33 Ansichten
C.H.Beck
Auf dem Umschlag dieses Buches begrüßt uns Diogenes von Sinope, der nichts haben will, nicht einmal von Alexander dem Großen. Er ist freilich eine Ausnahme. Die meisten Menschen haben gern, und deshalb mangelt es auch nicht an Gründen und Anlässen, sich über das Haben zu äußern. In einer höchst unterhaltsamen Reise durch die Sinnwelten des Habens eröffnet Harald Weinrich, der Grandseigneur der europäischen Sprachwissenschaft, verblüffende Einsichten in unseren Gebrauch des Wörtchens Haben – und unser Haben-Denken, das sich darin offenbart.
Harald Weinrich, geb. 1927, war nach Professuren in Kiel, Köln, Bielefeld und München zuletzt Professor für Romanistik am Collège de France, Paris. Er hat für sein Lebenswerk unter anderem den «Sigmund-Freud-Preis», den «Hanseatischen Goethe-Preis» und den «Joseph-Breitbach-Preis» erhalten. Zahlreiche Bücher von ihm sind bei C.H.Beck erschienen, darunter Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens (2005), Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens (2008) und Wie zivilisiert ist der Teufel? Kurze Besuche bei Gut und Böse (31999) sowie der Band Vom Leben und Lesen der Tiere. Ein Bestiarium (2008)
Das Vorhaben – mit Diogenes und seiner Laterne
ERSTER ABSCHNITT
Auf dem Philosophenweg
1. Altgriechisch Haben – mit Aristoteles und seinen Kritikern
2. Anthropologie des Habens – mit Herder, Scheler, Plessner
3. Schopenhauer: Was Einer ist, was Einer hat, was Einer vorstellt
4. Das Haus des Seins und der Hof des Habens – mit und ohne Heidegger
5. Haben und Sein in Frankreich – mit Gabriel Marcel, Sartre, Bourdieu
6. Sein und Haben radikal – mit und gegen Erich Fromm
ZWEITER ABSCHNITT
Treffpunkt Sprache
7. Sein und Haben im Satz und Text
8. Haben als Hilfsverb: Was noch und was schon zur Gegenwart gehört
9. Mit dem Kriegen kommt das Haben
10. Muss man besitzen, was man hat? – Ein nostalgisches Kapitel
11. Andere Sprachen haben anders – mit Emile Benveniste
12. Modalitäten des Habens
13. Höflicher haben
14. Haben und Nicht-Haben im Tabu-Test
15. Marketing für Hab und Gut und für Habseligkeiten
DRITTER ABSCHNITT
Lebenszeit und Körperlichkeit
16. Alles Haben hat seine Zeit – mit Kohelet und Hans Blumenberg
17. Haben und Nicht-Haben im Diesseits und Jenseits – mit Jesus und dem Apostel Paulus
18. I had no time to hate – mit Emily Dickinson
19. Die Zeit im Leibe haben – mit einer Musterung von Thomas Mann
20. Splitternackt im Märchen – so haben es die Brüder Grimm und Hans Christian Andersen
21. Kleidung haben, Schmuck haben oder auch nicht haben – mit einer Novelle von Maupassant
22. Haben wie gemalt – mit Vermeer van Delft
VIERTER ABSCHNITT
Buchführung und Bilanzen
23. Wie Robinson das Soll und das Haben lernt – mit Luca Pacioli und Daniel Defoe
24. Mephistopheles hat seine Freude dran
25. Die nur noch sich selber haben: Romeo und Julia auf dem Dorfe – mit Gottfried Keller
26. Soll und Haben in Preußen – mit Gustav Freytag
27. Wozu hat Paris eine Börse? – mit Emile Zola
28. Sind Dichter und Denker die besseren Habenden? – Ein dokumentarisches Kapitel
FÜNFTER ABSCHNITT
Streit haben, Krieg haben, Hoffnung haben
29. Ein Sängerkrieg um den Rhein – und was hat der Rhein davon?
30. Der grosse Mahlke hat es am Hals – mit Günter Grass
31. Hitler als Habenichts, Hitler am Ende
32. Günter Eichs letzte Habseligkeiten
33. Menschenrechte sind Haben-Rechte
Ein griechischer Epilog – mit Diogenes und Alexander dem Großen
Danksagung
Anmerkungen
Abbildungsnachweis
Sachregister
Namenregister
Auf dem Umschlag dieses Buches ist der griechische Philosoph Diogenes zu sehen, so wie er auf einem Gemälde des französischen Malers Jean-Léon Gérôme (1824–1904) dargestellt ist.[1] Man erkennt ihn an seiner Tonne und an seiner Laterne. Die brüchige Tonne, die dem bedürfnislosen Philosophen als Unterkunft dient, ist auf dem Bild an ein repräsentatives Gebäude angelehnt, das zu einem städtischen Platz gehört. Zu vermuten ist, dass sich die Szene auf der Agora, dem zentralen Platz des alten Athen, abspielt.
Diogenes ist nur mit einem Lendentuch bekleidet. Ein Hemd, das ihm anscheinend auch noch gehört, ist an einer seitlichen Stange aufgehängt. Keine weitere HABE* ist erkennbar. Doch hält der Philosoph eine brennende Laterne auf den Knien. Offenbar hat er sie gerade angezündet. Ihr Licht ist nur schwach zu sehen. Vier Hunde umlagern die Szene im Halbkreis. Sie vertreten zusammen mit Diogenes dessen philosophische Schule der «Kyniker» (von griech. kyon «Hund»). So beobachten sie auf dem Bild des Malers aufmerksam, was der Meister wohl VORHAT.
Gleich wird der Philosoph aufstehen und bei Tageslicht mit seiner brennenden Laterne auf dem Platz umhergehen und dabei ausrufen: «Ich suche einen Menschen!» Woran er den gesuchten Menschen erkennen will, ist nicht überliefert. Sucht Diogenes vielleicht einen Menschen, der ihm selber darin gleicht, dass er so gut wie NICHTS HAT? Sind etwa die NICHT-HABENDEN oder HABENICHTSE überhaupt die besseren und menschlicheren Menschen, die man selbst bei Tageslicht mit der Laterne suchen muss?
Vielleicht hat sich Diogenes jedoch bei seiner Suche nach einem Menschen von der Philosophie seines etwas jüngeren Zeitgenossen Aristoteles anleiten lassen und mit dessen bekannter Beschreibung einen Menschen gesucht, der als ein Lebewesen gelten kann, das «Vernunft HAT» (logon ECHEI). Dann ist ein Mensch, wie ihn die Philosophen suchen, eben doch nicht nur an dem zu erkennen, was er NICHT HAT, sondern weit eher an dem, was er HAT, zum Beispiel an seinem «Logos»[2]. Daran wird für uns Nachgeborene ersichtlich, dass außer nach dem materiellen immer auch nach einem immateriellen HABEN zu suchen ist und dass dieses vermutlich mindestens so sehr ins Gewicht fällt wie jenes.
Um nun in jeder denkbaren Hinsicht herauszufinden, wie es sich überhaupt in der Welt mit dem HABEN und dem NICHT-HABEN verhält, haben wir dazu die Philosophie oder überhaupt eine eigene Wissenschaft nötig? Eine HABEN-Wissenschaft oder wie man sie nennen will? Es gibt sie noch nicht. Vielleicht kann dieses Buch ihr insofern zur Existenz verhelfen, als es zunächst diejenigen Wissenschaften befragt, die schon jetzt und seit langem zum Thema HABEN und NICHT-HABEN ein beachtliches Wissen angesammelt haben. Sodann aber müssen zu diesem alten Problem neue Fragen gestellt werden.
Solange nun diese HABEN-Wissenschaft – vielleicht zu ihrem Vorteil – ein offenes Projekt der Forschung bleibt, wollen wir uns in diesem Buch fürs erste mit einem bescheideneren Ziel zufrieden geben. Wenn schon keine fertige Wissenschaft zur Hand ist, hilft doch vielleicht die Kunst. Und zwar im alten und klassischen Sinne des Wortes, das heißt als eine kategorial geordnete und übersichtlich gegliederte Darstellung vieler unterschiedlicher Lebens- und Denkerfahrungen, wie sie im Laufe der Zeiten mit dem HABEN gemacht und dokumentiert worden sind, also als eine KUNST DES HABENS (ars habendi), die allerdings eine KUNST DES NICHT-HABENS (ars egendi) umschließen muss.
Diese Kunst des HABENS mitsamt ihrer negativen Gegenkunst, so viel steht von Anfang an fest, wird eher eine Kunst im Plural als im Singular sein. Denn für das HABEN gibt es schon jetzt viele Ansichten. Wie viele? Mindestens dreiunddreißig. Daher hat dieses Buch dreiunddreißig Kapitel. Sie sind jedoch zumeist kurz. Denn auch das Leben ist kurz. Doch die Kunst bleibt lang.
* Alle typographischen Auszeichnungen durch KAPITÄLCHEN stammen in diesem Buch vom Autor und kennzeichnen durchgehend die gewählte Thematik.
Der erste, den wir um Auskunft über das HABEN bitten wollen, soll der griechische Philosoph Aristoteles (4. Jh. v. Chr.) sein. Dieser Denker, der von der Nachwelt lange Zeit als der Philosoph schlechthin angesehen wurde («philosophus»), hat für viele Bereiche der philosophischen Reflexion die Grundlagen gelegt. So auch für das SEIN und das HABEN. Das ist hauptsächlich zu lesen in der sogenannten Kategorienschrift, einem relativ kurz gefassten Werk, in dem Aristoteles in locker geordneter Folge zehn ausgewählte Kategorien als Elementarbegriffe des Denkens behandelt. Diesen Kategorien sind nach seiner Lehre alle weiteren Begriffe als «Subkategorien» untergeordnet.[1]
Eine dieser zehn Kategorien, und zwar die achte in der aristotelischen Reihenfolge, ist das HABEN. Sie wird in der griechischen Sprache meistens verbal (echein), bisweilen auch nominal (hexis) ausgedrückt. Dem entsprechen in der lateinischen Überlieferung die Begriffe habere und habitus. Aus dieser Erhöhung in den Rang einer aristotelischen Kategorie ist dem HABEN ein begriffliches Prestige zugewachsen, wie es sonst bei einem gewöhnlichen Wort nicht leicht zu finden ist.
Die aristotelische Kategorienlehre verdient es, genauer angesehen zu werden. Sie ist ihrer Struktur nach ein Katalog, der zehn paarweise angeordnete Begriffe umfasst. Es sind die folgenden: SUBSTANZ – RELATION/QUANTITÄT – QUALITÄT/WO – WANN/LAGE – HABEN/WIRKEN – LEIDEN. Von diesen zehn Kategorien wird alles Nachdenken über die Welt vorgesteuert. Wie das zu verstehen ist, lässt sich zum Beispiel an der ersten Kategorie zeigen. Sie wird heute gewöhnlich Substanz genannt (nach lateinisch substantia). Doch heißt sie bei Aristoteles SEIN (verbal on, nominal ousia). Unter diesen Elementarbegriff fällt alles Seiende, insofern es kategorial in seinem SEIN betrachtet wird. Eben das ist nach aristotelischem Vorbild Gegenstand einer eigenen philosophischen Disziplin, der «Lehre vom Sein». Sie gilt seit der Antike als Kernthema der Metaphysik und wird seit Heidegger vorwiegend Ontologie genannt.
In ähnlicher Weise haben auch die anderen aristotelischen Kategorien zwei Jahrtausende lang das weitere Nachdenken der Philosophen intensiv angeregt, so dass sich für fast jede Kategorie eine eigene Denkschule gebildet hat. Für das hier zu besprechende HABEN sind jedoch nur relativ wenige Rezeptionserfolge dieser Art zu vermelden. Die Begriffsgeschichte der Kategorien lässt vielmehr erkennen, dass sich in der langen Aristoteles-Nachfolge zwischen der ersten Kategorie (SEIN) und der achten Kategorie (HABEN) eine beträchtliche Geltungsdifferenz aufgetan hat. Die Ousia ist eine Art Hochadel unter den Kategorien geworden, die Hexis gehört eher zum niederen Adel. Eine eigene «HABEN-Wissenschaft» hat sich jedenfalls aus Gründen, die noch zu erörtern sind, nicht oder nur in Ansätzen gebildet.
Wir wollen nun sehen, was Aristoteles selber zu seiner achten Kategorie geschrieben hat. Zunächst charakterisiert er das HABEN im vierten Kapitel kurz mit zwei Beispielen: «hat Schuhe an» und «hat eine Rüstung an». Warum diese einfachen Beispiele? Sie sind nicht trivial. In der Gesellschaft, in der Aristoteles gelebt hat, ist derjenige, der Schuhe anhat, ein HABENDER. Wer nichts hat, geht barfuß. Wer jedoch eine Rüstung hat oder anhat, gibt sich damit als WOHLHABEND zu erkennen. Er wird für eine lange Geschichtszeit als Reiter, Ritter oder Caballero ein Mann von Adel sein.
Im fünfzehnten Kapitel der genannten Schrift kommt Aristoteles ausführlicher auf die achte Kategorie zurück und beschreibt sie nun in Form eines mehrteiligen Katalogs, der ungefähr den Sprachgebrauch der altgriechischen Sprache ausschöpft:
«HABEN kann seiner Bedeutung nach ein Mehrfaches sein:
– ein Habitus oder eine Disposition oder sonst eine Qualität, da man ja sagt, dass jemand eine Fähigkeit oder Kompetenz HAT;
– eine quantitative Maßeinheit, zum Beispiel die Körpergröße, die jemand HAT, wenn man etwa sagt, dass jemand eine Größe von drei oder vier Ellen HAT;
– das, was den Körper umkleidet, zum Beispiel ein Mantel oder ein Gewand;
– das, was an einem Körperteil getragen wird, etwa ein Ring an der Hand;
– was selber ein Körperteil ist, zum Beispiel eine Hand oder ein Fuß;
– was etwas zum Inhalt HAT als dessen Behälter, wie zum Beispiel ein Scheffel Weizen oder ein Krug Wein, da man ja sagt, dass ein Scheffel soundsoviel Maß Weizen und ein Krug soundsoviel Maß Wein zum Inhalt HAT – man versteht hier also das Enthaltene als etwas, das umschlossen ist;
– ein Besitz, da man ja sagt, dass jemand ein Haus oder ein Feld HAT. Auch sagt man, dass jemand eine Frau HAT oder eine Frau einen Mann – aber diese Art HABEN ist eigentlich sehr wenig zutreffend – denn eine Frau zu HABEN heißt ja nichts anderes als mit ihr zusammenzuleben [griech. synoikein].
Nun mag es wohl sein, dass es noch andere Arten des HABENS gibt, aber die sprachüblichsten sind hier wohl aufgezählt.»
In seiner «Metaphysik» kommt Aristoteles noch einmal auf die Kategorie HABEN zu sprechen, wiederum in Form eines detailfreudigen Katalogs, in dem er das HABEN gleichfalls subkategorisiert. Das Erscheinungsbild dieser aristotelischen Kategorie wird dadurch zwar nicht mehr wesentlich verändert, doch trägt die Behandlung im Rahmen der Metaphysik (prima philosophia) erheblich dazu bei, dass auch der achten Kategorie die Beachtung der späteren Philosophen sicher ist.[2]
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Was ist jedoch insgesamt von der Kategorienlehre des Philosophen Aristoteles zu halten, wenn diese sich offensichtlich in der schwach geordneten Auflistung ziemlich heterogener Begriffe und Beispiele erschöpft? Recht wenig ist davon zu halten, war die Meinung von Immanuel Kant, der sich in seiner «Kritik der reinen Vernunft» eingehend mit den aristotelischen Kategorien befasst hat.[3] Von ihm muss Aristoteles sich vorwerfen lassen, dass die zehn Kategorien, so wie er sie konzipiert hat, trotz ihrer eindrucksvollen Rezeptionserfolge über mehr als zwei Jahrtausende hinweg viele Wünsche offen gelassen haben. Als «Stammbegriffe des reinen Verstandes» scheinen sie ihm in dieser Form nicht tauglich zu sein. Im Einzelnen macht er der alten Kategorienlehre Folgendes zum Vorwurf: «[Sie ist] rhapsodistisch, aus einer auf gut Glück unternommenen Aufsuchung reiner Begriffe entstanden, von deren Vollzähligkeit man niemals gewiss sein kann, da sie nur durch Induktion geschlossen wird, ohne zu gedenken, dass man noch auf die letztere Art niemals einsieht, warum denn gerade diese und nicht andre Begriffe dem reinen Verstande beiwohnen.»
Sein abschließendes Urteil über den Katalog der zehn aristotelischen Kategorien lautet: «Es war ein eines scharfsinnigen Mannes würdiger Anschlag des Aristoteles, diese Grundbegriffe aufzusuchen. Da er aber kein Principium hatte, so raffte er sie auf, wie sie ihm aufstießen, und trieb deren zuerst zehn auf, die er Kategorien (Prädikamente) nannte. In der Folge glaubte er noch ihrer fünfe aufgefunden zu haben, die er unter dem Namen der Postprädikamente hinzufügte. Allein seine Tafel blieb noch immer mangelhaft.»
Immerhin belässt es der Königsberger Philosoph nicht bei dieser harschen Kritik, sondern er tut dem Athener schließlich doch die Ehre an, seinen problematischen Katalog seinerseits in ein vernünftig geordnetes System zu bringen. Und so finden wir bei Kant eine neu konzipierte und nach seiner Überzeugung rational verbesserte Kategorientafel. Diese weist sich vor der Vernunftkritik insbesondere dadurch aus, dass ihre nunmehr zwölf Kategorien hierarchisch zur Ordnung gerufen sind. Sie sind nämlich nach Ober- und Unterkategorien gegliedert, wobei den vier Ober-Kategorien Quantität, Qualität, Relation und Modalität jeweils drei Unter-Kategorien zugeordnet sind. Wen wundert es da noch, dass bei dieser radikal-rationalen Umformung die für ihn anstößige Kategorie HABEN ganz auf der Strecke geblieben und ersatzlos gestrichen worden ist!
Mit einer solchen Systematisierung ist jedoch nicht nur dieser Kategorie, sondern darüber hinaus der höchst leistungsfähigen Denkform «Katalog» – man denke an den biblischen Dekalog der Gebote Gottes oder an den Katalog der verfassungsmäßig garantierten Menschenrechte – ein historisches Unrecht geschehen, wie Umberto Eco jüngst in einer Monographie über die Kunstform Katalog oder «Liste» im Einzelnen nachgewiesen hat.[4] Jedenfalls sollte Kants Kritik an den aristotelischen Kategorien im Allgemeinen und an der achten Kategorie im Besonderen kein Grund dafür sein, auf eine theoretische und praktische Nachfrage nach der Kategorie HABEN zu verzichten.
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Ein weiterer großer Kommentator der aristotelischen Kategorienlehre war, wenn auch mit mehr Respekt für deren Schöpfer, der Philosoph Friedrich Adolf Trendelenburg (1802–1872). Schon in seiner noch lateinisch vorgetragenen Berliner Antrittsvorlesung «De Aristotelis categoriis» (1833) hat er auf die erstaunlichen Parallelen zwischen den Lehren des griechischen Philosophen und dem zeitgleich gebrauchten Begriffsinstrumentarium der altgriechischen Grammatiker aufmerksam gemacht. Diese Überlegungen hat Trendelenburg sodann in seiner nunmehr deutsch abgefassten «Geschichte der Kategorienlehre» (1846) weitergeführt und auf den Punkt gebracht, dass die aristotelischen Kategorien keine reinen Geistesbegriffe sind, sondern die syntaktischen Grundbegriffe der griechischen Grammatik seines Zeitalters widerspiegeln.[5] So entspricht der ersten Kategorie der Substanz (oder des SEINS) das Substantiv. In den Kategorien des Handelns und Leidens, die im aristotelischen Katalog den neunten und zehnten Platz einnehmen, erkennt Trendelenburg – für Linguisten besonders leicht einsehbar – das grammatische Verbalgenus mit Aktiv und Passiv wieder. Und für die achte Kategorie schließlich, das HABEN, findet er die grammatische Entsprechung in der griechischen Tempusform Perfekt, insofern sie das Resultat einer Handlung ausdrückt (vgl. Kap. 8).
Werden mit einer solchen historischen Kritik nun die aristotelischen Kategorien in ihrer logischen und metaphysischen Relevanz entwertet? Das ist nicht die Meinung dieses Kritikers. Er bleibt vielmehr davon überzeugt, dass die Kategorien, so wie Aristoteles sie formuliert hat, durch den Nachweis ihrer sprachlichen Herkunft nichts von ihrem gedanklichen Rang eingebüßt haben, da der griechische «Logos» generell Sprachliches mit Gedanklichem widerspruchslos zusammengeführt hat.
Im September des Jahres 1770 kam es in einem Gasthof der Stadt Straßburg zu der schicksalhaften Begegnung zwischen dem 26-jährigen Theologen Johann Gottfried Herder und dem 21-jährigen Jura-Studenten Johann Wolfgang Goethe. Daraus entstand schnell eine Freundschaft, die beide schließlich nach Weimar führen sollte. Kurz zuvor hatte Herder von Straßburg aus – das war ein Fanfarenstoß – seine «Abhandlung über den Ursprung der Sprache» veröffentlicht, mit der er eine entsprechende Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften glanzvoll beantwortet hat.[1]
Aus heutiger Sicht ist Herders Abhandlung vor allem das Gründungsdokument einer für den deutschen Kulturraum neuen Disziplin des Denkens, der philosophischen Anthropologie, die sich mit Entschiedenheit von den Prämissen des cartesianischen Rationalismus abkehrt. Nicht mehr, was der Mensch IST, soll nunmehr gefragt werden, sondern nach welchen Naturgesetzen er das GEWORDEN IST, was er IST. Und er ist Mensch geworden durch das, was er als einziges Lebewesen der Schöpfung aus sich heraus geschaffen HAT: die Sprache.
Dass die Sprache in diesem Zusammenhang einen so hohen Rang einnehmen kann, ist altes philosophisches Gedankengut. Im Begriff des Logos sind bei den Griechen Vernunft und Sprache fest verbunden. Das ist der anthropologische Kontext, in dem auch die Kategorie HABEN einen festen Status erhält. Sie dient nun dazu, prägnant zum Ausdruck zu bringen, was den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet.
Um diese Zeit war Charles Darwin noch nicht geboren. Wir dürfen daher von Herder noch keine Evolutionstheorie erwarten, in der aus kleinen und kleinsten Mutationen und deren Korrekturen in den sehr langen Zeiten der Erdgeschichte neue Arten entstehen. Was Herder in seiner Schrift über das Werden der Sprache und folglich auch über die Menschwerdung des Menschen darlegt, ist hingegen ein großes Panorama der Schöpfung, in dem sich jedes Lebewesen – Pflanze, Tier, Mensch – durch kategoriale Merkmale definiert, die es als Gattung oder Art entweder HAT oder NICHT HAT. Daraus ergibt sich eine vertikale Stufung, die im Prinzip von unten nach oben oder von oben nach unten betrachtet und auch beschritten werden kann. Allemal bedeutet Aufstieg zugleich Rangerhöhung, Abstieg bedeutet Rangminderung, sodass der theologische Appell dieser Wertungen dem Menschen nahe legt, sich in seinem Streben immer nach oben, zur Gottesnähe hin, zu orientieren. Auf keinen Fall soll er sich in seinem Verhalten den niederen Lebewesen, Tier oder Pflanze, angleichen. Dabei hilft ihm als das «Meisterstück des menschlichen Geistes» die Sprache, das heißt, die Vernunft, denn es gilt die Maxime: «Ohne Sprache HAT der Mensch keine Vernunft und ohne Vernunft keine Sprache.» Dieser Logos wird bei Herder auch «Besonnenheit» genannt und als diejenige Fähigkeit verstanden, die es dem Menschenwesen ermöglicht, alle seine körperlichen und geistigen Kräfte auf ein großes Ziel hin zu bündeln und sich auf diese Weise schließlich zur Krone der Schöpfung zu machen.
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Um dieses sakkadische, das heißt stufenförmige Prinzip noch genauer zu verstehen, begeben wir uns für eine kurze Exkursion zurück in das Florenz der Hochrenaissance. Dort begeisterte der ebenso fromme wie genialische Philosoph Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) seine gelehrten Zuhörer mit einer seither berühmten Rede und Disputation über die «Würde des Menschen» (De hominis dignitate).[2] Das Privileg der Würde, das den Menschen auszeichnet, wird von dem Redner als die Gottesgabe definiert, die es ihm als einzigem Lebewesen der Schöpfung erlaubt, in der Welt diejenige Stellung einzunehmen, die zu HABEN (habere) er sich frei erwählt. Mit diesem Vorzug vermag der Mensch die ganze übrige Schöpfung «hinter sich zu lassen» (posthabere) und im Gotteslob nur noch mit Cherubim und Seraphim zu wetteifern. Wie kann das geschehen? Dazu dient dem Menschen, wie Pico in seiner frommen Philosophie lehrt, die biblische Jakobsleiter (nach Genesis 28, 10–15), deren Sprossen mit Gottes Hilfe hinauf und hinab bestiegen werden können. Wenn hinauf, dann «mit geflügelten Schritten» (alatis pedibus) in überirdische Höhen, wo der Mensch als «himmlisches Lebewesen» (caeleste animal) seinen würdigen Platz einnehmen kann. Das ist die einzigartige Freiheit, die nur der geistbegabte Mensch HAT und BESITZT (habet et possidet).
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Aus den Aufschwüngen der platonisch-florentinischen Philosophie wieder hin zu den bescheideneren Dimensionen der Straßburger Anthropologie, zu Herder also. Aus seiner mittleren Höhe schaut er als Anthropologe zunächst hinunter zu den Lebewesen der niederen Schöpfung. Er hat keine Zweifel, dass deren Wesensmerkmale in erster Linie negativ zu bilanzieren sind, also durch das, was Pflanzen und Tiere im Unterschied zu den Menschen NICHT HABEN, was ihnen also FEHLT oder was bei ihnen WEGFÄLLT.
Diese naturgesetzliche Mängelbilanz wird in Herders Text gelegentlich auch nominal zum Ausdruck gebracht, vorzugsweise durch solche Substantive wie «Kreis» oder «Sphäre», die grundsätzlich eng und einförmig vorzustellen sind. Sie nehmen den bei Herder noch nicht verfügbaren Begriff der Umwelt (Jacob von Uexküll) vorweg. Das ist also gemeint, wenn Herder einmal schreibt: «Jedes Tier HAT seinen Kreis», was allerdings auch positiv verstanden werden kann, da das Tier sich mit Hilfe seiner Triebe und Instinkte in diesem mehr oder weniger beengten Rahmen durchaus adäquat (heute würden wir sagen: artgerecht) bewegen kann. Für eine Sprache im vollen Sinne des Wortes gibt es jedoch unter diesen Bedingungen bei den Tieren keinen Bedarf. Es gilt sogar das Naturgesetz: «Je kleiner die Sphäre der Tiere ist, desto weniger HABEN sie Sprache NÖTIG».
In gewisser Weise, meint Herder weiterhin, sind die Tiere sogar um die Vorzüge ihrer «Eingeschlossenheit» zu beneiden. Denn in seiner Sphäre ist der Löwe König, und den Vogel Strauss kann kein Mensch im Lauf einholen. Verglichen also mit den Leistungen, die jedem Tier in seiner jeweiligen Sphäre abverlangt werden, erscheint ihm der Mensch als ein Lebewesen, an dessen Organausstattung die «Mängel und Bedürfnisse» nicht zu übersehen sind, zumal am Anfang seines individuellen Lebens, wenn das neugeborene Kind schwach und hilflos in die Welt «geworfen» ist. Anders also als beim Vogel Strauss, «der seine Eier in die Wüste legt», bedarf jedes menschliche Junge für lange Zeit menschlicher Hilfe und «geselliger Erbarmung».
In aufsteigender Betrachtung sind jedoch alle diese natürlichen Defizite, unter denen das Menschenkind als Naturwesen zu leiden hat, ebenso viele Anreize, gerade diejenigen Geisteskräfte mächtig auszubilden, mit deren Hilfe er ein »Lehrling der ganzen Welt» werden und «Sinne für alles» entwickeln kann. Dazu gehört wesentlich, nächst der «Bildung», auch die beständige «Fortbildung» der Sprache, die ihm am meisten dabei behilflich sein kann, sich für «eine Welt von Geschäften und Bestimmungen» aufs beste auszurüsten.
In diesem Zusammenhang schlägt Herder zwischen dem NICHT-HABEN und dem HABEN eine konditionale Gedankenbrücke, deren Konstruktion wir heute kompensatorisch nennen würden. Er ist nämlich überzeugt, dass nach den Naturgesetzen der Schöpfung im Verlust oft schon der Keim des Gewinns zu erkennen ist. Es kann demnach gar nicht anders sein, «als dass, wenn der Mensch Triebe der Tiere HÄTTE, er das NICHT HABEN KÖNNTE, was wir jetzt Vernunft in ihm nennen». In der Kategorie des seins statt des HABENS ausgedrückt, muss es sich folglich so verhalten, dass der Mensch, «wenn er kein instinktmäßiges Tier SEIN sollte, er vermöge der freier wirkenden positiven Kraft seiner Seele ein besonnenes Geschöpf SEIN MUSSTE».
Die Kompensatorik von konditionalen Schlussfolgerungen dieser Art hat ihre Wirkung auf Herders Lesepublikum nicht verfehlt und ist auf lange Zeit ein argumentatives Grundmuster der gerade im deutschen Sprachraum besonders geschätzten philosophischen Anthropologie geblieben. Sie hat jedoch andererseits auch erheblich dazu beigetragen, der Darwinschen Evolutionstheorie den Weg nach Deutschland zu erschweren und zu verlangsamen.
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Ein zweiter Grundpfeiler der philosophischen Anthropologie ist lange nach Herder am Anfang des 20. Jahrhunderts von dem Philosophen Max Scheler aufgerichtet worden. Es handelt sich abermals um eine kleine Abhandlung unter dem weit gespannten Titel «Die Stellung des Menschen im Kosmos» (1928). In diesem Text bildet der Husserl-Schüler Max Scheler, nun mit Unterstützung durch die Phänomenologie, den Herderschen Ansatz weiter, demzufolge der Mensch vor allem durch das Privileg der Wesensmerkmale, die nur er HAT, die «Sonderstellung» erkennen lässt, die ihn als einziges Geschöpf im Kosmos auszeichnet.[3]
In dieser viel gelesenen Programm- und Streitschrift (bei Scheler geht es immer auch gegen Kant) verschafft der Autor seiner anthropologischen Doktrin einen weiten Resonanzkörper, den er auch immer mitschwingen lässt, wenn er mit scharfen Kanten die Stufungen zwischen der anorganischen, der vegetativen, der animalischen und der menschlichen Schöpfung markiert. Mit Herder befindet er sich dabei auch insofern im Einklang, als er die vertikalen Sakkaden seines Panoramabildes vorzugsweise an HABEN-Sätzen festmacht, die jedoch fallweise für die niedrigeren Stufen als NICHT-HABEN verbucht werden.
So stellt Scheler zum Beispiel für die anorganischen Gebilde fest, dass sie KEIN Zentrum HABEN. Weiter aufsteigend in seiner Betrachtung, beobachtet er an den Pflanzen, dass ihnen jedes Bewusstsein FEHLT, so dass sie auch NICHT das Merkmal der «Lebenswachheit» BESITZEN. Auf der nächst höheren Stufe erkennt Scheler für das Tier zwar an, dass es «schon» eine Einheitsstruktur seines Nervensystems HAT und sich damit der ihm von der Natur zugemessenen «Umwelt» (wie Scheler jetzt mit Uexküll sagt statt Sphäre oder Kreis) artgerecht einpassen kann. In diesem eng umgrenzten Rahmen können die höheren Tiere sogar (er denkt hier an Köhlers berühmte Beobachtungen zum Werkzeuggebrauch der Schimpansen), außer ihren Instinkten und Gewohnheiten, auch «schon» eine gewisse funktionale Intelligenz BESITZEN. Aber im Tableau der Naturgeschichte bleibt es doch eine vorwiegend negative Bilanz, die das ganze Weltgebilde unterhalb der menschlichen Seinsebene kennzeichnet.
Nun kann man sich fast schon ausdenken, wie es auf der steilen Treppe der Schöpfung weiter oben aussieht. Auf der obersten Stufe ist endlich die HABEN-Seite der Bilanz erreicht. Alles nämlich, was die niederen Hervorbringungen der Schöpfung NICHT HABEN, das HAT der Mensch, und zwar in Glanz und Gloria. Er ist das einzige Wesen, das nicht «Umwelt», sondern «Welt» HAT. Mit seiner «Weltoffenheit» steht er folglich «hoch über» der sonstigen Schöpfung. Denn er ist das einzige Wesen, «das Geist HAT». In diesem Wesensmerkmal sind alle sonstigen Aspekte der Menschennatur fundiert. Weit hinter sich gelassen hat damit der Mensch als Geistträger alle anderen Geschöpfe, an deren Wesen ihn eigentlich nur zu interessieren braucht, was sie NICHT HABEN, nicht das, was sie HABEN.
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Zeitgleich mit Max Schelers knapp gefasster Schrift, im Jahre 1928 also, ist noch ein weiteres Hauptwerk der philosophischen Anthropologie erschienen: Helmuth Plessners umfangreiche Abhandlung «Die Stufen des Organischen und der Mensch».[4] In strenger Systematik fragt der Autor in diesem Werk nach den Wesensmerkmalen der organischen Formen: Pflanze, Tier, Mensch. In diesem Zusammenhang beschreibt er auch ausführlich die Lebensfunktionen des Körpers, denen er im lebendigen Ganzen der organischen Welt die wichtige Brückenfunktion zwischen Subjekt und Objekt des HABENS zuschreibt: «Lebendige Dinge […] HABEN wirkliche Eigenschaften, weil ihr SEIN so geartet ist, dass es etwas HABEN kann.» Doch gilt das anthropologische Interesse des Autors im Grunde weniger den Modalitäten des körperlichen HABENS, das er gelegentlich vereinfachend mit dem Besitzen gleichsetzt, und auch nicht eigentlich dem Objekt als seiner «Wirkeinheit», sondern in erster Linie dem Subjekt des HABENS, das er mit Vorliebe das Selbst nennt und als Kern oder Mitte des lebendigen Systems verstehen will. Durch diesen Subjektivismus lässt sich der Autor leicht vom HABEN ablenken. Zwar kann Helmuth Plessner noch formal gleichrangig eine «Welt des HABENS» einer «Welt des Seins» gegenüberstellen, doch ist gleichwohl in seiner Theorie des «gehabten Seins» nur schwer eine neue Ontologie erkennbar, die mit Heideggers «Sein und Zeit» (1927) hätte konkurrieren können.
So erfuhr der Gedankenflug der philosophischen Anthropologie in den Jahren 1927/28 einerseits noch einmal einen kräftigen Auftrieb (Scheler), andererseits aber wurde diese Lehre am Boden gehalten von einem wenig flugtauglichen Systemdenken (Plessner), so dass die Heidegger-Anhänger ein relativ leichtes Spiel hatten, die philosophische Anthropologie en bloc für überholt zu erklären. Was jedoch Scheler betrifft, der noch in eben diesem Jahr 1928 verstarb, so hat Heidegger von ihm in einem Nachruf lobend geschrieben, er sei «die stärkste philosophische Kraft in der gegenwärtigen Philosophie» gewesen. Immerhin sind manche Grundgedanken der philosophischen Anthropologie auch bei Heidegger und schon während der Arbeit an «Sein und Zeit» aufmerksam vermerkt worden und haben ihm bei seiner Erneuerung der Ontologie manches menschenkundliche Stichwort zugetragen.
Der Philosophenweg, der von Herder über die lange Zeitstrecke von mehr als anderthalb Jahrhunderten zu Max Scheler führt, weist fast genau in der Mitte eine Abzweigung auf, die uns zu Arthur Schopenhauer geleitet. Dieser große Sonderling unter den Philosophen der nachkantischen Philosophie war um die Mitte des 19. Jahrhunderts als Verfasser seines umfangreichen Jugend- und Hauptwerks «Die Welt als Wille und Vorstellung» (1818) bereits seit langem bekannt und schon halb vergessen, als er im Jahre 1851, fast aus dem Nichts, ein vergleichsweise kleines und scheinbar unbeachtliches Werk auf den Markt brachte, das aus seinem Verfasser zu seiner eigenen Überraschung auf der Stelle einen erfolgreichen Autor machte. Am Titel kann es nicht gelegen haben; abschreckender als mit dem halbgriechischen Wortpaar «Parerga und Paralipomena», das man annähernd als «Beiwerk und Abgelegtes» wiedergeben kann, lässt sich ein Buch kaum einführen. Doch sein Lesepublikum hat dem Buch oder genauer gesagt einem Teilstück von ihm, unter dem nun doch zum Lesen einladenden Titel «Aphorismen zur Lebensweisheit» einen überraschenden Erfolg beschert, der schließlich auch das Hauptwerk des Autors in die Berühmtheit nachgezogen hat.[1]
Schopenhauers «Aphorismen zur Lebensweisheit» können in gewisser Weise der Anthropologie zugerechnet werden. Doch ist es nicht die spekulative Anthropologie im Stile von Herder. Diese kommt bei Schopenhauer zwar auch zu Worte, jedoch nur versteckt in einer ausführlichen Fußnote, wie sie eigentlich nicht zur Literaturgattung der Aphorismen passt. So ist nur eine Art Sackgasse daraus geworden. Doch gibt es in der europäischen Literaturgeschichte noch eine andere anthropologische Gattung, die für Schopenhauer eher maßgeblich geworden ist. Sie verdankt ihre Bekanntheit zu gleichen Teilen ihrem Erfinder, dem Aristoteles-Schüler Theophrast, und ihrem Neuerfinder, dem französischen Schriftsteller La Bruyère im 17. Jahrhundert. Gemeint sind die von beiden Autoren so genannten «Charaktere», die zu verstehen sind als eine lebens- und weltkundige Vorstellung verschiedener Menschentypen, wie zum Beispiel des Melancholikers oder des Ironikers. Diese werden von den genannten Musterautoren jeweils katalogförmig aufgelistet und in einem witzig-aphoristischen Stil beschrieben.