DIE SEELE DER ANDEREN |
Mein Leben zwischen Indien |
und dem Westen |
Aus dem Englischen von Klaus Modick |
C.H.BECK |
Sudhir Kakar wuchs in der Geborgenheit einer indischen Mittelschichtsfamilie im Punjab auf, das damals noch Teil des britischen Kolonialreichs war. Das Ende der britischen Herrschaft bedeutete 1947 zugleich die Teilung des Subkontinents in zwei Staaten – Indien und Pakistan – mit einer Trennungslinie quer durch den Punjab. Flucht und Gewalt verschonten auch seine Familie nicht. Das Deutschland der 1960er-Jahre erlebte er als aufmerksamer Beobachter und Student in Hamburg, Mainz und Mannheim. Als Sudhir Kakar den großen Psychoanalytiker Erik H. Erikson kennenlernt, bekommen seine Berufswünsche ein klares Ziel, er etabliert sich über Stationen in Harvard und dem Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt als praktizierender Psychotherapeut und als weltweit anerkannter Kulturvermittler zwischen Indien und dem Westen. Sudhir Kakars Erinnerungen und Reflexionen erhellen nicht nur die Entfaltung der inneren Welt eines indischen Psychoanalytikers, sondern gewähren uns auch Einsichten in die tieferen Schichten der Auseinandersetzung zwischen den Kulturen.
Sudhir Kakar, geb. 1938, lebt als Psychoanalytiker und Schriftsteller in Goa, Indien. Er lehrte u.a. an den Universitäten von Harvard und Chicago, war Fellow am Institute for Advanced Study in Princeton und am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Seine Bücher wurden in 21 Sprachen übersetzt und er gehört, wie der Nouvel Observateur 2005 schrieb, zu den 25 renommiertesten Intellektuellen unserer Zeit. Zuletzt ist bei C.H.Beck von ihm erschienen: „Freud lesen in Goa“ (2008).
Den wahren Wert unserer Erfahrungen erkennen wir erst, wenn sie die Probe der Erinnerung bestehen.
Georges Duhamel
BEVOR ICH BEGINNE
2. Februar 2009
Goa
URSPRÜNGE
Juli–Oktober 1943
Lahore
VON VÄTERN UND MÄNNERN
1944–1945 Sargodha
1947–1948 Rohtak
EIN WILLKOMMENSGRUSS AN DIE WELT
1946–1955
Delhi – Shimla – Jaipur
KAMLA
1953–1958
Jaipur–Ahmedabad
REBELL AUS BEKANNTEM GRUND
1959–1964
Deutschland
IDENTITÄTSKRISE
1964–1965
Ahmedabad
DER ENTSCHLUSS
1965–1968
Wien–Harvard
AUF DEM WEG ZUM PSYCHOANALYTIKER
1968–1975
Ahmedabad–Frankfurt
EIN SEELENKLEMPNER IN DELHI
1975–1990
New Delhi
AN DER HOCHSCHULE UND IN DER WELT
1975–2000
New Delhi
ZWEI LIEBEN
RÜCKZUG IN DEN WALD
2003
Goa
EIN ENDE
DANKSAGUNG
Der Trick, sagte ich mir, die Einäscherung und den Rest des Tages ohne Zusammenbruch zu überstehen, bestünde darin, meine Aufmerksamkeit entschieden auf den Leichnam meines Vaters und das, was man mit ihm machen würde, zu konzentrieren, um sämtliche Fenster und Türen vor der Bilderflut aus der Vergangenheit zu schließen.
Im Wohnzimmer unseres Hauses in Jaipur, dem der Tod alle Vertrautheit geraubt hatte, beobachtete ich mit trockenen Augen, wie die beiden Männer die Bambusbahre vorbereiteten und mit Stroh bedeckten; meine Ohren waren betäubt vom murmelnden Singsang des Priesters, der krächzenden, frommen Musik von einem Schallplattenspieler in der Zimmerecke und dem Wehklagen von Frauen vor der Tür. Ich sah zu, wie der Barbier zum Auftakt der rituellen Körperwaschung, bei der ich mithelfen sollte, den Kopf meines Vaters kahl schor. Als mir der Priester einen feuchten Lappen gab, sagte ich mir, wenn auch nicht in diesen nunmehr wohl gewählten Worten: «Denk daran, dass es eine Leiche ist, totes Fleisch, nicht der Vater, den du verehrt und bewundert hast. Trenne den Beobachter von dem Schauspieler, der den Körper wäscht.» Und dennoch konnte ich nicht verhindern, dass ich beim ersten Kontakt mit seinem eiskalten Fleisch zurückzuckte. Meine wie mit eigenem Willen ausgestatteten Augen weigerten sich, den Blick von seinem Genital abzuwenden, von dem mächtigen patriarchalischen Phallus, der nun eingeschrumpft an einen mattblauen Oberschenkel sank.
Nach der Waschung wurde der Leichnam in ein derbes, weißes Tuch gewickelt; ich half dabei, es mit dicken Juteschnüren zusammenzubinden, damit es nicht verrutschen oder herunterfallen konnte, wenn die Bahre zum städtischen Leichenwagen getragen wurde, der draußen auf der Straße wartete. Die Sonne stand bereits hoch, als der Leichenwagen, gefolgt von den mit Trauernden voll besetzten Ambassador- und Fiatwagen, den Verbrennungsplatz am Fuß der Festung Moti Doongri erreichte, die die Herrscher Jaipurs zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts für Lust und Liebe, nicht für den Krieg erbaut hatten.
Indem ich versuche, mir die Einäscherung zu vergegenwärtigen, läßt mich meine Erinnerung im Stich. Sie liefert mir eher Eindrücke der Palastfestung, hoch gelegen über dem Verbrennungsplatz auf dem felsigen Ausläufer der Aravallis, aus dessen feinen Spalten orangefarbene und rote Bougainvillea hervorschauen. Ich frage mich, ob das Vergnügen an romantischen Rendezvous in Moti Doongri durch die tägliche Demonstration körperlicher Endlichkeit unten auf dem Platz gesteigert wird. Ich bin mir auch bewusst, dass dieser Gedanke nichts als die List meines Kopfes ist, mich von der Qual visueller Eindrücke der Verbrennung abzulenken.
Am schwersten fiel es mir, mit einem brennenden Bündel trockenen Grases um den Scheiterhaufen herumzugehen, das Feuer in der Nähe des Kopfes zu entzünden und dann mit einer Kelle geklärte Butter auf den brennenden Scheiterhaufen zu schöpfen, um die Verbrennung zu beschleunigen. Nachdem inzwischen achtundzwanzig Jahre vergangen sind, fällt es mir immer noch schwer, mir das letzte Bild ins Gedächtnis zu rufen: das Aufbrechen seines Schädels mittels einer langen Stange durch einen der Arbeiter des Verbrennungsplatzes, damit die Seele entweichen konnte, als der Körper erst halb verbrannt war. Die Seele meines Vaters. Die Seele eines Mannes, der nicht an die Existenz einer Seele glaubte. Ein Agnostiker, der das Leben liebte und unduldsam war gegenüber den religiösen Ritualen, die das Ende des Lebens begleiten, der aber wusste, dass sie lediglich den Zweck hatten, die endgültige Unwiderruflichkeit des Todes in die verstockten Herzen der Hinterbliebenen zu hämmern.
Erst als ich mit meiner Schwester, meiner Großmutter, Kamla und Prem, den Schwestern meiner Mutter, den drei Schwestern meines Vaters und seinen beiden überlebenden Brüdern wieder zu Hause war und auf dem blank gewaschenen Fußboden unseres leer geräumten Wohnzimmers saß, ließ ich meinen Tränen freien Lauf. Sie liefen über mein Gesicht und versuchten vergebens, den Abgrund zu füllen, der sich in meiner Seele aufgetan hatte.
*
Niedergeschlagen erwachte ich heute Morgen im Dorf Benaulim in Goa, wo ich nun wohne. Es bedurfte einiger Stunden und einiger Tassen Tee, bis mir einfiel, dass heute der 2. Februar ist, der Geburtstag meines Vaters, der 1982 starb. Heute wäre er 99 geworden. Seit seinem Tod habe ich am Vorabend seines Geburtstags oft von meinem Vater geträumt und den Tag gefeiert, indem ich ihn in meinem Traum ins Leben zurückholte. In den Jahren, in denen der Traum sich nicht einstellen wollte, erwachte ich morgens aus unruhigem Schlaf mit dem Gefühl, von einer unbestimmten Last niedergedrückt zu werden, bis mir manchmal erst Stunden oder gar einige Tage später einfiel, was meine Stimmung trübte. Ich frage mich, ob der Beginn der Niederschrift meiner Erinnerungen und der Geburtstag meines Vaters als ein «Jubiläumsreflex» der besonderen Art miteinander in Beziehung stehen. Wenn diese Erinnerungen in vielleicht zwei Jahren veröffentlicht werden, werde ich so alt sein wie mein Vater, als er starb. Die meisten von uns tragen sich mit der Vorahnung, dass wir die Lebenszeit unserer Eltern nicht übertreffen, dass es uns irgendwie untersagt ist, länger als sie zu leben. Ist die Niederschrift meiner Erinnerungen auch ein Versuch, dieser Angst zu begegnen? Oder ist das eine allzu phantastische Konstruktion? Vielleicht. Aber man sollte nie die Tragweite und Kraft des unbewussten Teils des menschlichen Geistes unterschätzen. Unser Unterbewusstsein bestimmt mehr als 90 Prozent unseres geistigen Lebens und ist deshalb nicht nur Freuds «Hexenkessel voll brodelnder Erregung» oder Platons «Begleiter bei wüster Prahlerei und Wollust», sondern gelegentlich eine präzise, wenn nicht gar pedantische Rechenmaschine.
Warum dann also diese Erzählung meines Lebens? War das Leben selbst nicht genug? Warum die Vergangenheit nicht ruhen lassen, anstatt sie auszugraben und in der Gegenwart zwangsläufig zu bestaunen? Wie jedermann bin ich mir der Unmöglichkeit eines Selbstporträts bewusst, der unvermeidbaren Auslassungen und Selbsttäuschungen eines Vorhabens, dessen einziges Gebot darin besteht, dass das Erzählen von Lebenserinnerungen dem eigenen Selbstwertgefühl keinen ernsthaften Schaden zufügen darf. Psychoanalytiker bilden keine Ausnahme von der Regel, dass Menschen in ihrer Wahrnehmung anderer Personen ziemlich genau, in ihrer Selbstwahrnehmung aber gestört sind. Ich kann nicht so tun, was einige Memoirenschreiber in früheren und psychologisch unschuldigeren Zeiten manchmal getan haben, als schriebe ich meine Erinnerungen zum erzieherischen Nutzen der Jugend nieder. Oder dass meine Erinnerungen zur Geschichtsschreibung beitragen. Ja, als ein seit fast dreißig Jahren in Delhi praktizierender Psychoanalytiker habe ich Einblicke ins Intimleben vieler Menschen gewonnen, die in den Augen der Welt bedeutend sind: Politiker, Künstler, Gelehrter, Journalisten, Industrieller. Manche habe ich beruflich kennengelernt, andere durch die Erzählungen ihrer Kinder, Gatten oder Geliebten. Ich habe keinen Grund und auch nicht den Wunsch, die ethischen Standards meines Berufs zu verletzen, indem ich schlüpfrigen Klatsch über die privaten Schwächen bekannter Persönlichkeiten ausbreite. Obwohl sie von einem Seelenklempner geschrieben sind, handelt es sich nicht um die Memoiren eines Seelenklempners. Mit Ausnahme beiläufiger Bezugnahmen auf einige Patienten, deren Fallgeschichten publiziert sind, bin ich keinem der Männer und Frauen, die auf diesen Seiten ein- und ausgehen, auf professioneller Ebene begegnet.
Spielt Eitelkeit beim Schreiben der eigenen Memoiren eine gewisse Rolle? Mit Sicherheit. Alle Memoiren sind immer auch Ausdruck von Selbstliebe, und seine Memoiren kann niemand verfassen, der mit Pascal glaubt, dass das Ich hasserfüllt sei. Einige der extremsten Manifestationen der Selbstliebe wie etwa Rousseaus Geständnisse, denen nichts zu trivial oder zu infantil ist (wie Probleme beim Urinieren und Katheter), sofern es den Verfasser betrifft, gelten sogar als Klassiker autobiografischen Schrifttums. Meine Selbstliebe siedelt deutlich unterhalb dieser Rousseau’schen Höhen, ist jedoch immerhin so ausgeprägt, es mit dieser «merkwürdigen Aufgabe, die darin besteht, von sich selbst zu sprechen»,1 aufzunehmen.
Der autobiografische Impuls kann auch durch die Aussicht befeuert werden, sich für die Verletzungen zu rächen, die einem das Leben zugefügt hat, indem man seine kalte Rache genießt. Ich bin nicht frei von Rachegelüsten, aber die Verletzungen sind mit zunehmendem Alter verheilt und verfügen nicht mehr über ihre frühere Kraft, mich in Wallung zu bringen. Ich blicke mit Gelassenheit auf sie zurück, obwohl mich gelegentlich ein Traum wissen lässt, dass der durch die eine oder andere psychische Verletzung vor langer Zeit provozierte Schmerz erst noch vollständig verwunden werden muss. Ich sehe in diesen Memoiren eher die Chance, meine Lieben wach zu rufen, als alten Hass zu schüren. Ich möchte all denen Leben verleihen, die ich geliebt habe, statt denjenigen übel zu wollen, von denen ich glaube, dass sie mir Schaden zugefügt haben, obwohl ich diesem Vorsatz wohl nicht immer erfolgreich folgen kann.
Wenn es eine vorherrschende Motivation beim Schreiben dieser Memoiren gibt, dann besteht sie darin, den Sinn des Lebens zu erfassen, der jene Ereignisse belebt hat, die mir in der Erinnerung als bedeutsam erscheinen. Memoiren, die sich nicht mit den emotional lebhaftesten Lebensabschnitten befassen, liefern nur einen halben Lebensbericht, und zwar den des unwichtigsten Teils. Wer seinen Erinnerungen freien Lauf lässt, für den gibt es keine Nischen und Winkel mehr, die nicht ausgeleuchtet werden können.
Vor langer Zeit habe ich einmal eine ähnliche Aufgabe absolviert, als ich bei meiner Lehranalyse während der Ausbildung zum Psychoanalytiker auf der Couch lag. Aber das war die Interpretation des gelebten Lebens eines Dreißigjährigen, der das emotionale Chaos ungelöster, vergangener Konflikte unterm wohlwollenden Blick des ihn ausbildenden Analytikers durcharbeitete. Diese Interpretation stammt nun jedoch von einem älteren Mann mit mehr Vergangenheit, der gelassen zurückblicken und die Geschichte leidenschaftlicher Momente, die mehr als seine Kindheit und Jugend umspannen, erzählen möchte. Die Erinnerungen stammen von einem, der die besondere Empfindungsstärke dieser Momente wachrufen will, ohne die Memoiren lediglich eine leblose Aneinanderreihung von Ereignissen wären. Einige dieser Momente verweisen auf innere Konflikte, ohne die sich keine Geschichten erzählen lassen. Die Erinnerung an einige andere Momente lässt mich immer noch innerlich vor Scham zusammenzucken oder vor Schuldgefühlen schrumpfen. Gleichwohl bin ich mir bewusst, dass ich im Gegensatz zu dem, was manche Psychoanalytiker vielleicht glauben, niemals genau wissen werde, wie sich alles zusammenfügte. Wie unser aller Leben wurde auch das meine von unbewussten Kräften bewegt, die ich nicht vollständig beherrschen und nur teilweise in jene Richtungen lenken konnte, die ich auch bewusst eingeschlagen hätte.
Geboren wurde ich am Montag, dem 25. Juli 1938, um 11 Uhr 40 in Nainital, einer Bergstation im Himalaja, die heute im Bundesstaat Uttaranchal liegt, zur Zeit meiner Geburt aber noch Teil der United Provinces von Britisch-Indien war. Die präzisen Koordinaten dieses nicht erinnerten Ereignisses liefert mein Horoskop, dem weiterhin zu entnehmen ist, dass der Sonnenaufgang um 5 Uhr 55 Ortszeit stattfand. Das trug zur Bestimmung der genauen Planetenkonstellationen zum Zeitpunkt meiner Geburt bei. Wie bei jedem Hindukind wurden meine Verbindung zum Kosmos und mein spezifischer Platz darin einige Tage später definiert – in einer schmalen Broschüre mit rosa Umschlag und dem Bild des Gottes Ganesha, der mit nackter Brust auf einem Thron sitzt und eine seiner rechten Hände segnend hebt. Es ist gut, dass wir uns nicht an den Augenblick unserer Geburt und den zentralen Platz im Universum, den wir in diesem besonderen Moment einnahmen, erinnern können. Sonst würde uns der Rest unseres Lebens wie ein langer Abstieg vorkommen, was er natürlich sehr wohl sein kann.
«Du hast deine Mutter beinah umgebracht!», sagte die Mutter meiner Mutter oft zu mir, wenn ich sie während meiner Schulzeit und der Jahre auf dem College besuchte; daraus sprach eher Stolz als Tadel über mein Geburtsgewicht von zehn Pfund und einen unstillbaren Hunger, der meine Mutter zu Tränen der Verzweiflung trieb. Der zufriedene Blick meiner Mutter angesichts der Erzählungen meiner Großmutter über die Heldentat meiner Geburt war nicht immer die reinste Freude; manchmal kam es mir so vor, als wäre ihr stolzer Blick von einem unterdrückten Vorwurf getrübt, der auf eine Schuld verwies, die ich niemals würde zurückzahlen können.
Meine ersten, lebhaften Erinnerungen stammen aus meinem fünften Lebensjahr. Es ist kein Zufall, dass diese Erinnerungen mit der Geburt meiner Schwester zusammenfallen, einem Störenfried im Paradies, in dem ich glücklich als einziges Kind gelebt hatte.
1938. Acht Monate alt.
Ludhiana, Februar 1941
Wenn ich mir Fotos aus meiner Kindheit anschaue, die meine Mutter so liebevoll ins Album geklebt hat und die von meiner Mutter oder meinem Vater auf der Rückseite mit den genauen Daten und Orten beschriftet wurden, fallen mir immer zuerst die Schwarz-Weiß-Fotos ins Auge, die mich als Zweijährigen zeigen. Die Fotos zeigen ein pummeliges Kind mit schulterlangen, an den Spitzen gelockten Haaren (die Zeremonie des Haareschneidens stand erst noch bevor), das im Garten unseres Hauses in Ludhiana in einem Kinderwagen oder auf der Lenkstange eines Fahrrads oder auf einem Felsen in Manali sitzt und den Fotografen, der vermutlich mein Vater ist, voller Vertrauen anlächelt.
Auf der nächsten Seite findet sich das kolorierte Foto eines Vierjährigen mit unfassbar lila Lippen (gegen eine Gebühr kolorierte der Fotograf einen Schwarz-Weiß-Abzug per Hand), gekleidet in Shorts und ein schlecht geschnittenes Hemd mit einem blauen Kragen, der aus einem dunklen, langärmeligen Pullover mit Diamantmuster ragt. Den Pullover hatte wahrscheinlich meine Mutter gestrickt, weil vorgefertigte Strickwaren wie überhaupt Konfektionskleidung erst viele Jahre später erhältlich waren. Das Hemd war wahrscheinlich von einem Schneider angefertigt, wie ich sie aus späteren Jahren erinnere, wenn sie auf den Veranden der verschiedenen Häuser hockten, in denen wir wohnten, während ich heranwuchs. Männer in mittleren Jahren mit grauen Bartstoppeln auf den eingefallenen Wangen, tief auf die Nase gerutschten Brillen mit runden Stahlgestellen, die sich über ihre Singer- oder Pfaff-Nähmaschinen beugten. Die Haare des Jungen sind nun kurz geschnitten, geölt und zu einem sauberen Seitenscheitel nach links gekämmt. Meine Mutter, wie schon zuvor ihre Mutter, glaubte fest daran, dass tägliches Ölen mit Kokosöl dichten Haarwuchs fördere und das Abreiben des Gesichts mit einer Paste aus Weizenmehl und Sahne die Haut heller mache. Auf diesem Foto ist das noch unschuldige Lächeln des Zweijährigen dem etwas frechen Grinsen eines Vierjährigen gewichen, dessen Augenwinkel sich in offensichtlichem Vergnügen kräuseln.
November 1941
Indem ich mir diese oder andere Fotos aus meiner Kindheit anschaue, auf denen nur ich mit meiner Mutter im Rahmen stecke und bewundernd zu ihr aufschaue, wobei sich ihr Gesicht zu meinem hinabbeugt, flimmern keine damit verknüpften Erinnerungen über die Leinwand meines Bewusstseins. Ich weiß, dass die autobiografische Erinnerung, die uns allen vertraut ist, mit etwa drei Jahren einsetzt, wenn sich im Gehirn die notwendigen neuronalen Pfade ausgebildet haben. Dennoch würde ich gerne glauben, dass das Fehlen früherer Erinnerungen auch damit zu tun hat, dass ich sie nicht brauchte. Es gibt die Geschichte eines Jungen, der während seiner ersten fünf Lebensjahre kein Wort sprach. Seine Eltern machten sich Sorgen. Sie hielten das Ausbleiben von Sprache für das Symptom einer schweren Störung und konsultierten reihenweise Kinderärzte, die dem Kind allesamt beste Gesundheit attestierten. Eines Tages, als die Familie am Frühstückstisch saß, deutete der Junge plötzlich auf die Schale mit Schokoladenpulver und sagte: «Ich will Schokolade in meine Milch.» Die Eltern waren überwältigt vor Freude. «Du kannst ja sogar vollständige Sätze bilden», strahlte der Vater. «Warum hast du nicht schon früher geredet?» «Weil ich es nicht musste», erwiderte der Junge.
1942. Vier Jahre alt.
Ich würde gerne glauben, dass ich vor meinem fünften Lebensjahr keine Erinnerung nötig gehabt habe.
Doch Spaß beiseite. Die frühen Jahre ohne Erinnerung und vor dem Spracherwerb, als ich mit meiner Mutter Teil eines verzauberten Zwei-Personen-Universums bildete, sind nicht unwiederbringlich dahin, nur weil die Art und Weise sich verändert hat, in der ich (wie alle Erwachsenen) wahrnehme und erinnere. Wie die meisten Menschen habe auch ich während meines ganzen Lebens immer wieder flüchtige Erinnerungen an die sinnliche Verschmelzung mit Körper und Geist der Mutter. Durch die Aushöhlung aller Selbstkontrolle mit einer Flut, die ich nur als außerordentliches Entzücken bezeichnen kann, sind diese flüchtigen Eindrücke eine Art blitzartiger Schub eines intensiven Zusammengehörigkeitsgefühls mit einer Person und in seltenen Fällen auch zu einem Musikstück, einem Kunstwerk oder einem Naturschauspiel. Mir gefällt die Vorstellung, dass in solchen Augenblicken Momente der Verschmelzung mit meiner Mutter während meiner ersten Lebensjahre wieder lebendig geworden sind, dass sich der frische Blick des Kindes kurzfristig über die erwachsene Wahrnehmung der Welt gelegt hat. Es handelt sich in der Tat um unbeschreibliche «Inseln der Erinnerung», wie C. G. Jung sie nannte, die durch ein Überfließen des Herzens aus einem Ozean des Unbewussten an die Oberfläche strömen. Ich glaube, dass solche flüchtigen Momente wort- und bildlose «Erinnerungen» an die Zeit sind, in der meine Liebesbeziehung zu meiner Mutter auf ihrem Höhepunkt war, als die Welt vom Strahlen unserer gegenseitigen Berauschtheit belebt wurde und ins Fundament meiner Psyche die Überzeugung pflanzte, dass das Universum von einem gütigen Geist durchdrungen ist, dem ich meine Zukunft getrost anvertrauen kann.
Wenn die Geburt meiner Schwester mir etwas vom Zauber dieser urgeschichtlichen, von der ständigen, wenn auch diffusen Gegenwart meiner Mutter durchfluteten Welt nahm und ihre Strahlkraft schwächte, dann lag das nicht an ihrem stillen Eindringen, sondern daran, dass ich mich bereits in die Welt meines Vaters und der Familie hineinbewegte, eine Welt, die paradoxerweise sowohl weiter als auch enger ist als die, in der ich mit meiner Mutter gelebt hatte. Die Geburt meiner Schwester fiel mit dem Erwachen meines Bewusstseins und dem Beginn meiner Identität zusammen.
Drei Monate vor dem erwarteten Datum der Geburt meiner Schwester kamen meine Mutter und ich im Juli 1943 nach Lahore, um bei meinen Großeltern zu wohnen. Töchter brachten ihre Kinder stets in ihren Elternhäusern zur Welt. Die schützende Aura ihrer Mütter, Tanten und anderer weiblicher Familienmitglieder, die sie während des Geburtsprozesses umgaben, galt als wichtiger als profane medizinische Erwägungen.
Mein Vater blieb in Sargodha, heute eine Stadt von über zwei Millionen Einwohnern, die 175 Kilometer nordwestlich von Lahore liegt. Damals, in den 1940er-Jahren, lebten in Sargodha weniger als hunderttausend Menschen. Gelegen in einer flachen Ebene, die ihre Fruchtbarkeit einem abzweigenden Kanal vom Fluss Jhelum verdankt und der Region Wohlstand beschert hat, war Sargodha die Markt- und Bezirkshauptstadt für die umliegenden Dörfer. Beladene Ochsenkarren voller Weizen, Zuckerrohr, Seide und Blutorangen, die wir «Malta» nannten, waren ein vertrauter Anblick in den Basaren von Ameena, Kachehri und Anarkali, die das Herz der Stadt bildeten. Mein Vater, der Justizbeamter in der britischen Kolonialverwaltung war, konnte uns nicht nach Lahore begleiten, weil er zu viel zu tun hatte. Angesichts der Aufgabe, ein riesiges Land mit geringem Personal zu verwalten, hatten die Briten zu Beginn ihrer Herrschaft legislative und exekutive Funktionen auf Bezirksebene zusammengelegt. Deshalb erstreckte sich der Aufgabenbereich meines Vaters vom Gerichtsvorsitz in der Stadt bis zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung im Verwaltungsbezirk, wo er die Pachteinnahmen überwachte, Grundbücher inspizierte und über Landansprüche und andere Konflikte in den Dörfern zu entscheiden hatte. Er hatte vor, uns Anfang Oktober zu besuchen, wenn die Geburt direkt bevorstehen würde.
Vater
Mutter
Mit einer Einwohnerzahl von fast 700.000 war Lahore Anfang und Mitte der 1940er-Jahre nach Delhi die zweitgrößte Stadt in Nordindien. Man war stolz, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das kulturelle Zentrum der Region zu sein. Nach dem Aufstand von 1857 gegen die Briten hatten viele Intellektuelle aus Delhi im Punjab Zuflucht gesucht, und die Stadt entwickelte sich zu einem Zentrum der urdischen und persischen Literatur. Durch die Eingliederung des Punjab in Britisch-Indien wurde Lahores herausragende Bedeutung noch weiter gefestigt, indem eine Reihe moderner Schulen und Hochschulen gegründet wurden, zu denen auch die ersten medizinischen und juristischen Hochschulen der Provinz zählten.
Offen für moderne westliche Ideen und Trends, blickte Lahore auf Delhi, die Hauptstadt Britisch-Indiens, als eine altmodische und provinzielle, von öden Bürokraten bevölkerte Stadt herab. Diese Haltung war nicht unähnlich derjenigen Bombays gegenüber Delhi in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zur Zeit meines Großvaters lebten in Lahore 250.000 Hindus und Sikhs; der Rest waren Muslime. Die Zahl der Hindus sank mit dem Ende der britischen Kolonialherrschaft im August 1947 auf weniger als 10.000, als Spannungen zwischen Hindus und Muslimen am Vorabend der Teilung des Landes zur Gründung der unabhängigen Staaten Indien und Pakistan führten und Lahore Pakistan zugeschlagen wurde. Ende August 1947 gab es dort nur noch weniger als 1000 Hindus und Sikhs.[1] Tausende zogen als Flüchtlinge nach Indien, während Tausende anderer dem Blutbad zum Opfer fielen, das mit der Teilung des Punjab einherging.
1943 war diese Zukunft undenkbar – aber welche Zukunft ist das schon? Lahore war eine friedliche Stadt gewesen, in der die verschiedenen Religionsgemeinschaften in beträchtlicher Harmonie und friedlichem Handel zusammenlebten, auch wenn sie ihre eigenen Traditionen und Lebensstile pflegten. Manche Stadtviertel wurden ausschließlich von Hindus und Sikhs bewohnt, andere waren gemischt und wieder andere rein muslimisch geprägt. Obwohl sie die Mehrheit bildeten, spielten Muslime fast keine Rolle im Geschäftsleben, in der Beamtenschaft oder anderen modernen Berufsgruppen. Die meisten Muslime waren entweder Handwerker oder arbeiteten als Angestellte in den Handwerks- und Industriebetrieben. Selbst in der Altstadt gehörten die meisten großen Herrenhäuser und Villen Hindus und Sikhs. Historiker haben verschiedene Gründe für die Rückständigkeit der muslimischen Punjabi angeführt. Manche behaupten, dass sie beim Bildungserwerb nachhinkten, weil vor der britischen Herrschaft die Sikhherrscher des Punjab Muslimen kaum Zugang zur Verwaltung gewährten. Weil die Sikhherrschaft nicht länger als 50 Jahre dauerte, beteuern andere, dass die Wurzeln der muslimischen Rückständigkeit weiter zurück in der indischen Geschichte liegen und bis in die Epoche der Mughals oder sogar des Sultanats zurückreichen. Im Gegensatz zur persischsprachigen, ausländischen Elite bekamen einheimische, konvertierte Muslime keine Stellen in der Mughal-Verwaltung. Die Mughals zogen besser qualifizierte Hindus den aus niedrigen Kasten zum Islam Konvertierten vor, die im Allgemeinen als Julaha (Weber) bezeichnet und von der persischsprachigen Mughal-Elite verachtet wurden.[2]
Die Chancen, die sich mit der Öffnung des Schulsystems boten, nachdem Punjab in Britisch-Indien eingegliedert worden war, wurden zumeist von Hindus und Sikhs wahrgenommen. Sie strömten in moderne Schulen, Colleges und Universitäten, um Rechtsanwälte, Ärzte, Wissenschaftler und Akademiker zu werden, und traten auch der Verwaltungsbürokratie bei. Zwischen 1870 und 1920 bildeten Hindus und Sikhs eine dynamische Mittelklasse, die in Lahore fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung von 300.000 ausmachte. Der Vater meiner Mutter, ein Chirurg, gehörte zur ersten Aufstiegswelle dieser florierenden Mittelklasse, während mein Vater, der in die Provinzverwaltung eintrat, von der zweiten Welle getragen wurde.
Neben den religiösen Unterschieden war Lahore in den 1940er-Jahren auch Schauplatz einer anderen Spaltung: auf der einen Seite eine durch und durch indische Innenstadt, umgeben von alten, verfallenen Mauern, auf der anderen neue Wohngebiete außerhalb der Stadtmauern, deren Bewohner eine westlich geprägte Modernität und einen Lebensstil annahmen, in dem sich ihre indischen Wurzeln mit europäischen beziehungsweise englischen Anmaßungen mischten. Sie waren Vorläufer der urbanen Mittel- und Oberschichten des heutigen Indien, deren Nachahmungstrieb nun aber nicht mehr England, sondern den Vereinigten Staaten gilt.
Auf der Schwelle zu dieser Gesellschaftsschicht, der sich mein Vater als Erster anschloss, lebte die wachsende Familie meines Vaters in einem dreistöckigen Haus in einer der vielen schmalen Gassen tief im Zentrum der Altstadt in Machhi Hatta. Im Gegensatz dazu wohnte die Familie meiner Mutter in einem großzügigen, einstöckigen Bungalow in der Nähe von Lawrence Gardens, benannt nach einem britischen Vizekönig, außerhalb der Stadtmauern. Wie viele andere Häuser um Lawrence Gardens, die hohen Richtern, Ärzten, aber auch reichen Geschäftsleuten und einigen Mitgliedern der muslimischen Aristokratie wie etwa den Tiwanas gehörten, lag der Bungalow meines Chirurgen-Großvaters hinter einem weitläufigen Rasen mit üppigen Shetoot-, Jamun- und Mangobäumen, die, wenn sie im Sommer Früchte trugen, mir als Jungen viel Freude machten. Die Klinik meines Großvaters, in die meine Mutter zu ihrer Niederkunft gebracht wurde, befand sich in der gleichen Gegend an der nahe gelegenen Nisber Road.
Großvater mütterlicherseits
Großmutter mütterlicherseits (mit Sudhir)
Im modernen Lahore war Lawrence Gardens eine der begehrtesten Adressen. Die Gegend schmückte sich mit derart modernen Symbolen wie dem Faletti’s Hotel, in dem indische Frauen aus der Oberschicht, modisch gekleidet in Chiffonsaris und dezenten, aber teuren Schmuck, sich nachmittags zu Tee und Gurkensandwiches trafen. Zum Zeitpunkt der Teilung des Landes im August 1947 tanzten in Faletti’s großem Ballsaal britische Offizielle und ihre Frauen, die Letzten der Kolonialverwaltung, zur sanften Musik eines goanischen, aus Bombay importierten Orchesters, während in der Nachbarschaft bereits von Brandstiftern gelegte Feuer wüteten.
Meine Kindheitserinnerung an den Vater meiner Mutter gilt nicht einer Person, sondern einer Präsenz. Es ist eine mürrische Präsenz, nicht unähnlich der des rechtschaffenen schwedischen Pastors in Ingmar Bergmans autobiografischem Film Fanny und Alexander. Ich erlebte Pitaji, wie mein Großvater genannt wurde, als einen Schatten, der sich morgens hob, wenn er das Haus verließ, um in seine Klinik in der Nisbet Road zu fahren, und die Fröhlichkeit und Lebendigkeit, die in seiner Abwesenheit aufkam, wieder dämpfte, wenn er abends zurückkehrte. Wenn er das Haus verlassen hatte, war es, als würde die Lautstärke, die meine Großmutter, Onkel, Tanten, Verwandte auf Besuch und Hausangestellte erzeugten, plötzlich aufgedreht, jedoch sofort wieder leise gestellt, wenn sein grauer (oder war er blau?) amerikanischer De-Soto-Wagen durchs Tor in die Einfahrt einbog. War ich zu ungestüm, flüsterte meine Mutter mir schnell ein Pst-Pst zu. Wenn ich von unserem Zimmer auf die Veranda oder nach draußen in den Garten gehen musste, bemühte ich mich, leise aufzutreten, weil der Weg am Wohnzimmer vorbeiführte, wo er abends saß und Whisky mit Soda trank. So war das im Winter. Im Sommer brachte ein Diener den Whisky mit Soda nach draußen auf den frisch gewässerten Rasen, wo er auf einem Liegestuhl saß und vor seinen Söhnen und Töchtern Hof hielt: Einer nach der anderen informierte ihn über die Fortschritte im Studium.
Mein späterer Eindruck von Pitaji ist der eines harten Mannes, der gegen sich selbst härter als gegenüber anderen war. Als einer der bekanntesten Chirurgen Lahores, von den Briten mit dem Titel Rai Bahadur ausgezeichnet, trug er sich wie jemand, den schwere Verantwortung zu Boden drückt und der zumindest von seiner Familie erwartet, nicht auch noch mit kleineren Beschwerden und Sorgen belastet zu werden. Andererseits hinderte ihn sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, das er mit den meisten Chirurgen teilte, nicht daran, sich als hingebungsvoller Patriarch um das Wohlergehen jedes Familienmitglieds zu kümmern und alle wichtigen Entscheidungen zu treffen. Für seine Entscheidungen hinsichtlich der Eheverbindungen seiner Kinder bereitete allerdings meine Großmutter behutsam den Boden. Nach seinem Tod hörte ich meine Onkel und Tanten manchmal sagen, Pitaji sei ein Mann mit rauer Schale, aber einem Herzen aus Gold gewesen. Während der erste Teil der Behauptung gewiss zutraf, frage ich mich, wie sehr der zweite eher ein frommer Wunsch gewesen ist.
Über Pitajis Herkunft weiß ich nicht viel, außer dass er schon früh Waise wurde und seine Familie aus einem Dorf im Bezirk Hafizabad stammte. Sein Vater war ein kleiner Beamter in der britischen Finanzverwaltung gewesen, und nach seinem Tod waren harte Zeiten für die Familie angebrochen. Pitajis langer Weg von einer Dorfkindheit bis zu den Gipfeln des Arztberufs in Lahore war gepflastert mit intellektueller Brillanz, harter Arbeit und einem ausgeprägten Sinn für Integrität. Obwohl er einen westlichen Lebensstil angenommen hatte – er trug maßgeschneiderte Anzüge, muffige Socken und Schuhe statt offener, luftiger Sandalen, die Lahores heißen Sommern viel angemessener gewesen wären, er ging lieber ohne Kopfbedeckung als mit einem Turban herum, aß zum Frühstück lieber geschmackloses Porridge und Toast als gefülltes Fladenbrot oder lockere, frittierte Puri mit gewürzten Kartoffeln –, war sein dörflicher Ursprung nicht völlig verschwunden. In einer meiner Kindheitserinnerungen, von der ich mir aber nicht sicher bin, ob sie aus der Zeit stammt, von der ich hier schreibe, sehe ich fasziniert zu, wie in der Küche seine Wasserpfeife vorbereitet wird: Das Messingbecken wird mit Wasser gefüllt, der mit Rohzucker umhüllte Ball aus rohem Tabak sorgfältig auf glühende Kohlen im Tongefäß an der Spitze des Ständers gelegt, der scharfe Rauch verwirbelt in der Luft. Anstatt zu seinem Feierabendwhisky eine Zigarette zu rauchen, paffte Pitaji lieber seine Wasserpfeife.
Pitajis Eintritt in die westlich geprägte, urbane Mittelschicht hatte auch dazu geführt, dass er die althergebrachte hinduistische Religionstradition Sanatan dharma, in der er erzogen worden war, über Bord warf. Er wurde ein begeisterter Anhänger der Arya Samaj, einer Reformbewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts in Nord- und Westindien Zulauf bekommen hatte. Als Resultat des Zusammentreffens von Hinduismus und westlicher Modernität versuchte die Arya Samaj der Kritik christlicher Missionare am Hinduismus etwas entgegenzusetzen, indem er zehn Prinzipien verkündete, von denen beispielsweise eines darin bestand, sich nicht mit dem eigenen Wohlergehen zufriedenzugeben, sondern auch im Wohlergehen anderer Befriedigung zu finden. Merkwürdigerweise wollte die Arya Samaj den Hinduismus modernisieren, indem sie die Hindus zur Rückkehr zu ihren vedischen Wurzeln aufrief. Sie verdammte die Unzahl hinduistischer Götter und Göttinnen, Götzendienst, Ahnenkult, Pilgerschaft, Priester, den Glauben an Avatare oder Verkörperungen Gottes, aber auch das soziale Elend des Kastensystems wie Unberührbarkeit und Kinderehen, weil all diese Phänomene in den Veden nicht vorkommen.
Ich bin mir nicht sicher, wie viele von Pitajis Geschwistern, die nicht die gleiche wirtschaftliche, intellektuelle und emotionale Reise angetreten hatten, seine neuen religiösen Überzeugungen teilten. Meine Großmutter teilte seine «protestantischen» Anwandlungen gewiss nicht, sondern hielt es lieber mit der Vertrautheit ihres eher katholischen Sanatan dharma, obwohl sie eine viel zu kluge Frau war, um ihm offen zu widersprechen. Als er sie heiratete, war sie noch ein Mädchen und Analphabetin; mit zwanzig lernte sie Englisch, weil sie darauf bestand, ihn nach Edinburgh zu begleiten, wo er sich nach seinem Medizinstudium in Lahore zum Chirurgen ausbilden lassen wollte. Pitaji ist hoch anzurechnen, dass er ihr bis zu ihrer Abreise sechs Monate lang jeden Abend gewissenhaft zwei Stunden Englischunterricht gab. Bezeichnenderweise benutzte er im Unterricht keine Anfängerfibel, sondern las ihr Charles Dickens’ Eine Geschichte aus zwei Städten vor; bis ins hohe Alter erinnerte sie sich an die ersten Sätze ihres ungewöhnlichen Schulbuchs: «Es war die beste aller Zeiten, es war die schlechteste aller Zeiten.»
Mataji, wie sie von allen genannt wurde, war eine bemerkenswerte, vitale Frau mit gesundem Menschenverstand, die den Haushalt führte wie eine Dorfgöttin, die, anders als die würdevolleren und ferneren Vatergötter, erdverbunden, handfest und den Ungewissheiten und Nöten des täglichen Lebens vollständig gewachsen ist. Bei mehreren Geburten in den Unterkünften der Dienerschaft half sie als Hebamme, kümmerte sich um die Küche und die Gemüsegärten, organisierte die Kuhställe, packte beim Kalben selber mit an und verabreichte kranken Tieren Arzneien. Wenn die Situation es erforderte, konnte sie sich jedoch auch an den Gesprächen mit Pitajis westlich gesinnten Freunden beteiligen. Wie auch andere Frauen in der Familie begriff Mataji intuitiv – und gab diese Intuition an meine Mutter weiter –, dass Religion zu einem Zauberberg gehört, der sich jenseits der alltäglichen Realität unseres Lebens erhebt. Wenn Religion etwas bedeuten soll, muss sie das Erlebnis des Zaubers und der Verzauberung vermitteln – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ich glaube, sie hatte recht. Über praktizierte Religion lässt sich sagen, was der große Jazzmusiker Duke Ellington über die Seele des Jazz ausdrücken wollte, als er eines seiner Stücke It don’t mean a thing, if it ain’t got that swing nannte. Die Götter und Göttinnen des alten Glaubens mögen illusorisch sein, aber sie und ihre Mythen sind notwendige und sogar wünschenswerte Illusionen, die unsere kleine, banale Welt der Alltäglichkeit erleuchten, eine Welt, die immer schon «unserer Erfahrung nicht angemessen und nicht dazu geeignet war, die Last unserer Hoffnungen zu tragen». Das Eintauchen in die Rituale, Pilgerschaften und andere barocke Praktiken des traditionellen Hinduismus lässt uns für kurze Zeit das transzendieren, was Yates «die Verzweifelung der Realität» nannte, und zwar auf eine Weise, die dem nüchternen Protestantismus der Arya Samaj, der «moderneren» Religion meines Großvaters, nie möglich gewesen wäre.
Ich erinnere mich, dass meine Mutter während der vier Monate, die wir 1943 in Lahore verbrachten, oft weinerlich wirkte. Sie neigte dann dazu, mich plötzlich fest zu umarmen, und ich versuchte, mich aus dieser Umarmung zu befreien. Aus den Briefen, die meine Mutter an meinen Vater schrieb, entnehme ich, dass sie sich in ihrem Elternhaus nicht wohlfühlte. Heute kann ich ihre Not teilweise auf eine Ängstlichkeit hinsichtlich der näherrückenden Geburt meiner Schwester zurückführen, die eine verdrängte Ambivalenz gegenüber meinem Vater beziehungsweise gegenüber Männern im Allgemeinen an die Oberfläche brachte, wenn sie etwa schreibt:
«Nachdem ich mich oft in den Schlaf geweint habe, schreibe ich Dir diesen Brief. Vorgestern fühlte ich mich elend, und gestern weinte ich wie ein Kind … Ich habe das Gefühl, untröstlich zu sein. Jetzt wird mir klar, dass Du mich verwöhnt hast. Wenn mir bei der Geburt meines Babys etwas zustößt, hoffe ich, dass Du Dich gut um Sudhir kümmerst, obwohl ich weiß, dass Du Dich wie jeder andere Teufel verhalten wirst.»
Aus anderen Briefen geht hervor, dass der Hauptgrund ihrer Unzufriedenheit dem Gefühl entsprang, die benachteiligte Tochter zu sein, eine arme Verwandte, die nach außen Haltung wahrt, in deren Innerem jedoch ein Anspruchsdenken herrscht. In den Briefen listet sie präzise das Geld auf, das sie sich von meiner Großmutter oder ihrer Schwester geliehen und ausgegeben hat und das zurückgezahlt werden muss. Sie scheint zu befürchten, dass mein Vater ihr Geldverschwendung vorwerfen könnte. Das Gehalt meines Vaters, etwa dreihundertfünfzig Rupien vor Steuern und verschiedenen Abzügen, reichte vielleicht aus, um den Lebensstandard zu sichern, der von einem jungen Beamten der Provinzverwaltung erwartet wurde. Es blieb aber kaum etwas übrig für Extraausgaben wie die Geburt eines Kindes oder Geschenke für die vielen Verwandten, wenn wir Lahore besuchten; in den weitverzweigten Familien meiner Eltern wurde ständig geheiratet oder noch ein Kind geboren. Außerdem war mein Vater neben allen anderen bewundernswerten Eigenschaften in seinen eigenen Worten «vorsichtig» im Umgang mit Geld. Bei den wenigen Malen, bei denen ich Streit zwischen meinen Eltern erlebte, drehte es sich um Geld; mein Vater warf meiner Mutter vor, verschwenderisch zu sein, was nicht der Fall war, jedenfalls nicht dann, wenn sie mir heimlich ein paar Scheine zusteckte, die sie von ihrem Haushaltsgeld gespart hatte, damit ich mir irgendeinen dringenden Kinderwunsch erfüllen konnte.
Der wirkliche Grund für die Traurigkeit meiner Mutter in Lahore bestand vermutlich darin, dass bei diesem Besuch ihre unbewussten Eifersuchtsgefühle gegenüber ihren beiden jüngeren Schwestern aufbrachen, aber auch Ressentiments gegen ihre Mutter, die sie brauchte und liebte, allerdings auch für ihr Schicksal verantwortlich machte. Meine Mutter hatte das Gefühl, unter ihrem Niveau geheiratet zu haben. Sie war die älteste der drei schönen Töchter von Rai Bahadur Ganesh Das Kapur, Absolvent des königlichen Colleges für Chirurgen, einer der hervorragendsten Ärzte Punjabs. Mein Vater war der Sohn eines Bauunternehmers, dessen Familie «Lahori» waren, verachtete Bewohner der Basare innerhalb der Stadtmauern. In einem ihrer Briefe an meinen Vater, den sie 1942 aus Dalhousie schrieb, einer Bergstation in Nordindien, in die, dem Beispiel der Briten folgend, die wohlhabenden Bürger der größeren Städte Punjabs wie Lahore, Amritsar, Ludhiana und Jullundhar während der Sommermonate reisten, um der Hitze der Ebenen zu entgehen, und wo sie mit ihrer Familie die Ferien verbrachte, lese ich:
Auf der Promenade herrscht immer Gedränge, aber vernünftiges Niveau bekommt man kaum zu Gesicht. Man sieht Amritsaris und Lahoris. Deine Nichte Pushpa ist mit Om Prakash [ihrem Mann] auch hier. Er hat für 100 Rupien im Monat eine kleine Zweizimmerwohnung, die sich zwei Freunde mit ihren Frauen und Kindern teilen.
Solche Leute kommen also hierher und leben dann auf diese Weise. Ihr Sohn ist genauso wie Jhalla [der geistig behinderte Sohn einer Schwester meines Vaters] … Bekommst Du Urlaub, oder musst Du wegen der Unruhen bleiben?
Bei den Unruhen, die sie erwähnt, handelt es sich um den Beginn der Quit-India-Bewegung, die von der Kongresspartei unter Führung Gandhis am 9. August 1942 gegründet wurde und die völlige Unabhängigkeit von den britischen Kolonialherrschaft forderte.
Alarmiert durch den Vorstoß japanischer Truppen, die die indische Ostgrenze zu Burma erreicht hatten, malten die Briten das Schreckgespenst eines von Japan versklavten Indien an die Wand, was jedoch der Entschlossenheit der Kongresspartei, die Briten zum Abzug aus Indien zu zwingen, nicht schmälerte. «Überlassen Sie Indien Gott, und falls das zu viel verlangt sein sollte, überlassen Sie Indien der Anarchie», sagte Gandhi, als er sich anschickte, mit der Parole Do or die! eine massive Kampagne zivilen Ungehorsams in Gang zu setzen.
Die Briten antworteten mit dem Verbot der Kongresspartei, sperrten Gandhi ein und verhafteten im ganzen Land Parteiführer. Ohne eine Führerschaft, die die Bewegung mit Gandhis Prinzip der Gewaltlosigkeit in Einklang bringen konnte, endeten die groß angelegten Protestaktionen, Demonstrationen und Arbeiterstreiks oft in Gewalt. Untergrundorganisationen verschärften die Lage, indem sie überall im Land Sabotageakte durchführten, Züge zum Entgleisen brachten, Regierungsgebäude in Brand steckten, Strom- und Kommunikationsleitungen unterbrachen. Auf eine Situation, die die Fortexistenz des Raj bedrohte, reagierten die Briten mit Straf- und Repressionsmaß nahmen, die von Hunderttausenden Männern durchgeführt wurden, auch von meinem Vater, der in der Armee, bei der Polizei und in der Verwaltung Dienst tat. Erst viel später begriff ich, dass einer der Kampfgesänge der Demonstranten, Toddie bachcha, hai, hai, vor den Regierungsbüros sich nicht gegen die Briten richtete, sondern dass sie zur Ausrottung ihrer «buckelnden Nachfahren» (toady offspring) aufriefen, Inder wie mein Vater, auf die sich die britische Kolonialherrschaft stützte.
Manchmal bedauere ich es, meinen Vater zu Lebzeiten nie nach seiner Arbeit als Amtsrichter während des Aufruhrs der indischen Unabhängigkeitsbewegung gefragt zu haben, als er dafür verantwortlich war, in Sargodha für Recht und Ordnung zu sorgen und über die zu richten, die Recht und Ordnung brachen. Wie konnte er die Erwartungen seiner britischen Vorgesetzten, die Freiheitskämpfer hart zu bestrafen, mit seiner indischen Herkunft und den nationalistischen Neigungen seines eigenen Vaters und dessen offener Unterstützung für den von Gandhi geführten Kampf in Einklang bringen? Hegte mein Vater insgeheim Sympathien für die Unabhängigkeitsbewegung? In Anbetracht der vielen alten Beamten des Raj, die später in ihren Memoiren behaupteten, im Grunde Nationalisten gewesen zu sein und als fleißige Beamte lediglich ihre Pflicht in der Kolonialverwaltung getan zu haben, möchte ich das gern glauben. Aber ich bin mir nicht sicher, ob mein Vater hinsichtlich seiner Loyalität ambivalent war. Ich kann mich nicht entsinnen, dass er seine Verbindung zum Raj je infrage gestellt hätte, bewunderte er das System doch dafür, einer korrupten Feudalherrschaft die Errungenschaften der modernen Zivilisation und der anarchischen indischen Gesellschaft Recht und Gesetz gebracht zu haben. Obwohl er starke indische Wurzeln hatte, war er doch auch ein Produkt des Kolonialismus seiner Zeit, in der viele unterjochte Menschen auf der ganzen Welt auf die Entwertung ihrer traditionellen Kulturen in einer Weise reagierten, die Psychoanalytiker als Selbstverteidigung mittels «Identifikation mit dem Aggressor», in diesem Fall dem Kolonialherrn, bezeichnen. Ich erinnere mich, wie er sein Leben lang darauf bestand, dass seine Kinder und später dann seine Enkel mindestens einmal am Tag Fleisch aßen – eine widerliche Prozedur für die hinduistische, vegetarische Lebensauffassung meiner Großmutter und Tanten.
«Alle Vegetarier sind sanfte, verklemmte Kreaturen, die sich leicht unterdrücken lassen», pflegte mein Vater zu sagen und tat so, als bemerkte er nicht, wie dabei seine Frau und Kinder in gespieltem Entsetzen mit den Augen rollten. «Was glaubt ihr wohl, warum uns die Briten seit Hunderten von Jahren beherrschen? Nicht wegen ihrer überlegenen Waffen, sondern wegen ihres unabhängigen Kampfgeistes, der vom Verzehr von Rind und anderem Fleisch kommt. Ein Elefant ist ungeheuer stark, lässt sich vom Menschen aber leicht versklaven. Eine Katze mag klein sein, wird aber stets für ihre Unabhängigkeit kämpfen.» Er selbst hätte jedoch nicht einmal im Traum daran gedacht, den Rindfleisch essenden Engländern nachzueifern, indem er selbst Rindfleisch gegessen hätte. Aber er hat mich von den meisten Nahrungstabus befreit, sodass ich ein Steak genießen konnte (natürlich gut durchgebraten), wenn ich mich außerhalb Indiens aufhielt; heilig war nur die indische Kuh.
Zusätzlich zu den Standesunterschieden gab es noch eine kleinere Differenz hinsichtlich der Stellungen meiner Eltern innerhalb der komplexen Kastenhierarchien. Ich möchte vorausschicken, dass ich während meiner Kindheit das Kastendenken zwar am Rande mitbekam, aber in unserem Alltag spielte es keine zentrale Rolle. Ich durfte mit den Kindern von Dienern aus niedrigeren Kasten und sogar mit Kindern kastenloser Muslime spielen. Sie konnten sich im Haus frei bewegen; lediglich zur Küche wurde ihnen der Zutritt von Cher Ram, unserem brahmanischen Koch aus den Hügeln von Garwhal, untersagt. Aber dieses Verbot verdankte sich weniger der Bedrohung, die diese Kinder gegenüber den Kastentabus von Reinheit und Unreinheit darstellten, als vielmehr einer exzentrischen Verteidigung der Küche, die er als sein privates Reich ansah, in dem sogar meine Mutter nur eine schwer zu tolerierende Besucherin war.
Die wenigen Gelegenheiten, an denen mir Kastenfragen bewusst wurden, ergaben sich, wenn die Mutter meines Vaters aus Lahore zu Besuch kam. Sie war schockiert und beklagte sich bei meinem Vater darüber, dass es Shanti, der unberührbaren Putzfrau, gestattet war, unsere Zimmer sauber zu machen oder sogar den Küchenfußboden zu fegen, wenn Cher Ram abwesend war. Provoziert von meiner Mutter, die auf meine Großmutter als eine Lahori-Analphabetin herabsah, schalt mein Vater seine Mutter wegen ihrer altmodischen Vorstellungen über Unberührbarkeit. Meine Großmutter zog sich dann schmollend in ihr Zimmer zurück, wo wir sie dann etwas grummeln hörten über das bevorstehende Kaliyug – das Zeitalter kurz vor dem Untergang des Universums, in dem alle moralischen Werte zusammenbrechen –, und dass sie nie wieder das Haus ihres ältesten Sohns betreten würde.