2010 war ein schwarzes Jahr für die katholische Kirche in Deutschland. Die Zahl der Kirchenaustritte ist in diesem Jahr sprunghaft gestiegen. Zum ersten Mal seit sechzig Jahren kehrten mehr Katholiken ihrer Kirche den Rücken, als evangelische Christen ihre Kirche verließen. Die eruptive Aufkündigung der Mitgliedschaft ist ein untrügliches Alarmsignal dafür, dass der sexuelle Missbrauch und die gewalttätigen Übergriffe kirchlicher Amtsträger, die während des Jahres aufgedeckt wurden, die katholische Kirche weit heftiger durchgeschüttelt haben, als dies 1968 durch das päpstliche Verbot der künstlichen Empfängnisverhütung oder 2006 durch das Diktat des Vatikans, aus der Beratung in Schwangerschaftskonflikten auszusteigen, je erreicht wurde.
Wut und Empörung hat auch diejenigen gepackt, die in der Kirche geblieben sind. Es mag ihnen noch jetzt kalt den Rücken hinunterlaufen, wenn sie sich jene Ereignisse konkret vorstellen, die über den verbrecherischen Umgang kirchlicher Funktionsträger mit Kindern und Jugendlichen bekannt geworden sind. Nicht weniger verwerflich waren auch die Versuche, die Vergehen unter dem Mantel einer quasi-familiären Club-Atmosphäre zu verbergen, sowie das Schweigen derjenigen an höherer Stelle, die von diesen skandalösen Vorfällen wussten, sie vertuscht und die Mitwisser dieser schändlichen Taten gedeckt haben. Die Reaktionskette der kirchlichen Oberen glich denjenigen von Parteien und Konzernen: Erst wird verschwiegen, vertuscht und geleugnet, dann eingeräumt und ausgeräumt. Ihnen war das gute Image der Institution wichtiger als das Leiden der Betroffenen. Zum Glück ist die Mauer des Schweigens durchbrochen worden. Verantwortliche Entscheidungsträger hatten endlich den Mut, die Opfer von einst aufzufordern, dass sie aufstehen, ihre Stimme erheben und Gerechtigkeit einfordern. Aber wie kirchenrechtlich in Zukunft rigoros mit solchen Vergehen umgegangen wird – bis zum Verbot der Amtsausübung und Amtsenthebung –, bleibt bisher noch offen.
Ist die Wut und Empörung inzwischen verraucht? Gehen die Katholiken bereits wieder zur kirchlichen Tagesordnung über? Ein mehrfaches Unbehagen ist geblieben. Die Vergebungsbitte der Bischöfe klingt unzureichend. Es wird bedauert, dass die Straftaten häufig verjährt und die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft eingestellt sind. Juristen ist das kirchliche Sprachspiel, das sich vorweg der Begriffe »Täter« und »Opfer« bediente, ziemlich fremd. Die zivilen Ermittlungen erwiesen sich oft als unzulänglich. Sie waren nämlich auf eine freiwillige Kooperation angewiesen. Eine vollständige Aufbereitung von Dokumenten scheiterte wiederholt daran, dass sich diese nur als Fragmente in den Archiven der Bistümer und Ordensgemeinschaften auffinden ließen. Die von der Öffentlichkeit erwartete Transparenz der internen schonungslosen Aufklärung wurde erst zugesichert, dann jedoch nur beschränkt eingelöst. Öffentliche Eingeständnisse schuldhaften Versagens, die aufrichtig klangen, waren äußerst selten zu hören. Der Dialog an runden und eckigen Tischen blieb konfrontativ. Nicht wenige Betroffene halten die finanzielle Entschädigung, die von den Bistümern und Ordensgemeinschaften zugesichert wurde, für enttäuschend. Sie fühlen sich behandelt wie Bettelnde, denen Almosen gewährt werden.
Sprunghafte Spitzen von Kirchenaustritten lassen sich nicht nur für die katholische, sondern auch für die evangelische Kirche nach 1968 und 1973, nach der deutschen Einigung und am Ende der 1990er-Jahre nachweisen. Sie sind allerdings überlagert von einem langfristig steigenden Trend des Abschieds von den Kirchen. Unmittelbar sind die Austritte meist ein Protest gegen das öffentliche Auftreten von Kirchenoberen oder deren Entscheidungen. Mittelbar gelten sie als ein Indikator dafür, dass die Resonanz der Kirchen in der Gesellschaft negativ getönt ist.
Wer die Äußerungen der Massenmedien allein für das Jahr 2010 zur Kenntnis nimmt, findet neben den erwähnten sexuellen Übergriffen und dem Missbrauch pädagogischer und religiöser Macht an Elitegymnasien katholischer Orden und an anderen Erziehungseinrichtungen zahlreiche Gründe einer schleichenden Distanz der Christen gegenüber ihren Kirchen. Nachrichten über kirchliche Angelegenheiten scheinen mehr und mehr in den Wirtschaftsteil der Zeitungen zu wandern: »Kirchen in Finanznot« oder »Den Bistümern geht das Geld aus«. Thilo Sarrazin entfesselte eine unterschwellige Identitätsangst unter Deutschen aus Sorge vor kultureller und religiöser Überfremdung. Heftige Empörung rief die Absicht des Papstes hervor, mit einer kirchlichen Randgruppe Frieden zu schließen, deren Anführer, ein Kardinal, den Holocaust bestreitet. Die Bemerkung der Bischöfin Käßmann, dass in Afghanistan nichts gut sei, löste eine aufgeregte Debatte über den Sinn des Afghanistan-Einsatzes aus. An der Nahtstelle von Religion und Politik wurde um den EU-Beitritt der Türkei und den angeblichen islamischen Terrorismus debattiert. Dieser muss als Beleg für die Auffassung herhalten, dass der Islam von Haus aus »blutige Grenzen« hat. Immerhin hat auch das Christentum in seiner Geschichte blutige Spuren gezogen. Die Pogrome gegen Juden wurden von den darin Verwickelten als gottgewollt gerechtfertigt. Hass und Vernichtungswillen hat das Verhältnis zu anderen Religionen wiederholt bestimmt. Als Bundespräsident Christian Wulff in einer programmatischen Rede zum 20. Jahrestag der deutschen Vereinigung erklärte: »Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland«, haben katholische Bischöfe und Vertreter der sogenannten christlichen Parteien heftigen Einspruch erhoben. Sie beharrten auf dem christlich-jüdischen Erbe als der bestimmenden »Leitkultur« der Bundesrepublik, obwohl dieses Erbe geschichtlich belastet ist, und verlangten von den Muslimen, dass sie der abendländischen Wertegemeinschaft beitreten.
Das derart für das Jahr 2010 punktuell skizzierte Erscheinungsbild der Kirchen in der medialen Öffentlichkeit und ihre negative Resonanz in der Gesellschaft zehren an der Glaubenspraxis nicht weniger Christen. Sie sehen darin ein verzerrtes Bild ihrer christlichen Überzeugung von der Nachfolge Jesu auf dem Weg der Gerechtigkeit, des Friedens und der Bewahrung der Schöpfung. Sie fremdeln gegenüber solchen Kirchen, die sich ihrer Meinung nach von der Person und Botschaft Jesu entfernt haben und sich folglich immer weniger als Kirchen Jesu Christi ausweisen können. Fremd werden ihnen die »Körperschaften öffentlichen Rechts«, die »Arbeitgeberinnen-Kirchen«, die »Bürger-Kirchen«, die »Hochkirchen«, die »Kultkirchen« und die »Männerkirchen«.
Im Folgenden sollen die offenen Wunden dieser Kirchenformen kritisch hinterfragt werden. Der Diagnose schließt sich eine spirituell-theologische Deutung an, die die Leitmotive des Volkes Gottes, des Exils und des kirchlichen Exils erläutert. Abschließend werden einige Bausteine einer Reformarchitektur der Kirchen an Haupt und Gliedern zusammengetragen.
Aus welchen Voreinstellungen und mit welchen Optionen ist diese Schrift verfasst worden? Welches kirchliche Milieu hat die Reflexion angestoßen?
Der inspirierende Ausgangspunkt waren die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils 1965 (die in Deutschland gegenüber der Kirchenkonstitution desselben Konzils ein Schattendasein führte), der Essener Katholikentag 1968, die Würzburger Synode 1975, die Kölner Erklärung gegen das autoritäre Kirchenregime Papst Johannes Pauls II. (insbesondere die Verletzung des Kirchenrechts durch den kirchlichen Gesetzgeber 1989), das Gemeinsame Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland 1997 sowie das Memorandum der Theologen 2011. Aus diesen Quellen sind die Erwartungen jener Christen in beiden Kirchen geschöpft, die an der Nahtstelle zwischen kirchlicher Verankerung und gesellschaftlicher Präsenz berufliche und politische Verantwortung tragen, die sich in Pfarrgemeinden, kirchlichen Gremien, Verbänden, Initiativen und Gruppen sowie in zivilgesellschaftlichen Bewegungen und Initiativen, in Parteien, Gewerkschaften und Unternehmen engagieren.
Friedhelm Hengsbach, Jesuit und einer der angesehensten Sozialethiker Deutschlands, beobachtet gesellschaftliche und kirchliche Entwicklungen seit Jahrzehnten – wach, kritisch und unbestechlich. In seinem neuen Buch legt er nun den Finger in die »offenen Wunden« der Kirchen, insbesondere der katholischen Kirche.
Friedhelm Hengsbach zeigt auf, dass die Institutionen für viele Glaubende zu Räumen der Fremde geworden sind. Das Volk Gottes lebt im Exil, innerhalb und außerhalb der Kirchen. Doch dieses Leben im Exil schafft Raum für Veränderung – spirituell, theologisch und kirchlich. Ganz in diesem Sinne legt Hengsbach Bausteine für eine neue Architektur der Kirchen vor, für ihre Reform an Haupt und Gliedern.
Auf den aufgestauten Unmut katholischer Christen haben einige Bischöfe bereits reagiert. Erzbischof Schick aus Bamberg plädierte für eine offenere Kirche, Bischof Bode aus Osnabrück setzte sich für ein neues Miteinander von Priestern und Laien, von Männern und Frauen ein. Erzbischof Zollitsch sprach vor seinen in Fulda versammelten Amtskollegen davon, dass die Kirche sich von der Lebenswelt der Menschen entfernt habe und sich den »Zeichen der Zeit« stellen müsse. Anstatt sich an überlieferte verfestigte Überzeugungen zu klammern, sollte sie lernen, eine Kirche des Hörens zu werden. Deshalb regte er ein Zukunftsgespräch der Kirche an, an dem alle Katholiken in Deutschland beteiligt werden sollen. Ob die Ankündigung des Erzbischofs ausreicht, um dem »Fremdeln« von Katholiken in ihrer Kirche zu begegnen? Wohl nicht, wenngleich der Beitrag beachtenswert ist, den Kardinal Lehmann über die vermuteten Ursachen sexuellen Missbrauchs und gewalttätiger Übergriffe in kirchlichen Einrichtungen in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom Gründonnerstag 2010 veröffentlicht hat. Die Konsequenzen für die katholische Kirche in Deutschland, die er vorschlägt, bleiben in dogmatischen Reflexionen und spirituellen Appellen stecken. Eine innere Konversion ohne strukturelle Umbauten läuft jedoch ins Leere. Strukturelle Therapien setzten nämlich Strukturdiagnosen voraus, um Systemfehler zu erkennen. Die folgenden Reflexionen sollen dazu anregen.
Kirche und Staat sind in Deutschland getrennt. In der Weimarer Reichsverfassung steht: »Es besteht keine Staatskirche.« Dieser Artikel ist vom Grundgesetz übernommen worden. Allerdings bezeichnen Juristen die erklärte Trennung zwischen dem Staat und den Kirchen stellenweise als »hinkende« Trennung und gleichzeitig »freundliche Kooperation«. Sie drückt sich unter anderem in der Organisationsform der Kirchen als Körperschaften öffentlichen Rechts aus. Der vom Staat verliehene Körperschaftsstatus ist für die Kirchen mit zusätzlichen Sonderrechten verbunden. Diese Rechte gehen zum einen auf historische Tauschgeschäfte zurück, die nach den reformatorischen und napoleonischen Umwälzungen zustande gekommen sind. Als die weltlichen Herrscher die kirchliche Zehntpflicht abschafften und viele Kirchengüter beschlagnahmten, haben sie den Kirchen Entschädigungen zugestanden. Diese bestanden zunächst darin, dass die Staaten die Tätigkeit der Kirchen finanziell unterstützten; nach und nach entzogen sie sich jedoch dieser Verpflichtung, indem beispielsweise Oldenburg, Sachsen, Preußen, Hessen, Württemberg und Baden seit Mitte des 19. Jahrhunderts, das Königreich Bayern erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Kirchensteuer einführten – im Bewusstsein der staatlichen Hoheit über die Kirchen. In der Weimarer Republik wurden diese Ländergesetze verfassungsrechtlich verankert. Neben dem Kirchensteuerrecht sind durch Kirchenverträge und Konkordate auch sogenannte Staatsleistungen vereinbart worden.
Staatsleistungen, die allerdings nicht ausschließlich den Kirchen gewährt werden, tragen erheblich zu deren Finanzausstattung bei. Dass sie die Einnahmen aus der Kirchensteuer übersteigen, dürfte unter den Bistümern und Landeskirchen eine absolute Ausnahme sein. In Bayern werden die Bischöfe, Weihbischöfe und die Regenten der Priesterseminare vom Freistaat bezahlt, andere Länder überweisen Pauschalbeträge. Bund und Länder übernehmen die Sach- und Personalkosten für den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen. Kirchliche Amtsträger, die bei der Bundeswehr, bei der Bundespolizei und in Justizvollzugsanstalten seelsorglich arbeiten, um dort das Recht auf Religionsausübung zu gewährleisten, stehen im Staatsdienst oder werden vom Staat besoldet. Der Staat übernimmt teils freiwillig, teils auf Grund eingegangener Verpflichtungen Kirchenbaulasten und Zuschüsse für neue Orgeln, Altäre, die Denkmalspflege, kirchliche Kindergärten, Schulen, Hilfswerke, Krankenhäuser, diakonische und karitative Einrichtungen sowie Bildungshäuser. Solche Zuschüsse werden mit den Leistungspflichten eines entwickelten Sozial- und Kulturstaates begründet und auch nichtkirchlichen Trägern der Wohlfahrt und Kultur gewährt. Die Kirchen kommen auch direkt oder indirekt in den Genuss steuerlicher Privilegien: Sie zahlen keine Steuern auf Erträge aus Vermögen, Pacht und Miete, auch keine Gebühren beim Notar und für Baugenehmigungen, bei Gericht und für Sendezeiten in den öffentlich-rechtlichen Medien. Der Staat übernimmt das Steuerinkasso, nimmt dabei jedoch weitgehend die Hilfe der Arbeitgeber und Banken in Anspruch. Den Kirchen werden Sonderrechte gewährt, die in einem weltanschaulich neutralen Staat erklärungsbedürftig sind. So haben beispielsweise die theologischen Fakultäten – in Bayern auch einzelne nichttheologische Lehrstühle – an den staatlichen Universitäten außer dem staatlichen einen kirchlichen Status, der den Kirchen wesentliche Mitwirkungsrechte bei der Berufung der Theologieprofessoren einräumt. In die Gestaltung eines konfessionell, manchmal sogar katechetisch ausgerichteten Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen können die beiden Großkirchen sich einmischen. Auch in den Rundfunkräten der öffentlichen Anstalten sind die beiden Großkirchen vertreten. Das tatsächliche Ausmaß der verzweigten Staatsleistungen an die Kirchen und dasjenige ihrer Sonderrechte ist kaum zu ermitteln, weil bald der Bund, bald die Länder und bald die Gemeinden daran beteiligt sind, weil die kirchlichen Haushalte hinsichtlich der Vermögenswerte nicht transparent sind und konsolidierte Bilanzen der verfassten Kirchen und der ihnen zugeordneten Einrichtungen überhaupt nicht existieren.
Die verfestigten Formen der wohlwollenden, freundlichen Kooperation zwischen staatlichen Organen und den Repräsentanten der Kirchen als Körperschaften öffentlichen Rechts werden als störend empfunden, sobald sie die Glaubwürdigkeit der Glaubensgemeinschaften beschädigen. Deshalb ist die Frage berechtigt, ob die Sonderrechte der Kirchen, die an die öffentliche Körperschaftsform gekoppelt sind, sowohl mit der wachsenden Pluralisierung und Individualisierung religiöser Lebensvollzüge als auch mit der Entkirchlichung christlicher Glaubensformen in der modernen Gesellschaft vereinbar sind. Warum sollten Christen, die sich in einer pluralen, weltanschaulich neutralen Gesellschaft eingerichtet haben, die Kirchen und den Staat noch als gleichgeordnete souveräne Träger hoheitlicher Macht begreifen? Was spricht dagegen, für die Kirchen als gesellschaftlich relevante Glaubensgemeinschaften die Organisationsform eines privaten Verbands zu wählen? Und dem Staat die Kompetenz zuzuweisen, das privatautonome Handeln der Kirchen den allgemeinen Gesetzen und dem Recht zu unterstellen? Je mehr Christen von den Vorzügen der privaten Verbandsform überzeugt werden, umso reibungsloser könnten Verhandlungen über die bestehenden Konkordate eingeleitet und der Körperschaftsstatus der Großkirchen abgelöst werden.
Aus der Absage an eine Staatskirche folgt ja nicht eine radikale Trennung von Staat und Kirche. Die Rechtsgarantie der Religionsfreiheit kann den demokratischen und sozialen Rechtsstaat veranlassen, ein breites religiöses Engagement positiv zu fördern, ohne den beiden Großkirchen im Kontrast zu anderen Religionsgemeinschaften einen privilegierten Status zu gewährleisten. Die differenzierten Beziehungen des deutschen Staates zu den Religionsgemeinschaften, die unter dem Schirm einer »gestaffelten Parität« gepflegt werden, benachteiligen tatsächlich diejenigen Religionsgemeinschaften, die einen Körperschaftsstatus nicht haben oder nicht annehmen wollen. Gezielte Erwartungen sowohl des Staates als auch der christlichen Kirchen, dass beispielsweise muslimische Religionsgemeinschaften einen Organisationsmodus und Status übernehmen sollten, die denen der etablierten Kirchen nachgebildet sind, werden der abweichenden Eigenart und Organisationsform dieser Religionsgemeinschaften wohl nicht gerecht.
Indem kirchliche Repräsentanten den Schulterschluss mit der politischen Klasse und den wirtschaftlichen Führungskräften suchen, werden sie in einen Sog hineingezogen, der im politischen Diskurs als »postdemokratischer« Trend bezeichnet wird. Die Regierenden bedienen sich zunehmend der Fachkompetenz wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Eliten, übernehmen ungeprüft deren Expertisen und übertragen ihnen einen Teil ihrer politischen Verantwortung. Mit ihnen zusammen bilden sie ein politisches Netzwerk, das sich immer mehr von den Deutungsmustern und Optionen der ihnen anvertrauten Bevölkerung entfernt und deren Beteiligung an dem Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess zunehmend ausschließt. Die Distanz zwischen Regierenden und Regierten wächst. Die angeblich gestörte Vermittlung der Erkenntnisse, die im geschlossenen Club »alternativlos« gewonnen wurden, an die politische Basis erweist sich immer mehr als eine Diskrepanz der Wahrnehmung und Orientierung.
Indem nun die Kirchenleitungen sich diesem Netzwerk der Eliten aus Staatsorganen, Parteien und etablierten Institutionen eingliedern, riskieren sie zusammen mit ihnen eine zunehmende Distanz zur breiten Bevölkerung und zur kirchlichen Basis. Die abweichenden Überzeugungen über die Lage der Kirchen und ihre wünschenswerte Zukunft, die in den Kirchenleitungen und in den Orts- und Basisgemeinden einschließlich der Pfarrer geäußert werden, lassen Bruchlinien erkennen, die zutreffend ein vertikales Schisma genannt werden können. Falls die Körperschaftskirchen bereit sind, sich in das »gesellschaftliche Gebrodel« einzulassen und in der privaten Verbandsform als zivilgesellschaftliche Akteure aufzutreten, könnte das Risiko eines solchen Schismas vermieden, zumindest entschärft werden. Die Kirchen würden mit einem solchen Positionswechsel und im Kontakt zu anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen, Gruppen und sozialen Bewegungen selbst zu prominenten kollektiven Subjekten politischer Veränderungen.
Die von einigen Bundesländern her entflammte Debatte über die Staatsleistungen provoziert die Frage, ob diese noch in die gegenwärtige politische Landschaft passen. Sie gleichzeitig mit dem Entschädigungsanspruch infolge der Säkularisation, mit der Hilfsbedürftigkeit kirchlicher Amtsträger und mit der pauschalen Förderungswürdigkeit aller Religionsgemeinschaften zu begründen, überzeugt nicht recht. Zudem ist nicht auszuschließen, dass das Kirchengut vormals in ethisch verwerflicher Weise, etwa unter erpresserisch-vertraglichen oder räuberisch-gewaltsamen Bedingungen in die Hände von Fürstbischöfen und frommen Stiftern gelangt ist. Eine größere Distanz zur staatlichen Hoheitsverwaltung wäre insbesondere für die kirchliche Präsenz beim Militär und beim Strafvollzug wünschenswert. Die Kirche könnte darauf dringen, dass ihren Vertretern bloße Zugangsrechte zu den in der jeweiligen Einrichtung lebenden Personen gesichert werden, um diese zu besuchen und mit ihnen Veranstaltungen durchzuführen. Die Betriebs- und Krankenseelsorge bietet sich als Modell einer umgebauten Pastoral mit Soldaten und Gefangenen an.
Die privilegierte Verfassungsgarantie des christlich-konfessionellen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen, die christlich-konfessionelle Ausrichtung der theologischen Fakultäten und die Mitwirkung der christlichen Großkirchen in den öffentlichen Rundfunkräten setzen eine religiöse Gleichsinnigkeit des Gesetzgebers (als dem Garanten des allgemeinen Interesses) und der Mitglieder der christlich-konfessionellen Kirchen voraus, die tatsächlich nicht existiert. Deshalb dürfte es schwer sein, solche Sonderrechte in einer pluralen Gesellschaft und einem weltanschaulich neutralen Staat überzeugend zu begründen. Da auch Großbanken, Unternehmerverbände und Gewerkschaften nicht erwarten können, dass die Universitäten ihnen die berufliche Ausbildung ihrer Angestellten abnehmen und dass sie bei der Besetzung der Lehrstühle für allgemeine Betriebswirtschaft, Arbeitsrecht oder Sozialpolitik mitreden dürfen, lässt sich auf Dauer auch nicht aufrechterhalten, dass gerade den christlichen Kirchenleitungen ein Recht zum Eingriff in die wissenschaftliche Lehre gestattet wird.
Unter den Sonderrechten, die der deutsche Staat den Kirchen und Religionsgemeinschaften gewährt, falls sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen, steht die Steuerhoheit wohl an erster Stelle, weil die Kirchensteuer für die meisten Bistümer und Landeskirchen die Haupteinnahmequelle ist. Als Annexsteuer wird sie von natürlichen Personen als acht- bis neunprozentiger Zuschlag zur Einkommen- und Lohnsteuer erhoben. Mit Ausnahme von Bayern übernehmen staatliche Finanzbehörden das Inkasso.
Effizient und gerecht?Die Kirchenleitungen und ihre Behörden sind jedenfalls davon überzeugt, dass die deutsche Kirchensteuer effizient und gerecht ist. Die Kirchen sollten die Bereitschaft des Staates zur freundlichen Kooperation nutzen und das Kirchensteuerrecht als eine gemeinsame Aufgabe von Staat und Kirchen schätzen. Das Staatsinkasso senke den Verwaltungsaufwand erheblich, während eine rein kirchliche Steuerverwaltung vermutlich ein Fünftel der Einnahmen beanspruchen würde. Eine Steuer, die in die staatliche Einkommen- und Lohnsteuer eingekleidet ist, bremse den Steuerwiderstand des Kirchenmitglieds. Das zentrale Erhebungsverfahren, das die Bistümer und Landeskirchen zu Steuergläubigern macht, erleichtere einen innerkirchlichen Finanzausgleich. So bleibe die finanzielle Ausstattung der Gemeinden relativ gleichmäßig und der Ortspfarrer werde nicht von der Finanzstärke einer Gemeinde abhängig. Die Steuersubjekte würden nach ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit eingestuft, sodass etwa ein Drittel der Katholiken keine Kirchensteuer zahlt. Eine unzumutbare Progression könne auf Antrag durch eine Kappung der Kirchensteuerschuld auf drei bis vier Prozent des steuerpflichtigen Einkommens festgesetzt werden. Über die Höhe und Verwendung der Steuern entscheide selbst in den katholischen Bistümern ein Kirchensteuerrat, der sich mehrheitlich aus mittelbar gewählten Katholiken zusammensetzt.
Die Effizienz und die Gerechtigkeit des kirchlichen Finanzregimes werden offenkundig daran gemessen, ob es leistungsstark und systemstabil, historisch begründet und verfassungsfest ist. Reichen solche Maßstäbe für ein wohl begründetes Urteil aus? Die Gerechtigkeit des derzeitigen Kirchensteuersystems ist nicht jedem Einwand entzogen. Denn es hat seinen Preis, solange die Befreiung von der Kirchensteuer der staatlichen Steuerbefreiung folgt und solange die Kirchen sich ins Kielwasser der staatlichen Fiskalpolitik begeben. Diese reagiert antizyklisch auf das Auf und Ab der Wirtschaftskonjunktur, setzt Prioritäten der steuerlichen Entlastung bzw. Belastung bestimmter Haushaltsgruppen oder gewisser monetärer bzw. realwirtschaftlicher Aktivitäten. Die strukturelle Verlagerung des Gewichts der direkten und indirekten Steuern schmälert längerfristig die Einnahmen aus der Kirchensteuer, die der Einkommensteuer folgen. Zudem ist mit einem wachsenden Unbehagen von Kirchenmitgliedern zu rechnen, denen die Mitwirkung des Staates, der Banken und der Arbeitgeber beim Steuerinkasso sowie die delegierte Zwangsgewalt des Staates beim Eintreiben der Kirchensteuer nicht behagen. Solche Christen möchten sich persönlich für die Zahlung der Kirchensteuer entscheiden, sodass sich kirchliches Engagement und Zahlungsbereitschaft stärker decken würden. In den Ortsgemeinden wächst das Unbehagen darüber, dass sie von den Entscheidungen über die Verwendung der Finanzmittel praktisch ausgeschlossen sind.
Alternativlos?Die Verfechter des in der Welt einzigartigen deutschen Kirchensteuersystems malen dunkle Schatten an die Wand, falls dieses aufgegeben würde. Doch solche Drohgebärden können nicht verhindern, dass die kirchlichen Finanzierungsformen in anderen Ländern, wenngleich sie unter anderen geschichtlichen und aktuellen Voraussetzungen geschaffen wurden, als Alternativen geprüft werden. In der Schweiz gibt es eine Kirchensteuer, die der deutschen ähnelt, allerdings ist die Gemeinde vor Ort der unmittelbare Steuergläubiger. In Österreich existiert ein 1938 von den Nazis eingeführter Kirchenbeitrag. Seine Höhe beruht auf der Selbsteinschätzung des Kirchenmitglieds oder einer tabellarischen Einschätzung durch kirchliche Beitragsstellen. Wenn ein Mitglied nicht zahlt, ist ein Zwangsinkasso durch den Staat ausgeschlossen. Die Kirche muss eine Zivilklage erheben. Damals hat sich die Erwartung der Nazis nicht erfüllt, dass der Kirchenbeitrag eine Austrittswelle auslösen würde, aber heutzutage ist das Unbehagen über den Kirchenbeitrag demjenigen über die Kirchensteuer in Deutschland vergleichbar. In Italien und Spanien sind einander ziemlich ähnliche Systeme der Kirchenfinanzierung unter Mitwirkung des Staates geschaffen worden. Der Staat tritt den dazu berechtigten Religionsgemeinschaften sowie anderen sozialen, kulturellen oder pädagogischen Einrichtungen einen bestimmten Prozentsatz der Einkommensteuerschuld ab, in Spanien sind es 0,52 Prozent, in Italien 0,8 Prozent. Die Steuerpflichtigen erklären in der Steuererklärung, welcher Einrichtung sie den Beitrag zukommen lassen wollen. Der finanzielle Bedarf der orthodoxen Kirche in Griechenland als einer Staatskirche wird vollständig vom Staat gedeckt. In den skandinavischen Ländern haben sich Reste des Staatskirchentums erhalten. In Dänemark wird die evangelisch-lutherische Kirche als Dänische Volkskirche aus einer Kirchensteuer und Staatsleistungen finanziert. In Schweden finanzieren sich alle Religionsgemeinschaften aus örtlich erhobenen Kirchenbeiträgen und Staatsleistungen. Das Großherzogtum Luxemburg behandelt alle Religionsgemeinschaften gleich und gewährt ihnen eine staatliche Finanzierung. In Frankreich und in den Vereinigten Staaten wird eine strikte Trennung von Staat und Kirche eingehalten; die Kirchen und Religionsgemeinschaften dort finanzieren sich durch Spenden und Sammlungen. Die katholische Kirche in Frankreich wirbt für einen freiwilligen »Kultbeitrag« von einem bis zwei Prozent des Einkommens oder zwei bis drei Tageslöhnen. Er macht ein Viertel der direkten kirchlichen Einnahmen aus. Indirekt unterstützt der französische Staat die kirchlichen Kult- und Diözesanvereine, indem er sie steuerrechtlich bevorzugt behandelt.
Gründe für einen Systemwechsel?Sind die Gründe für einen Systemwechsel gewichtig genug, um die Risiken in Kauf zu nehmen, die von den Verfechtern des Status quo ins Spiel gebracht werden? Der Abschied vom Körperschaftsstatus und die Wahl der verbandlichen Organisationsform würden den Kirchenleitungen eine größere Distanz zur Staatsmacht bringen. Sie könnten ohne Rücksicht auf den Schulterschluss mit politischen und wirtschaftlichen Eliten, auf Parteifreunde und informelle Beziehungsnetze zu globalen Fragen des Friedens, der Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung unbefangen und solidarisch mit den armen Völkern in der Welt Stellung beziehen. Die Botschaft des Evangeliums könnte unverstellter zur Sprache kommen. Eine Kirche, die ihre Angelegenheit selbst regelt, anstatt die staatliche Hoheitsgewalt in Anspruch zu nehmen, könnte an Glaubwürdigkeit gewinnen. Die Mitglieder der Kirchen würden für Außenstehende überzeugender wirken, wenn sie die Finanzierung ihrer Kirche durch Beiträge, Sammlungen und Spenden selbst in die Hand nähmen. Sobald bei den Mitgliedern der Grad an Identifizierung mit der Kirche wächst, könnten sich erst das Image der Kirche, dann die Zahl der Mitglieder und in der Folge die kirchliche Finanzlage verbessern.
Wäre die Orts- oder Personalgemeinde der erste Adressat eines Kirchenbeitrags, würden die elementaren Interessen der Gemeinde als Erste berücksichtigt. Die zunehmende Gefahr einer Verkirchlichung des Glaubens und einer verfestigten Kirchenbürokratie könnte so abgewehrt werden. Zudem würde der unmittelbare Zusammenhang zwischen dem Glaubenszeugnis der Gemeindemitglieder und ihrem finanziellen Engagement gefestigt. Offensichtlich steigt die Zahlungsbereitschaft der Christen, je unmittelbarer ihnen der Zweck ihrer finanziellen Zuwendungen einleuchtet und je mehr sie an der Entscheidung, wie die Finanzmittel verwendet werden, beteiligt sind. So würden vermutlich für die Dienste, die eine Gemeinde für wichtig hält – beispielsweise Gemeinde- und Pastoralreferentinnen einzustellen, die als unmittelbare Bezugspersonen zur Verfügung stehen –, ausreichende Finanzmittel mobilisiert. Dies ist schon jetzt unter dem Regime der Kirchensteuer erkennbar: Denn das finanzielle Engagement von Gemeindemitgliedern ist umso höher, je ortsnäher die Projekte verankert sind oder je unmittelbarer eine finanzielle Hilfe von Gemeinde zu Gemeinde auf internationaler Ebene organisiert werden kann.
Sind solche Behauptungen realitätsferne Träumereien, fromme Wünsche im Optativ, haltlose Vermutungen? Durchkreuzen am Ende doch die möglichen Einbußen an Effizienz und Gerechtigkeit den erwarteten positiven Finanzsaldo? Eine freiwillige Beitragszahlung lässt wohl nicht automatisch die Spendenbereitschaft sinken. Die Gefahr der Abhängigkeit von Geldgebern wird häufig polemisch dramatisiert. Sie ließe sich durch ein finanzwirtschaftliches Netzwerk entschärfen, das aus einer Kooperation der Gemeinden von unten hervorgeht und einen zentral organisierten innerkirchlichen Finanzausgleich ersetzt.
Das für die katholische Kirche dunkle Jahr 2010 hat dramatische Zahlen des Kirchenaustritts gebracht. Während die Austritte aus drei evangelischen Landeskirchen in den Monaten März bis Mai 2010 im Vergleich zum Vorjahr im üblichen Rahmen blieben, haben sie sich in drei Bistümern der katholischen Kirche verdoppelt bzw. verdreifacht. 2006 und 2007 verließen rund 60.000 Personen die katholische Kirche, in den beiden Folgejahren waren es jeweils rund 120.000. Für das Jahr 2010 wird eine Zahl von 180.000 angegeben.
Warum der sprunghafte Anstieg?Der sprunghafte Anstieg von Kirchenaustritten, der im Zeitablauf wiederholt, wenngleich nicht in diesem eruptiven Ausmaß beobachtet worden ist, wird vom kontinuierlichen Trend einer Abkehr von den Kirchen überlagert. Was sind die Gründe, die beide Beobachtungen erklären? Wohl nicht nur biografische oder familiäre Brüche. Vielmehr spielen gesellschaftliche Verwerfungen – etwa ein ruckartiger Wechsel grundlegender Orientierungen und normativer Überzeugungen, wirtschaftlicher Prosperität oder finanzpolitischer Maßnahmen –, aber auch kirchliche Ereignisse, etwa Fehlentscheidungen und Stellungnahmen von Kirchenoberen, eine wichtige Rolle. 2009 beispielsweise trieben das umstrittene Kirchenregiment des deutschen Papstes, seine Regensburger Rede und seine Versöhnungsgeste gegenüber den Piusbrüdern nicht wenige Katholiken zu dem Entschluss, die Kirche zu verlassen, wenngleich dieser unterschwellig bereits länger vorhanden gewesen sein mag. 2010 sind die ungewöhnlich zahlreichen Austritte aus der katholischen Kirche und außerdem erstmalige Übertritte zur evangelischen Kirche eindeutig auf die bekannt gewordenen Verbrechen sexuellen Missbrauchs und gewalttätiger Übergriffe zurückzuführen, die von kirchlichen Amtsträgern begangen worden waren. Kirchenaustritte sind offenbar immer auch ein Indikator für die allgemein empfundene Resonanz der Kirchen in der Gesellschaft. Auch der mit dem Kirchenaustritt manifest gewordene latente Steuerwiderstand mag zwar unmittelbar durch eine konjunkturelle Situation, die das private Haushaltsbudget einschnürt, oder durch eine staatliche Steuerreform, die das Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben verändert, ausgelöst sein. Mittelbar jedoch scheint sich derzeit eine abgründige Wut der zum Austritt Entschlossenen gegen das Regiment der Kirchenleitungen selbst zu richten, denen die kirchliche Vertrauens-, Vermittlungs- und Führungskrise angelastet wird.
Welche tiefere Bedeutung?Bezweckt der Kirchenaustritt des Mitglieds einer der Großkirchen, dass der Austretende sich einen finanziellen Vorteil verschafft? Drückt er die Weigerung aus, Kirchensteuern zu zahlen? Soll er den Protest gegen ein konkretes Handeln kirchlicher Amtsträger öffentlich machen? Wird durch ihn die Kirchenzugehörigkeit aufgekündigt? Oder artikuliert er, gemäß der katholischen Begrifflichkeit, den Abfall vom Glauben?
Die katholische Kirche hält, wie Papst Benedikt XVI. 2009 im Hinblick auf das Eherecht bekräftigt hat, an dem Grundsatz fest: »Einmal katholisch, immer katholisch.« Diese Formel besagt, dass der »Charakter«, das Prägemal der christlichen Taufe, untilgbar ist und selbst durch einen ausdrücklichen Glaubensabfall oder eine ausdrückliche Trennung von der Kirche (Häresie, Apostasie oder Schisma) nicht ausgelöscht werden kann. Ein Echo dieses Grundsatzes findet sich im katholischen Kirchenrecht, indem die Gläubigen (»Christifideles«) als jene definiert werden, die durch die Taufe Christus eingegliedert, zum Volk Gottes gemacht und dazu berufen sind, jene Sendung auszuüben, die Gott der Kirche anvertraut hat. Diese in der Welt als Gesellschaft verfasste und geordnete Kirche »subsistiert« in der katholischen Kirche (vgl. dazu unten, S. 124 f.). Voll in der Gemeinschaft dieser katholischen Kirche stehen jene Getauften, die in deren sichtbarem Verband durch die Bande des Bekenntnisses, der Sakramente und der pastoralen Leitung mit Christus verbunden sind. Demnach scheint es nicht vorstellbar zu sein, dass Katholiken diese »mystische« Mitgliedschaft in der Kirche aufkündigen oder verlieren.