Ein jüdisches Leben in Deutschland
1867–1922
Aus dem Englischen von Ulla Höber
C.H.Beck
«In dieser bemerkenswerten Biographie bietet Shulamit Volkov eine feinsinnige Analyse der komplexen und oft zweideutigen Persönlichkeit Walther Rathenaus. Eindrucksvoll beschreibt sie, wie Rathenaus Judentum zunehmend zum Ziel für die antisemitischen Eliten des deutschen Reichs und Gegenstand des fanatischen Hasses der extremen Rechten in der Weimarer Zeit wurde, die schließlich vor seiner Ermordung nicht zurückschreckten. Das Buch von Shulamit Volkov ist Geschichtsschreibung auf allerhöchstem Niveau.» Saul Friedländer
Walther Rathenau (1867–1922), ein herausragender Politiker der Weimarer Zeit, mächtiger Wirtschaftsboss nicht nur im großen Konzern der AEG, Schriftsteller und begabter Maler, starb am 22. Juni 1922 im Kugelhagel rechtsgerichteter Terroristen, die durch die Ermordung des Außenministers die Weimarer Republik insgesamt destabilisieren wollten. Auf der Grundlage ausführlicher Forschungen entwirft dieses Buch ein eindringliches und vielschichtiges Porträt eines Mannes, der sein ganzes Leben mit seiner jüdischen Identität rang, aber eine Konvertierung ablehnte und sich selbst als modernen Deutschen und Juden begriff.
Shulamit Volkovs Biografie verfolgt diese schwierige Auseinandersetzung, die zahlreichen Enttäuschungen, das Ringen mit dem Vater Emil Rathenau bis hin zum politischen Aufstieg und gesellschaftlichen Erfolg. Das Lebensporträt eines vielseitig begabten Mannes, dem dieser Erfolg zum Verhängnis werden sollte.
Shulamit Volkov, geb. 1942, ist Prof. em. für Neuere Geschichte an der Universität Tel Aviv. Sie lehrte als Gastprofessorin am St. Antony’s College in Oxford und war Stipendiatin des Wissenschaftskollegs zu Berlin sowie des Historischen Kollegs München. Von ihr liegt bei C.H.Beck vor: Antisemitismus als kultureller Code (22000); Das jüdische Projekt der Moderne (2001).
Einleitung
Kapitel 1
Jugend- und Lehrjahre
Kapitel 2
Ein Mann mit vielen Talenten
Kapitel 3
Erste Schritte in die Politik
Kapitel 4
Industriekapitän, literarischer Star, einsamer Mensch
Kapitel 5
Unter der gläsernen Decke
Kapitel 6
Verhinderter Politiker, vehementer Prophet
Kapitel 7
Erfüllung und Katastrophe
Anhang
Anmerkungen
Register
Am 24. Juni 1922, einem Samstag, wurde Walther Rathenau, der Außenminister der noch jungen Weimarer Republik, nach einer arbeitsreichen Nacht mit vielen Terminen und Beratungen von seiner eleganten Villa in Grunewald in seinem schwarzen offenen Coupé über die Königsallee zu seinen Büros im Zentrum Berlins gefahren. Die Attentäter warteten in ihrem Auto in einer Seitenstraße. Sie überholten Rathenaus Wagen, schossen auf ihn und warfen dann, um sicherzugehen, eine Handgranate. Der Literaturkritiker Alfred Kerr, ein alter Freund und Nachbar von Rathenau, hat in seinen Lebenserinnerungen beschrieben, was dann geschah, eine an die Pietà erinnernde Szene: Eine Krankenschwester, die zufällig in der Nähe war, legte Rathenaus Kopf sanft auf ihren Schoß, während Deutschlands jüdischer Außenminister verblutete.[1]
Die Geschichte eines Lebens wird immer im Rückblick erzählt. Es ist immer eine bestimmte Gegenwart, aus deren Blickwinkel sich die Vergangenheit präsentiert. Unser letztendliches Scheitern oder unsere Erfolge beeinflussen unsere Einschätzung früherer Lebensabschnitte. Das trifft besonders dann zu, wenn das Ende so erschreckend und tragisch ist wie das von Rathenau. Als Erzähler würden wir gern eine Geschichte so darstellen, dass dieses Ende eine Erklärung findet, dass alles folgerichtig in diese Richtung führt. Eine Erzählung, in der alle Wege miteinander verbunden sind, alles auf diese Schlussszene hindeutet, wie in einem Drama. Walther Rathenaus Leben war alles andere als eine solch klare, eindimensionale Geschichte. In Wirklichkeit war nur sein Tod vielleicht vorhersehbar. Er schien ihn leichtsinnig in Kauf genommen zu haben. Freunde hatten ihn gewarnt, dass sein Leben in Gefahr war. Seit er das Amt des Wiederaufbauministers im Mai 1921 angetreten hatte, in einem instabilen Kabinett, wie es für die Weimarer Republik typisch war, wusste er wohl, dass die Gefahr ernst zu nehmen war. Dennoch verzichtete er auf Polizeischutz, benutzte weiterhin seinen ungeschützten offenen Wagen und blieb unbeirrt, obwohl die Gerüchte über eine Verschwörung immer lauter wurden. In der letzten Phase seines Lebens hatte Rathenau mit ruhiger Entschlossenheit und großem Selbstbewusstsein agiert. Aber abgesehen von diesem letzten Abschnitt war sein Leben immer wieder einem Zickzackkurs gefolgt, voll überraschender Wendungen, Richtungswechseln und schwankender Ansichten und Absichten. Es war das Leben eines Mannes, der mit sich und seinen inneren Konflikten rang, der oft nicht in der Lage war, sich zwischen Alternativen zu entscheiden, der nie ganz zufrieden war mit seinen Entscheidungen und sich immer alle Möglichkeiten offenhielt. Kerr schrieb über diesen eindrucksvollen, mächtigen Mann, er sei seiner Natur nach «ein zur Wehr nicht geborener Mensch, der eine Formel findet, seinen Frieden machen zu können».[2]
Rathenau ist oft als Repräsentant seiner Zeit dargestellt worden. Diese Ansicht ist schlüssig angesichts der Rolle, die er tatsächlich in den vielen unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft im Deutschen Reich und dann in den ersten Jahren der Weimarer Republik gespielt hat. Sein Leben kann in einem anderen Kontext auch so gesehen werden, dass es die Quintessenz der deutsch-jüdischen Geschichte enthält, nämlich den Versuch, die jüdische und die deutsche Identität miteinander in Einklang zu bringen, ohne sich je in der einen oder in der anderen zu Hause zu fühlen. Als Jude schwankte Rathenau zwischen Selbsthass und stark ausgeprägtem Stolz. Als Deutscher und engagierter Patriot durchschaute er meist den nationalistischen Größenwahn seiner Zeit. Und während er hoffte, ganz und gar Teil seines «Volkes» zu werden, war ihm doch gleichzeitig sein «Anderssein» immer wichtig. Rathenaus Geschichte war die eines Modernisierers, der die Modernisierung ebenso bewunderte wie verabscheute, ein Mann der Tat, der für seine philosophischen Reflexionen anerkannt werden wollte, ein Mann von nahezu unermesslichem Wohlstand, der behauptete, Geist und Seele über alles zu schätzen. Er knüpfte ständig Kontakte, erfreute sich eines sehr großen Freundeskreises und zahlloser Bekanntschaften aus verschiedenen Phasen seines Lebens und blieb doch immer ein einsamer Mann, der, oft verschlossen, die Einsamkeit seines Landhauses offenbar dem geschäftigen Stadtleben vorzog. Und schließlich ist dies die Geschichte eines Mannes, der voller Leidenschaft die politische Macht anstrebte, sich aber wiederholt von ihrer Ausübung zurückzog. Als er schließlich so weit war und bereit war, die Herausforderung anzunehmen, kostete es ihn das Leben. Die Geschichte dieses Lebens ist zweifellos der Stoff, aus dem Tragödien gemacht werden.
Walther Rathenau kam am 29. September 1867 in Berlin zur Welt.[1] Später sprach er oft davon, dass seine Vorfahren seit hundert Jahren in Berlin lebten. Aber das Berlin, in das seine Großeltern zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus dem Norden und Nordosten Brandenburgs zogen, war ein ganz anderes Berlin als jenes, das Rathenau in seiner Jugend kannte.[2] Während sich damals die Hauptstadt vollständig an den militärischen Bedürfnissen des Königreichs Preußen orientierte, einer Garnisonsstadt, die erst kürzlich mit einigen königlichen Bauten im prächtigen klassizistischen Stil ausgestattet worden war, so wandelte sich das Berlin von 1860 schnell, um seinem zukünftigen Status als Zentrum des Kaiserreiches gerecht zu werden. Die preußische Armee gewann in diesem Jahrzehnt drei Kriege in Folge. Bald nach dem ersten Sieg über Dänemark im Jahre 1864 begann die Stadt in bislang unbekanntem Ausmaß zu wachsen. Das Image einer jugendlichen, energiegeladenen Metropole, der politisch und auch ökonomisch eine große Blüte bevorstand, machte sie für neue Einwohner attraktiv. Nach dem Sieg über Österreich im Sommer 1866 sorgte Bismarcks Anwesenheit in der Stadt für Begeisterung bei vielen Zugezogenen. Obwohl der Reichskanzler selbst kein Stadtmensch war, betrachtete man ihn zu jener Zeit als die treibende Kraft dieser rasanten Entwicklung Berlins. Als schließlich am 18. Januar 1871 der preußische König zum Kaiser eines neuen Deutschen Reichs gekrönt wurde, nach einem weiteren spektakulären Sieg, dieses Mal über Frankreich, warteten die Bewohner der neuen kaiserlichen Hauptstadt begierig auf den pompösen Auftritt Wilhelm I., nun preußischer König und deutscher Kaiser, der ab und zu durch das Brandenburger Tor ritt. Der Bauboom, besonders nach Westen hin, der für elegante Wohnbezirke für die wohlhabenden Bürger sorgte, wurde jetzt durch noch schnelleres Wachstum angeheizt. Das neue Deutschland begann die Früchte der Industrialisierung zu genießen. Durch die beträchtlichen Reparationszahlungen, welche die besiegten Franzosen pflichtgemäß beglichen, konnte, zumindest eine Zeit lang, der neue Luxus aufrechterhalten werden. Und obwohl die Finanzblase wuchs und schon 1873 platzte, kehrte Berlin nie wieder zu seiner provinziellen Vergangenheit zurück.
Zur Zeit der nationalen Einigung hatte die Stadt schon 865.000 Einwohner, 1877 waren es bereits mehr als eine Million und 1905 zwei Millionen. Zwar waren Paris, London und New York viel größer, aber keine andere Stadt wuchs damals so dramatisch schnell. Der Aufbau des Kaiserreichs wurde von einem Wirtschaftswachstum begleitet, das zwar Krisen und Rückschläge erlebte, aber langfristige und eindrucksvolle Folgen hatte. Es war eine aufregende Zeit für alle Deutschen, und Berlin war das Zentrum. Die Dynamik war ansteckend, die Leistungen waren – außergewöhnlich. Zweifellos war es der richtige Ort und der richtige Zeitpunkt, um ins Rampenlicht zu treten.[3]
Das galt umso mehr für einen Juden. Bereits in den Achtzigerjahren des 18. Jahrhunderts hatte die Diskussion darüber begonnen, dass die diskriminierende Gesetzgebung abgeschafft werden musste, die das Leben der Juden in den verschiedenen Staaten des alten Heiligen Römischen Reichs reglementierte. Die ersten Texte, die mehr Bürgerrechte für die Juden forderten, wurden in Preußen veröffentlicht, in Berlin. Die frühesten Reformen wurden jedoch in den habsburgischen Gebieten umgesetzt, die unmittelbar zum Herrschaftsgebiet von Joseph II. gehörten. Im restlichen Kaiserreich gab es für die meisten Juden nur minimale Verbesserungen, trotz der lang andauernden Debatte über ihren Status und später sogar trotz der neuen Gesetzgebung, die Napoleon zwangsweise eingeführt hatte. Die regional unter der französischen Besatzung erzwungenen Reformen wurden kurz nach der Niederlage der Franzosen entweder ganz zurückgenommen oder nur teilweise umgesetzt. Die vollständige Emanzipation der Juden wurde erstmals während der Revolution von 1848/49 in die Verfassung aufgenommen und von der Nationalversammlung in Frankfurt verabschiedet, aber auch diese ist nie verwirklicht worden. Erst in den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts, in der Epoche des schnellen Wirtschaftswachstums und der wieder aufkeimenden Liberalisierung, schien der Widerstand gegen die Emanzipation schwächer zu werden, und nach und nach leiteten die deutschen Staaten die lang ersehnten gesetzlichen Schritte zur Emanzipation ein, und 1871 wurde sie im Gefolge der deutschen Einigung besiegelt. Für das deutsche Judentum hatte eine neue Ära begonnen.
Aber die gesetzliche Gleichstellung selbst führte nicht immer zu Veränderungen im täglichen Leben, obwohl sie von hohem symbolischen Wert war. Von Beginn an hatte die Emanzipation nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine gesellschaftliche und kulturelle Seite. In Frankreich wurde die Gleichstellung als eine Vorbedingung der Integration betrachtet. Sie wurde dem einzelnen Juden gewährt, aber man hat gleichzeitig die Korporationsrechte der Juden, die oft als Privilegien aufgefasst wurden, abgeschafft. In Deutschland machte man dagegen die Integration zur Vorbedingung der Gleichstellung.[4] Die konservativen Regime, die nach der Niederlage von Napoleon in den meisten deutschen Staaten wieder an die Macht gekommen waren, ließen die alten Institutionen der jüdischen Gemeinden unangetastet. Die Juden, die einen «Zugang» zur deutschen Gesellschaft anstrebten, konnten nur dann auf Gleichstellung hoffen, wenn sie «Wohlverhalten» zeigten oder sich durch besondere Leistungen hervortaten.
Jüdische «movers and doers»,[5] erfolgreiche Geschäftsleute und Bankiers, waren aktiv am Aufbau einer neuen Bourgeoisie beteiligt, die ihre Basis in der Wirtschaft hatte, und einigen ihrer Söhne gelang es allmählich, auch ins Bildungsbürgertum aufzusteigen. So wurde der Wandel von beiden Seiten initiiert: Die Deutschen ließen zu, dass einige der Barrieren, mit denen man Juden üblicherweise ausgrenzte, abgeschafft wurden, und gleichzeitig wuchs das Interesse der Juden, eine immer vollständigere Integration zu erreichen. Die begrenzte, aber doch wahrnehmbare Öffnung auf der einen Seite ermutigte aktive Anstrengungen auf der anderen, und obwohl es zunächst ein langsamer Prozess war, beschleunigte er sich bald und erfasste immer größere Teile der Bevölkerung.
Dieser Prozess wurde jedoch durch Widerstände auf beiden Seiten abgeschwächt. Die vorsichtigeren unter den etablierten Rabbinern misstrauten der Integration ganz prinzipiell und lehnten sie ab. Viele Deutsche hatten aus diversen gesellschaftlichen und ökonomischen Gründen Vorbehalte, doch noch zentraler war eine lange und tief sitzende antijüdische Tradition. Die Konservativen schienen sehr darauf bedacht zu sein, den christlichen Charakter von Staat und Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Die Liberalen, die zu diesem Zeitpunkt bereits zu den wichtigsten Vertretern einer neuen Variante des Nationalismus geworden waren, betrachteten die Juden als fremdes ethnisches Element, als Menschen, die ihrer Natur nach untauglich waren, gleichberechtigte Bürger eines zukünftigen deutschen Nationalstaates zu werden. Unter diesen Umständen schien weder eine echte formale Gleichstellung noch eine wirkliche Integration möglich. Trotzdem konnten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die deutschen Juden beträchtliche Erfolge vorweisen, sowohl in der sozialen und ökonomischen Mobilität als auch in der Akkulturation.
Zwischen 1800 und 1870 gelang ihnen tatsächlich der gesellschaftliche Durchbruch. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts waren sie meist arm, und sie lebten weitgehend isoliert von ihren nichtjüdischen Nachbarn. Dagegen waren sie im späten 19. Jahrhundert ein fester Bestandteil der unteren und mittleren Mittelschicht geworden. Nur wenige wurden sehr reich, aber es gab auch nur relativ wenige Arme. In nur zwei oder drei Generationen waren die Juden vom Rand der deutschen Gesellschaft in ihr Zentrum gelangt. Sie waren urbaner als andere, und überdurchschnittlich viele zogen in die Metropolen. Die Berufsmöglichkeiten öffneten sich vor allem durch den Zugang zu den freien Berufen. Zwar konnten sie nicht Offiziere der preußischen Armee werden, meist nicht einmal in den Reserveeinheiten, und sie hatten nur sehr geringe Aufstiegschancen im Staatsdienst, vor allem in der übermächtigen preußischen Verwaltung. Aber immer öfter und immer deutlicher kam ihre Stimme zur Geltung. Sie waren eine ganz besondere Art von Minderheit. Sie waren weder ärmer noch weniger gebildet als die anderen Deutschen, sie waren in vieler Hinsicht keine «Randgruppe». Normalerweise betrachteten sie sich selbst keineswegs als eine Minderheit. Man sagte sich, Deutschland sei ein ethnisch heterogenes Land und die Juden seien ein «Stamm» unter vielen anderen, der, wie die anderen auch, in der im Entstehen begriffenen großen deutschen Nation aufgehen würde.
Die nichtjüdischen Deutschen sahen das meist anders. Während die Juden normalerweise die gesellschaftliche und kulturelle Integration anstrebten, ohne ihre jüdische Identität aufzugeben, erwarteten viele Deutsche gerade diesen letzten Schritt. Selbst die liberaleren Befürworter der Emanzipation hofften, dass die Juden mit ihrer Integration ihre Einzigartigkeit abstreiften. Oft bestanden sie darauf, dass sie konvertierten. Manche Juden waren dazu bereit, wollten es sogar. Heinrich Heine, der Berühmteste von ihnen, betrachtete seine Taufe als das «Entreebillet zur europäischen Kultur». Aber von einigen Großstädten abgesehen, in denen zu bestimmten Zeiten, wie im Berlin des frühen 19. Jahrhunderts, die Konvertierungsrate relativ hoch war, gab es nicht viele Juden, die ihre Religion aufgaben. Endogamie, die Heirat nur in der eigenen Gruppe, war weiterhin die Regel, und die Bindungen in der jüdischen Familie und in der jüdischen Gemeinde blieben fast immer so fest wie eh und je.
Die Juden konnten zu Recht auf ihre Erfolge bei der gesellschaftlichen Integration und Akkulturation stolz sein, aber die Deutschen blieben in manchen Fällen skeptisch, in anderen feindselig. Oft waren sie sowohl skeptisch als auch feindselig, selbst wenn sie den gesellschaftlichen Aufstieg der Juden befürworteten, ja vielleicht ganz besonders dann. Es war eine auf vielen Ebenen komplizierte Situation. Die Juden kamen gesellschaftlich voran, aber bestimmte Spannungen zwischen ihnen und den anderen Deutschen blieben, und sie wurden auf beiden Seiten wahrgenommen. Sowohl die Deutschen als auch die deutschen Juden waren sich dieser Spannungen bewusst, aber sie hatten gelernt, damit zu leben. Einigen Juden gelang es besser, darüber hinwegzusehen, doch auch für sie blieb es ein Problem. Einige erwarteten mehr Offenheit, dann wurden sie enttäuscht, und sie fühlten sich verletzt, andere waren auf Feindseligkeiten gefasst und dann angenehm überrascht, wenn man ihnen gelegentlich freundlich begegnete. Manche, die unter dem ständigen Druck litten, probierten neue Ideologien aus, zum Beispiel den Zionismus, andere dagegen wollten sich so weit wie nur irgend möglich assimilieren. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten jedenfalls die meisten Juden ein gewisses Maß an Zufriedenheit erreicht. Schließlich bewerteten sie den neu erworbenen Status, indem sie ihn mit demjenigen früherer Generationen verglichen, nicht mit dem utopischen Status einer vollkommenen Gleichstellung. Außerdem konnten sie ihre Lage auch mit derjenigen der Juden vergleichen, die in anderen Teilen Europas lebten, zum Beispiel im zaristischen Russland oder im republikanischen Frankreich, wo man am Ende des Jahrhunderts mit den Folgen der Dreyfus-Affäre zu kämpfen hatte. In Deutschland hatte man ein stabiles Regime und eine Gesellschaft, in der man sich an die Gesetze hielt. Hier konnte man Vertrauen in die eigene Zukunft und in die seiner Kinder haben. Im Großen und Ganzen fühlten sie sich sicher, ja sie waren sogar zufrieden, trotz des immer präsenten unterschwelligen Antisemitismus.
Walther Rathenaus Vater, Emil Rathenau, wurde am 11. Dezember 1838 geboren und gehörte schon zu der Generation der Juden, für die die Emanzipation mehr oder weniger selbstverständlich war, obwohl die gesetzliche Verankerung in seiner Jugendzeit keineswegs abgeschlossen war.[6] Als seine Eltern nach Berlin zogen, faszinierte sie der Glanz des gesellschaftlichen Lebens, und sie gewöhnten sich an den Müßiggang der wohlhabenden Rentiers. Emil Rathenau schrieb später einmal in einer autobiographischen Skizze, sein Vater sei «streng und gewissenhaft» gewesen, verheiratet mit einer «klugen und geistreichen», eleganten und ehrgeizigen Frau.[7] Das waren Eigenschaften, die sich leicht aus ihrer Herkunft erklären lassen. Therese Rathenau war die Tochter einer alten Kaufmannsfamilie, der Liebermanns. Ihr Vater wurde Fabrikant, hatte zunächst eine Kattunfabrik, dann produzierte er Maschinen, erst im Raum Berlin, dann in Schlesien. Es überrascht kaum, dass sich die Familienkonstellationen in den beiden Generationen ähnelten: Ein Muster in Walther Rathenaus Leben, nämlich die Distanz gegenüber dem Vater und die Nähe zur Mutter, zeigte sich bereits in Emil Rathenaus Verhältnis zu dessen Eltern. Emil Rathenau besuchte seine Mutter bis zu ihrem Tod im Jahre 1894 fast täglich, obwohl er unter ständigem Termindruck stand, und so machte es auch sein Sohn später bei seiner eigenen Mutter.
Nach dem Abitur am humanistischen Gymnasium wurde Emil Rathenau als Lehrling in das Eisenwerk seiner Verwandten nach Schlesien geschickt. Er verlebte dort viereinhalb unglückliche Jahre, und obwohl er wertvolle Erfahrungen in der Praxis machte, fühlte er sich in seinem Beruf und seinem sozialen Umfeld ganz und gar fehl am Platze. Davon befreite ihn schließlich ein kleines Vermögen, das ihm sein Großvater vererbt hatte. So konnte er studieren, erst in Hannover, dann in Zürich, und sein Diplom im Fach Maschinenbau machen. Dann begann er, unabhängig von der Familie, eine Karriere als technischer Berater bei den aufstrebenden Borsig Werken in Berlin, die vor allem Dampfmaschinen für die Eisenbahn herstellten. Trotz dieser offensichtlich vielversprechenden Position war Emil immer noch unzufrieden. Bald gab es einen neuerlichen Wechsel. Er reiste nach England, nahm Stellen in mehreren Fabriken an und beobachtete die politische und ökonomische Situation des Landes. Er war jedoch über sich und seine Leistungen nie ganz glücklich. Schließlich kehrte er nach Berlin zurück und gab seinem Leben mit zwei Entscheidungen eine gute Wendung: Er heiratete Mathilde Nachmann, die Tochter eines reichen jüdischen Bankiers aus Frankfurt am Main, eine kluge, charmante, ehrgeizige und weltgewandte junge Frau, wie es seine Mutter war. Dann übernahm er mit einem Schulfreund als Partner eine kleine Fabrik für Maschinenbau in einem Industriebezirk in Berlin und machte sich als Unternehmer selbständig, und zwar in dem technischen Spezialgebiet seiner Wahl. Doch schon bald gab es wieder Anzeichen, dass er nicht ganz zufrieden war. Die Konstruktion von Dampfmaschinen für Heizsysteme und für die städtische Gas- und Wasserversorgung war Routinearbeit. Emil Rathenau initiierte ein neues Projekt, in dem das königliche Theater von Berlin mit allen notwendigen technischen Finessen ausgestattet wurde, eine ebenso interessante wie unprofitable Arbeit. Als sein Partner im Zuge des wirtschaftlichen Booms der frühen Siebzigerjahre die Fabrik in eine Aktiengesellschaft umwandeln wollte, verkaufte Emil Rathenau seinen Anteil. Er behielt seine Funktion als Direktor der Firma, plante aber offensichtlich auszusteigen. Mit dem Börsenkrach von 1873 machte tatsächlich sein erstes wirtschaftliches Unternehmen Bankrott, aber durch seine Umsicht in den Jahren davor waren seine Verluste verhältnismäßig gering.
Walther Rathenau war damals acht Jahre alt. Obwohl die Familie ihren Lebensstandard aufrechterhalten konnte, gab es dramatische Veränderungen. Der Vater, der bisher immer beschäftigt und selten zu Hause war, hatte plötzlich keine Arbeit mehr und wurde, wie sein eigener Vater, zu einem noch recht jungen Rentier, allerdings unfreiwillig. Der luxuriöse Müßiggang des Großvaters von Walther Rathenau hatte eine Generation zuvor spürbare Einschnitte erfahren, als ein großer Teil des Familienvermögens 1842 bei einem Brand vernichtet wurde. 1870 beging sein Schwiegervater Isaac Nachmann Selbstmord, als er den Bankrott seiner Bank befürchtete. Einige Jahre lang schienen sich bei Emil Rathenau auch Phasen von Depressionen und Hyperaktivität abzuwechseln. Er suchte nach einer neuen Beschäftigung, aber keine schien zu seinen Fähigkeiten zu passen, seinen Ehrgeiz zu befriedigen oder seiner Ruhelosigkeit ein Ende zu setzen. Für kurze Zeit arbeitete er im Immobiliengeschäft seines Bruders mit, hörte jedoch bald wieder auf, weil Geschmack und Interessen nicht zusammenpassten. Dann machte er einige Reisen ins Ausland und besuchte verschiedene Weltausstellungen, immer auf der Suche nach technischen Innovationen. Unter der Unsicherheit, die ihn nie losließ, litt die ganze Familie. Mit sicherem Gespür erkannte Emil Rathenau das technische Potenzial des Telefons. Aber es zeigte sich auch, dass er wenig Selbstvertrauen hatte, denn er wollte nur eine Konzession der Behörden, um ein Fernsprechnetz in Berlin aufzubauen, keine eigene Produktionsstätte errichten, was riskanter gewesen wäre. Vielleicht hatte er aber auch das Gefühl, dass er noch nicht gefunden hatte, was er suchte. Auf der Internationalen Elektrizitäts-Ausstellung von 1881 in Paris entdeckte er Thomas Alva Edisons neue Glühbirne, die wenig Beachtung fand, bei ihm jedoch lebhaftes Interesse weckte und seine Phantasie beflügelte. Er kaufte die europäischen Patentrechte, und so begann eine neue Epoche seines Lebens, auch für die Familie. Es war der Anfang einer Karriere, die ihn zu einem der erfolgreichsten Unternehmer Deutschlands machte. Er wurde der berühmte Generaldirektor der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft (AEG), ein Erfinder von globaler Bedeutung, ein Hersteller von neuen Systemen, ein außerordentlich reicher und mächtiger Mann. Der Journalist Maximilian Harden, von dem später die Rede sein wird, nannte diesen hart arbeitenden und besonnenen Mann den «Bismarck eines Industriereiches».[8]
Walther Rathenau war eigentlich kein Kind mehr, als dieser kometenhafte Aufstieg begann. Der Vater, den er in seiner Kindheit kennengelernt hatte, war der unglückliche Emil Rathenau, der oft auf Reisen und selten zu Hause war, der immer auf der Suche nach einer vielversprechenden Aufgabe war, reizbar, unnahbar und sicherlich nicht sehr liebevoll. Walthers jüngerer Bruder Erich wurde im August 1871 geboren, etwa zwei Monate nachdem Moritz Rathenau, der Großvater, gestorben war. «Gold», das war sein Kosename in der Familie, war ein bezaubernder kleiner Junge. Er war das Lieblingskind seines Vaters und von Beginn an der Lichtblick in seinem Leben. Erich war häufig krank, und so galt auch die Fürsorge seiner Mutter vor allem ihm. Unentwegt war sie darum bemüht, etwas für seine Gesundheit zu tun, und oft reiste sie mit ihm zu den diversen Kurorten im In- und Ausland. Mathilde Rathenau gefiel dieser Lebensstil wahrscheinlich aus mehreren Gründen. Ihre Ehe konnte man nicht glücklich nennen. Am Anfang war sie ihrem Mann eine echte Gefährtin gewesen, dann aber schien sie bald das Interesse an seinen hektischen geschäftlichen Aktionen verloren zu haben, und er zog sich seinerseits von ihr zurück, als die Lage kritisch wurde. Damit jedoch missachtete er ihre Bedürfnisse: Sie suchte Wärme, und sie hatte gesellschaftliche und kulturelle Ambitionen. Mit Walthers Geburt entspannte sich die Situation vorübergehend, und Mathilde war bezaubert von dem hübschen, intelligenten Jungen, der ihr Lieblingskind blieb und dem sie sich ein Leben lang hingebungsvoll zuwandte. Dennoch fand sie es mit der Geburt des zweiten Kindes zu anstrengend, für beide zu sorgen, zumal der eine oft krank war, und so schickte sie Walther zu ihrer eigenen Mutter, zunächst nur ab und zu auf Besuch, dann, damit er dort zur Schule ging. Außerdem waren die Eltern manchmal gemeinsam privat oder geschäftlich auf Reisen, sodass der kleine Walther häufig eine Trennung erlebte, die sicherlich hart für ihn war. Für den Historiker erwies sich das allerdings als segensreich: In Rathenaus Nachlass befinden sich neben einem Brief des knapp Vierjährigen an seinen Vater vom Juni 1871 ein paar kindliche, oft frühreife Briefe an beide Eltern, die einen Einblick in eine sehr frühe Phase seines Lebens ermöglichen.[9]
Von Beginn an waren die Briefe Rathenaus an seine Mutter ganz anders als die an seinen Vater. Ihr gegenüber ist er offen, humorvoll und mitteilsam. Seinem Vater gelobte er immer wieder Besserung, er werde ihm «Freud’ zu bereiten suchen, wo es auch sei …»[10] Seine Mutter war anscheinend leichter zufriedenzustellen, und bald schrieb er wie ein Erwachsener, der sich verantwortlich fühlte, sich Sorgen machte und Ratschläge gab. Wenn sie fort war, berichtete er detailliert über das Leben zu Hause, was sein Vater und er jeden Tag gegessen hatten, von Einladungen bei Verwandten und vor allem von Emils Alltag, seinem Gemütszustand, seinen Ängsten und Sorgen. Der Sohn konspirierte mit der Mutter, um den schwer beschäftigten Vater zu schützen, und war rührend bemüht, die Beziehung seiner Eltern zu retten. «Please write to papa», mahnte er seine Mutter, und dann beschrieb er, wie unglücklich und besorgt der Vater wegen Erichs angegriffener Gesundheit sei.[11] Nach der Geburt der Schwester Edith im Jahre 1883 berichtete er mit vielen liebevollen, lustigen Einzelheiten von «dem Kind», das in die Obhut eines Kindermädchens übergeben worden war, das wiederum von einer dominanten Großmutter überwacht wurde. Die Mutter war zu diesem Zeitpunkt immer unterwegs, zuerst bei ihrer Mutter in Homburg, dann in vielen deutschen und italienischen Kurorten. Walther war damals 16 und wurde fordernder, bestimmter in seinen Wertungen und manchmal sogar kritischer. Er beklagte sich, wenn seine Mutter nicht oft genug schrieb. Er machte sich Sorgen um sie, sagte ihr wiederholt, sie möge auf sich achtgeben. Er schrieb oft und schmückte seine Briefe mit geschickten kleinen Tuschezeichnungen oder etwas weniger geschickten Versen und Gedichten aus. In den Briefen an seine Mutter findet man, neben Humor und Ironie, liebevolle Fürsorge, lockere Vertrautheit und auch eine Spur von Missbilligung. Seinem Bruder gegenüber nahm er die Rolle des Beschützers ein, und er konnte auch regelrecht belehrend werden. Der Ton seinem Vater gegenüber war sachlich, höflich, fast unterwürfig.
Diese frühen Briefe sind zweifellos gut geschrieben, aber individuelle Neigungen machen sich hier noch nicht bemerkbar. Walther berichtet zum Beispiel manchmal von Theaterabenden, aber eher lakonisch, ohne große Begeisterung. Obwohl er als eifriger Leser galt, kommentierte er seine Lektüre nur sehr sporadisch. Es finden sich keine ernsthaften Gedanken über sein eigenes Leben oder das Leben im Allgemeinen, keine konkreten Zukunftspläne, keine Darstellung von inneren Konflikten. Seine Schulfreunde oder den Unterricht erwähnt er nur sehr selten, es sei denn, es geht um irgendeine allgemeine Einschätzung seiner Leistungen oder um seine Schulnoten. Und vielleicht ist es noch wichtiger, dass er in diesen Briefen nie ganz offen ist: Es geht ihm sehr darum, sich in ein positives Licht zu stellen, er will unbedingt einen guten Eindruck machen, und immer wieder verspricht er, besser zu werden, um Ermahnungen zu vermeiden. Der Schüler des Wilhelm-Gymnasiums im wohlhabenden Bezirk Tiergarten schloss die Schulzeit ohne große Auszeichnungen ab. In Deutsch und im deutschen Aufsatz hatte er ein «Gut», und seine anderen Noten waren noch bescheidener. Ganz offensichtlich hatte er zum Zeitpunkt seines Schulabschlusses keine klaren Vorstellungen von seinem zukünftigen Beruf. Seine ersten Entscheidungen waren wohl sehr von den jüngsten Erfolgen seines Vaters beeinflusst.
1883 beendete Emil Rathenau mit wiedergewonnener Tatkraft und neuem Optimismus die acht Jahre des Suchens und der Unentschlossenheit. Die Zeit war reif, und er war entschlossen, seine Chance zu nutzen. Um die Mitte der Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts befand sich ganz Deutschland in einer «zweiten industriellen Revolution». Sie begann während des zweiten und dritten Jahrzehnts nach der Jahrhundertmitte. Zu dieser Zeit bildete der Aufbau des neuen Eisenbahnnetzes einen immensen Antrieb für die ökonomische Entwicklung des Landes, und kurz danach begann man, Rohstoffe abzubauen, und zwar alte und neue Vorkommen, vor allem von Kohle und Eisen, sowohl in den westlichen Provinzen des Königreichs Preußen an der Ruhr als auch in Oberschlesien. Alfred Krupp, der Eisen- und Stahlfabrikant, August Borsig, der Gründer von Deutschlands äußerst erfolgreicher Fabrik für Dampflokomotiven, und Bethel Henry Strousberg, ein getaufter Jude, der zum «König der Eisenbahnen» wurde, bis sein Unternehmen dann in der Gründerkrise von 1873 zusammenbrach, waren der Inbegriff der visionären Kraft und der Dynamik dieser Geburtsstunde der Industrie. Gerson Bleichröder, der jüdische Financier Bismarcks, und Adolf Salomonsohn von der neuen Disconto-Gesellschaft gehörten zu den führenden Namen im Bankgeschäft jener Zeit. Ganz offensichtlich waren einige reiche und geschäftstüchtige Juden ganz vorn auf der Liste derer, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die deutsche Wirtschaft modernisierten. Ganz offensichtlich hing aber diese Modernisierung weder von ihnen ab, noch waren sie für ihre Krisen und Zusammenbrüche verantwortlich, wie es vonseiten der Antisemiten oft behauptet wurde. Mit kaum mehr als einem Prozent der Gesamtbevölkerung bildeten sie eine kleine Minderheit unter den deutschen Industriellen. Sie waren vor allem im Handel und im Bankgeschäft tätig, und während des ganzen 19. Jahrhunderts führte ihr Erfolg, vor allem in diesen Bereichen, gewöhnlich zu Expansion und Wachstum. Hausierer wurden zu Geschäftsinhabern, kleine Kaufleute leiteten später große Handelshäuser oder bauten Schritt für Schritt Fabriken auf, die mit ihrer Handelsware zu tun hatten. Manche waren natürlich auch in diesem frühen Stadium risikofreudiger. Den Liebermanns, Rathenaus Verwandten, die in Berlin und in Oberschlesien in vielen Bereichen tätig waren, sind wir bereits begegnet. Einige wenige waren in den neu entstehenden Industriezweigen erfolgreich, anderen gelang es, aus ihrem kleinen Bankgeschäft ein großes Unternehmen aufzubauen. Aber große Risiken einzugehen war immer eher die Ausnahme gewesen, und das hatte sich nicht geändert. So war es auch während der nächsten Phase des Wirtschaftswachstums, das in der Mitte der Achtzigerjahre begann und Mitte der Neunziger explodierte.[12]
Emil Rathenau gehörte zu einem kleinen Kreis herausragender Unternehmer, wie sie für diese Zeit typisch waren. Einen Industriebetrieb zu leiten bedeutete jetzt, neue Technologien einzuführen, viel wissenschaftlichen Sachverstand anzuwenden und geschickt mit breit gefächerten Großunternehmen umgehen zu können. Diese Aktiengesellschaften standen oft in enger Kooperation mit Finanzinstituten, die bereit waren, die Risiken zu teilen. Außerdem hatten die Industriellen mit der Krise von 1873 ihre Erfahrungen gemacht und wussten, dass sie vorsichtig und durchdacht agieren mussten. Um Trotzkis treffenden Ausspruch zu zitieren: Deutschland hatte die «Vorteile seiner Rückständigkeit» bereits genutzt. Nachdem es in der Vergangenheit massiv von den Erfahrungen der Briten abhängig gewesen war, stand es jetzt an vorderster Front. Man konnte sich nicht mehr auf die Experimente anderer verlassen beziehungsweise darauf warten, dass andere deren Tauglichkeit überprüften. Die Welt hatte sich geändert, sie war risikofreudig geworden.
Emil Rathenaus Industrieprojekte passen genau in dieses Bild, obwohl er nicht der Pionier der Elektroindustrie war. In den Achtzigerjahren war Werner Siemens schon lange in diesem Bereich aktiv und der Direktor einer riesigen internationalen Firma. Sein Durchbruch war ihm ursprünglich mit der Entwicklung, Verbesserung und Verbreitung des Telegraphen gelungen, aber gegen Ende der Sechzigerjahre verkaufte er bereits eine neue Art von Generator und nutzte leicht verfügbare und erschwingliche Wasserturbinen und Dampfmaschinen, um elektrischen Strom zu produzieren. Die Elektrizität fand dann schnell Eingang in den Bereich des Transports, der Beleuchtung und der maschinellen Produktion und begründete letztlich ein neues industrielles Zeitalter. Bald danach eröffneten viele neue Technologien weitere Möglichkeiten, und Emil Rathenau griff bei der Glühbirne von Edison zu.
Die Straßenbeleuchtung bestand damals aus Gaslampen, während man in den Häusern meistens noch Kerosinlampen benutzte. Später wurden Bogenlampen für die großen Straßen und Plätze installiert, mit jeweils eigenen Generatoren, und zwar wieder von der innovationsfreudigen Firma Siemens. In den frühen Achtzigerjahren glaubten wenige daran, dass die Gasbeleuchtung, die ja ihrerseits noch eine hoch geschätzte Neuheit war, in absehbarer Zeit durch die elektrische Beleuchtung ersetzt werden würde. Da es unmöglich war, den zukünftigen Bedarf an elektrischer Energie einzuschätzen, war es nicht leicht, auf die Profitchancen eines riesigen Kraftwerks zu setzen, das dafür extra gebaut werden musste. Emil Rathenau hatte den nötigen Mut. Als 1888 in Berlin Unter den Linden die elektrische Straßenbeleuchtung eingeführt wurde, bezeichnete er die Elektrizität als die «Naturkraft des neunzehnten Jahrhunderts». Sie werde erst vom Bürgertum genutzt werden und später der ganzen Bevölkerung zur Verfügung stehen, «dem Wohlhabenden in der Form strahlenden Lichts, dem Handwerker als Werkzeug des täglichen Gebrauchs».[13] Eine elektrische Beleuchtung, deren Stromversorgung durch Kraftwerke gewährleistet wird, die den Strom von weit her in die Städte bringt – das war seine Vision. Damit waren demokratische und sogar ästhetische Aspekte angesprochen, aber vor allem erkannte Emil Rathenau darin das enorme wirtschaftliche Potenzial.
Es blieb jedoch zunächst nur ein Potenzial. Die ersten zehn Jahre waren schwierig. Emil musste sich in dem Gewirr von technischen, finanziellen und kommerziellen Innovationen erst einmal zurechtfinden. Als 1883 seine DEG, die Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektrizität, gegründet wurde, gehörten die Repräsentanten der wichtigsten Banken des Kaiserreichs zu seinem Aufsichtsrat, auch einige kleinere Bankhäuser und interessanterweise Werner Siemens selbst. Daran kann man zwei wichtige Aspekte der Strategie von Rathenau erkennen. An erster Stelle musste er für eine solide langfristige Finanzierung sorgen, da die Finanzen in dem neuen Sektor das Hauptproblem darstellten. Außerdem musste man angesichts der sehr hohen Risiken von Anfang an die potenzielle Konkurrenz ausschalten, um rechtliche Auseinandersetzungen wegen der Patente zu verhindern und um das Problem der anfänglich begrenzten Nachfrage zu überwinden. Deshalb verpflichtete sich die neue Gesellschaft von Beginn an, sich aus dem Geschäftsbereich von Siemens & Halske herauszuhalten, d.h. aus der Produktion von Generatoren, Kabeln und elektrischen Geräten, während diese wiederum auf das Recht verzichteten, Kraftwerke zu bauen. Werner Siemens, der dem neuen Projekt skeptisch gegenüberstand, schrieb seinem Bruder, dass «[i]n Wirklichkeit die deutsche Edison-Gesellschaft daher eine Installationsagentur zur Aufstellung von uns fabrizierter Maschinen und unseres sonstigen (Leitungs- usw.) Materials sein [werde].»[14] Emil Rathenau wiederum erhoffte sich gerade in jenen Bereichen, die Siemens aufgegeben hatte, hohe Profite. Interessanterweise gründete Emil Rathenau kein Familienunternehmen, anders als Siemens in früheren Zeiten oder auch als Joseph Liebermann, sein Großvater mütterlicherseits und im Gegensatz zu seinen eigenen Überlegungen zehn Jahre zuvor, als er Chef seiner kleinen Maschinenbaufirma war.
Im Jahre 1887, nachdem im Zentrum von Berlin erfolgreich ein eindrucksvolles Beleuchtungssystem aufgebaut worden war, wurde aus der experimentellen DEG die AEG, eine Aktiengesellschaft mit einem Kapital von circa zwölf Millionen Reichsmark, mit Emil Rathenau als ihrem Direktor. Das war nur der Anfang eines langen, mühsamen Weges zum Erfolg. Er verlor nie seine Zuversicht. Er war ein Arbeitstier und widmete all seine Zeit der Firma, besonnen und selbstbewusst, mit wachsender Kompetenz auf allen Ebenen des Großkapitals.
Als Walther Rathenau im Sommersemester 1885 sein Studium der Physik, Chemie und Mathematik an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin begann, war er sicher von dem Enthusiasmus seines Vaters beeinflusst, denn seine Schulnoten waren in diesen Fächern nur «befriedigend» gewesen. Beim berühmten Hermann von Helmholtz belegte er einen Intensivkurs in Experimentalphysik, und er besuchte, wie es damals üblich war, auch Vorlesungen, die nicht direkt zu seinem Fach gehörten, zum Beispiel hörte er Ökonomie bei Gustav Schmoller und Geschichte und Philosophie bei Wilhelm Dilthey. Diese drei gehörten zu den Glanzlichtern der akademischen Welt, und für Rathenau war das ein vielversprechender Anfang. Doch schon im Frühling des Jahres 1886 war er offensichtlich gar nicht zufrieden und suchte nach neuen Anregungen, ganz wie sein Vater zuvor. So machte er erst einmal eine Reise nach London, kam im Mai zurück nach Deutschland und begann im Sommersemester, an der Universität Straßburg zu studieren.
In Deutschland war es durchaus üblich, die Universität zu wechseln, die Seminarscheine wurden von den anderen Hochschulen anerkannt, und im Allgemeinen galt lediglich die Anwesenheitspflicht, und man musste sich auf die Abschlussprüfung vorbereiten. In den naturwissenschaftlichen Fächern musste man auch im Labor arbeiten und Experimente erfolgreich durchführen. Rathenau arbeitete also bald in dem Labor von August Kundt in Straßburg, zusammen mit anderen Studenten, meist alten Freunden aus Berlin. Kundt gehörte damals zu den wichtigsten Physikern, sein Spezialgebiet waren diverse Aspekte der Optik, insbesondere untersuchte er die anomale Dispersion bei Flüssigkeiten, Gasen und Metallen durch das aufwendige Verfahren der elektrolytischen Abscheidung auf mit Platin beschichtetem Glas. Zum ersten Mal kam Rathenau hier mit den Methoden der Elektrolyse in Berührung, die später sehr wichtig für ihn werden sollten. Damals fiel ihm jedoch vor allem die eintönige Mühsal der Prozedur auf. Er fand das alles wenig anregend, und es dauerte nicht lange, bis eine Flut von Briefen voller Klagen aus Straßburg eintraf, die sich vor allem an seine Mutter richtete. Er ließ seinen Vater wie immer unbehelligt, stattdessen bekam dieser detaillierte Berichte über seinen Tagesablauf in der Universität und in der Freizeit und ganz genaue Aufstellungen über seine Ausgaben. Beides wurde offenbar verlangt. Der junge Mann wurde aus der Ferne strengstens kontrolliert. Doch als er tatsächlich unglücklich wirkte und in einer Depression zu versinken drohte, reagierte die Familie schnell. Emil Rathenau war sichtlich besorgt und schickte seinem mit Problemen kämpfenden Sohn einen warmherzigen Brief. Er versicherte ihm, dass es ganz natürlich sei, Heimweh zu haben, dieses Leiden aber von kurzer Dauer sei. Die Familie werde dafür sorgen, dass er täglich Post erhalte. Er solle fleißig weiter studieren, aber auch etwas unternehmen, damit sich seine Gemütsverfassung wieder aufhelle, mehr Zeit mit seinen Freunden verbringen, zum Beispiel auf einer Wanderung durch die Vogesen. Er solle ganz allgemein darauf achten, dass er sich auch amüsiere.[15] Wie es seine Art war, beeilte sich Walther, alle zu beruhigen. Er schrieb, dass er nur unglücklich sei, wenn keine Briefe von zu Hause kämen, und überhaupt sei alles nicht so schlimm, wie es sich anhöre.
Rathenau hielt in Straßburg auch eisern durch, obwohl für ihn die Zeit dort alles in allem enttäuschend war und blieb. Im Labor gehörte er zu den weniger erfolgreichen Studenten. Heinrich Rubens, einer der engeren Freunde, brillierte bereits in diesem frühen Stadium und wurde später Direktor des Physikalischen Instituts in Berlin. Auch die anderen waren besser als er, selbst Rathenau sah das so. Kundt schien ihn kaum beachtet zu haben, obwohl sie gelegentlich auch gesellschafttlichen Kontakt hatten. Und hier zeigte sich schon ein charakteristisches Verhaltensmuster bei Rathenau: Wenn er in einem Bereich mit seinen Leistungen nicht zufrieden war, bemühte er sich darum, sich in einem anderen zu bewähren. Er hielt an seiner einmal gestellten Aufgabe fest, versuchte aber, etwas anderes auszuprobieren.
Es ist interessant, dass sich Rathenau nicht darum bemühte, seine zeichnerischen Fähigkeiten zu vervollkommnen, obwohl er in diesem künstlerischen Bereich immer Talent bewiesen hatte, sondern dass er sich als Schriftsteller versuchte, genauer gesagt, als Dramatiker. «Blanche Trocard» war ein Schauspiel in zwei Akten.[16] Er schrieb es in der ersten Hälfte des Jahres 1887, ließ es auf eigene Kosten drucken und bot es dem Stadttheater Frankfurt am Main an. Es war ein geschickt konzipiertes Stück, in dem das Leid der jungen Madame Trocard in einer emotional erstarrten Ehe dargestellt wird, ein Stück, dessen Thematik an die damals in Deutschland kaum bekannten Dramen von Ibsen erinnert. Obwohl das Stadttheater normalerweise neuen und unbekannten Autoren gegenüber offen war, lehnte es das Stück ohne eine Begründung ab. Rathenau war zu stolz, um es anderen anzubieten, und er versuchte sich nie wieder als Stückeschreiber. Er nahm all seinen Mut zusammen, widmete sich wieder der Laborarbeit und zog zusammen mit Kundt und einigen von dessen Studenten, die schon in höheren Semestern waren, zurück nach Berlin. Dort schloss er seine Dissertation ab, und im Oktober 1889 erhielt er seinen Doktortitel. Die Abschlussfeierlichkeiten verschwieg er der Familie gegenüber. Eines Abends kam er zu spät zum Abendessen und entschuldigte sich damit, dass er gerade seinen Doktortitel bekommen habe. Selbst in diesem Moment hatte er ein ambivalentes Verhältnis zu seinen Leistungen auf jenem Gebiet.
Kurz danach setzte Rathenau jedoch sein Studium in München fort und wechselte in einen stärker praxisbezogenen Bereich an der dortigen Technischen Universität. Er langweilte sich auch während seiner Studienzeit und war oft unglücklich, aber er machte trotzdem weiter. Wie bisher blieb die Familie das Zentrum seiner gesellschaftlichen und emotionalen Kontakte. Er korrespondierte nicht nur mit «Mama» und «Papa», sondern auch sehr intensiv mit seinem Bruder, manchmal auch mit seiner jüngeren Schwester und mit den beiden Großmüttern. Die meisten anderen Kontakte hatten ebenfalls mit der Familie zu tun. Viele seiner Studienfreunde kamen aus jüdischen Familien in Berlin und waren Bekannte oder sogar Verwandte der Rathenaus. Wie in der Straßburger Zeit berichtete er täglich von Einladungen, die er annahm oder absagte. Nahezu alle kamen aus den Häusern der jüdischen Honoratioren der Stadt. Die Rathenaus hatten in Berlin vor allem mit Juden gesellschaftlichen Kontakt, aber das schien ihn in München, wie auch schon in Straßburg, zunehmend zu belasten.
Seine Gefühle offenbarte er besonders in den Briefen an seine Mutter. Kundts Laboratorium, schrieb er aus Straßburg, sei «höchst eigentümlich zusammengesetzt: der größte Teil der Leute besteht aus Juden».[17] «Die Arroganz dieser Menschen, die Kundt vollständig in der Hand haben, ist kolossal», fügte er in einem anderen Brief hinzu. Darüber hinaus schien dies für die ganze Universität zu gelten: Ein Drittel der Professoren, so behauptete er, sei «orientalischer Herkunft». Sie bildeten die Mehrheit in der juristischen Fakultät, und in der medizinischen seien es noch mehr, die theologische sei die einzige Ausnahme. Dort könne man hin und wieder auch einem getauften Juden begegnen, einem Christen «aus ‹Überzeugung›», kommentierte er voller Sarkasmus. Wenn sie sich wenigstens «aus politischen Rücksichten, aus Vorsicht, aus sozialen Gründen» hätten taufen lassen, «– aber aus Überzeugung! – das ist unsrer Epoche nicht würdig». Er bittet jedoch seine Mutter eindringlich, nicht darüber zu reden: «sei gegen die neugeschaffenen Germanenjünglinge tolerant und bring’ uns nicht in den Ruf von Stockjuden oder von Neidern.» Aber das Thema beschäftigte ihn immer wieder. Ein jüdischer Freund bat ihn, ihn nicht zu besuchen, wenn seine Kameraden aus dem Militär bei ihm seien. «Das wäre ihm nämlich doch fatal», erklärte Rathenau. Willi müsse sich taufen lassen, wenn er beim Militär Karriere machen wolle, obwohl er sehr wohl wisse, «daß ein getaufter Jude immer noch kein getaufter Christ ist». Rathenau hatte ihm wohl darüber hinaus dargelegt, dass er auf eine «reiche Heirat» nicht zu hoffen brauche. Ein Konvertierter sei weder für eine hübsche, reiche Jüdin ein Heiratskandidat noch für eine hübsche, standesgemäße Christin. Aber er fügte hinzu: «Über das Taufen habe ich nicht mit ihm gesprochen. Ich will weder den Juden noch den Apostaten zu schroff hervorkehren.» Er selbst habe nicht die Absicht, sich taufen zu lassen, versicherte er seiner Mutter. Aber er habe «lebhafte Befriedigung» empfunden, dass die Kinder von den Valentins, alten Freunden der Rathenaus, nun bekehrt seien. «Auch uns kommt die Sache ja zu Gute. Gewinnen wir doch dadurch an christlichem Umgang», kommentierte er.
1819