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Buch

Detective Inspector John Rebus ist in die Polizeistation von Craigmillar strafversetzt worden, das schlimmste und trostloseste Stadtviertel von Edinburgh. Aber das ist nicht der einzige Grund für seine schlechte Laune. Er muss einen jungen Mann verhören, der vorgibt »Johnny Bible« zu sein und sich freiwillig gestellt hat. Johnny Bible, so haben die den grausamen Serienmörder getauft, der die schottische Polizei in Atem hält. Es ist eine Anspielung auf den berüchtigten »Bible John«, der in den Sechzigerjahren in Schottland mehrere Frauen erwürgte. Trotz einer großen Fahndungsaktionen konnte Bible John damals entkommen; seine Identität ist nie geklärt worden. Die neuen Fälle sind bis auf wenige Einzelheiten den alten sehr ähnlich, doch genau diese kleinen Unterschiede überzeugen Rebus davon, dass es sich nicht um denselben Täter handeln kann: Johnny Bible ist nicht Bible John, und der junge Mann im Verhörzimmer ist nur ein armer Schlucker, der etwas Aufmerksamkeit braucht. Weitere Ermittlungen führen Rebus nach Glasgow und Aberdeen, doch ihm läuft die Zeit davon. Denn nach dem bisherigen Muster wird Johnny Bible bald wieder töten, und was Rebus nicht wissen kann: Auch der alte Bible John geht der Spur des neuen Mörders nach, denn einen Nachahmer kann sein krankhafter Stolz nicht dulden …


Weitere Informationen zu Ian Rankin sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Ian Rankin

Das Souvenir des Mörders

Kriminalroman

Aus dem Englischen
von Giovanni und Ditte Bandini

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Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel »Black & Blue« bei Orion Books Ltd., London.


Neuveröffentlichung Oktober 2019

Copyright © der Originalausgabe 1997 by Ian Rankin

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: christinephillips / getty images; FinePic®, München

Redaktion: Irmgard Perkounigg

Th · Herstellung: mw


ISBN: 978-3-641-10233-3
V005

www.goldmann-verlag.de


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O hätt, eh ich den Tag erlebt,
Da uns Verrat nahm alles,
Ich meinen Kopf ins Grab gelegt
Zu Bruce und William Wallace!
Doch sackerlot,
bis zu meinem Tod
Erklär ich immer wieder:
Die Treue hält
es nur Englands Geld,
Dieses Pack, meine schottischen Brüder!

Robert Burns,
»Leb wohl, all unsre Schottenherrlichkeit«


Wenn ihr die Traute habt … zu sagen, dass ich die Geschichte nach meinen eigenen Vorstellungen umschreiben kann, lass ich’s euch durchgehen.

James Ellroy

Leere Hauptstadt

Beladen mit Jahrhunderten Schnaubt diese leere Hauptstadt wie ein großes Tier, Im Schlaf gefangen, das von Freiheit träumt, Ohne daran zu glauben …

Sydney Goodsir Smith,
Kynd Kittock’s Land

1

»Erzählen Sie mir noch einmal, warum Sie sie getötet haben.«

»Hab ich doch gesagt, das ist einfach dieser Drang

Rebus sah in seinen Notizen nach. »Das Wort, das Sie benutzt hatten, war ›Zwang‹.«

Der auf dem Stuhl zusammengesackte Mann nickte. Er verströmte einen üblen Geruch. »Drang, Zwang, is doch alles eins.«

»Ach ja?« Rebus drückte seine Zigarette aus. Der Blechaschenbecher war so voll, dass ein paar Stummel auf den Metalltisch kullerten. »Reden wir mal vom ersten Opfer.«

Der Mann, der ihm gegenübersaß, stöhnte. Er hieß William Crawford Shand, genannt »Craw«. Er war vierzig Jahre alt, ledig und hauste allein in einer Sozialwohnung in Craigmillar. Er war seit sechs Jahren arbeitslos. Er fuhr sich mit zitternden Fingern durch das dunkle, fettige Haar, fand und bedeckte eine große kahle Stelle auf seinem Scheitel.

»Das erste Opfer«, sagte Rebus. »Erzählen Sie’s uns.«

»Uns«, weil sich noch ein anderer CID-Beamter in der »Keksdose«, dem Verhörraum, befand. Er hieß Maclay, und Rebus kannte ihn nicht besonders gut. Er kannte niemanden in Craigmillar besonders gut – noch nicht. Maclay stand mit dem Rücken zur Wand, die Arme verschränkt, die Augen zu Schlitzen verengt. Er sah wie eine ausgeschaltete Maschine aus.

»Ich hab sie erwürgt.«

»Womit?«

»’m Stück Seil.«

»Wo hatten Sie das Seil her?«

»Hab ich in irgendei’m Laden gekauft, weiß nich mehr, wo.«

Drei Herzschläge Pause. »Was haben Sie dann getan?«

»Wie sie tot war?« Shand ruckelte auf dem Stuhl ein wenig hin und her. »Ich hab sie ausgezogen und bin mit ihr intim geworden.«

»Mit einer Leiche?«

»Sie war noch warm.«

Rebus stand auf. Das Scharren seines Stuhls auf dem Fußboden schien Shand nervös zu machen. Gehörte nicht viel dazu.

»Wo haben Sie sie getötet?«

»In einem Park.«

»Und wo war dieser Park?«

»In der Nähe von wo sie wohnte.«

»Und das war wo?«

»Polmuir Road, Aberdeen.«

»Und was hatten Sie in Aberdeen zu tun, Mr Shand?«

Er zuckte die Achseln und fuhr mit den Fingern die Tischkante entlang, auf der er Spuren von Schweiß und Fett hinterließ.

»Das würde ich lieber lassen«, sagte Rebus. »Die Kanten sind scharf, Sie könnten sich schneiden.«

Maclay schnaubte. Rebus machte ein paar Schritte auf ihn zu und starrte ihn an. Maclay nickte kurz. Rebus kehrte zum Tisch zurück.

»Beschreiben Sie den Park.« Er lehnte sich gegen die Tischkante, holte sich eine weitere Zigarette heraus und zündete sie an.

»Das war einfach so’n Park. Sie wissen schon, Bäume und Rasen, ein Kinderspielplatz.«

»War das Tor geschlossen?«

»Was?«

»Es war spätnachts, war das Tor geschlossen?«

»Weiß ich nich mehr.«

»Sie wissen’s nicht mehr.« Pause: zwei Herzschläge. »Wo hatten Sie sie kennen gelernt?«

Schnell: »In ’ner Disco.«

»Sie sehen nicht aus wie der typische Discogänger, Mr Shand.« Ein weiteres Schnauben seitens der Maschine. »Beschreiben Sie mir das Lokal.«

Shand zuckte wieder die Achseln. »Wie so ’ne Disco eben aussieht: dunkel, flackernde Beleuchtung, ein Tresen.«

»Und Opfer Nummer zwei?«

»Selbe Prozedur.« Shands Augen waren dunkel, sein Gesicht ausgezehrt. Aber trotz allem fing er an, sich zu amüsieren, wieder in seine Geschichte reinzukommen. »Hab sie in ’ner Disco kennen gelernt, hab angeboten, sie nach Haus zu begleiten, hab sie umgebracht und sie gefickt.«

»Also keine Intimitäten diesmal. Haben Sie ein Andenken mitgenommen?«

»Hä?«

Rebus schnippte Asche auf den Fußboden, einiges davon landete auf seinen Schuhen. »Haben Sie irgendetwas vom Tatort mitgenommen?«

Shand dachte nach, schüttelte den Kopf.

»Und wo genau war das?«

»Warriston-Friedhof.«

»In der Nähe ihrer Wohnung?«

»Sie wohnte in Inverleith Row.«

»Womit haben Sie sie erdrosselt?«

»Mit dem Stück Seil.«

»Demselben Stück?« Shand nickte. »Was haben Sie damit gemacht? Es ständig in der Hosentasche mit sich rumgetragen?«

»Genau.«

»Haben Sie es jetzt auch bei sich?«

»Ich hab’s weggeschmissen.«

»Sie machen es uns nicht leicht, was?« Shand wand sich vor Vergnügen. Vier Schläge. »Und das dritte Opfer?«

»Glasgow«, sagte Shand. »Kelvingrove Park. Sie hieß Judith Cairns. Sie meinte, ich sollte sie Ju-Ju nennen. Ich hab sie genauso erledigt wie die anderen.« Er lehnte sich im Stuhl zurück, rutschte ein Stück höher und verschränkte die Arme. Rebus streckte eine Hand aus und legte sie ihm wie ein Gesundbeter auf die Stirn. Dann drückte er, nicht besonders fest. Aber er stieß auf keinerlei Widerstand. Shand und Stuhl kippten hintenüber auf den Boden. Jetzt kniete Rebus vor dem Mann und zerrte ihn am Hemd hoch.

»Sie sind ein Lügner!«, zischte er. »Was Sie wissen, haben Sie direkt aus den Zeitungen, und was Sie sich selbst ausdenken mussten, war der letzte Schrott!« Er ließ ihn los und stand auf. Seine Hände waren von Shands Hemd ganz feucht geworden.

»Ich lüge nicht«, beteuerte Shand, noch immer am Boden. »Das is’ die reine Wahrheit!«

Rebus drückte die zur Hälfte gerauchte Zigarette aus. Weitere Stummel kullerten aus dem Aschenbecher. Rebus hob einen auf und schnippte ihn auf Shand.

»Stellen Sie mich denn nicht unter Anklage?«

»Und ob wir das tun! Wegen Vergeudung unserer Zeit. Dafür wandern Sie für ein Weilchen nach Saughton, mit einem Arschficker als Zellengenossen.«

»Normalerweise lassen wir ihn einfach laufen«, sagte Maclay.

»Stecken Sie ihn in eine Zelle«, befahl Rebus und ging aus dem Zimmer.

»Aber ich bin’s!«, beharrte Shand, noch während Maclay ihn vom Boden hochzog. »Ich bin Johnny Bible! Ich bin Johnny Bible!«

»Da träumst du von, Craw«, sagte Maclay und brachte ihn mit einem Fausthieb zum Schweigen.


Rebus musste sich die Hände waschen, sich etwas Wasser ins Gesicht spritzen. Zwei von der Trachtengruppe vertrieben sich auf der Toilette etwas Zeit mit einer Geschichte und einer Zigarette. Als Rebus hereinkam, hörten sie auf zu lachen.

»Sir«, fragte der eine, »wen hatten Sie in der Keksdose?«

»Noch so’n Komiker«, sagte Rebus.

»Von denen wimmelt’s hier«, kommentierte der zweite Constable. Rebus wusste nicht, ob er das Revier meinte, Craigmillar selbst oder die Stadt als Ganzes. Nicht dass es auf dem Polizeirevier Craigmillar viel zu lachen gegeben hätte. Es war der aufreibendste Posten in ganz Edinburgh; Beamte taten dort maximal zwei Jahre Dienst, länger hielt das keiner aus. Craigmillar war so ziemlich das härteste Viertel, das man in der schottischen Hauptstadt finden konnte, und das Revier trug seinen Spitznamen – Fort Apache, Bronx – völlig zu Recht. Es lag am Ende einer Sackgasse hinter einer Reihe von Läden: ein niedriges, abweisendes Gebäude, hinter dem noch abweisendere Mietskasernen in die Höhe ragten. Seine Lage am Ende einer Sackgasse bedeutete, dass eine feindselige Menge es problemlos von der Außenwelt abschneiden konnte, und tatsächlich hatte das Revier schon mehrmals den Belagerungszustand erlebt. Ja, Craigmillar war schon ein heißes Pflaster.

Rebus wusste, warum er hier war. Er war ein paar Leuten auf die Füße getreten, wichtigen Leuten. Sie hatten ihn nicht endgültig abservieren können, also schickten sie ihn stattdessen ins Fegefeuer. Die Hölle konnte das nicht sein, da er wusste, dass es nicht ewig währen würde. Nennen wir es also eine Buße. Im Schreiben, das ihm seine Versetzung mitteilte, stand, er würde einen Kollegen vertreten, der im Krankenhaus lag. Es hatte außerdem geheißen, er werde die Schließung der alten Craigmillar-Wache beaufsichtigen. Alles wurde zusammengepackt und in ein nahe gelegenes brandneues Gebäude geschafft. Die Wache war schon jetzt ein einziges Durcheinander von Umzugskartons und leergeplünderten Schränken. Die Beamten rissen sich nicht gerade ein Bein aus, um laufende Fälle zu lösen. Ebenso wenig hatten sie sich ein Bein ausgerissen, um Detective Inspector John Rebus einen freundlichen Empfang zu bereiten. Man kam sich eher vor wie in einem Krankenhaus als wie auf einem Polizeirevier, und die Patienten schienen bis an die Kiemen mit Beruhigungsmitteln abgefüllt zu sein.

Er schlenderte in den CID-Raum – den »Schuppen« – zurück. Unterwegs kam er an Maclay und Shand vorbei, der, während er zum Zellentrakt geschleift wurde, lautstark seine Schuld beteuerte.

»Ich bin Johnny Bible! Kacke, verdammte, ich bin’s!«

Da träumst du von.

Es war einundzwanzig Uhr an einem Dienstag im Juni, und der einzige andere Mensch im »Schuppen« war Detective Sergeant »Dod« Bain. Er sah kurz von seiner Lektüre auf – Offbeat, dem amtlichen Mitteilungsblatt für die Verwaltungsgebiete Lothian und Borders –, und Rebus schüttelte den Kopf.

»Hatte ich mir schon gedacht«, sagte Bain und blätterte um. »Craw ist berüchtigt dafür, dass er sich immer selbst beschuldigt, deswegen habe ich ihn Ihnen überlassen.«

»Sie haben so viel Herz wie eine Büroklammer.«

»Aber ich bin auch genauso auf Draht. Vergessen Sie das nicht.«

Rebus setzte sich an seinen Schreibtisch und überlegte, ob er jetzt den Vernehmungsbericht schreiben sollte. Ein weiterer Witzbold, weitere vergeudete Zeit. Und Johnny Bible war weiterhin auf freiem Fuß.

Zuerst hatte es Bible John gegeben, der Glasgow in den späten Sechzigern in Angst und Schrecken versetzt hatte. Ein gut gekleideter junger Mann mit rötlichem Haar, der seine Bibel aus dem Effeff kannte und den Barrowland Ballroom frequentierte. Er gabelte dort drei Frauen auf, verprügelte sie, vergewaltigte sie, erdrosselte sie. Dann verschwand er, mitten in der größten Fahndungsaktion, die Glasgow bis dahin erlebt hatte, und tauchte nie wieder auf; der Fall war bis zum heutigen Tag nicht gelöst worden. Die Polizei hatte von der Schwester des letzten Opfers eine hieb- und stichfeste Personenbeschreibung bekommen. Sie war fast zwei Stunden lang in Bible Johns Gesellschaft gewesen, hatte sogar im selben Taxi mit ihm gesessen. Die beiden hatten sie abgesetzt; ihre Schwester hatte ihr zum Abschied durch das Heckfenster zugewinkt … Ihre Beschreibung hatte nichts genützt.

Und jetzt gab es Johnny Bible. Die Medien waren mit dem Namen schnell bei der Hand gewesen. Drei Frauen: verprügelt, vergewaltigt, erdrosselt. Mehr hatten sie nicht gebraucht, um die Verbindung herzustellen. Zwei Frauen waren in Nachtklubs, Discos angesprochen worden. Es gab vage Beschreibungen eines Mannes, den man mit den Opfern hatte tanzen sehen. Gut gekleidet, schüchtern. Das passte zum Original, Bible John. Bloß dass Bible John, falls er noch immer am Leben sein sollte, mittlerweile in den Fünfzigern gewesen wäre, während der neue Mörder als Mitt- bis Endzwanziger beschrieben worden war. Ergo: Johnny Bible, geistiger Sohn Bible Johns.

Natürlich gab es Unterschiede, aber die Medien hielten sich mit ihnen nicht auf. Zum einen hatten Bible Johns Opfer alle im selben Lokal getanzt; Johnny Bible dagegen klapperte ganz Schottland nach potentiellen Opfern ab. Das hatte zu den üblichen Theorien geführt: Er war Fernfahrer oder Vertreter. Die Polizei schloss keine Möglichkeit aus. Es konnte sogar sein, dass Bible John selbst nach fünfundzwanzigjähriger Abwesenheit zurückgekehrt war und die Beschreibung des Mitt-, Endzwanzigers einfach nicht stimmte – das hatte es bei scheinbar wasserdichten Augenzeugenaussagen durchaus schon gegeben. Die Polizei hielt außerdem ein paar Informationen über Johnny Bible zurück – genauso wie sie es seinerzeit mit Bible John getan hatte. Auf die Weise ließen sich die Dutzende falscher Geständnisse leichter aussieben.

Rebus hatte gerade mit seinem Bericht angefangen, als Maclay ins Zimmer gewankt kam. Das war seine normale Art zu gehen, wie ein schlingernder Kahn, aber nicht weil er betrunken oder zugedröhnt gewesen wäre, sondern weil er ziemlich übergewichtig war; irgendwie stoffwechselbedingt. Mit den Nebenhöhlen hatte er außerdem auch Probleme; seine Atmung war oft ein mühsames Keuchen, seine Stimme ein stumpfer Hobel, der gegen die Maserung scheuerte. Im Revier hieß er nur »Heavy« – der schwere Junge.

»Craw eingebuchtet?«, fragte Bain.

Maclay nickte in die Richtung von Rebus’ Schreibtisch. »Will ihn wegen Verplemperns unserer Zeit anklagen lassen.«

»Na also, das nenn ich Zeit verplempern.«

Maclay wankte in Rebus’ Richtung. Er hatte pechschwarzes Haar, das ringsum in angeklatschte Ringellöckchen auslief. Wahrscheinlich hatte er bei einigen Baby-Schönheitswettbewerben gewonnen, was allerdings schon einige Zeit zurücklag.

»Kommen Sie«, sagte er.

Rebus schüttelte den Kopf und tippte weiter.

»Ach, Scheiße.«

»Scheiß auf ihn«, sagte Bain und stand auf. Er zog sein Jackett von der Rückenlehne seines Stuhls. Zu Maclay gewandt: »’nen Drink?«

Maclay stieß einen Seufzer aus. »Genau, was ich jetzt brauche.«

Rebus hielt den Atem an, bis sie gegangen waren. Er hatte nicht erwartet, zum Mitgehen aufgefordert zu werden. War aber sowieso nur pro forma gewesen. Er hörte auf zu tippen und holte aus der untersten Schublade die Flasche Limonade heraus, schraubte den Deckel auf, schnüffelte dreiundvierzigprozentigen Malt und goss sich den Mund voll. Anschließend verstaute er die Flasche wieder in der Schublade und steckte sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund.

Schon besser. I can see clearly now. Marvin Gaye.

Er riss den Bericht aus der Schreibmaschine und knüllte ihn zusammen, dann rief er vorne an und sagte, sie sollten Craw Shand noch eine Stunde dabehalten und ihn dann laufen lassen. Er hatte gerade aufgelegt, als es klingelte.

»DI Rebus.«

»Brian.«

Brian Holmes, Detective Sergeant, noch immer in St. Leonard’s stationiert. Sie blieben in Verbindung. Heute Abend klang seine Stimme tonlos.

»Probleme?«

Holmes lachte freudlos. »’ne ganze Wagenladung voll.«

»Dann erzählen Sie mir vom jüngsten.« Rebus öffnete das Zigarettenpäckchen einhändig, schob sich eine in den Mund und zündete sie an.

»Ich weiß nicht, ob ich darf, wo Sie selbst dermaßen in der Scheiße stecken.«

»Craigmillar ist gar nicht so übel.« Rebus sah sich im muffigen Büro um.

»Ich meinte die andere Sache.«

»Ach so.«

»Sehen Sie, ich … ich könnte mich in was reingeritten haben …«

»Was ist passiert?«

»Ein Verdächtiger, wir hatten ihn festgenommen. Er hat kübelweise Scheiße von sich gegeben.«

»Sie haben ihm eine geknallt.«

»Das behauptet er jedenfalls.«

»Beschwerde eingereicht?«

»Läuft. Sein Anwalt will das bis zu Ende durchziehen.«

»Ihr Wort gegen seins?«

»Genau.«

»Die Innere wird das schon ausbügeln.«

»Wahrscheinlich.«

»Oder bitten Sie Siobhan, Ihren Arsch zu decken.«

»Sie ist im Urlaub. Mein Vernehmungspartner war Glamis.«

»Dann sieht’s schlecht aus, der ist ’ne wandelnde Feigwarze.«

Eine Pause. »Fragen Sie mich nicht, ob ich’s getan habe?«

»Ich will’s gar nicht wissen, klar? Wer war der Verdächtige?«

»Macken-Minto.«

»Scheiße, dieser Junkie kennt sich im Gesetzbuch besser aus als der Staatsanwalt. Okay, gehn wir ein paar Takte plaudern.«


Es tat gut, aus der Wache raus zu sein. Er hatte das Autofenster runtergekurbelt. Der Fahrtwind war fast warm. Der Dienst-Escort schien seit einer Weile nicht mehr geputzt worden zu sein. Es lagen Schokoladenpapierchen, leere Chipstüten, zerknüllte Orangensaftkartons und Ribena-Flaschen herum. Das Herz der schottischen Ernährung: Zucker und Salz. Fehlte nur noch Alkohol, und man hatte Herz und Leber.

Minto wohnte in einer der Mietskasernen auf der South Clerk Street, im ersten Stock. Rebus war schon zu anderen Gelegenheiten, an die er sich durchweg ungern erinnerte, da gewesen. Der Bordstein war mit Autos zugestellt, also parkte er in zweiter Reihe. Am Himmel focht ein verblassendes Rosa einen aussichtslosen Kampf gegen das heraufziehende Dunkel. Und unter dem Ganzen: Halogenorange. Die Bürgersteige waren voller lärmender Passanten. Das Kino ein Stück weiter die Straße entlang leerte sich wahrscheinlich gerade, und die ersten Schnapsleichen in spe rissen sich von den noch offenen Pubs los. Die Luft roch nach fischigem Frittierfett, Pizza, indischen Gewürzen. Brian Holmes stand, die Hände in den Taschen, vor einem Wohltätigkeitsshop. Kein Auto. Er war von St. Leonard’s wahrscheinlich zu Fuß gekommen. Die zwei Männer nickten sich zu.

Holmes sah müde aus. Noch vor ein paar Jahren war er jung, frisch, eifrig gewesen. Rebus wusste, dass das Familienleben seinen Tribut forderte: Er hatte es an seiner eigenen, schon seit Jahren geschiedenen Ehe erlebt. Holmes’ Lebensgefährtin wollte, dass er den Dienst quittierte. Sie wollte einen Mann, der mehr Zeit mit ihr verbrachte, der, wenn er zu Hause war, an sie dachte und sich nicht ständig mit Fällen und Spekulationen, Gedankenspielen und Beförderungsstrategien beschäftigte. Als Polizeibeamter hatte man oft eine engere Beziehung zu seinem Schreibtischpartner als zu seiner Lebensgefährtin. Wenn man zum CID kam, erhielt man einen warmen Händedruck und ein Stück Papier.

Das Stück Papier war das vorläufige Scheidungsurteil.

»Wissen Sie, ob er zu Haus ist?«, fragte Rebus.

»Ich hab ihn angerufen. Er hat abgenommen. Klang halbwegs nüchtern.«

»Haben Sie irgendwas gesagt?«

»Bin ich blöd?«

Rebus hielt den Blick auf die Fenster des Mietshauses gerichtet. Im Parterre waren Läden; Minto wohnte über einer Schlosserei. Nicht unwitzig, wenn man einen Sinn für so was hatte.

»Okay, Sie gehen mit rauf, bleiben aber draußen im Treppenhaus. Kommen Sie nur rein, wenn Sie hören, dass es Ärger gibt.«

»Sicher?«

»Ich will mich mit dem Mann nur unterhalten.« Rebus berührte Holmes’ Schulter. »Entspannen Sie sich.«

Die Haustür war nicht abgeschlossen. Sie stiegen schweigend die Wendeltreppe hinauf. Rebus drückte auf den Klingelknopf und atmete tief ein. Minto hatte die Tür kaum einen Spalt breit geöffnet, als sich Rebus mit der Schulter dagegenwarf und Minto und sich selbst in den trüb beleuchteten Flur katapultierte. Er knallte die Tür hinter sich zu.

Minto wollte handgreiflich werden, bis ihm klar wurde, mit wem er es zu tun hatte. Er stieß nur einen Knurrlaut aus und schlurfte ins Wohnzimmer zurück – ein winziger Raum, der auch noch zur Hälfte als Küche fungierte; ein schmaler bis zur Decke reichender Schrank enthielt, wie Rebus wusste, eine Dusche. Dann waren da noch ein Schlafzimmer und eine Toilette mit einem Puppenhaus-Waschbecken. Es gab durchaus geräumigere Iglus.

»Was zum Teufel wollen Sie?« Minto griff nach einer Dose hochprozentigem Lager. Er leerte sie im Stehen.

»Zwei Takte plaudern.« Rebus sah sich scheinbar beiläufig im Zimmer um. Aber seine Hände waren einsatzbereit.

»Das ist unbefugtes Eindringen.«

»Kläff du nur weiter. Ich zeig dir schon, was unbefugtes Eindringen ist.«

Minto legte das Gesicht in Falten: nicht beeindruckt. Er war Mitte dreißig, sah aber fünfzehn Jahre älter aus. Er hatte schon die meisten gängigen Drogen durch: Horse, Speed, Crack. Jetzt war er auf Methadon. Zugedröhnt war er ein kleineres Problem, lediglich nervig; nüchtern taugte er nur für die Gummizelle. Völlig übergeschnappt.

»Was man so hört, sind Sie eh am Arsch«, sagte er jetzt.

Rebus trat einen Schritt näher. »Stimmt, Macke. Also frag dich selbst: Was habe ich zu verlieren? Wenn ich am Arsch bin, kann ich genauso gut Nägel mit Köpfen machen.«

Minto hob die Hände. »Nur die Ruhe, Mann. Was haben Sie für ein Problem?«

Rebus entspannte sein Gesicht. »Du bist mein Problem, Macke. Pisst einem Kollegen von mir ans Bein.«

»Er hat mich zusammengeschlagen.«

Rebus schüttelte den Kopf. »Ich war dabei, hab nix gesehen. Ich war mit einer Nachricht für DS Holmes reingeschickt worden. Ich bin dageblieben. Wenn er also auf dich losgegangen wäre, hätte ich’s ja wohl mitgekriegt, oder?«

Sie standen sich schweigend gegenüber. Dann wandte sich Minto ab und ließ sich in den einzigen Sessel des Zimmers plumpsen. Er sah so aus, als wollte er eine Runde schmollen. Rebus bückte sich und hob etwas vom Fußboden auf. Es war der vom Fremdenverkehrsamt herausgegebene Zimmernachweis.

»Bisschen blau machen?« Er blätterte rasch die Listen von Hotels, Pensionen, möblierten Zimmern durch. Dann hielt er die Broschüre in die Höhe. »Ein Bruch an einer dieser Adressen, und du bist der Erste, dem wir einen Besuch abstatten.«

»Schikane«, sagte Minto, aber leise.

Rebus ließ die Broschüre fallen. Jetzt sah Macken-Minto gar nicht mehr so verrückt aus, eher völlig erledigt, so als hätte sich das Leben in einen der Boxhandschuhe ein Hufeisen gesteckt. Rebus wandte sich ab. Er durchquerte den Flur und griff schon nach der Klinke der Wohnungstür, als Minto seinen Namen rief. Der kleine Mann stand am anderen Ende des Flurs, keine vier Meter von ihm entfernt. Er hatte sich sein ausgeleiertes T-Shirt bis zu den Schultern hochgezogen. Nachdem er ihm die Vorderseite gezeigt hatte, drehte er sich um und führte Rebus die Rückenpartie vor. Die Beleuchtung war dürftig – eine Vierzig-Watt-Birne unter einem fliegenschisstrüben Schirm –, aber Rebus sah es auch so. Tattoos, dachte er im ersten Moment. Aber es waren Blutergüsse: an den Rippen, Seiten, Nieren. Selbst zugefügt? Vielleicht. Das war immer möglich. Minto ließ das T-Shirt herunterfallen und starrte Rebus an. Der öffnete die Tür und verließ die Wohnung.

»Alles in Ordnung?«, fragte Holmes nervös.

»Die Story lautet: Ich bin mit einer Nachricht reingekommen. Ich war während des ganzen Verhörs dabei.«

Holmes atmete geräuschvoll aus. »Das war’s also?«

»Das war’s.«

Vielleicht war es der Ton seiner Stimme, der Holmes aufmerken ließ. Er begegnete John Rebus’ starrem Blick und sah als Erster weg. Draußen streckte er die Hand aus und sagte: »Danke.«

Aber Rebus hatte sich schon umgedreht und entfernte sich.


Er fuhr durch die Straßen der leeren Hauptstadt, links und rechts von Wohneigentum im sechsstelligen Preisbereich flankiert. Heutzutage kostete es ein Vermögen, in Edinburgh zu wohnen. Er versuchte, nicht daran zu denken, was er getan, was Brian Holmes getan hatte. In seinem Kopf der Kommentar der Pet Shop Boys: »It’s a Sin.« Überleitung zu Miles Davis: »So what?«

Er fuhr in die ungefähre Richtung von Craigmillar, überlegte es sich dann aber anders. Er würde stattdessen nach Hause fahren und darum beten, dass draußen keine Reporter kampierten. Wenn er nach Haus ging, nahm er die Nacht mit, musste sie sich dann ablaugen und abschrubben und fühlte sich dabei wie ein alter Pflasterstein, auf dem Tag für Tag herumgetrampelt wurde. Manchmal war es einfacher, auf der Straße zu bleiben oder auf der Wache zu schlafen. Manchmal gondelte er die ganze Nacht herum – nicht nur durch Edinburgh: runter nach Leith und an den Nutten und Strichern vorbei, den Hafen entlang, gelegentlich bis nach South Queensferry und dann rauf zur Forth Bridge, die M90 entlang durch Fife, an Perth vorbei, bis rauf nach Dundee, wo er meist, mittlerweile müde, wendete und zurückfuhr oder, wenn nötig, am Straßenrand hielt und im Auto schlief. Es brauchte alles seine Zeit.

Er erinnerte sich, dass er in einem Dienstwagen saß, nicht in seinem eigenen. Wenn sie die Karre brauchten, dann konnten sie sie sich ja holen. Als er Marchmont erreichte, war auf der Arden Street kein Parkplatz zu finden; und so hielt er schließlich im absoluten Halteverbot. Reporter waren keine zu sehen; irgendwann mussten die ja auch schlafen. Er ging die Warrender Park Road entlang zu seinem Lieblings-Fish-and-Chips-Shop – riesige Portionen, und Zahnpasta und Klopapier gab es bei Bedarf da auch. Er schlenderte langsam wieder zurück und war schon halb die Treppe hoch, als sein Piepser losging.