Seit sie sechzehn Jahre alt ist, erfindet Rachel Gibson mit Begeisterung Geschichten. Mittlerweile hat sie nicht nur die Herzen zahlloser Leserinnen erobert, sie wurde auch mit dem »Golden Heart Award« der Romance Writers of America und dem »National Readers Choice Award« ausgezeichnet. Rachel Gibson lebt mit ihrem Ehemann, drei Kindern, zwei Katzen und einem Hund in Boise, Idaho.
Kate Sutter hob einen Becher mit heißem Rumpunsch an die Lippen und trank einen großzügigen Schluck. Valentinstag war eine absolut fantastische Erfindung, beschloss sie. Auf der Skala der »Tollsten Dinge der Welt«-Liste rangierte er irgendwo zwischen dem nackten Hintern ihres Ehemannes und dem vierkarätigen Tiffany-Diamanten an ihrem Finger.
Kate sah sich in der Duchin Lounge um, betrachtete die Girlanden mit Glitterherzen, die Rosen und flackernden Kerzen. Rosa und rote Herzen waren hinter dem Tresen und auf den großen Fenstern angebracht, die auf die schneebedeckten Hänge mit den gespurten Pisten hinausgingen, wo sich etliche abendliche Skifahrer tummelten. Sie war geschlagene sechs Stunden verheiratet und freute sich auf den Rest ihres Lebens.
Sie und Rob hatten ihre Hochzeitschwüre in der kleinen Kirche in Gospel geleistet und waren unmittelbar nach dem Empfang in die Flitterwochen aufgebrochen. Erster Stopp – die Duchin Lounge.
Nach dem letzten Sommer war ihr Großvater in den Ruhestand gegangen und hatte Kate die Leitung des M & S Market überlassen. An dem Tag, als Grace und er in einem nagelneuen Winnebago-Wohnmobil davongefahren waren, hatte Kate augenblicklich die neue Registrierkasse bestellt, mit der sich zugleich die Lagerbestände kontrollieren ließen. Ihr selbst gemachtes Brot war jeden Tag ausverkauft, der Absatz des Jalapeño-Gelees hingegen lief noch immer sehr schleppend.
»Ein Sun Valley Ale«, sagte eine Männerstimme neben ihr.
»Vom Fass oder aus der Flasche?«
»Flasche ist okay.«
Kate ließ den Blick über die ausgewaschenen Jeans und das blaue Flanellhemd bis zu den grünen Augen wandern. »Soll ich Ihnen mal mein Tattoo zeigen?«
Der Barkeeper stellte das Bier auf dem Tresen ab, und Rob hob die Flasche an die Lippen. »Soll das ein unsittliches Angebot sein?«
»Genau.« Sie stand auf und stellte sein Bier auf den Tresen. »Wir haben noch 920 Fantasien vor uns.«
Er nahm einen Schluck und stellte das Bier neben den Becher. »919«, korrigierte er mit einem lüsternen Grinsen, packte ihre Hand und verließ die Bar, so schnell ihn seine Füße trugen. »Aber wer zählt das schon?«
Der Valentinstag nervte. Und zwar ziemlich.
Kate Hamilton hob einen Becher mit heißem Rumpunsch an die Lippen und trank ihn aus. Auf der Liste der nervigsten Dinge der Welt rangierte dieser Tag irgendwo zwischen einem Sturz auf offener Straße und der hausgemachten Mortadellapastete ihrer Tante Edna. Ersteres war schmerzhaft und äußerst peinlich, Letzteres eine Scheußlichkeit vor dem Herrn.
Kate ließ den Becher sinken und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Der heiße Rum wärmte sie von innen heraus, brachte ihre Haut zum Glühen und tauchte den Raum in weiches, warmes Licht. Leider hatte er keinerlei Auswirkungen auf ihre Laune.
Sie suhlte sich im Selbstmitleid – etwas, das sie aus tiefster Seele verabscheute. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die sich gehenließen und in einem Tränenmeer versanken. Stattdessen war sie jemand, der sein Leben selbst in die Hand nahm. Aber für eine allein stehende Frau gab es keinen geeigneteren Tag, um sich wie eine Verliererin zu fühlen, als den, der in aller Welt den Liebenden gewidmet war.
Ein Tag, an dem jeder mit Herzen und Blumen, Pralinen und sexy Dessous beschenkt wurde. Menschen, die es nicht verdient hatten. Alle Menschen, nur sie nicht. Vierundzwanzig Stunden, die ihr unter die Nase rieben, dass sie nachts allein in einem ausgeleierten T-Shirt im Bett lag. Ein ganzer Tag, um deutlich zu zeigen, dass sie nur noch eine lausige Beziehung davon trennte, endgültig das Handtuch zu werfen, ihre Fendi-Pumps gegen bequeme Hushpuppies einzutauschen und ins Tierheim zu fahren, um sich eine Katze zu holen.
Kate saß auf ihrem Hocker in der Duchin Lounge der Sun Valley Lodge und sah sich im Raum um. Girlanden mit Glitzerherzen waren um die Messinggeländer der Bar geschlungen, die Tische mit Rosen und flackernden Kerzen dekoriert. Rosa und rote Herzen waren hinter dem Tresen und auf den großen Fenstern angebracht, durch die man die schneebedeckten Hänge mit den gespurten Pisten sah, wo sich etliche abendliche Skifahrer tummelten. Flutlicht erhellte die Pisten und tauchte sie in weißlich goldenes Licht und dunkle Schatten.
Die Gäste in der Duchin Lounge trugen die neueste Skimode – Pullis von Ralph Lauren und Armani, Fleecewesten von Patagonia und klobige UGG-Boots. Kate kam sich in ihrer Jeans und dem dunkelgrünen Pulli, der zwar perfekt passte und die Farbe ihrer Augen unterstrich, aber von keinem Edeldesigner stammte, ein klein wenig schäbig vor. Sie hatte ihn im Einkaufszentrum bei Costco erstanden, gemeinsam mit einer Kombipackung Unterhosen, einer Riesenflasche Shampoo und etwa zwei Kilo Margarine.
Sie drehte sich auf ihrem Hocker um und ließ den Blick zu dem Panoramafenster hinter der Bar schweifen. Wann hatte sie eigentlich angefangen, ihre Wäsche in Großpackungen im Supermarkt statt bei Victoria’s Secret zu kaufen? Und was hatte sie dazu getrieben, zwei Kilo Margarine in ihren Einkaufswagen zu legen?
Vor dem Fenster schwebten fedrige Schneeflocken zu Boden. Im Lauf des Nachmittags, kurz nachdem Kate über die Grenze zwischen Nevada und Idaho gefahren war, hatte es angefangen zu schneien und seitdem nicht mehr aufgehört – mit dem Ergebnis, dass sie für die Fahrt von Las Vegas nach Sun Valley fast neun Stunden statt der üblichen sieben gebraucht hatte.
Normalweise wäre sie ohne Pause durchgefahren, aber bei diesem Schneefall war das unmöglich gewesen. Nicht bei dieser Dunkelheit und in einem Gebiet wie der Sawtooth Wilderness, wo man Gefahr lief, nur weil man an einer Kreuzung versehentlich falsch abbog, in einem Kaff zu landen, in dem die Männer noch echte Bilderbuchmachos waren. Sie hatte vor, am nächsten Morgen die letzte Stunde hinter sich zu bringen, die sie noch von Gospel, Idaho, trennte, der Kleinstadt, in der ihr Großvater lebte.
Kate wandte ihre Aufmerksamkeit dem Barkeeper zu und bestellte ihren dritten Punsch. Der Barmann musste Ende zwanzig sein, mit dunklem, lockigem Haar und einem verschmitzten Funkeln in den Augen. Er trug ein weißes Hemd und schwarze Hosen, war jung, attraktiv und trug einen Ehering am Finger.
»Darf ich Ihnen sonst noch was bringen, Kate?«, fragte er mit einem jungenhaften Grinsen. Er hatte sich ihren Namen gemerkt – also verstand er seinen Job. Doch statt diese Qualität zu würdigen, war ihr erster Gedanke, dass er höchstwahrscheinlich eine Menge heimlicher Affären hatte. Das hatten Männer wie er grundsätzlich.
»Nein, danke«, erwiderte sie und schob ihre zynischen Gedanken in den hintersten Winkel ihres Gedächtnisses. Es gefiel ihr nicht, dass sie so negativ geworden war; sie verabscheute all die kleinen Pessimisten, die sich in ihrem Kopf eingenistet hatten. Sie wollte die alte Kate zurückhaben, jene Kate, die nicht so zynisch war.
Überall an den Tischen und in den Nischen saßen Paare, die bei einer Flasche Wein lachten, plauderten und sich küssten. Kates Valentinstagdepression verstärkte sich noch ein wenig.
Genau vor einem Jahr hatte Kate auch mit ihrem Freund Manny Ferranti im Le Cirque in Las Vegas zu Abend gegessen. Damals war sie dreiunddreißig, Manny neununddreißig gewesen. Beim Krabbencocktail hatte sie ihm erzählt, sie habe eine Suite im Bellagio reserviert. Beim Kalbsbraten hatte sie ihm ihr Höschen ohne Schritt und den dazu passenden BH beschrieben, den sie unter ihrem Kleid trug. Beim Dessert war sie auf das Thema Heirat gekommen. Sie waren zu dieser Zeit zwei Jahre zusammen gewesen – lange genug in ihren Augen, um über eine gemeinsame Zukunft zu sprechen. Doch stattdessen hatte Manny sie am nächsten Morgen in die Wüste geschickt. Nachdem er ausgiebig von der Suite und besagtem Höschen Gebrauch gemacht hatte.
Kate war beinahe ein wenig überrascht gewesen, wie gut sie mit der Trennung zurechtgekommen war. Na ja, vielleicht nicht direkt gut. Sie war ziemlich sauer gewesen, aber nicht völlig am Boden zerstört. Sie hatte Manny geliebt, andererseits war sie eine pragmatische Frau. Manny hatte eindeutig unter einer Beziehungsphobie gelitten, und sie hatte keine Ahnung, warum ihr das nicht schon früher aufgefallen war. Neununddreißig Jahre alt und noch nie verheiratet gewesen? Der Mann musste ein echtes Problem haben, und sie hatte nicht die geringste Lust, ihre Zeit mit jemandem zu verschwenden, der sich nicht binden wollte. Das kannte sie bereits zur Genüge von früheren Partnern, die jahrelang mit ihr zusammen gewesen waren, sich aber nie auf eine feste Beziehung einlassen wollten. Also, Schluss damit.
Zumindest war das bis vor ein paar Monaten ihre Devise gewesen, als sie Mannys Hochzeitsanzeige in der Zeitung entdeckt hatte. Sie hatte im Büro gesessen und das Las Vegas Review-Journal auf der Suche nach den öffentlichen Bekanntmachungen durchgeblättert, um nachzusehen, ob irgendwelche der vermissten Menschen, die sie suchte, inzwischen tot aufgefunden worden waren – und da hatte sie gestanden, eine hübsche kleine Anzeige mit Foto, das einen glücklichen und verliebt wirkenden Manny mit einer Brünetten zeigte.
Manny hatte also innerhalb von nicht einmal acht Monaten nach der Trennung von ihr eine andere Frau gefunden und sie geheiratet. Er hatte kein Problem gehabt, sich zu binden. Absolut nicht. Er hatte nur ein Problem damit gehabt, sich an Kate zu binden. Was schmerzhafter war, als sie vermutet hätte. Schmerzhafter als die Trennung selbst. Schmerzhafter, als nach einer heißen Liebesnacht einfach abserviert zu werden. Diese Erkenntnis tat ihr im Herzen weh; sie schnürte ihr die Kehle zusammen und bestätigte etwas, was sie nicht länger ignorieren konnte.
Mit ihr stimmte etwas nicht.
Etwas, das nichts mit ihrer Größe von gut einem Meter siebenundsiebzig, ihrer Schuhgröße einundvierzig und ihrem flammend roten Haar zu tun hatte. Sie war Privatdetektivin und verdiente ihren Lebensunterhalt, indem sie auf der Suche nach Motiven und versteckten Absichten im Leben anderer Menschen herumstocherte. Sie nahm ihre Biografien, ihre privaten und gesellschaftlichen Gewohnheiten unter die Lupe, nahm sich aber nie genug Zeit, um dasselbe mit ihrem eigenen Leben zu tun.
Der Anblick von Mannys Hochzeitsanzeige in der Zeitung hatte den Ausschlag gegeben. Das hatte sie gezwungen, ihr eigenes Leben genauer zu betrachten, etwas, was sie bis dahin tunlichst vermieden hatte. Und dabei war sie zu der Erkenntnis gelangt, dass sie sich grundsätzlich zu unerreichbaren Männern hingezogen fühlte. Zu Männern, die ihre Augen nicht von anderen Frauen lassen konnten, zu Männern mit heimlichen Freundinnen oder massiven Bindungsängsten.
Vielleicht hatte sie immer geglaubt, sie verdiene es nicht besser oder brauche eben die Herausforderung. Sie konnte nicht genau sagen, warum sie stets an Männer geriet, die für keine Frau erreichbar waren, aber eines stand fest: Sie war all die unbefriedigenden Beziehungen und den Liebeskummer endgültig leid.
Am Tag, nachdem sie auf Mannys Anzeige gestoßen war, hatte sie unverbindlichen Beziehungen endgültig den Rücken gekehrt. Sie hatte sich geschworen, sich nur noch mit Männern einzulassen, die noch zu haben waren und sich nicht mit unüberwindlichen Problemen herumschlugen. Sie hatte sich in ihre Arbeit gestürzt, ihren Job, den sie liebte und in dem sie verdammt gut war.
Damals hatte sie noch für Intel Inc. gearbeitet, eine der renommiertesten Detekteien in Vegas. Sie war mit Leib und Seele Privatdetektivin gewesen und hatte alles an diesem Job geliebt – vom Ausspionieren irgendwelcher Mistkerle, die versuchten, eine Versicherung oder ein Casino zu betrügen, bis zur Zusammenführung von Liebespaaren oder Familienangehörigen, die sich vor langer Zeit aus den Augen verloren hatten. Galt es, untreue Lebensgefährten, Verlobte oder Freundinnen auszuspionieren, dann hatte sie das auch getan. Hey, wenn eine Frau oder ein Mann fremdging, verdiente er oder sie es doch, erwischt zu werden. Und wenn er oder sie unschuldig war (was so gut wie nie vorkam), war es auch nicht weiter schlimm. Wie auch immer die Überwachung endete, es war nicht ihr Problem. Kate wurde für die Zeit bezahlt, die sie investierte, und wenn sie ihren Job erledigt hatte, war sie wieder weg …
Bis zu dem Tag, als Randy Meyers in ihr Büro im vierten Stock gekommen war. Randy war kein besonders bemerkenswerter Mann gewesen, weder gut aussehend noch hässlich, weder groß noch klein – er war einfach nur da gewesen.
Er hatte sich an Intel Inc. und an Kate gewandt, weil seine Frau mit ihren beiden gemeinsamen Kindern verschwunden war. Er hatte Kate das typische Familienfoto vor die Nase gehalten, eines von den Dingern, die man für dreißig Dollar in jedem Einkaufszentrum bekommt. Alles an dem Foto hatte völlig normal ausgesehen – von den zueinanderpassenden Pullovern, über den Bürstenhaarschnitt des Jungen bis zum fehlenden Vorderzahn des kleinen Mädchens.
Und auch über Randy hatte sie nichts Ungewöhnliches herausgefunden. Er hatte kein Vorstrafenregister, galt nicht als gewalttätig gegenüber seiner Familie. Er hatte wie angegeben als Autoverkäufer in der Valley Automall gearbeitet und in der Freizeit die Pfadfindergruppe seines Sohnes geleitet. Außerdem hatte er die Fußballmannschaft seiner Tochter trainiert, und er und seine Frau Doreen hatten gemeinsam Kurse an der Volkshochschule besucht.
Es war nicht weiter schwierig gewesen, seine Frau und die Kinder aufzustöbern. Ganz und gar nicht. Doreen hatte sich nach Waynesboro, Tennessee, zu ihrer Schwester geflüchtet. Kate hatte Randy die gewünschten Informationen gegeben, den Fall offiziell abgeschlossen und hätte nie wieder einen Gedanken daran verschwendet, wäre Randy nicht vierundzwanzig Stunden später als Hauptmeldung in den Abendnachrichten wieder aufgetaucht. Was er seiner Frau und seinen Kindern angetan hatte, bevor er sich selbst richtete, schockierte das ganze Land. Und Kate hatte es in ihren Grundfesten erschüttert.
Bei diesem Fall war es unmöglich gewesen, nicht betroffen zu sein. Bei diesem Fall hatte sie sich nicht sagen können, es sei nicht ihr Problem, weil sie nur ihre Arbeit gemacht habe. Bei diesem Fall hatte sie nicht einfach die Akte schließen und sich an den nächsten Auftrag machen können.
Eine Woche später hatte sie gekündigt, ihren Großvater angerufen und ihm gesagt, sie komme ihn für eine Weile besuchen. Ihre Großmutter war zwei Jahre zuvor gestorben, und Kate wusste, dass ihr Großvater Stanley schrecklich einsam war. Er konnte ein wenig Gesellschaft gut gebrauchen, und für sie wäre ein kleiner Tapetenwechsel genau das Richtige. Sie wusste noch nicht, wie lange sie bleiben würde, aber jedenfalls lange genug, um sich in Ruhe zu überlegen, was sie als Nächstes tun wollte.
Sie wandte sich der Bar zu und trank noch einen Schluck. Der Rum glitt warm ihre Kehle hinunter und weckte ihre Lebensgeister. Entschlossen schob sie die Gedanken an die Meyers-Familie beiseite und richtete den Blick auf die Herzen, die hinter der Bar befestigt waren. Es war Valentinstag, was sie daran erinnerte, dass sie seit Monaten keine aufregende Verabredung mehr gehabt hatte. Keinen Sex mehr seit Manny und dem Bellagio. Manny fehlte ihr im Grunde nicht, die Intimität mit einem Mann hingegen schon. Sie vermisste die Berührung kräftiger Männerhände. Manchmal wünschte sie sich, zu den Frauen zu gehören, die einfach einen Mann in einer Bar aufgabeln. Keine Reue. Keine Schuldzuweisungen. Kein Bedürfnis, vorher sein Vorstrafenregister zu überprüfen.
Manchmal wünschte sie, sie wäre ein wenig mehr wie ihre Freundin Marilyn, deren Motto »Wer rastet, der rostet« lautete, als besäße ihre Vagina ein Verfallsdatum.
Sie musterte ihr Gesicht im Spiegel hinter der Bar und überlegte, ob sich der Verlust der Libido anfühlte, als verliere man eine Socke in der Waschmaschine. Verschwand sie ebenso spurlos? War es, wenn man den Verlust bemerkte, bereits zu spät? War sie für immer verschwunden?
Sie wollte ihr Verlangen nach Sex nicht verlieren. Dafür war sie noch zu jung. Sie wünschte, so könnte für einen Abend die Privatdetektivin in ihr zum Schweigen bringen und sich den tollsten Typen schnappen, ihn am Kragen packen und ihn küssen. Sie wünschte, nur ein einziges Mal die Frau zu sein, die sich auf eine heiße Nacht mit einem Mann einlassen konnte, den sie noch nie gesehen hatte und den sie auch nie wieder sehen würde. Sie würde unter seinen Berührungen dahinschmelzen, würde alles um sich herum vergessen, nur seine Lippen auf ihren spüren. Sie würde mit ihm in ihr Zimmer gehen. Oder sie würden es nicht einmal mehr bis ins Zimmer schaffen, sondern es im Aufzug tun, in einer Wäschekammer oder auf der Treppe.
Kate nahm einen Schluck und wandte ihre Aufmerksamkeit dem gut aussehenden Kellner zu, der am anderen Ende des Tresens stand und Martinis mixte, während er mit irgendwelchen anderen Gästen lachte und scherzte. Sie mochte im Hinblick auf andere Menschen und insbesondere auf Männer zur Zynikerin geworden sein, aber sie war immer noch eine Frau. Eine Frau mit unzähligen Fantasien, die ihr im Kopf herumschwirrten. Fantasien von starken Männerarmen, die sich um ihren Körper schlangen, von Augen, die einander über den Raum hinweg begegneten, von instinktiver Anziehungskraft, von hemmungsloser Lust.
Seit der Trennung von Manny waren sämtliche Männer in ihren Fantasien das genaue Gegenteil von ihm – üble Burschen mit großen Händen und noch größeren … Füßen. Der Star ihrer derzeitigen Tagträume war ein blonder Mistkerl mit Motorradstiefeln in Größe vierundvierzig. Sie hatte ihn in einer Dolce&Gabbana-Anzeige in der Cosmopolitan entdeckt, ein reichlich ungepflegter Kerl, der unfassbar cool aussah.
Manchmal malte sie sich aus, wie er sie auf den Rücksitz seiner Harley fesselte und in sein Liebesnest entführte, in anderen Fantasien sah sie ihn in irgendwelchen heruntergekommenen Bars mit Namen wie The Brass Knuckles oder Devil’s Spawn. Ihre Augen begegneten einander, und sie schafften es gerade noch in die nächste dunkle Gasse, wo sie sich gegenseitig die Kleider vom Leib rissen.
Jemand setzte sich auf den Barhocker neben Kate und stieß sie versehentlich an der Schulter an. Ihr Punsch schwappte über den Rand, worauf sie schützend die Hände um den warmen Becher legte.
»Ein Sun Valley Ale«, sagte eine Männerstimme neben ihr.
»Vom Fass oder aus der Flasche?«, wollte der Barkeeper wissen.
»Flasche ist okay.«
So sehr sich Kate danach sehnte, eine ihrer Fantasien auszuleben, so klar war ihr, dass es niemals so weit kommen würde, weil sie die Privatdetektivin in ihrem Kopf nicht ausschalten konnte. Die würde im entscheidenden Moment zum Schluss gelangen, dass sie den Kerl zuerst genau unter die Lupe nehmen musste.
In diesem Moment stieg ihr der Geruch der kalten Nachtluft in die Nase, und sie ließ den Blick zu dem kräftigen Männerarm wandern, der in einem aufgekrempelten Ärmel aus grün kariertem Flanell steckte. Eine goldene Rolex prangte am linken Handgelenk, und er trug einen schmalen silbernen Ring am Mittelfinger.
»Soll ich es aufs Zimmer schreiben?«, fragte der Barkeeper.
»Nein, ich bezahle es gleich«, hörte sie den Mann mit der tiefen und leicht rauen Stimme sagen, während er seine Brieftasche aus der Gesäßtasche seiner Levi’s zog. Er streifte ihren Ellbogen, während sie ihren Blick über den grünen Ärmel bis zu seiner Schulter wandern ließ. Die Deckenbeleuchtung verfing sich in den goldenen Strähnen seines leicht zerzausten braunen Haars, das seinen Kragen und seine Ohren bedeckte. Ein schmaler Oberlippenbart und ein Kinnbärtchen unter seiner vollen Unterlippe rahmten seinen breiten Mund ein.
Ihr Blick wanderte weiter, bis er an einem Paar grüner Augen hängenblieb, die sie über den grünen Stoff hinweg musterten. Seine Lider wirkten ein wenig schwer, so als wäre er müde oder gerade erst aus dem Bett aufgestanden.
Sie schluckte.
»Hallo«, sagte er, und seine Stimme schien sie förmlich zu durchströmen, wie der Punsch es zuvor getan hatte.
Heilige Mutter Gottes im Himmel! Hatte sie diesen Kerl mit ihrer Fantasie heraufbeschworen? Er war zwar nicht blond, aber wen kümmerte das schon? »Hallo«, brachte sie mühsam hervor.
»Ein schöner Abend zum Skilaufen, was?«, fragte er.
»Große Klasse«, gab sie zurück, obwohl sie an alles dachte, nur nicht an Skifahren. Dieser Kerl war ein Bild von einem Mann und besaß jenen kräftigen Körperbau, der aus einer Mischung von genetischer Veranlagung und körperlicher Betätigung entstand. Ihrer Schätzung nach musste er Mitte bis Ende dreißig sein.
»Eine ordentliche Lage Neuschnee.«
»Stimmt.« Kate umschloss das warme Porzellan und widerstand dem Drang, wie eine Achtklässlerin mit ihrem Haar herumzuspielen. »Ich liebe Neuschnee.«
Er drehte sich auf seinem Hocker herum und sah ihr ins Gesicht. Ihr Herzschlag drohte auszusetzen. Er war eindeutig noch sexier als ihr Fantasie-Mann, und der war schon ein Wahnsinnstyp.
»Wieso sind Sie dann nicht draußen?«, erkundigte er sich.
»Ich laufe nicht Ski«, gab sie zu.
Überrascht hob er eine Braue, während ein Lächeln um seine Mundwinkel spielte. »Nein?«
Dieser Mann war kein Model-Typ. Man würde sein Gesicht nicht in einer Anzeige von Dolce&Gabbana finden, ebenso wenig würde er sich in einem Gucci-Anzug am Strand aalen. Für so etwas war er zu kräftig, zu maskulin. Zu sehr Mann. Seine Präsenz war einfach überwältigend. »Nein. Ich bin nur auf der Durchreise. Es hat so heftig geschneit, dass ich eine Unterkunft für die Nacht gebraucht habe«, erklärte sie. Unter dem Bärtchen unter seiner Lippe war eine winzige weiße Narbe zu erkennen, und seine Nase sah aus, als wäre sie schon einmal gebrochen gewesen. Es war zwar nicht auf Anhieb zu sehen, aber Kate war darauf geschult, jedes Detail im Gesicht eines Menschen zu registrieren. Und das Gesicht dieses Mannes zu mustern war ein echtes Vergnügen.
»Ich hoffe, es klart bald auf.« Er griff nach der Bierflasche. »Ich will morgen früh nach Bogus Basin.«
»Sind Sie ein Ski-Freak?«
»Im Winter schon. Wenn wir in Bogus waren, geht es weiter nach Targhee und Jackson Hole, bevor wir nach Colorado fahren.«
Wir? »Sind Sie mit Freunden hier?«
»Ja, meine Kumpels sind noch draußen auf der Piste.« Er stützte sich mit den Füßen auf den Metallstreben seines Barhockers ab und spreizte die Beine, so dass sein Knie ihren Oberschenkel streifte.
Die flüchtige Berührung löste irgendetwas in ihrem Inneren aus. Nicht unbedingt spontane, ungezügelte Lust, aber irgendetwas war da. »Wieso sind Sie dann nicht auch draußen?«, fragte sie. Kumpels. Also Männer. Normalerweise bezeichneten Männer weibliche Freunde nicht als Kumpels.
Er hob sein Bier an die Lippen. »Meine Knie machen Ärger«, erwiderte er und nahm einen Schluck.
Trotzdem bestand kein Zweifel: Es musste eine Frau im Leben dieses Mannes geben. Und wahrscheinlich mehr als eine. »Am Valentinstag mit Kumpels Ski fahren?«
Er richtete seine grünen Augen auf sie und ließ die Flasche sinken. »Ist heute Valentinstag?«, fragte er und leckte sich einen Tropfen Bier von der Oberlippe.
Kate lächelte. Die Tatsache, dass er nicht wusste, welcher Tag war, ließ ahnen, dass es im Moment keine ernsthafte Beziehung in seinem Leben gab. »Jedes Jahr am 14. Februar.«
Er schaute sich im Raum um, als sähe er ihn zum ersten Mal. »Ah. Das erklärt all die Herzen.«
Ihr Blick wanderte zu seinem Bart, der seinen Mund und sein Kinn umrahmte, und weiter über seinen kräftigen Hals bis zur gebräunten Vertiefung unterhalb seiner Kehle. »Wie es aussieht, sind wir die Einzigen hier, die nicht zusammengehören.«
»Sagen Sie bloß nicht, Sie sind allein hier.«
Kate sah ihm ins Gesicht und lachte. Ihr gefiel die Art und Weise, wie er es gesagt hatte – so als könnte er es sich nur schwer vorstellen. »Doch, sieht ganz so aus.« In ihrer Lieblingsfantasie war sie mit einem Prachtkerl in der Schuhabteilung bei Nordstrom’s eingeschlossen. »Und wie sieht es mit Ihnen aus? Gibt es jemanden, der sauer ist, weil Sie den Valentinstag vergessen haben?«
»Nein.«
Bislang hatte sie ihre Fantasien noch nie in einer Skihütte spielen lassen, aber das konnte ja noch kommen. Sie konnte es sich nicht verkneifen. Dieser Mann strahlte Pheromone aus wie ein Reaktor in Tschernobyl Radioaktivität – mit dem Ergebnis, dass der atomare Niederschlag aus dieser Nähe eine geradezu tödliche Wirkung besaß.
Er schob die Ärmel seines Flanellhemds nach oben und entblößte dabei etwas auf seinem kräftigen linken Unterarm, das wie der Schwanz einer Schlange oder eines anderen Reptils aussah. »Ist das eine Schlange?«
»Ja. Das ist Chloe. Sie ist ein echtes Schätzchen.«
Klar. Die tätowierte Schlange war aus dunklem Gold mit schwarzweißen Streifen und sah so echt aus, dass Kate zweimal hinsehen musste. Die Schuppen waren perfekt definiert, und Kate streckte unwillkürlich die Hand aus, um seinen bloßen Arm zu berühren. »Was für eine Art ist das?«
»Ein Angola-Zwergpython.«
Ein Python! Igitt! »Wie groß ist sie?«, fragte Kate und sah ihm wieder ins Gesicht. Etwas Heißes und Sinnliches schimmerte in den Tiefen seiner grünen Augen, ein Bedürfnis, das ihren Puls zum Rasen brachte und ihre Haut prickeln ließ.
Er hob sein Bier an die Lippen und wandte den Blick ab. »Einen Meter fünfzig.« Er nahm einen großen Schluck, und als sein Blick wieder dem ihren begegnete, war das Flackern verschwunden, als hätte es niemals existiert.
Sie ließ die Hand sinken. »Und sind die ganzen anderthalb Meter auf Ihren Körper tätowiert?«
»Ja.« Er deutete mit dem Flaschenhals auf seinen Unterarm. »Hier ist das Schwanzende. Sie windet sich auf meinem Arm entlang über den Rücken bis zu meinem rechten Oberschenkel.«
Kates Blick wanderte zu seinem Oberschenkel und blieb an seinen Lenden hängen. Ausgetragene Levis schmiegten sich um seine Beine und spannten sich über die Wölbung seines Schoßes. Eilig sah sie weg, ehe er sie ertappen konnte. »Ich habe auch ein Tattoo.«
Er lachte, ein tiefes Grollen in seiner Brust, das seltsame Dinge in ihrer eigenen Brust anstellte. »Was denn? Ein Herzchen auf dem Fußknöchel?«
Sie schüttelte den Kopf und nahm einen großen Schluck von ihrem Punsch. Die Hitze durchströmte sie, und sie spürte, wie sie rot wurde. Sie wusste nicht, ob es am Rum oder an dem Testosteroncocktail auf dem Barhocker neben ihr lag, aber ihr war plötzlich ein klein wenig schwindlig. Nicht die Art Schwindel, die einen ohnmächtig werden ließ, sondern die einem ein Grinsen aufs Gesicht zauberte, obwohl man keinerlei Grund dafür hatte.
»Hmmm?« Er ließ den Blick an ihrer Kehle entlangwandern. »Eine Rose auf der Schulter?«
Die Art Schwindel, die eine Frau an heiße, verschwitzte Dinge denken lässt. Heiße, verschwitzte, nackte Dinge, von denen sie sich lieber fernhalten sollte. »Nein.«
Er sah ihr wieder in die Augen. »Eine Sonne um den Bauchnabel?« , fragte er weiter.
»Ein Mond und ein paar Sterne, aber nicht um den Nabel.« Heiße, verschwitzte, nackte Dinge, von denen nie jemand erfahren durfte.
»Ich wusste doch, dass es etwas Mädchenhaftes sein muss«, höhnte er kopfschüttelnd. »Wo?«
Es konnte doch nicht sein, dass sie sich alles nur einbildete. Er musste es doch auch spüren, aber was, wenn sie sich ihm an den Hals warf und er sie zurückwies? Sie bezweifelte, dass sie mit dieser Art Demütigung zurechtkommen würde. »Auf meinem Hintern.«
Winzige Fältchen erschienen in seinen Augenwinkeln, und er lachte erneut. »Voll oder halb?«
Moment mal, er ist ein Kerl, dachte sie, während sie ihren Becher leerte. Männer waren nun mal Männer. Er würde sie nicht abweisen. »Eine Sichel.«
»Ein Mond auf dem Mond.« Wieder hob er eine Braue, lehnte sich zur Seite und spähte auf ihren Hintern, als könnte er durch die Kleider etwas erkennen. »Interessant. So etwas habe ich noch nie gesehen.« Er nahm noch einen Schluck und richtete sich wieder auf.
Vielleicht lag es am Rum und ihren heißen, verschwitzten Gedanken; vielleicht lag es am Valentinstag und daran, dass sie einsam und noch nicht bereit für Hushpuppies war. Vielleicht wollte sie nur ein einziges Mal spontan sein – oder es war eine Mischung aus allem.
»Wollen Sie es sehen?«, entschlüpfte es ihr. In der Sekunde, als die Worte über ihre Lippen kamen, schien ihr Herzschlag auszusetzen. Oh Gott!
Er ließ die Flasche sinken. »Soll das eine Einladung sein?«, fragte er.
Sollte es das? Ja. Nein. Möglicherweise. Konnte sie das wirklich tun? Analysier es nicht wieder zu Tode. Denk nicht zu lange darüber nach, ermahnte sie sich. Du wirst diesen Kerl nie wieder sehen. Tu es einfach. Nur ein einziges Mal in deinem Leben. Sie kannte nicht einmal seinen Namen, aber schätzungsweise spielte das ohnehin keine Rolle. »Interesse?«
»Reden Sie von Sex?«, fragte er langsam, als wolle er sichergehen, dass er sie richtig verstanden hatte.
Sie sah in seine Augen, die er auf sie gerichtet hatte, und bemühte sich, gegen den Kloß anzuschlucken, der sich auf einmal in ihrem Hals gebildet hatte. Konnte sie ihn benutzen? Konnte sie sich nach allen Regeln der Kunst mit ihm vergnügen und ihn vor die Tür setzen, wenn sie fertig mit ihm war? War sie ein Mensch, der so etwas fertigbrachte? »Ja.«
Da war es wieder, dieses heiße, sinnliche Verlangen, das in seinem Inneren loderte und brannte. Doch in Bruchteilen von Sekunden versteinerten sich seine Züge, und sein Blick wurde eisig. »Ich fürchte, das geht nicht«, sagte er, als hätte sie ihm etwas angeboten, das schlimmer war als der Tod. Er stellte seine Flasche auf den Tresen und stand auf.
Kate brachte ein verblüfftes »Oh« zustande, ehe ihre Wangen zu glühen und ihre Ohren zu klingeln begannen. Sie hob eine Hand und berührte ihr Gesicht, das sich mit einem Mal ganz taub anfühlte. Sie konnte nur hoffen, dass sie jetzt nicht ohnmächtig wurde.
»Nehmen Sie’s nicht persönlich, aber ich gehe nicht mit Frauen ins Bett, die ich in Bars kennen lerne.« Und damit verließ er die Bar, so schnell ihn seine Füße trugen.