1815–1866
Verlag C.H.Beck
Der Deutsche Bund steht historisch zwischen dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und dem deutschen Kaiserreich von 1870/71. Zwischen 1815 und 1866 sicherte er Frieden und Entwicklung in Europa. Dennoch spielt er im historischen Bewusstsein der Deutschen kaum eine Rolle. Trotz seiner Schwächen und Defizite ist es an der Zeit, ihn gerechter zu beurteilen. Wolf D. Gruner bettet die Geschichte des Deutschen Bundes in die europäischen Zusammenhänge ein, zeigt, dass er mit seiner föderativen Organisation ein geeignetes Band für die deutsche Nation darstellte und verdeutlicht, dass die deutsche Geschichte keineswegs zwangsläufig auf die Gründung eines Nationalstaates hinauslief.
Wolf D. Gruner ist Professor für Europäische Geschichte und Jean Monnet Professor für Europäische Integrationsgeschichte an der Universität Rostock. Bei C.H.Beck ist von ihm lieferbar: Europa-Lexikon (2. Aufl. 2007).
1. |
«Oh Bund! Du Hund! Du bist nicht gesund»? – Eine Einführung |
2. |
Die Gründung des Deutschen Bundes und die europäische Neuordnung 1814/15 |
3. |
Der Deutsche Bund und seine Mitgliedstaaten (1815–1830) |
4. |
Die Zollvereine als «Bund im Bund» |
5. |
Zwischen Hambacher Fest und Rheinkrise (1830–1840) |
6. |
Die Revolutionen in Europa und die gescheiterte deutsche Nationalstaatsgründung (1848–1851) |
7. |
Zwischen europäischen Konflikten, zeitgemäßer Reform und wirtschaftlicher Vernetzung (1851–1866) |
8. |
Das Ende der mitteleuropäischen Föderativordnung Deutscher Bund 1866 |
9. |
Der Deutsche Bund in der deutschen Geschichte |
10. |
Quellen- und Literaturauswahl |
11. |
Personen- und Sachregister |
Für Heide
Der Deutsche Bund als föderatives «Band der deutschen Nation» und als Organisationsform des «deutschen Mitteleuropa» (Helmut Rumpler) zwischen 1815 und 1866 wurde 1815 auf dem Wiener Kongress als Nachfolgeorganisation für das 1806 aufgelöste Heilige Römische Reich deutscher Nation gegründet. Er ist heute eine vergessene und verdrängte Form deutscher Staatlichkeit im 19. Jahrhundert. Im historischen Gedächtnis dieses Raumes ist der Deutsche Bund praktisch nicht mehr präsent.
Otto von Bismarck, seit dem Frühjahr 1851 preußischer Gesandter in der Bundesversammlung, beklagte sich in seiner Privatkorrespondenz immer wieder, dass es in Frankfurt «grässlich langweilig» sei, dass seine Berichte in «Berlin kein Echo oder Resultat» fänden, dass die Bundestagsgesandten sich mit «lauter Lappalien» quälten, alle mit Wasser kochten, aber «eine solche nüchterne einfältige Wassersuppe, in der auch nicht ein einziges Fettauge von Hammeltalg zu spüren ist». Er mache «reißende Fortschritte» in der «Kunst mit vielen Worten gar nichts zu sagen» und schreibe Berichte, «die sich rund und nett wie Leitartikel lesen». In den Sitzungen der Bundesversammlung müsse er «ganz unglaublich langweiligen» Vorträgen zuhören: »Ich gewöhne mich daran», schrieb er im Dezember 1853 an seine Schwester Melle und schmeichelte sich, «den Bund allmählich mit Erfolg zum Bewußtsein seines Nichts zu bringen nicht unerheblich beigetragen zu haben […] Das bekannte Lied von Heine, oh Bund, du Hund, du bist nicht gesund […] wird bald durch einstimmigen Beschluß zum Nationalliede der Teutschen erhoben werden.»
Das vernichtende Urteil Bismarcks über den Deutschen Bund, der sich als Bundestagsgesandter in Berlin zu wenig wahrgenommen fühlte, der die langen Entscheidungsprozesse, die Unfähigkeit, Eitelkeit, Ignoranz, Inkompetenz und Vergreisung der anderen Bundestagsgesandten beklagte, diente lange dazu, den Deutschen Bund als Intermezzo und gescheiterte Form deutscher Staatlichkeit, als Hort von Partikularismus und Separatismus zu stigmatisieren. Der Deutsche Bund sei von Anbeginn ein ungeeignetes Band der deutschen Nation gewesen, zu keiner positiven Entwicklung fähig. Sicherlich spielten hierbei das Denken in nationalstaatlichen Kategorien sowie die Gründung des deutschen Kaiserreiches von 1871 und das Bedürfnis, das preußisch-kleindeutsche Kaiserreich historisch zu legitimieren, eine gewichtige Rolle. Zudem wurde die Nationsidee im langen 19. Jahrhundert zum erstrangigen europäischen Gestaltungsprinzip, von einem Eliten- zu einem Massenprojekt. Das Zusammenleben der Nation im nationalen Staat wurde als die einzig sinnvolle Form der Organisation von menschlichen Großgruppen angesehen. So konnte die Nationsidee bis 1945 auch alle Überlegungen und Konzepte, die Einheit Europas durch einen europäischen Völkerbund zu schaffen und die internationalen Beziehungen auf neue, den Frieden sichernde Grundlagen zu stellen, verdrängen. Erst der Untergang des kleindeutschen Nationalstaates in der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges machte den Blick frei für eine differenzierte Betrachtung und Bewertung der deutschen Geschichte zwischen 1789 und 1871. Die Erfahrungen Europas mit den Nationalstaaten und ihren blutigen Zusammenstößen in zwei Weltkriegen erneuerten das Interesse an einer föderativen Organisation des Zusammenlebens von Nationen. Vergessene Formen von Staatlichkeit, die vielfach im 18. und 19. Jahrhundert als europäische Einigungsmodelle vorgeschlagen worden waren – zu ihnen zählten das Heilige Römische Reich deutscher Nation und der Deutsche Bund –, wurden wiederentdeckt.
In den Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich auch die historische Forschungslandschaft. Neue Fragen und Methoden sowie komplexere und erweiterte Ansätze ließen schließlich eine deutsche und europäische Geschichte jenseits des Nationalstaats sichtbar werden und ermöglichten eine neue Betrachtung des Deutschen Bundes. Erhellend ist in diesem Zusammenhang eine Feststellung des amerikanischen Historikers James Sheehan, wenn er mit Blick auf die deutsche Geschichte meinte, dass unsere deutsche Gegenwart «eine eigene Legitimität besitzt, die nicht aus ihrem Bezug zum deutschen Kaiserreich herrührt, sondern vielmehr aus ihrer Stellung in einer breiteren Tradition. Die deutsche Gegenwart ist nicht ein Postskriptum zur Vergangenheit des Kaiserreichs; sie ist ein neues Kapitel in einer viel älteren Geschichte.» Eine Geschichte des Deutschen Bundes leistet einen Beitrag in diesem Sinne. Sie ebnet den Weg zur notwendigen und längst überfälligen Föderalisierung der deutschen Geschichte und vernetzt diese europäisch.
Der Deutsche Bund konnte und wollte kein Nationalstaat, kein nationaler Einheitsstaat sein. Er sollte nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation eine Organisationsform für dessen Gebiete schaffen, die der staatlichen Vielfalt dieses Raumes Ausdruck gab und am besten den historischen Traditionen der einzelnen deutschen Geschichtslandschaften entsprach. Eine Darstellung seiner Geschichte muss daher stets verschiedene, eng miteinander verknüpfte Betrachtungsebenen berücksichtigen. Nur so kann ein ausgewogenes Bild des Deutschen Bundes als föderative Form von Staatlichkeit im deutschen Mitteleuropa entstehen. Neben der deutschen Ebene – repräsentiert durch die Frankfurter Bundesversammlung sowie zwischenzeitlich durch die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche und die Provisorische Reichsgewalt – ist die einzelstaatliche Ebene der großen, mittleren und kleinen Bundesglieder mit ihren Interessen und Zielen von grundlegender Bedeutung. Dort entschieden sich die Handlungsspielräume des Bundes – ob es Reform oder Stillstand gab, ob es zur Angleichung und Vereinheitlichung einzelstaatlicher Gesetzgebungen im Bund kam, ob zentralisierende Schritte eingeleitet werden konnten oder die einzelstaatliche Souveränität erhalten wurde. Durch den doppelten Gründungsauftrag des Deutschen Bundes von 1815, als «Centralstaat» und als europäischer «Friedensstaat» die Sicherheit und Unabhängigkeit Deutschlands und die Ruhe und das Gleichgewicht Europas zu wahren, kommt zu dem die europäische Ebene in den Blick. Diese begleitete den Deutschen Bund seit seiner Gründung. Sie beeinflusste die Entwicklung des Bundes, doch ebenso wirkte die Bundespolitik auf das europäische Umfeld zurück.
Den Bund über ein Mehrebenensystem darzustellen, hat den Vorteil, dass die verlorengegangene multidimensionale Komplexität deutscher Geschichte auf dem Weg vom Alten Europa zum Europa der Moderne wieder sichtbar wird. Dabei kommt zum einen die Frage nach der historischen Verankerung föderativer Ordnungsmodelle wieder in den Blick. Diese treten uns in den Diskussionen über den Charakter und die Form der Nachfolgeorganisation für das Alte Reich zwischen 1813 und 1815 entgegen. Sie spielten aber ebenso bei der Ausgestaltung einer Bundeskriegsverfassung eine Rolle wie in den die Geschichte des Bundes zwischen 1830 und 1866 begleitenden Bundesreformdiskussionen. In der europäischen Revolutionszeit 1848/49 mit ihrer gescheiterten deutschen Nationalstaatsgründung trat die Frage nach der Organisationsform deutscher Staatlichkeit zwischen unitarischen und föderativen Staatsmodellen zudem in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Zum anderen wird deutlich, welchen Beitrag der Deutsche Bund für die innere Nationsbildung der Deutschen in vielen Bereichen geleistet hat, sei es bei der Rechtsangleichung, beim Urheberrecht, bei Maßen und Gewichten, bei der Erarbeitung eines deutschen Handelsgesetzbuches oder bei den Verteidigungseinrichtungen des Bundes. Trotz aller organisatorischer Schwächen und der bei den Bundesgliedern häufig zu beobachtenden Politik, Entscheidungen der Bundesversammlung auf verschiedenste Weise zu verzögern, war Frankfurt der zentrale «Beobachtungsturm für Mitteleuropa» (Alexander Malet) und dessen Informationsbörse. Hier schlug der Puls der Nation. Daher wurden von den Mitgliedstaaten meistens die besten Köpfe als Bundestagsgesandte und Bevollmächtigte Minister nach Frankfurt entsandt. Häufig trugen sie vorher oder auch nachher als Minister und Ministerpräsidenten in ihren Ländern Verantwortung. Bundestagsgesandter in Frankfurt war im Deutschen Bund der wichtigste und interessanteste zu vergebende diplomatische Posten. Das Agieren auf der nationalen Frankfurter Bühne, der Informationsaustausch untereinander, der über den amtlichen Rahmen hinausgehende persönliche Kontakt waren, anders als Bismarck es in seinen Briefen schilderte, wichtige Elemente der Zusammenarbeit beim Bund.
Zwar gelang es nicht, die «föderative Nation» in den Deutschen Bund zu integrieren. Doch war dies keineswegs zwangsläufig. Deutscher Bund und deutsche Nation hätten durchaus zueinanderfinden können. Es gab zahlreiche Versuche, durch eine Reform des Bundes und seiner Organe oder durch politische, rechtliche und wirtschaftliche Reformen die Nation stärker in den Deutschen Bund einzubinden und sie am politischen Entscheidungsprozess teilhaben zu lassen. Hierzu boten sich nicht allein die deutschen Verfassungsstaaten an, deren Zahl im Verlauf der Geschichte des Deutschen Bundes zwischen 1815 und 1866 zunahm und deren Bürger über die Landtage eingebunden wurden. Es gab zahlreiche Initiativen von Einzelpersönlichkeiten und verschiedenen Staaten, nach der Auflösung der deutschen Nationalversammlung 1849 im Deutschen Bund eine Nationalrepräsentation als Institution und Organ der deutschen Nation zu schaffen. Sie scheiterten jedoch an widerstreitenden Interessen, persönlichen Animositäten und einem überzogenen einzelstaatlichen Souveränitäts- und Machtverständnis. Gerade auf der einzelstaatlichen Ebene zeigte sich, dass eine von allen Mitgliedern im Prinzip als notwendig anerkannte Reform des Deutschen Bundes nicht zuletzt am Antagonismus zwischen den beiden deutschen Großmächten scheiterte. Die bundespolitische Blockadepolitik Preußens und die bundespolitische Konzeptlosigkeit der Habsburgermonarchie waren jedoch nicht allein dafür verantwortlich. Auch die Unfähigkeit oder Unwilligkeit der großen deutschen Mittelstaaten, sich auf ein gemeinsames Reformkonzept zu verständigen und auch politisch hinter diesem zu stehen, trug dazu bei. Die politisch-militärische Lösung der deutschen Frage von 1866, die den Weg zum preußisch-kleindeutschen Kaiserreich öffnete, war keine zwangsläufige Entwicklung. Es gab andere Optionen und diese waren keine «historischen Sackgassen» (Dieter Langewiesche). In ihnen wurden vielmehr historische Kontinuitätslinien sichtbar. Der 1815 geschaffene Deutsche Bund bildete den Rahmen, in dem sich das «Erbe der Reichsnation» fortentwickeln konnte. Ohne den gemeinsamen politischen Willen aller war eine Integration von Bund und «föderativer Nation» allerdings nicht zu verwirklichen.
Anliegen dieser kurzen Geschichte des Deutschen Bundes zwischen 1815 und 1866 ist es, zu seiner besseren und ausgewogeneren historischen Einordnung in die deutsche und europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts beizutragen. Sie möchte skizzieren, wofür der Deutsche Bund historisch stand, und den Blick für die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der sich aus verschiedenen regionalen Traditionen zusammensetzenden Geschichtslandschaft Deutscher Bund schärfen. Der Deutsche Bund ermöglichte Europa eine Phase des Friedens auf dessen Weg in die Moderne. Zugleich eröffnete er durch seine Binnenstruktur Optionen für den Übergang von einer «Untertanengesellschaft» zur «Staatsbürgergesellschaft» (Eberhard Weis), zum konstitutionellen Staat und zur Parlamentarisierung, auch wenn diese dann nur unzureichend genutzt wurden. Seine Rolle, Bedeutung und Leistung als föderative staatliche Organisationsform im 19. Jahrhundert sollten in der deutschen und europäischen Geschichte gebührend anerkannt werden, ohne jedoch seine Schwächen und ihre Ursachen zu übersehen. Diese ergaben sich teilweise aus der Gründungssituation am Ende der langen und verlustreichen Kriege gegen die Französische Revolution und Napoleon, aus dem gesteigerten Sicherheitsbedürfnis und dem nachhaltigen Wunsch nach Frieden, Sicherheit und Wohlstand, aber auch aus dem Interessenegoismus und der repressiven Politik vieler seiner Mitgliedstaaten. Die preußischkleindeutsche Reichsgründung von 1870/71, dies verdeutlicht eine aus europäischem Blickwinkel geschriebene Geschichte des Deutschen Bundes, war nicht die einzige Option für die Lösung der deutschen nationalen Frage im 19. Jahrhundert.
Mit der Niederlegung der Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation durch den habsburgischen Kaiser Franz II. hörte das Alte Reich im August 1806 offiziell auf zu existieren. Seit der Niederlage des Kaisers gegen Napoleon im sogenannten Zweiten Koalitionskrieg, die 1801 im Frieden von Lunéville festgeschrieben wurde, hatte sich dies abgezeichnet. Der Reichsdeputationshauptschluss, durch den 1803 zahlreiche Reichsstände mediatisiert und säkularisiert wurden, bedeutete de facto bereits das Ende des Alten Reiches. Dessen territorial vergrößerte mittlere Territorien erfuhren zudem durch den Frieden von Pressburg 1805 eine Rangerhöhung. Mit dem Ende des Alten Reiches wurden sie erstmals auch de jure souverän und traten dem von Napoleon gegründeten Rheinbund bei.
Die Rheinbund-Staaten betrieben eine Reformpolitik, die Deutschland innerhalb weniger Jahre ein neues Gesicht geben sollte und deren Ergebnisse teilweise bis heute spürbar sind. Die Modernisierung aus eigenem Antrieb war für sie allerdings auch ein Mittel der Selbstbehauptung und der Absicherung ihrer Souveränität. Sie sollte vermeiden, dass aus dem 1806 gegründeten Rheinbund ein Bund gleichgeschalteter napoleonischer Modellstaaten wurde. Die Reformen bedeuteten einen entscheidenden Schritt auf dem Weg Deutschlands zum modernen Staat. Sie schufen darüber hinaus noch in den Kriegsjahren Strukturen, die nach der endgültigen Niederlage Napoleons 1814/15 eine Rückkehr zum Alten Reich unmöglich machten und eine politische und territoriale Neuordnung des mitteleuropäischen Raumes zwingend erforderten. Ihr neues staatliches Selbstverständnis ließ die Rheinbund-Staaten – ähnlich wie die beiden deutschen Großmächte Österreich und Preußen – das Interesse an einer Wiederherstellung der Einheit des Reiches verlieren. Es war ein leistungsfähiges «Drittes Deutschland» entstanden mit selbstbewussten Mittelstaaten, das ein den beiden deutschen Großmächten entsprechendes Eigengewicht besaß und fortan berücksichtigt werden musste. Bei der politisch-sozialen, territorialen und ökonomischen Neuorganisation Mitteleuropas spielten neben deutschen allerdings auch europäische Interessen eine gewichtige Rolle. Nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Ordnung musste eine neue Organisationsform für einen Raum gefunden werden, der traditionell im Spannungsfeld divergierender macht-, sicherheitspolitischer und wirtschaftlicher Interessen stand und im Schnittpunkt vitaler europäischer Kommunikationslinien lag. Seine künftige Verfassungsordnung, in die Österreich und Preußen eingebunden werden sollten, wurde zur Kernfrage für ein friedliches und prosperierendes Zusammenleben und die Entwicklung der europäischen Staatengesellschaft nach den Kriegen.
Die Erfahrungen Europas mit der Hegemonie Napoleons hatten bei seinen Kriegsgegnern die Überzeugung wachsen lassen, dass als Fundament einer neuen internationalen Ordnung nur ein reformiertes Gleichgewicht sinnvoll und praktikabel sein würde, das Europa als ein «völkerrechtliches Gemeinwesen» verstand. Träger der Nachkriegsordnung sollten Staaten mit unterschiedlichem politischem und militärischem Gewicht sowie unterschiedlicher Wirtschafts- und Finanzkraft sein. Friedrich von Gentz hatte 1806 in seinen «Fragmenten über die neueste Geschichte des politischen Gleichgewichtes in Europa» als wesentliche Basis für eine stabile europäische Ordnung eine «Staatenkonstellation» angesehen, «vermöge deren keiner unter ihnen die Unabhängigkeit oder die wesentlichen Rechte einer andern ohne wirksamen Widerstand von irgendeiner Seite und folglich ohne Gefahr für sich selbst beschädigen kann». Grundlage einer dauerhaften Friedensordnung sei ein «natürliches Gleichgewicht». Dieses verhindere ein machtpolitisches Vakuum. In den Konzepten für eine Nachkriegsordnung spielte daher frühzeitig die mögliche Einbindung kleiner und mittlerer Staaten in eine europäische Struktur eine Rolle, da sie alleine als europäische Mächte nicht lebensfähig seien und Opfer neuer Aggressionen werden würden. Regionale Föderationen galten als Mittel, um ihnen Existenz, Freiheit, Rechtssicherheit und Entwicklungschancen zu eröffnen und diese in einer europäischen Gesamtordnung völkerrechtlich zu garantieren.
In der Endphase der Kriege avancierte die Konzeption des Gleichgewichts zum politischen Leitgedanken. Sie fand schließlich im März 1814 Eingang in die Viererallianz von Chaumont zwischen Großbritannien, Russland, Österreich und Preußen, den Hauptgegnern Napoleons. Im Vertrag von Chaumont übernahmen die Signatare erstmals bindende Verpflichtungen über das Kriegsende hinaus. Sie garantierten zudem, alle ihnen zur Verfügung stehenden Machtmittel für die Friedenssicherung einzusetzen. Die Viererallianz, die es den Signataren untersagte, Separatfriedensverträge mit Napoleon abzuschließen, wurde die Basis für die Stabilisierung und schließlich auch für den militärischen Erfolg der antinapoleonischen Allianz. Frühere Koalitionen hatte Napoleon immer wieder erfolgreich zu spalten verstanden. Die vier Großmächte sahen sich als «Interessenvertreter» Europas für die Herstellung eines dauerhaften Friedens an. Krisen und Konflikte sollten durch gemeinsame Beratungen, Aktionen und einen Interessenausgleich gelöst werden. Eine derartige kollektive Verpflichtung war neu. Sie wurde zu einem wichtigen Korsett der Wiener Ordnung von 1815. Die Viererallianz hatte zwar eine antifranzösische Spitze, um möglichen zukünftigen französischen Aggressionen gegen die Nachbarn gemeinsam zu begegnen, doch zugleich wollte sie auf der Grundlage einer stark sicherheitspolitisch ausgerichteten Friedensordnung einen Frieden des Ausgleichs und der Verständigung anstreben und Frankreich als europäische Großmacht erhalten. Nur ein Frieden der Harmonie, kein Siegfrieden, der Frankreich durch Territorialverluste und finanzielle Lasten nachhaltig schwächen würde, konnte Konfliktpotential in der Nachkriegsordnung vermeiden und Frankreich als Großmacht rasch in diese Ordnung eingliedern. Angestrebt wurde daher ein multipolares Gleichgewicht. In diesem würde Frankreich neben den anderen Großmächten seinen Platz haben, aber auch die europäischen Mittel- und Kleinstaaten in einer neuen Völkerrechtsordnung eine Existenz- und Sicherheitsgarantie erhalten.
Mit dem siegreichen Einzug der Alliierten in Paris, der Abdankung Napoleons am 11. April 1814 und der Wiedereinsetzung der Bourbonen begannen zügig die Friedensverhandlungen. Neben den Vertretern der Großmächte nahmen zahlreiche Bevollmächtigte mittlerer und kleinerer europäischer Staaten teil. Am 30. Mai 1814 schloss Europa seinen Frieden mit Frankreich. Der Erste Pariser Frieden anerkannte die französischen Grenzen von 1792 und regelte zahlreiche offene europäische Territorialfragen. Artikel 6 des Friedensvertrags bestimmte die künftige Organisationsform des deutschen Mitteleuropa. Er besagte, dass die deutschen Staaten unabhängig sein und durch ein föderatives Band verbunden werden sollten. Er griff damit Positionen auf, über die sich die Viererallianz bereits im März 1814 verständigt hatte. Wie würde eine föderative Nachfolgeorganisation für das Alte Reich aussehen? Der Wiener Kongress, der nach Artikel 32 des Friedensvertrages zusammentreten sollte, um eine dauerhafte europäische Friedensordnung zu erarbeiten, und vom 18. September 1814 bis zum 9. Juni 1815 tagte, musste auch auf diese Frage eine Antwort finden.
Seit dem Ende des Alten Reiches wurden immer wieder Konzepte für eine Nachfolgeorganisation des Heiligen Römischen Reiches vorgestellt und diskutiert. Es waren dies vor allem drei Modelle:
– Wiederherstellung des Alten Reiches mit einer reformierten und funktionsfähigen Reichsverfassung unter dem Erzhaus Österreich.
– Ein Kondominium Österreichs und Preußens über Deutschland mit dem Main als Grenze der jeweiligen Interessensphären. Die Nachfolgeorganisation des Reiches könnte somit von den deutschen Großmächten als machtpolitische Basis für ihre jeweiligen Ziele genutzt werden. Föderative Elemente würden lediglich eine Alibifunktion erhalten.
– Eine bündische Lösung der Verfassungsfrage. In diesem Zusammenhang wurden verschiedene Modelle zwischen einer mehr staatenbündischen und einer eher bundesstaatlichen Organisationsform vorgeschlagen und diskutiert.
Das erste Konzept war aufgrund seiner österreichischen hegemonialen Tendenzen nicht mehrheitsfähig. In seiner St. Petersburger Denkschrift von 1812 und auch in späteren Memoranden hatte der Freiherr vom Stein als Wunschziel einer Neuorganisation einen einzigen, kräftigen nationalen Staat der Deutschen gefordert. Zwischen 1812 und 1815 strebte Stein, unterstützt durch Wilhelm von Humboldt und zahlreiche nationale Publizisten, eine nationalstaatliche Regelung der Verfassungsfrage an. Aus den Kriegen gegen Napoleon sollte Deutschland als starker und großer Einheitsstaat mit einer zentralistischen Exekutivgewalt und einer Nationalrepräsentation als Legislative hervorgehen, «um seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit und Nationalität wieder zu erlangen und zu behaupten in seiner Lage zwischen Frankreich und Rußland». Diese Lösung liege im Interesse Europas und der deutschen Nation. Ein stabiles europäisches Zentrum könne «auf dem Wege alter, zerfallener und verfaulter Formen nicht erhalten werden». Ein starkes, zentralstaatlich organisiertes Reich mit monarchischer Spitze lag jedoch nicht im Interesse der europäischen Mächte und der Mehrzahl der deutschen Staaten. Die Ablehnung war nicht gegen die deutsche Nation gerichtet. Vielmehr wurde in einer neuen Hegemonialordnung im Zentrum des Kontinents generell ein Sicherheitsrisiko für ein stabiles, funktionsfähiges europäisches Staatensystem gesehen. Ein nationaler deutscher Zentralstaat schied daher als Lösung aus.
Im Vorfeld des Wiener Kongresses und auf dem Kongress selbst kam die Idee eines österreichisch-preußischen Kondominiums wieder in den Blick. Metternich und der preußische Staatskanzler Fürst von Hardenberg hatten entsprechende Vorschläge vor Beginn des Kongresses untereinander abgestimmt, sehr zum Missfallen der Berater Metternichs in der Wiener Staatskanzlei. Beide strebten aus unterschiedlichen Gründen keine Rückkehr zu einem reformierten Reich an. Sie waren sich einig, dass beide Großmächte eine Führungsrolle in Deutschland übernehmen sollten. Die Frage einer Föderativordnung