durch das, was im Lebensumfeld gegenwärtig sein kann. Öffentlichkeit führt demgegenüber zu einer beachtlichen Erweiterung des Lebenshorizonts. Im Grenzfall umfasst sie den ganzen Erdkreis, in dem etwas geschieht, das mit Blick auf das eigene Tun und Lassen für bedeutungsvoll gehalten wird. Durch sie haben Viele, vielleicht sogar Alle einen gemeinsamen Bezug zur Welt. Die Weltöffentlichkeit des Bewusstseins ist damit in den Zusammenhang der Teil- und Anteilnahme Aller gestellt.

Schon in größeren Siedlungsräumen müssen beachtliche Distanzen überwunden werden, um alles in Erfahrung zu bringen, was für die Lebensbewältigung in der Gemeinschaft von Belang sein kann. Man benötigt Boten und setzt auf Bilder und Zeichen, die für die Verbreitung von Neuigkeiten sorgen. Überdies kann man sich alles zu Eigen machen, was einem zu Ohren kommt. Dabei können auch unscheinbare Mitteilungen große Wirkungen nach sich ziehen. Öffentlichkeit ist der Resonanzraum für Bedeutung überhaupt. Das Feld der eigenen Wahrnehmung weitet sich nach allen Seiten gegen unendlich aus und steht der Prüfung durch jeden Anderen offen.

10. Die Unverzichtbarkeit der Mittel. Erst im öffentlichen Raum kommt es zu einem Weltbegriff, der in Mythos, Religion und Kunst den Rahmen vorgibt, in dem sich der Mensch als Teil eines Zusammenhangs versteht. Unsere Kenntnisse reichen nicht aus, um zu sagen, ob die Politik unter der Anleitung einer bereits kulturell entfalteten gesellschaftlichen Öffentlichkeit entstanden ist oder ob erst die Politik die folgenreichen Anstöße zur Entwicklung der öffentlichen Kultur gegeben hat. In jedem Fall aber erfolgt die Wechselwirkung zwischen Politik und Gesellschaft in einem öffentlichen Raum.

Ganz gleich, ob gesellschaftliche oder politische Öffentlichkeit: Von Anfang an ist sie auf technische Mitteilungsmittel, auf Medien angewiesen. In der Öffentlichkeit erhalten die allemal benötigten Zwischenträger einen eigenen Rang. Bekanntlich macht sich das so genannte Medienzeitalter mit der Behauptung interessant, die Medien seien autonom und selbst zur Botschaft geworden. Die Annahme liegt nahe, weil sich die Zahl der Medien vervielfältigt hat, ihre Herstellung und Pflege einen immer größeren Aufwand erfordert und damit das Eigengewicht der Medien die Nachricht als Nebensache erscheinen lassen kann.

Doch die Verselbständigung der Medien ist bereits mit dem historischen Auftritt der Öffentlichkeit vorgezeichnet: Die Kundschafter, Herolde und Erzähler, die Geschichten, die Bilder und die zugänglich gemachten Texte treten in ihrer Besonderheit immer schon auffällig hervor. So kann es nicht wundern, dass unter bestimmten Bedingungen die Botschaft schon im Auftritt des Mediums liegt. Aber zu einer Ablösung der Botschaft von ihrem Botschafter kommt es nicht, weil nur sie es ist, die ihm Bedeutung gibt. Und je mehr die Medien ihre Aufgabe erfüllen, umso stärker wird ihre Autorität.

Überdies darf die in jedem Medium mögliche Umbesetzung von Zweck und Mittel nicht vergessen lassen, dass es in jedem Fall eine Botschaft ist, um die es geht. Es bleibt eine Nachricht, mit der ein Bote erscheint, ganz gleich, welche Neuigkeit er verkündet. Die schon im Auftritt oder Gebrauch des Mediums liegende Information kann das Interesse nur auf sich ziehen, weil sie in der Regel der Übermittler einer bemerkenswerten Neuigkeit ist. Von der Erwartung, etwas Wichtiges in Erfahrung zu bringen, kann die Autonomisierung der Medien zwar ablenken; sie kann sie aber nicht vergessen machen. Insofern bleibt sie an den Sachverhalt gebunden, dem sie als Medium dient.

Tatbestände