Montessori, Waldorf und andere Lehren
Verlag C.H.Beck
Die Reformpädagogik, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand, bestimmt bis heute die Diskussion über Schule und Erziehung. Dabei ist ihre Einschätzung zunehmend kontrovers und reicht von euphorischer Begeisterung bis zu gnadenloser Verurteilung. Winfried Böhm stellt die maßgeblichen Vordenker vor, beschreibt die wichtigsten reformpädagogischen Lehren (Kunsterziehungs- und Arbeitsschulbewegung, Landerziehungsheime, Montessori-, Waldorf-, Jenaplan-Schule) und liefert Kriterien für ihre objektive Beurteilung.
Winfried Böhm ist Professor em. für Pädagogik an der Universität Würzburg und lehrte an renommierten Universitäten in Italien, den USA und Südamerika. Seine «Geschichte der Pädagogik» (C.H.Beck Wissen) ist bereits in 3. Auflage lieferbar und wurde in mehrere Sprachen übersetzt.
Vorwort
1. Vexierbild Reformpädagogik
In der Reformeuphorie der 1970er Jahre
Ignorieren – Kanonisieren – Polemisieren
Reduktion und Rehabilitation
2. Fortschritt als Rückkehr zum Alten
Vorläufer der Reformpädagogik
Die Wurzeln in der Erziehungs- und Schulkritik
Das heikle Verhältnis zum Christentum
Der Rousseau der Reformpädagogen
3. Die «neue Erziehung» in anderen Ländern
Russland: Tolstoj – Blonskij – Makarenko
Italien: Der «attivismo» und die heitere Schule
Spanien: Manjón und der Krausismo
Frankreich: «Éducation nouvelle»
USA: John Dewey und die «progressive education»
4. Grundbegriffe und Optionen
Gemeinschaft versus Gesellschaft
Leben als neuer Grundbegriff
Der Mythos des göttlichen Kindes
Arbeitsschule und Kunsterziehung
5. Pioniere und Konzepte
Herrmann Lietz und die Landerziehungsheime
Peter Petersen und der Jenaplan
Rudolf Steiner und die Waldorfpädagogik
Maria Montessori und die Kosmische Erziehung
Paul Oestreich und der «brüderliche Mensch»
6. Die Grenzen der Reformpädagogik
Literatur
Personenregister
Reformpädagogik ist seit mehr als einhundert Jahren ein Dauerthema der pädagogischen Wissenschaft und ein Referenzpunkt der erzieherischen und unterrichtlichen Praxis. Dabei erscheint sie uns, vor allem im internationalen Kontext, bis heute wie ein Vexierbild oder gar wie eine Sphinx, die immer noch manches Rätsel aufgibt. Diese vor allem als eine Einführung in den «Geist» (und nicht nur in den Buchstaben) der Reformpädagogik verfasste, gedrängte Darstellung trägt genau diesem Sachverhalt Rechnung: Sie möchte weder Einzelbefunde zum Thema beitragen noch die reformpädagogischen Ansätze oder «Schulen» einzeln und je für sich behandeln. Sie wendet sich vielmehr dem fragwürdigen Gesamtphänomen Reformpädagogik als Ganzem zu, will seine Umrisse schärfer zeichnen, seinen historisch-systematischen Gehalt verständlich machen und dem Leser eine Hilfe bei der kritischen Beurteilung geben.
Daher schien es ratsam, den Einstieg in das Thema über den Umweg der Rezeptionsgeschichte zu wählen und den Nebel scheinbar zunächst noch zu verdichten, damit sich die Konturen der Reformpädagogik dann umso deutlicher abzeichnen. Insgesamt folgt der Gedankengang dabei einer Maßgabe, die Hans Leisegangs klassischer Schrift über «Denkformen» (Berlin 1928) entliehen ist: «Das Ganze möchte hier nicht aus dem Einzelnen, sondern das Einzelne aus dem Ganzen verstanden werden.» Und im Hinblick auf die Lehren, die sich möglicherweise aus der Beschäftigung mit der Reformpädagogik ziehen lassen, kann Epiktets kluge Beobachtung (Encheiridion V) leitend sein: «Nicht was getan worden ist, erschüttert die Menschen, sondern das, was darüber gesagt wird.»
«Es gibt kaum einen Gegenstandsbereich in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion, der ähnlich umstritten ist wie die Reformpädagogik. Das gilt für einzelne ihrer Richtungen ebenso wie für Bilanzierungsversuche hinsichtlich ihrer Bedeutung und Wirksamkeit, hinsichtlich der Frage nach den ihr zugehörigen Reformmotiven und der Summe ihrer ‹Bewegungen› sowie hinsichtlich ihrer historischen Einordnung im Ganzen.»
Mit dieser irritierenden Feststellung beginnt Ehrenhard Skiera das erste Kapitel seines über 500 Seiten starken Hand- und Lehrbuches über die «Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart». Sie scheint jedoch den Nagel auf den Kopf zu treffen. Nicht nur, was Reformpädagogik heißt, sondern vor allem, wie sich diese historisch einschätzen und pädagogisch beurteilen lässt, ist derzeit – zumindest aus einer deutschen Perspektive – umstritten wie selten zuvor. Während der Niederschrift dieses Textes schickten sich Teile der deutschen Erziehungswissenschaft gerade an, die 2010 ruchbar gewordenen Fälle von sexuellem Missbrauch und sexueller Gewalt in einigen Internatsschulen freier oder kirchlicher Trägerschaft zum Anlass zu nehmen, den Stab nicht nur über einzelne Schulen, sondern am liebsten gleich über die gesamte Reformpädagogik zu brechen.
Solche hastige Unsicherheit war freilich nicht immer gegeben. Im Gegenteil. Als der Autor dieses Buches im Herbst 1973 seinen Habilitationsvortrag «Zur Einschätzung der reformpädagogischen Bewegung in der Erziehungswissenschaft der Gegenwart» hielt, schienen sich das Bild der Reformpädagogik bereits relativ gefestigt und die Kriterien für ihre Einschätzung und Bewertung geklärt zu haben, wenn auch nicht im Sinne eines harmonischen Konsenses, so doch in Gestalt einer disharmonischen Übereinkunft.
Unter «Reformpädagogischer Bewegung» bzw. unter «Reformpädagogik» (diese Bezeichnung hat sich später vor allem durch die Schriften von Hermann Röhrs generell durchgesetzt) verstand man damals gemeinhin jene vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einsetzende Vielfalt von Ideen und Ansätzen zur Erneuerung von Erziehung und Schule. Kraft der Intensität des Reformwillens und aufgrund ihrer nachhaltigen Wirkung auf Theorie und Praxis der Erziehung sprach man dabei dieser Bewegung eine ähnlich prominente Stellung in der Geschichte der Pädagogik zu wie etwa der Zeit der Französischen Revolution oder dem Neuhumanismus. Der ersten und zugleich Maßstäbe setzenden monographischen Darstellung der reformpädagogischen Bewegung in Deutschland folgend, unterschied man mit Herman Nohl (1935, 91982) innerhalb des breiten Spektrums der pädagogischen Erneuerungsbestrebungen die Jugendbewegung, die Volkshochschulbewegung, die Kunsterziehungsbewegung, die Arbeitsschulbewegung, die Landerziehungsheimbewegung, die Bewegung einer Pädagogik vom Kinde aus und die Einheitsschulbewegung. Als auslösende Kräfte betrachtete man im Allgemeinen die (in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mächtig aufkommende) Kulturkritik, die Frauenbewegung und die soziale Bewegung.
Die damals (also aus der Sicht von 1973) jüngste und bis heute weitgehend unverändert nachgedruckte Gesamtdarstellung «Die reformpädagogische Bewegung» von Wolfgang Scheibe hatte den von Nohl konstruierten Kanon um einige andere «Bewegungen» erweitert – z.B. die Hauslehrerschule Berthold Ottos, die Persönlichkeitspädagogik Hugo Gaudigs, die religionspädagogische Reformbewegung Friedrich Wilhelm Foersters – und den Blick auf neue Versuchsschulen gelenkt, beispielsweise auf die Waldorfschule und die Jenaplan-Schule, ohne jedoch an dem anscheinend feststehenden Kanon zu rütteln. Dabei war offensichtlich, dass sich die reformpädagogische Bewegung nicht mit einer Epoche aus der politischen Geschichte Deutschlands zur Deckung bringen ließ und weder mit der Pädagogik des ausgehenden Kaiserreichs noch mit jener der Weimarer Republik identifiziert werden konnte.
Während man sich über das Ende der reformpädagogischen Bewegung einig zu sein schien und davon ausging, dass sie (immer aus deutscher Sicht!) hierzulande mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 jäh abgebrochen wurde und dabei der Reichtum pädagogischer Reformideen und Reformmaßnahmen der Errichtung eines totalitären Staates zum Opfer fiel, gingen die Meinungen über ihren zeitlichen Beginn, wenn auch nicht allzu weit, auseinander. Man setzte ihn – je nachdem, was man als ihren unmittelbaren Auslöser ansah – 1880, 1890, 1895 oder auch 1900 an. Für dieses letzte Datum konnte als Argument auch ein Buch angeführt werden, das genau zur Jahrhundertwende in Schweden erschien und zwei Jahre später in Deutschland zu den meistgelesenen Büchern seiner Zeit gehörte: Ellen Keys «Das Jahrhundert des Kindes». Von diesem Buch behauptete sein prominentester Rezensent Rainer Maria Rilke, das 20. Jahrhundert werde einmal an seinem Ende an diesem Buch gemessen werden.
Während also in der lebhaften Aufschwungphase der Bildungsreform der 1970er Jahre in der Bundesrepublik über Umfang und Inhalt der Reformpädagogik reichlich Einigkeit zu herrschen schien, waren gleichzeitig verschiedene Rezeptionsweisen und voneinander abweichende Einschätzungen zu konstatieren. Diese ließen sich unter den Begriffen des Ignorierens, des Kanonisierens und des Polemisierens fassen und einleuchtend beschreiben. Aus heutiger Sicht spiegelten diese drei Zugangsweisen zur Reformpädagogik zugleich drei unterschiedliche pädagogische und bildungspolitische Positionen wider.
Für die sich in der Reformeuphorie der 1970er Jahre bildungspolitischen und bildungsplanerischen Problemen zuwendende Erziehungswissenschaft, die sich vornehmlich um die Konstruktion technologisch einsetzbarer Handlungsmodelle bemühte, wurde die bis dahin kontinuierlich gepflegte historische Dimension der Pädagogik immer weniger wichtig. In Bezug auf die Reformpädagogik wurde sie geradezu ignoriert. Man übersah, dass viele der pädagogischen und bildungspolitischen Fragestellungen der Bildungsreform jenen der Reformpädagogik aus dem ersten Drittel des Jahrhunderts auf frappierende Weise ähnelten. Hier seien nur zwei signifikante Beispiele ins Feld geführt:
Die heftige Diskussion um die Gesamtschule, die in den 1970er Jahren die breite Öffentlichkeit und die pädagogische Fachwelt erhitzte, nahm so gut wie keinen Bezug auf die reformpädagogischen Vorbilder. Dabei hätte beispielsweise das von dem sozialistischen Reformpädagogen Paul Oestreich in den 1920er Jahren entworfene und von dem «Bund entschiedener Schulreformer» propagierte Modell der «Elastischen Einheitsschule» ein fertig ausgearbeitetes Konzept liefern können, aber dieses musste in der Gesamtschuldiskussion erst Stück für Stück neu geklärt und mühsam erstritten werden. Und Alexander S. Neill, in den 1970er Jahren zum Apostel der antiautoritären Erziehung ausgerufen, ist – was damals eben auch ignoriert wurde – gar nicht anders zu verstehen denn als ein avantgardistischer Nachzügler der Reformpädagogik – Summerhill School, seine maßgebliche Reformschule, hatte er schon 1921 gegründet.
Der Kategorie des Ignorierens mit dem entschiedenen Willen zur Innovation und dem Trend zu erzieherischen Technologien stand jene des Kanonisierens diametral entgegen. Zu den «Kanonisierern» waren alle jene zu zählen, welche die Aussagen der Reformpädagogen beim Wort nahmen, den älteren (Selbst-)Einschätzungen aus dem zeitlichen oder gedanklichen Umkreis der Reformer unbesehen Glauben schenkten und nach dem bleibenden Erbe und dem zeitlos gültigen Ertrag der reformpädagogischen Konzepte und Versuche fragten, um diese dann, relativ naiv (weil das veränderte gesellschaftliche Umfeld ausklammernd), dafür aber umso engagierter und entschiedener in die Wirklichkeit von Schule und Erziehung umzusetzen.
Man huldigte der Idee, der Reformpädagogik sei es gelungen, das wirklich Echte oder gar das «Wurzelechte» – so ein Lieblingswort meines Lehrers Albert Reble – von Erziehung und Pädagogik ans Licht zu bringen und bewusst zu machen. Vermutlich ließen sich auch viele Geschichts- oder auch nur Geschichtenschreiber der Reformpädagogik von der seinerzeit (noch) nicht in Frage gestellten These vom abrupten und gewaltsamen Ende der Reformpädagogik im Jahre 1933 leiten. Von daher mögen sie sich verpflichtet gefühlt haben, die zur Unzeit abgerissenen Fäden zu jener «unvollendeten Reformpädagogik» zu knüpfen und sie auf diese Weise für aktuelle Probleme anschlussfähig zu machen. Diese Traditionskonstruktion schlug sich vor allem in den sogenannten Unterrichtslehren und Didaktiken nieder. Kein Geringerer als Wolfgang Klafki hatte schon 1954 dazu aufgerufen, das «pädagogisch Echte dieser Bewegung wissenschaftlich zu erforschen und nach dem auch in unserer Situation noch Gültigen zu fragen».
Wirft man einen Blick auf die in den 1970er Jahren weit verbreiteten Unterrichtslehren, dann verblüfft in der Tat nicht nur die Ähnlichkeit zwischen den von der Reformpädagogik kultivierten Unterrichtsprinzipien (Anschauung, Aktivität, Lebensnähe, Kindgemäßheit, Individualisierung, Erfolgssicherung, Übung) und denen der «neuen» didaktischen Diskussion. Noch mehr überrascht die Tatsache, dass diese vermeintlich neuen didaktischen Einsichten fast ausnahmslos mit Zitaten aus der reformpädagogischen Literatur des Jahrhundertbeginns argumentiert und verbürgt wurden. Was so in Bezug auf die Unterrichtsprinzipien gesagt werden kann, trifft uneingeschränkt auch auf die Unterrichtsformen zu: Gesamtunterricht, Epochenunterricht, fächerübergreifender Unterricht, Gruppenunterricht, Projektmethode etc. Besonders forsch hatte Karl Rank in dem 1961 von A. Blumenthal u.a. herausgegebenen «Handbuch für Lehrer» die These aufgestellt, diese modernen Unterrichtsformen seien zum größten Teil Errungenschaften und Auswirkungen der reformpädagogischen Bewegung und: «Ihre Impulse sprengten mit großem Wogenschlag die Schulhaustore und schlugen sich in schwächerem Wellenauslauf als ‹neuzeitliche Unterrichtsformen› in den Schulstuben nieder.» (S. 241)
Nennenswerte empirische Untersuchungen über die tatsächliche Wirksamkeit dieser Unterrichtsformen (und -prinzipien) lagen so gut wie nicht vor, und so beriefen sich die Verfasser dieser Unterrichtslehren und Didaktiken schlicht auf die reformpädagogische Tradition – ein Defizit, das fatal an das medizinische Problem der Placebos erinnert, und ein Mangel, an dem die Argumentation für die Montessori-Methode, die Waldorf-Pädagogik und die Jenaplan-Schulen bis heute leidet. Daher musste das Argument fehlender wissenschaftlicher Leistungskontrolle durch den Glauben an die gut gemeinten Absichten und das Vertrauen in die guruartigen Fähigkeiten ihrer Gründerfiguren kompensiert werden – und dies versucht man bis heute.
Just an dem historischen Punkt, an dem wir unsere Bestandsaufnahme und Querschnittsanalyse der reformpädagogischen Rezeptionsgeschichte angesetzt haben, trat neben das Ignorieren und das Kanonisieren als eine dritte Rezeptionsweise jene des Polemisierens hinzu und gewann in der Folgezeit mehr und mehr an Terrain.
Kritik an der Reformpädagogik hatte es zwar schon von ihrem Anfang an gegeben, und der Diskurs über ihre Grenzen hat diese früh begleitet. Aber den ersten markanten Akzent bewusster Polemik setzte das Buch von Hubertus Kunert mit dem Titel «Deutsche Reformpädagogik und Faschismus» (Hannover 1973). Bei Kunerts betont ideologiekritischer Herangehensweise an das Thema erschien es nicht nur legitim, sondern lag sogar nahe, eine wichtige Triebkraft der Reformpädagogik in der stark irrational und lebensphilosophisch geprägten Kulturkritik des 19. Jahrhunderts bloßzulegen. Genauso musste es sich für Kunert anbieten, einen sachlichen Zusammenhang zwischen den ideologischen Theoremen dieser Kulturkritik und der Pädagogik des Nationalsozialismus aufzusuchen und dabei die Reformpädagogik quasi als das vermittelnde Bindeglied auszulegen. Aber auch wenn es ihm nicht gelang, dies überzeugend nachzuweisen, kommt Kunert unstreitig das große Verdienst zu, auf ein bis dahin in der Bundesrepublik weitgehend verdecktes oder verdrängtes Problem hingewiesen zu haben. Darüber hinaus hat das Buch zugleich auf exemplarische Weise gezeigt, dass das problematische Verhältnis von Reformpädagogik und Faschismus bzw. Nationalsozialismus nicht im Handstreich zu bewältigen ist. Dem komplexen Phänomen Reformpädagogik kann man schwerlich gerecht werden, wenn man den Fokus nur auf einzelne Richtungen oder Schulen der reformpädagogischen Bewegung – sei es die Jungendbewegung oder seien es die Landerziehungsheime – richtet und diese dann, irrtümlich oder absichtlich, zur Grundlage einer Beurteilung der gesamten Reformpädagogik macht.
In der Folgezeit wurde zu Recht eine reformpädagogische Gründergestalt nach der anderen – zumindest probeweise – unter Faschismusverdacht gestellt und auf ihre Beziehungen zum Nationalsozialismus hin untersucht. Das gilt in besonderer Weise für Peter Petersen, den Schöpfer des sogenannten Jenaplans, aber davon blieben auch die Galionsfiguren der Jugendbewegung und selbst die Naturwissenschaftlerin Maria Montessori nicht ausgenommen. Ein eindrucksvolles Beispiel solch sorgfältiger Recherchen hat zuletzt Benjamin Ortmeyer mit seinem Buch «Mythos und Pathos statt Logos und Ethos» vorgelegt.
Zu einer heftigen Fehde über Inhalt und Bedeutung der Reformpädagogik kam es 1987 in der Zeitschrift für Pädagogik, als Klaus Prange in polemischer Absicht die These vertrat, dass es sich bei der Reformpädagogik schul- und erziehungsgeschichtlich lediglich um eine Fiktion handele und dass ihr Kernstück, die Pädagogik vom Kinde aus, bei ihren Hauptvertretern bloß Ausfluss einer anonymisierten infantilen Regression gewesen sei. Dem trat allerdings Horst Rumpf rasch und mit aller Entschiedenheit entgegen. Er wies den Infantilitätsvorwurf gegenüber den Reformpädagogen schroff zurück und hob im Gegenschlag darauf ab, wie sehr eine vom Kind ausgehende Sicht der Erziehung sehr wohl von blind tradierter Unmündigkeit und erfahrungsleerem Wissen zu einem argumentierenden Gespräch und zu einem erfahrungsgesättigten Lernen führen könne.
Nachdem sich in den 1980er Jahren als Reaktion auf die gesamtstaatliche Bildungsreform der 1970er Jahre, die stark organisatorisch-institutionell und curricular-lerntechnologisch orientiert war, eine neuerliche Renaissance der Reformpädagogik abzeichnete, wurde mit dem Buch von Jürgen Oelkers «Die Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte» eine neue Phase der Polemik eingeleitet, wobei dieser Begriff nun eine zusätzliche Dimension gewann: jene der Dekonstruktion.
Dogmengeschichten werden gewöhnlich von Dogmatikern geschrieben, und entsprechend dogmatisch trat auch diese Geschichte auf. Eine der zentralen Thesen von Oelkers bestand darin, dass die Reformpädagogik weder theoretisch noch praktisch etwas Neues gebracht habe; sie sei lediglich die Fortsetzung des gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstandenen Projekts der neuzeitlichen Pädagogik gewesen. Insgesamt stelle sie nicht mehr als eine Fiktion dar, ein «inhomogenes Theorieaggregat», in dessen Gefüge vor allem das Konzept einer Pädagogik vom Kinde aus und ihre Gemeinschaftsideologie äußerst problematisch seien. Von einer einheitlichen Bewegung könne sowieso nicht gesprochen werden; die Heterogenität der Reformansätze verbiete das ebenso wie die gesellschaftliche und politische Erfolglosigkeit ihrer Absichten und Projekte. Reformpädagogik gar als eine geschichtliche «Epoche» mit eigenem Profil zu betrachten, sei verfehlt; weder sei eine solche Epoche angesichts ihrer mangelnden Originalität klar von anderen abzugrenzen, noch ließen sich ihr Anfang und Ende eindeutig bestimmen, und schließlich sei ihr auch nicht ein genau erfassbares Personal zuzuordnen.
Es lag durchaus im Interesse des Autors, mit seinen kantigen Thesen die Diskussion über die Reformpädagogik kräftig aufzumischen. An den von Oelkers aufgeworfenen Fragen nach der geschichtlichen Realität und der inhaltlichen Identität kann seither keine Beschäftigung mit der Reformpädagogik mehr vorbeigehen, im Gegenteil: nur durch ihre schlüssige Beantwortung kann sie sich überhaupt rechtfertigen.
Freilich hat Oelkers selbst durch zwei weitere gewichtige Publikationen seine Position von 1989 relativiert und konterkariert. Die Fälle sexuellen Missbrauchs in Internaten, vor allem in der noch unlängst als Vorzeigeschule der Reformpädagogik angesehenen Odenwaldschule, haben den Autor zu einem ebenso gründlich recherchierten wie gleichermaßen polemisch zugespitzten Buch über «Eros und Herrschaft» veranlasst, in dem er die Geschichte der Reformpädagogik von ihren «dunklen Seiten» her zu erzählen versucht. Oelkers zeigt in diesem Buch sehr handfest auf, wie stark Eros und Herrschaft nicht nur in der Odenwaldschule, sondern auch in anderen Landerziehungsheimen präsent waren und dort eine Atmosphäre geschaffen haben, welche sexuelle Gewalt nicht verhindert, sondern eher noch begünstigt hat. Wenn es aber um so konkrete Institutionen und um so leibhaftige Vorgänge geht, dann hebt sich die These von der Reformpädagogik als einer reinen Fiktion selbst auf. Und wenn Oelkers es unternimmt, die dunklen Seiten der Reformpädagogik darzustellen, dann setzt er doch offensichtlich voraus, dass es auch lichte Seiten der Reformpädagogik gibt, die es mindestens ebenso wie jene verdienen, erzählt zu werden.
In einem nur ein knappes Jahr zuvor in der Schweiz auf den Markt gebrachten Lehrbuch (sic!) über die «Reformpädagogik» (Zug 2010) erzählt Oelkers reformpädagogische Entstehungsgeschichten, die sich bei aller scheinbaren Zufälligkeit zu einem erstaunlich stimmigen, wenngleich bunt schillernden Mosaikbild «einer internationalen Bewegung» zusammenfügen (müssen), damit aus ihnen überhaupt ein brauchbares Lehrbuch für die Ausbildung von Lehrkräften hergestellt werden kann. Nur mit boshaftem Zynismus könnte man Oelkers und den Verlegern unterstellen, hier werde ein Lehrbuch über eine lediglich als Fiktion existierende Bewegung vorgelegt. Was freilich die überaus fragliche Repräsentativität der Odenwaldschule und der drei anderen von Oelkers ins Visier genommenen Landerziehungsheime für die gesamte Reformpädagogik angeht, braucht man nur darauf hinzuweisen, dass diese vier Schulen bestenfalls gerade einmal zwei Prozent der deutschen Reformschulen ausmachen, von der geringen Schülerzahl – gemessen an der Schulgesamtbevölkerung – gar nicht erst zu reden. An den inkriminierten Fällen sexueller Gewalt kann und soll dieser Hinweis freilich nicht das Geringste beschönigen. Was Oelkers allerdings ganz nebenbei aufgezeigt hat, sind Probleme der privaten Reformschulen allgemein (im Angesicht eines wohletablierten staatlichen Schulsystems), und zwar ihr chronischer Geldmangel, die internen Streitigkeiten über die richtige Auslegung des Meisters bzw. der Meisterin, die Notwendigkeit einer publikumswirksamen Publizistik (und sei es nur, um eine zahlungsfähige Klientel anzuwerben) einschließlich der charismatischen Verklärung ihrer Gründerfiguren; und das gilt für die Reformschulen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenso wie für die Alternativschulen an dessen Ende.
Auch ein anderer Meilenstein in der Rezeptionsgeschichte der deutschen Reformpädagogik muss hier zur Sprache gebracht werden – wohlgemerkt: der deutschen Reformpädagogik. Denn hatten im Nachkriegsdeutschland so maßgebliche Autoren wie Wilhelm Flitner oder Hermann Röhrs neben der deutschen Reformpädagogik auch eine «Reformpädagogik des Auslands» wenigstens zur Kenntnis genommen, so schränken Dietrich Benner und Herwart Kemper in ihrem ausladenden Werk (drei Bände mit jeweils einem dazugehörigen Quellenband) zur «Theorie und Geschichte der Reformpädagogik» den Blick auf Deutschland ein. Auf diese Weise kommt es just dort zu einem paradoxen Reduktionismus, wo die Verfasser sich ausdrücklich vornehmen, «den gewöhnlich für die Reformpädagogische Bewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts reservierten Begriff ‹Reformpädagogik› zu erweitern», und zwar bis zu den Bildungsreformen nach 1945.
Von einem Reduktionismus kann dabei aus zwei Gründen gesprochen werden. Erstens degradieren die Autoren die Reformpädagogik zum bloßen Mittelglied in einem dreistufigen Reformprozess, der sich nach ihrer Deutung in Deutschland wellenartig in eine «pädagogische Bewegung von der Aufklärung bis zum Neuhumanismus» (Teil 1) bis zu der staatlichen Schulreform der 1970er Jahre in der Bundesrepublik und zu Schulversuchen in der SBZ und der DDR (Teil 3) aufgliedert. Dabei wird nicht nur der internationale Charakter der Reformpädagogik ausgeblendet, sondern diese Dreigliederung verkennt zweitens einen fundamentalen Unterschied zwischen den drei vermeintlichen Etappen: Während sich die von Benner und Kemper als erste