Nr. 390
Das Wunder von Atlantis
Die Stunde der Niederlage – und die Stunde des Sieges
von Hans Kneifel
Der Flug von Atlantis-Pthor durch die Dimensionen ist erneut unterbrochen worden. Der Kontinent, der auf die Schwarze Galaxis zusteuerte, wurde durch den Korsallophur-Stau gestoppt. Pthor ist nun umschlossen von Staub und planetarischen Trümmermassen, die von einem gewaltigen kosmischen Desaster zeugen, das sich in ferner Vergangenheit zugetragen hat.
Auch wenn durch diesen Zwangsaufenthalt Pthors die von der Schwarzen Galaxis zu erwartende Gefahr gegenwärtig ignoriert werden kann – die Situation sieht für Atlan, den neuen König von Pthor, und seine Untertanen trotzdem relativ kritisch aus.
Der fliegende Kontinent und seine Bewohner bekommen es nämlich mit den wilden und kriegerischen Krolocs zu tun, den Beherrschern des Korsallophur-Staus. Diese spinnenähnlichen Intelligenzen sehen in dem so plötzlich aufgetauchten Weltenbrocken ein Objekt, das es zu erobern und ihrem Herrschaftsbereich einzuverleiben gilt.
Nun, nach ausgedehnten Erkundungsunternehmen und anderen Vorbereitungen, naht die Stunde, da die Krolocs gegen die Neuankömmlinge im Stau zum Angriff antreten, voller Vertrauen auf die Überlegenheit ihrer Waffen und die Unbesiegbarkeit ihrer Krieger.
Die Verteidiger haben den Invasoren nicht allzu viel entgegenzusetzen – dennoch geschieht in der Stunde der drohenden Niederlage etwas, das man als Wunder bezeichnen kann, als DAS WUNDER VON ATLANTIS ...
Tagger Blyhs – Kommandant der krolocischen Invasionsstreitkräfte.
Razamon – Pilot des goldenen Raumschiffs.
Atlan – Der Arkonide greift persönlich in den Kampf um Pthor ein.
Sator Synk und Binoos – Kommandanten der Streitkräfte von Pthor.
Hinter ihnen schlugen die weißglühenden Strahlen aus den Lanzen der Angreifer in Felsnadeln und in Geröllflächen ein. Thalia und die Gruppe, mit der sie kämpfte, flüchteten mit langen Sprüngen. Eine breite Angriffsreihe von Krolocs kam hinter ihnen her.
»Zurück!«, rief Thalia-Honir. »Wir verteidigen das Tor!«
Das Tor war ein Relikt aus alten Zeiten. Eine uralte zyklopische Mauer enthielt an diesem Teilstück riesige Felsen, die zu einem gewaltigen Torbogen zusammengefügt waren. Die Herren der FESTUNG hatten auch hier eine Todesfalle eingerichtet, die jetzt leider wirkungslos war. Trotzdem würden die Pthorer den Angriff der Krolocs hier relativ lange aufhalten können.
»Sie kommen mit Spaccahs. Lauft schneller!«
Fünfzehn Männer und Frauen – Dalazaaren, Technos, Dellos und mehrere Bropen – waren in den letzten Stunden gestorben. Sie hatten sich wütend gewehrt, waren aber langsam auf die FESTUNG zurückgetrieben worden. Für jeden getöteten Kroloc waren zwei frische Krieger aus den Spaccahs ausgeladen worden.
Wieder donnerte das Geschütz auf. Zweimal. Zwei Transportspaccahs, die sehr niedrig auf die Verteidigerlinie zuflogen, explodierten in der Luft. Glühende Trümmer schlugen krachend in den Boden. Hinter der wuchtigen Mauer tauchten andere Verteidiger auf. Auch sie handhabten inzwischen erbeutete Strahlenwaffen des Gegners. Trotzdem wollte Thalias Niedergeschlagenheit nicht weichen. Wo blieben Atlan, der König und ihr Geliebter, Razamon, sein treuer Freund, die Magier und die GOL'DHOR?
Die Kämpfe waren nahezu überall auf Pthor in voller Entwicklung. Seit sechs oder mehr Stunden schien jeder einzelne Kroloc angetreten zu sein, den Widerstand der Pthorer zu brechen. Die Opfer der Angreifer waren beträchtlich, viel höher als die Verluste der Verteidiger. Aber die Übermacht an Kriegern und Material war entscheidend. Es dauerte nicht mehr lange, dann befanden sich die ersten Sturmspitzen der Krolocs auf dem Gelände des Regierungszentrums.
Mit einem Sprung rettete sich Thalia hinter den viermal mannshohen Torpfosten.
Die Verteidiger deckten den Rückzug der Thalia-Gruppe. Die ballistischen Geschütze schleuderten eine Menge Steine, Metallsplitter und vergiftete Holzstücke in einer steilen Bahn über die Mauer.
Die Gruppe der abgehetzten Kämpfer verteilte sich hinter der Mauer und lehnte sich keuchend gegen die kühlen Steine. Jemand verteilte Becher mit einer Art kalten Tee, der mit Alkohol versetzt war. Thalia sah sich prüfend um und entdeckte ungebrochene Kampfkraft. Wieder dröhnte das einsame Geschütz auf und vernichtete eine Spaccah. Ein Wunder, dachte Thalia, dass diese Waffe noch nicht entdeckt und zerstört worden war.
Einige Minuten lang ließ ihnen der Gegner Zeit zum Ausruhen.
Wie lange?
Eine Formation aus etwa zwanzig Spaccahs heulte heran. Sie flogen parallel zur Mauer, die – ohne Verbindung zu anderen der Verteidigung dienenden Abschnitten – rund fünfzehn Kilometer von der großen Pyramide entfernt war. Ununterbrochen zuckte aus zweihundert Strahlenlanzen ein vernichtender Hagel von kurzen Feuerstößen herunter und verwandelte Büsche, Bäume, Grasflächen und Sand in einen Streifen brennenden und kochenden Todes. Wer dort versteckt war, hatte den Angriff nicht überleben können. Die Verteidiger feuerten langsam und gezielt und schossen sieben der Maschinen nacheinander ab. Aber schon heulten die nächsten Flugscheiben heran und ersetzten die Verluste.
Die Ruhepause war vorbei. Außerhalb der Entfernung, in der sowohl die ballistischen Waffen als auch die Energielanzen trafen, landeten einige große Spaccahs.
Sofort drangen die Krolocs wieder vor.
Sie bewegten sich dicht über dem Boden. Ihre Körper duckten sich tief, die Kopfarme lagen dicht an und hielten die Strahlenlanzen. Immer wieder zuckten röhrende Glutbahnen über das Gelände und schlugen in die Mauern und die Blöcke des Tores ein. Die Verteidiger antworteten sofort wieder mit ihren Waffen.
Auch Thalia schoss aus der Strahlenlanze und versuchte, keinen Kroloc über eine gedachte Linie kommen zu lassen.
Sie wünschte sich, dass Atlan erscheinen und mit dem goldenen Raumschiff in diesen Kampf eingreifen würde.
Es war wie eine Brandungswelle von schmerzlichen und schönen Erinnerungen. Sie überfielen Sigurd, als er im Basisgeschoss des Lichthauses stand und sich umblickte. Alles war wie früher, und doch schien alles plötzlich ganz anders zu sein.
»Ich muss das Material hier irgendwo haben«, sagte er aufgeregt und rannte zu einem niedrigen Schrank. Das Lichthaus, in dem er bis vor wenigen Tagen zurückgezogen gewohnt hatte, war voller Geheimnisse. Auch gab es viele Dinge darin, die er niemals richtig beachtet hatte. Dazu gehörte auch die Karte über das subpthorische Waffenlager. Er wandte sich an seine Begleitung und rief:
»Seht euch um! Wir werden Lampen und Fackeln brauchen, und wahrscheinlich Leitern, Steigeisen und Seile. Es ist alles da – beeilt euch! Ich suche die Karte!«
Seine Hände gruben in den Fächern des Schrankes. Er fand allerlei Gegenstände, von denen er nicht geglaubt hatte, dass es sie gäbe. Ein kleines Parraxynt-Bruchstück war darunter. Dann erfassten seine Finger eine eng gewickelte Rolle aus Pergament. Irgendwo zwischen Donkmoon und Aghmonth sollten sich die Gewölbe befinden; das Lichthaus stand ebenfalls ziemlich genau gleichweit von der einen oder anderen Stadt entfernt.
»Ich glaube, ich habe es«, murmelte er, packte die Rolle und rannte ins Licht hinaus. Er riss das Pergament aus der Verschnürung und breitete es aus. Eine Art dreidimensional ausgeführte Zeichnung war zu erkennen, die Gänge, Treppen, spiralige Rampen und verschiedene Kammern zeigte.
»Das ist es!«, sagte er und suchte nach einem Hinweis, an welcher Stelle der Straße er in dieses Labyrinth eindringen konnte. Er winkte einen der Dellos heran und gab ihm die eine Seite der Karte.
»Erkennst du etwas? Ich sehe nicht, wo wir den Eingang finden können!«
Die Zeit drängte. Während sie hier suchten, kämpfte Pthor seinen letzten Kampf. Vielleicht fanden sie eine Waffe, die diesen Kampf beeinflussen konnte. Sigurds Finger zitterten vor Erregung; er schob alle Erinnerungen zur Seite und registrierte, dass die fünf Dellos Bündel von Fackeln in den Armen trugen. Der Mann neben ihm deutete in die rechte Ecke des Pergaments und stieß aufgeregt hervor:
»Herr Sigurd! Ich kenne diese Felsen und den Ruinenturm daneben.«
Sigurd funkelte ihn an und fragte leise:
»Du bist absolut sicher?«
»Ja. Es geht in die Richtung von Donkmoon. Links von der Straße der Mächtigen.«
»Gut. Habt ihr alles, Männer?«
»Mehr oder weniger, ja. Wir können aufbrechen.«
Der Zugor, mit dem sie wunderbarerweise völlig ungehindert hierher geflogen waren, stand unmittelbar vor dem Eingang des Lichthauses.
Sigurd sagte laut:
»Wir suchen auf alle Fälle. Die Karte ist uralt, und vielleicht finden wir nicht, was wir suchen. Aber ... wenn wir etwas finden, können wir in den Kampf eingreifen. Los jetzt, Freunde.«
Das Portal des Lichthauses schloss sich. Sigurd und seine Dellos schwangen sich in den Zugor. Der Pilot ließ den Flugkörper aufsteigen und jagte nach Osten.
»Schneller. Vielleicht erwischen uns die Krolocs, bevor wir den Eingang entdeckt haben.«
»Es sieht nicht danach aus«, erklärte der Pilot. »Die Krolocs sind mit Sicherheit alle um die FESTUNG konzentriert.«
Sigurd betrachtete schweigend das Gelände. Hier kannte er praktisch jeden Fußbreit. Er kannte auch den Ruinenturm mit dem schrägen, spitz zulaufenden Felsen und den schwarzen Moosbüscheln an der Basis. Aber niemals hatte er daran gedacht, dass sich an dieser Stelle der Eingang zu einem tief gelegenen Waffenversteck befand, das jemand angelegt hatte, der älter war als womöglich Vater Odin selbst.
Der Zugor raste mit Höchstgeschwindigkeit entlang der Straße. Hin und wieder erhoben sich hinter dem Gefährt dünne Windhosen, die Sand in die Höhe rissen und davonwirbelten wie selbständig lebende Wesen. Einige riesige Skelette, halb vom Sand begraben und von kriechenden Pflanzen zugewachsen, huschten vorbei – Erinnerungen an die Horden der Nacht und an die gigantische Überschwemmung, die Pthor betroffen hatte.
Links voraus schälte sich aus dem schattenlosen Licht eine weiße, gezackte Fläche heraus.
Die Augen der Zugor-Besatzung richteten sich auf die Quadern und Platten des Ruinenturms. Es war ein rundes Bauwerk, nicht höher als fünfzehn Meter, an der Basis fast unversehrt, dafür aber im Schaft und an der Mauerkrone von breiten Rissen und Sprüngen durchzogen und von Pflanzen bewachsen. Der Pilot bremste den Zugor ab und zwang ihn in eine enge Kurve. Hinter der Turmruine ragte der schwarze Felsen, wie ein dicker, leicht gekrümmter Finger mit zugespitztem Nagel geformt, aus der Wüstenei empor. Der Zugor landete lautlos.
»Der Einstieg sollte im Boden des untersten Turmgeschosses sein«, sagte Sigurd und hob die Pergamentrolle hoch. »Wenn ich nicht irre.«
»Genau das habe ich auch aus der Zeichnung herausgelesen«, erklärte einer der bewaffneten Dellos. Sie sprangen in den Sand und rannten, kaum dass der Flugapparat gelandet war, durch die Ranken des Gestrüpps und knisterndes Gras auf den Turm zu. Winzige Tiere flüchteten raschelnd und aufgeregt pfeifend vor ihren Schritten. Sigurd schwang sich über einen kleinen Wall niedergebrochener Steine und blieb im Mittelpunkt des Raumes stehen. Zu seinen Füßen gähnte ein kleines, schwarzes Loch, aus dem es faul und stickig roch.
»Hierher!«, rief er. »Es gibt tatsächlich einen Einstieg.«
Die Dellos folgten ihm und schleppten Leitern, Fackeln und anderes Gerät mit sich in den etwa sieben Meter großen Raum. Sigurd bückte sich und packte die einzelnen Steinbrocken rund um die vergleichsweise winzige Öffnung. Er riss sie hoch, stemmte sie über seinen Kopf und schleuderte sie über die Mauerreste. Das Loch wurde größer, der Gestank aus der Tiefe wurde intensiver.
Die Dellos halfen ihm. Einige von ihnen entrollten die Leitern und entzündeten die Fackeln. Innerhalb verblüffend kurzer Zeit war die Öffnung erweitert, und es zeigte sich, dass sie rechteckig war und in große Tiefe zu führen schien. Mit einigen Hieben keilten die Dellos die Enden der Strickleiter zwischen Felsblöcken fest. Der Rest der Leiter wurde ins Loch hinuntergeworfen und rollte sich auf.
»Die Stricke her!«, verlangte Sigurd und knotete sich eine Schleife um Hüften und Brust. Er ergriff zwei Fackeln, warf seine Waffe zur Seite und tastete mit den Fußspitzen nach den ersten Holmen der Leiter.
»Wir folgen dir!«, sagte einer der Dellos.
»Ich bleibe beim Zugor und warne euch, falls wir entdeckt werden«, sagte ein anderer. Sigurd nickte und winkte den restlichen Männern. Mit brennenden Fackeln in den Händen machten sie sich nacheinander an den Abstieg. Etwa zwanzig Meter tief reichte die Strickleiter, dann brummte Sigurd, in dem fauligen Gestank schwer atmend:
»Halt. Ich denke, hier gibt es einen Stollen. Tritt mir nicht auf die Finger!«
»Verzeihung, Herr!«
Das Licht der Fackeln beleuchtete die triefenden Wände eines hervorragend gemauerten Schachtes. In der Wand gab es wuchtige Blöcke, auf die man treten konnte. Jetzt waren sie mit glitschigen grünen Algen oder Moosen bewachsen. Gegenüber der Stelle, an der Sigurd hing, öffnete sich in dem Stollen ein Quergang, etwa zwei Meter hoch. Alles atmete hier Fäulnis, Verderben und Dreck aus, seit Urzeiten war hier niemand gewesen außer blinden Asseln und Salamandern. Sigurd stieß sich ab und begann mit dem Ende der Strickleiter zu schwingen.
»Festhalten dort oben!«, schrie er. Schaurig hallte das Echo. Als er die gegenüberliegende Öffnung erreichte, sprang er hinein und schwenkte die Fackel. Der Querstollen war kühl, feucht und völlig leer. Winzige Augenpaare starrten ihn aus dem Halbdunkel an. Er begann daran zu zweifeln, dass dieses Gewölbe ein Waffenlager enthielt – der Transport von schweren Gegenständen war nahezu unmöglich.
»Trotzdem ...«, sagte er zu sich leise und tappte weiter. Seine Schultern schrammten am Rand des Gewölbes entlang. Hinter ihm folgten vier Dellos und schwangen die Fackeln, um die Flammen nicht erlöschen zu lassen. Das Licht fiel auf das ausgebreitete Pergament, das Sigurd auseinanderhielt. Ein Dello zeigte auf einen schwarz eingezeichneten Stollen.
»Hier sind wir, Herr. Vor uns liegen rechts und links jeweils drei große Kammern. Nach der Zeichnung sollten sie voller geheimnisvoller Waffen sein.«
»Sehen wir nach!«, gab Sigurd zurück und rollte die Zeichnung wieder zusammen.
Unsichtbar flüchteten vor ihnen winzige Höhlentiere. Die Fackeln verbrannten langfaserige weiße Pflanzen, die aus den Fugen der Decke wuchsen. Es roch nach Fäulnis, pflanzliche Rückstände stoben unter den Schritten auf. Hustend drangen die Männer weiter vor und wandten sich bei der ersten Abzweigung nach rechts und links. Sigurd machte einige Schritte in ein großes Gewölbe hinein, hob die Fackel höher und begann zu fluchen.
»Leer. Jemand war vor uns da und plünderte den Raum. Es muss vor langer Zeit gewesen sein.«
An einer Wand hingen verrottete Schilde aus Leder und Metall. Das Leder war von Bakterien und Schwamm zerfressen und zerfiel, als Sigurd die Finger darauf legte. Das Metall war bis zur Unkenntlichkeit zersetzt. Knisternd lösten sich die Beschläge und klirrten zu Boden. Man konnte undeutlich die Abdrücke schwerer Gegenstände in dem gemauerten Untergrund erkennen.
»Auch bei uns ist es so«, rief der Dello aus der gegenüberliegenden Kammer. »Rostige Schilde, ein paar Lanzen, eine Menge Schutt und Abfälle. Weit und breit keine Spur von irgendwelchen wichtigen Waffen!«
»Verdammt. Wir sind zu spät gekommen«, knirschte Sigurd. »Sucht weiter!«
»Um einige Jahrhunderte, so scheint es«, erklärte einer der Bewaffneten und lief weiter in den Stollen hinein. Sie hatten sich die Zeichnung eingeprägt und wussten, dass es insgesamt sieben Kammern und einen großen Saal gab. Ob die Gemäuer verschüttet waren, wussten sie nicht. Ihre Rufe hallten dumpf in dem Gewölbe wider.
»Auch diese Kammer ist leer!«
»Hier findet sich nichts, nur rostige Wandhaken!«