Eine Auswahl aus großen Autobiografien
Elsie Altmann-Loos – Maria Happel – Angelika Kirchschlager – Heinz Marecek – Erni Mangold – Cornelius Obonya – Elfriede Ott – Berta Zuckerkandl
© 2013 by Amalthea Signum Verlag, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Silvia Wahrstätter, vielseitig.co.at
Umschlagmotiv: Reinhard Trinkler
eISBN 978-3-902862-82-2
www.amalthea.at
Elsie Altmann-Loos
Mein Leben mit Adolf Loos
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Adolf Opel
ISBN 978-3-85002-846-2
eISBN 978-3-902862-44-0
Maria Happel
»Das Schnitzel ist umbesetzt«
Was bisher geschah …
ISBN 978-3-85002-797-7
eISBN 978-3-902862-32-7
Angelika Kirchschlager
»Ich erfinde mich jeden Tag neu«
Meine Lebenswege
Aufgezeichnet von Achim Schneyder
ISBN 978-3-85002-847-9
eISBN 978-3-902862-70-9
Heinz Marecek
Ich komme aus dem Lachen nicht heraus
Erinnerungen
ISBN 978-3-85002-760-1
eISBN 978-3-902862-07-5
Erni Mangold
Lassen Sie mich in Ruhe
Erinnerungen
Aufgezeichnet von Doris Priesching
ISBN 978-3-85002-766-3
eISBN 978-3-902862-09-9
Cornelius Obonya
Kommen Sie bitte weiter vor
Aufgezeichnet von Haide Tenner
ISBN 978-3-85002-844-8
eISBN 978-3-902862-68-6
Elfriede Ott
Worüber ich lache
Erlebte und gesammelte Anekdoten
ISBN 978-3-85002-826-4
eISBN 978-3-902862-24-2
Berta Zuckerkandl
Österreich intim
Erinnerungen 1892 bis 1942
Herausgegeben von Reinhard Federmann
ISBN 978-3-85002-836-3
eISBN 978-3-902862-30-3
Herausgegeben und mit einem Nachwort von
Mit zahlreichen Fotos und Dokumenten
Vorwort
1. DIE MUTTER
2. ES BEGANN 1917
3. DIE FREUDENMÄDCHEN
4. DER SENFTIEGEL
5. KARMA
6. BESSIE
7. DAS KLEINE ABENTEUER
8. SCHWERE JAHRE
9. WEIHNACHTEN MIT LOOS
10. DIE ZEITEN BESSERN SICH
11. OSKAR KOKOSCHKA
12. HOCHZEIT
13. DIE LETZTE BLAUE
14. RADETZKY-MARSCH
15. GLÜCKLICHER ALLTAG
16. MILLIONÄRE
17. LOOS AUF REISEN
18. SALON D’AUTOMNE 1920
19. LOOS UND DER LIEBE GOTT
20. DIE DOPPELCHIFFONNIERE
21. CHICAGO TRIBUNE
22. CÔTE D’AZUR
23. IN MEMORIAM MADAME D’ORA
24. DER KLEINE FINGER
25. DER PROZESS
26. DIE KLEINEN MÄDCHEN
27. CLAIRE
28. DIE MITZI
29. TIERGESCHICHTEN
30. DER LETZTE FRACK
Dokumentation
Adolf Loos: Zeittafel
Nachwort des Herausgebers
Personenregister
Die Autorin
Der Herausgeber
Wir liegen auf dem großen Ruhebett, der »Couch«, im dunkel getäfelten Wohnzimmer in Loos’ Wohnung. Wir liegen eng aneinandergeschmiegt unter den dicken Plaids, vollkommen angezogen, denn alles geschah so plötzlich, ich betrat das Zimmer, von der Straße kommend, wir wollten ins Dorotheum gehen, um einen japanischen Wandschirm anzusehen, den ich kaufen wollte, Loos hatte sich schon seinen Hut aufgesetzt – aber plötzlich umarmte er mich und trug mich auf das Ruhebett. Und jetzt liegen wir ganz still und wissen nicht, was uns geschieht. Wenigstens ich weiß es nicht.
Ich bin 17 Jahre alt und noch ganz unerfahren. Mein Herz klopft zum Zerspringen. Auch sein Herz klopft stark, ich spüre es durch seine dicke Homespunjacke; aber er spricht kein Wort, sondern schließt nur die Augen und drückt mich zart und vorsichtig an sich. Ich weiß nicht, wie lange wir so bleiben, ohne zu sprechen, ohne uns zu bewegen. Durch das Fenster scheint ein grauer Septembernachmittag, es ist ein früher, nasskalter Kriegsherbst. Im Zimmer ist es kalt, aber unter der dicken Decke fühlen wir keine Kälte.
Plötzlich springt Loos auf und schnürt seine beiden Schnürschuhe mit den verhassten Papiersohlen auf, zieht mir die Schuhe und die feuchten Strümpfe aus und sagt »Armes Kind« und reibt mir vorsichtig die Füße warm. Dann legt er sich wieder neben mich, umarmt und küsst mich. – »Warum legst du die Arme nicht um meinen Hals?«, fragt er, »bin ich dir zuwider?« Um Gottes willen denke ich, spürt er denn nicht, wie verliebt ich bin? Aber ich bin ganz unerfahren, ich kenne die Spielregeln nicht. Folgsam lege ich die Arme um seinen Hals, sein Kopf ruht in meinen Händen, ich spüre das feine, schon etwas schüttere Haar zwischen meinen Fingern, ich sehe das geliebte, schöne Antlitz mit den geschlossenen Augen dicht vor mir, mein Herz zerspringt fast vor Zärtlichkeit. Langsam beginnt es ganz dunkel im Zimmer zu werden. Die weißen Wände leuchten zwischen den dunklen Holzbalken. Der Straßenlärm, das Klingklang der Straßenbahn tönt so ferne hier im 5. Stock. Alles ist wie in einem Traum.
Loos küsst mich wieder, aber jetzt fühle ich Gefahr in seiner Umarmung. Ich mache mich los und springe auf. Auch er erhebt sich und jetzt folgt die notwendige, wenn auch etwas peinliche Erklärung. – »Ja, ich bin noch Jungfrau. Ich bin einem jungen Mann versprochen, aber er ist im Feld und ich war noch nie mit ihm allein.«
Meine Mutter hat mich mit diesem jungen Mann verlobt, als ich eben 14 Jahre alt geworden war, gerade als der Krieg begann; meine Mutter arrangiert alles in meinem Leben, aber sie gibt auch gut acht auf mich, nie hat sie uns allein gelassen. Im Grunde bin ich froh darüber, denn ich liebe den jungen Mann nicht. Aber jetzt ist Krieg, er ist im Feld und kommt nur alle sechs Monate auf ein paar Tage nach Wien, und so ist alles leichter zu ertragen.
Loos denkt nach. Er schüttelt den Kopf. »Was die Bürger nur für einen Wahn mit der Jungfrauenschaft haben«, sagt er. »Aber hab keine Angst, ich tu dir nichts. Du wirst deine Unschuld nicht verlieren. Ich habe kein Recht, dich unglücklich zu machen«, sagt er. Wir legten uns wieder auf die Couch, es war zu kalt im Zimmer, um zu sitzen. Loos lag jetzt ganz still, und ich konnte sehen, dass er nachdachte. Wenn er dachte und überlegte, hatte sein Gesicht einen ganz besonderen Ausdruck, er sah durch alle Dinge hindurch und vergaß die Umwelt. Vielleicht trug auch seine Schwerhörigkeit dazu bei. Ich lag also ganz still und wartete, was jetzt passieren würde, aber ich fühlte mich ziemlich unglücklich. Plötzlich erschrak ich. Loos hatte seine Hand auf mein Geschlecht gelegt, und wenn ich auch vollkommen angezogen war, spürte ich doch den Druck und den Magnetismus der ersten Männerhand, die mich berührte. »Erschrick nicht«, sagte er, »ich tu dir nichts. Ich will nur etwas sagen, etwas, das sehr wichtig ist, und ich bin es dir schuldig. Ich weiß ja nicht, ob du wiederkommen wirst, aber das musst du lernen. Siehst du, DAS«, und er drückte sanft auf meinen empfindlichsten Teil, »das ist das Wichtigste auf Erden. Um das dreht sich die ganze Welt. Wenn es das Geschlecht der Frau nicht gäbe, würde niemand arbeiten, denn niemand würde es interessieren, Geld zu verdienen, wozu, wenn man es niemandem geben kann? Wer würde sich etwas kaufen wollen, wenn er damit keinen Eindruck auf eine Frau machen könnte? Wen würde es interessieren, ein größeres Auto, eine schönere Krawatte zu besitzen? Die Fabriken würden stillstehen, die Erfinder nichts mehr erfinden wollen, selbst die Dichter hätten nichts zu besingen, wenn es keine Mädchen gäbe. Und die Arbeiter, die Bauern, würden sie etwa trachten, Geld zu verdienen, wenn sie niemanden hätten, kein Mädchen, das man mit einem schönen Halstuch oder einer färbigen Schleife erobern kann? Nein, ohne DAS wäre die Welt schon längst stillgestanden. Natürlich sind wir zu kultiviert, um uns das einzugestehen. Aber die Wilden malen ihre Totems überall hin, sie schämen sich nicht, die Wahrheit einzugestehen. Sie leben noch im Paradies. Wir, wir schämen uns. Weißt du, warum die Männer auf der Jungfrauenschaft der Frau bestehen? Damit die Frau keine Vergleichsmöglichkeit hat. Wenn die Braut nicht als Jungfrau ins Brautbett steigt, kann sie vielleicht herausfinden, dass ihr Mann gar nichts Besonderes ist, aber die Jungfrau hat keine Vergleichsmöglichkeit, denn sie kennt nichts anderes. Das ist der springende Punkt.« – Wieder spürte ich den sanften Druck seiner Hand. – »Vergiss das nicht, darum dreht sich die ganze Welt. Und jetzt ist es Zeit, dass du nach Hause gehst.«
Obwohl Loos schon 47 Jahre alt war, wurde er gerade in dieser Herbstwoche zum Militärdienst einberufen. Er war schon sehr taub, aber der Staat brauchte alle Männer, alte, junge, taube und halbblinde, alle wurden gerufen. Loos war Reserveoffizier, und sein Kader befand sich in Sankt Pölten. Er rückte somit in diese kleine Stadt ein. Da er Kurse und Vorträge in Wien hielt, wurde ihm gestattet, nur dreimal die Woche Dienst zu leisten. Es handelte sich natürlich um Bürodienst, ich konnte aber nie herausfinden, was er eigentlich in diesem Büro machte. Die übrigen drei Wochentage verbrachte er in Wien, und an den Nachmittagen waren wir beisammen. Die ganze Woche hindurch hatte ich Tanzstunde bei den Schwestern Wiesenthal, außerdem gab ich selber schon Tanzunterricht, und wenn ich um neun Uhr abends zu Hause war, schöpfte niemand Verdacht. Unsere Glückseligkeit begann dreimal in der Woche um drei Uhr Nachmittag und endete um acht Uhr abends.
An diesen Nachmittagen durchlebte ich mit Loos sein ganzes bisheriges Leben. Es gab nichts zu essen und außer Wasser nichts zu trinken. Es gab kein Stückchen Kohle, um das Zimmer zu heizen. Es gab kein Theater, kein Kino, nichts. Radio und Fernsehen waren noch lange nicht erfunden. In den Kaffeehäusern gab es keinen Kaffee und zu viele Bekannte, wir aber wollten allein sein.
Für uns gab es nur »die Couch«. Bald fand ich heraus, dass die Couch nicht ins Wohnzimmer gehörte, sondern ins Schlafzimmer, dass sie das Bett war, das Loos aus Feingefühl ins Wohnzimmer transportiert hatte, um mich nicht im Schlafzimmer zu empfangen. Wir schleppten unser Lager also ins Schlafzimmer zurück, das berühmte Schlafzimmer, das Loos für Lina, seine erste Frau, eingerichtet hatte. Es muss sehr schön gewesen sein, als es neu war, mit weißen Piquée-Vorhängen rundherum, die Mauern und Kästen versteckten. Placards gab es damals noch nicht in Wien. Auf dem Ruhebett war eine Unmenge weißer Felle ausgebreitet, die auch den Boden bedeckten. So war das Zimmer, als es neu war. Jetzt waren die Felle schmutzig und von Motten zerfressen und die Vorhänge zerschlissen. Ich wusch die Vorhänge und die Felle räumten wir weg.
Im Großen und Ganzen war Loos kein Freund von Änderungen in seiner Wohnung und jedes Mal, wenn ich saubermachen wollte, sträubte er sich dagegen. Auf den Büchern im Kaminzimmer lag der Staub fingerdick. – »Lass das doch«, sagte Loos, »es hat keinen Sinn, den Staub aufzuwirbeln. Er legt sich ja doch wieder hin. Komm unter die Decke, es ist so kalt, komm.«
Und so kam es, dass er mir nach und nach sein ganzes Leben erzählte. Er liebte die vergangenen Jahre, die Gegenwart war ja so hart und unschön. Hunger, Kälte, Tod und keine Hoffnung. Wir gingen manchmal ein bisschen spazieren. Die Mauern der Häuser waren voll von Plakaten: 4. Kriegsanleihe, 5. Kriegsanleihe. »Schau«, sagte Loos, »eine Kriegsanleihe beißt die andere in den Schwanz.« Wir lachten, aber es war uns nicht zum Lachen zumute.
’s ist Krieg, ’s ist Krieg, o Gott im Himmel wehre
und lindere die Pein.
’s ist leider Krieg, und ich begehre,
nicht schuld daran zu sein.
So schrie Karl Kraus in seinem Vortrag im Kleinen Konzerthaussaal, das »Gebet des Kaisers« vortragend. Wir standen da und zitterten, und innerlich weinten wir. Dann gingen wir in die Schankstube im Hotel Imperial und aßen eine dicke Suppe. Loos war sehr magenkrank, er hatte Magengeschwüre, und die Suppe war das Einzige, was er vertrug.
Als Loos einrücken musste, ging er zu Kniže, seinem Lieblingsschneider, und bestellte sich eine Uniform, die er selbst entwarf. Statt des vorschriftsmäßigen Feldgrau wählte er die braune Farbe der amerikanischen Uniformen. Die Hose war glatt und gewöhnlich wie eine Zivilhose, die Jacke der Uniform war der der amerikanischen Offiziere nachgemacht, mit vielen großen Taschen und einem hochgeschossenen Kragen, auf dem die zwei Sterne, die ihm als Oberleutnant gebührten, glänzten. Die Uniform stand ihm wunderbar, nur war es keine österreichische Uniform. Trotzdem trug er sie immer unbekümmert und ließ sich in ihr bei Setzer photographieren. Ich fragte mich oft, was wohl die hohen Offiziere in St. Pölten zu dieser sehr hübschen Maskerade sagten. Aber sie nahmen Loos als Soldat anscheinend nicht ernst und ließen ihn in Ruhe.
Durch die Kriegskost wurde er immer kränklicher. Bald bekam er einen längeren Krankenurlaub, den wir zu Hause verbrachten.
Unermüdlich wandern die Freudenmädchen die Straße auf und ab. Unermüdlich klappern ihre vertretenen Stöckelschuhe über das Straßenpflaster. Die müden Augen werfen rasche, abschätzende Blicke auf die Vorübergehenden. An den Straßenecken ruhen sie ein bisschen aus, manchmal bildet sich eine kleine Gruppe, und sie sprechen leise und schnell miteinander. Eine zündet eine Zigarette an und raucht rasch ein paar Züge. Dann trennen sie sich, laufen auseinander und wieder beginnt das Geklapper über das Straßenpflaster. Die Jüngeren sind meistens sehr mager, tragen dünne Kleidchen und schiefe Mützen. Die Haare sind durch vieles Färben verdorben, die Zähne verfault, das Gesicht mit Schminke verschmiert. Die Älteren sind gepflegter, sauberer, meistens recht dicklich, in Samt und Seide gekleidet, mit großen Federhüten auf dem Kopf. Im großen Ganzen ist es ein rechter Karneval, der da auf und ab geht. Und immer gibt es mehr und mehr Mädchen, die dieses Gewerbe ergreifen. Sie behaupten, es sei weniger anstrengend als Wäsche waschen oder Boden scheuern. Ich glaube, sie machen einen Rechenfehler.
Die Kärntnerstraße reicht vom Stephansplatz bis zur Oper, beide Gehsteige mit herrlichen Geschäften besäumt, in den Auslagen gibt es alles, was das Herz begehrt. Die Wiener gehen den ganzen Tag spazieren, sehen die Auslagen an, kaufen in allen Geschäften auf beiden Seiten der Straße. Während des Tages sind beide Seiten der Straße gleichberechtigt, es gibt keinen Unterschied. Aber sowie es dunkel wird, ändert sich das Bild. Die Freudenmädchen nehmen von der linken Straßenseite Besitz. Nur die linke Seite ist ihnen erlaubt, wehe wenn sie die Straße überqueren würden. Aber keine versucht es, sie wissen genau, es wäre unmöglich und sie würden auf der Polizeistation enden. So kommen sie dann vorsichtig aus der Annagasse, aus der Johannesgasse und stellen sich an die Ecken. Und wenn die Geschäfte schließen, beginnt die Wanderung.
Warum habe ich vor diesen Mädchen Angst? Ich bin doch kein Kind mehr, ich weiß, wozu sie da sind. Ich weiß, sie können mir nichts tun, und doch habe ich Angst. Nicht die schrecklich große Angst, die man vor einem wütenden Stier fühlt, nicht einmal diese komische Angst, die man vor den Naschmarktweibern hat, die einen manchmal beschimpfen, wenn man mit Hut und Einkaufstasche auf den Markt geht oder es wagt, zu handeln. Nein, es ist eine kleine dunkle Angst, so wie man sie vielleicht vor Fledermäusen hat. Ich kenne keinen lebenden Menschen, der jemals irgendeinen Zusammenstoß mit einer Fledermaus hatte. Trotzdem erzählt man Jahr und Tag das alte Märchen von der Fledermaus, die sich einem ins Haar verwickelt.
Und alle glauben es.
Jetzt habe ich plötzlich Mut und sehe den Mädchen ins Gesicht. Sie haben leere Augen, bekümmerte Gesichtszüge, sie sehen mich gar nicht und gehen auf und ab. Loos hält meinen Arm, und wir gehen ruhig durch die nächtliche Kärntnerstraße, auf der linken Seite.