Nr. 459
Die Todesrinne
Der Marsch zur Stadt der Händler
von Hans Kneifel
Atlans kosmische Odyssee, die ihren Anfang nahm, als Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, das Vorfeld der Schwarzen Galaxis erreichte, geht weiter. Während Pthor und die Pthorer es immer wieder mit neuen Beherrschern und Besatzern zu tun bekommen, ist der Arkonide zusammen mit seinen Gefährten Razamon und Grizzard auf Veranlassung von Duuhl Larx, dem Herrn des Rghul-Reviers, nach Dorkh gebracht worden, um dort eine Mission im Sinne des Dunklen Oheims zu erfüllen.
Doch Dorkh, das Pthor in vieler Hinsicht gleicht, ist eine Welt voller Schrecken und voller Gewalt, und den drei Männern von Pthor wird bald klar, dass sie eine fast unlösbare Aufgabe vor sich haben. Vorläufig können sie jedenfalls nur versuchen, jeder tödlichen Konfrontation auszuweichen und am Leben zu bleiben.
Während Atlan von einer Gefangenschaft in die andere gerät, versuchen die Gefährten, seinen Spuren zu folgen. Der eine will den Arkoniden befreien, der andere verfolgt völlig andersgeartete Pläne.
Auf ihrer Suche nach Atlan schlagen Razamon und Grizzard den Weg nach Turgan, der Stadt der Händler, ein. Eines der größten Hindernisse auf diesem Weg ist DIE TODESRINNE ...
Razamon – Der Pthorer auf dem Weg nach Turgan.
Grizzard – Razamons Gefährte benimmt sich mehr als seltsam.
Biderruk – Führer einer turganischen Karawane.
Gurd – Ein Brückenwächter.
Lakow – Ein Armer wird reich.
DIES HAT DER VIERKÄMPFER GESCHRIEBEN:
MEIN LETZTER KRIEGER STARB. ICH ALLEIN BEZWANG DEN RINNENSTEIG. ICH WERDE IN TURGAN AUF (unleserlich) WARTEN, DEN HERRSCHER ÜBER DORKH. IN TURGAN WERDE ICH DEN FÜRSTEN TÖTEN UND AN SEINER STATT HERRSCHEN. WENN SICH NICHT AUCH MEINE SPUR ZWISCHEN TODESRINNE UND TURGAN VERLIERT WIE SO MANCH ANDERE.
(II. Tafel des Lauder Vierkämpfer, irgendwo jenseits des Rinnensteigs)
1.
Kurz nachdem die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, tauchte aus dem Dunst über der Steppe wieder der dunkle Streifen des Titanenpfads auf. Razamon blieb stehen und strengte sich an, etwas zu erkennen. Zu Axton sagte er:
»Wir kommen an einen wichtigen Abschnitt unserer Wanderung. Ich sehe den Titanenpfad. Die Brücke über die Todesrinne wird nicht weit sein.«
Mürrisch erwiderte Grizzard:
»Ich sehe nichts.«
Heimgesucht von zerrissenen Gefühlen dachte er: Nachdem mein Versuch, Razamon aus der Welt zu schaffen, missglückt ist, wurde meine Lage unhaltbar. Razamon muss erkannt haben, dass ich ihn beseitigen will!
Schräg hinter dem schwarzen Band glaubte Razamon einen Turm oder einen Felsen zu sehen; das einzige wirklich große Merkmal im Gelände vor ihnen. Er stolperte den von dichtem Gras bewachsenen Hügel hinunter und rief über die Schulter zurück:
»Schneller, Axton! Du wolltest doch immer so schnell wie möglich die Todesrinne überqueren. Jetzt steht diese Chance unmittelbar bevor!«
»Es dauert sicher noch einen Tag«, war die Antwort.
Ich möchte meinen Körper niemals wieder verlassen. Endlich habe ich ihn dank der Magier von Pthor wieder zurück. Aber die Versetzung hat mich verwirrt – ich spüre es! Und ich fürchte Copasallior!
Seit dem Nachtlager zwischen den schwarzen Felsen waren sie ständig an der westlichen Kante der furchterregenden Todesrinne entlang gewandert. Abgesehen von den Strapazen eines Fußmarsches durch das unwegsame Gelände war dieser letzte Teil der Wanderung ohne Gefahren, wenn auch keineswegs besonders angenehm verlaufen. Grizzard litt unter seinen Ängsten. Und Razamon war einerseits verwirrt und, daraus resultierend, wütend. Axtons Verhalten wurde von Tag zu Tag ärgerniserregender.
»Ich bin sicher, dass wir spätestens morgen Vormittag bei diesem dunklen, aufragenden Felsen oder Turm sind!«, versprach der Berserker.
Vor allem fürchte ich, dachte Grizzard, und diese Art Gedanken begleiteten ihn seit vielen Tagen, dass Copasallior mich in den Körper Axtons zurückversetzen wird, wenn ich meinen Auftrag nicht erfülle. Er lautet: Töte Atlan, den König von Atlantis! Und um ihn aus dem Weg schaffen zu können, muss zuerst der Berserker Razamon sterben. Der Versuch, ihn mit einigen Tonnen Gestein und Mauerwerk zu erschlagen, missriet mir auf das übelste; Razamon ist noch immer so schnell und überlegen, wie ich ihn vor einer Ewigkeit zum ersten Mal kennen lernte.
Vielleicht gelingt es mir, Razamon auf der Brücke über die Todesrinne und Atlan in der Stadt Turgan zu töten ...
Grizzard, der für Razamon nach wie vor Lebo Axton war (weil der Berserker es nicht anders wusste!), erwiderte nach einer Weile, in der er der Spur Razamons folgte:
»Kann das schon die Brücke sein, die von Katzenohr und ihren Wilden Rinnsteig genannt wurde?«
»Das ist durchaus möglich«, entgegnete Razamon und ging weiter.
Die Todesrinne hatte nichts von ihren ehrfurchtgebietenden Schrecken verloren.
Die Schlucht war so tief, dass trotz stellenweise senkrecht abfallender Wände weder Razamon noch Axton jemals den Grund gesehen hatten.
Zudem entstand willkürlich zu jeder Tageszeit an unterschiedlichen Stellen ein feiner Nebel, der ab einer bestimmten Tiefe die Konturen verwischte. Nicht einmal in der Mittagsstunde, wenn die Sonne nahezu senkrecht herunterbrannte, zeigte sich der Boden der Schlucht.
Fast an jeder Stelle, die sie während ihres Marsches hatten sehen können, bildeten die Steppenlandschaft und die Felswände der Todesrinne einen Winkel von neunzig Grad. Kaum jemals gab es eine weniger schroff abfallende Senke, in der sich Bäume oder Gras halten konnten.
Die gegenüberliegende Seite schien in dieser Hinsicht anders strukturiert zu sein. Dort hingen ganze Gruppen von Bäumen in schrägen Winkeln zwischen der Ebene und den Felsschroffen. Beide Ränder des Spaltes, der einen großen Teil Dorkhs durchzog wie eine offene Wunde, bildeten jeder für sich schartige Linien, die sich voneinander weit entfernten – bis auf fünfzehn, zwanzig Kilometer –, und ebenso oft wieder einander näherten, bis die Entfernung nur tausend oder zweitausend Meter betrug. Trotzdem war selbst der Gedanke, ohne eine Brücke auf die andere Seite gelangen zu können, absolut absurd.
Razamon und Axton folgten den Schlangenlinien, die »ihre« Kante beschrieb. Nur dann, wenn sie von einem höher gelegenen Punkt aus erkennen konnten, dass sie den Weg abkürzen würden, gingen sie geradeaus.
Einmal erlegte Razamon mit einem blitzschnell ausgeführten Wurf seiner unersetzlichen Metallaxt ein schweineartiges Tier. Es gab einen hervorragenden Braten ab, und noch jetzt hatten sie in ihrem Gepäck, in feuchte Blätter eingeschlagen, große Brocken des Bratens.
Etliche Stunden wanderten sie schweigend dahin.
Der Berserker dachte ab und zu an die Schriftzeichen, die von Lauder Vierkämpfer zeugten. Er war sicher, dass es sich um eine wirklich existent gewesene Gestalt gehandelt hatte. Jemand war mit einem Heer durch Dorkh gezogen, war in zahlreiche Kämpfe verwickelt worden, hatte seine Kämpfer verloren und begraben – wobei Razamon eines der Gräber entdeckt und die herrliche Waffe gefunden hatte –, und sein Ziel war gewesen, auf jemanden in Turgan zu warten, dessen Name stets unleserlich war.
Nun denn: Turgan war auch sein Ziel.
Vielleicht würde er in dieser Stadt, wo der Sklavenmarkt abgehalten wurde und wo er hoffte, Atlan finden und womöglich befreien zu können, auch die Wahrheit über den Vierkämpfer erfahren.
Er blieb stehen und zeigte auf den Kamm eines hohen Hügels.
»Von dort aus, Lebo, werden wir genau sehen können, wo wir sind«, sagte er.
»Wir werden wohl die Brücke über die Schlucht sehen. Was der Titanenpfad wirklich bedeutet, werden wir wohl niemals erfahren«, erwiderte Axton.
»Vielleicht später«, sagte Razamon. »Fühlst du dich kräftig genug, die Flanke des Hügels zu erklettern?«
»Allemal.«
»In Ordnung. Versuchen wir, die Brücke so schnell wie möglich zu erreichen, trotz der angeblich so furchtbaren Bruen. Vorher müssen wir noch den Titanenpfad überqueren – zweifellos.«
»Ich habe inzwischen mit meinem Leben abgeschlossen. Dieses Abenteuer wird mich alles kosten«, klagte Axton und verzog sein Gesicht zu einer grämlichen Grimasse.
»So schnell stirbt man nicht!«, versuchte ihn Razamon zu trösten. »Solltest du vor Hunger nicht mehr weitermarschieren können, dann sage es laut und deutlich.«
»Du wirst meinen knurrenden Magen nicht überhören können!«, versicherte Axton und ging neben Razamon auf den erwähnten Hügel zu.
Am Abend sahen sie im letzten Licht die Brücke, den Rinnensteig.
Die sinkende Sonne sandte ihre Strahlen aus dem Westen auf die Flanke der Brücke. Das Bauwerk verlief von Nordwest nach Südost. Es war eine gigantische, archaische Konstruktion aus Stein; allein der Bogen und die Verankerungen, die in leichtem Schwung aus den Felswänden emporstiegen, drückten aus, was jeder empfinden musste, der die Brücke sah: riesige Steinmassen, bedrohlich und kantig, spannten sich wie eine Art umgedrehter Doppelgipfel rund siebentausend Meter über einen tiefen Abgrund. An jedem Ende der Brücke befand sich ein wuchtiger Turm. Der südliche wirkte halb verfallen.
Atemlos vor Staunen blieben die Pthorer stehen und starrten die Brücke an.
Die Brücke überspannte den geringstmöglichen Abstand zwischen den Wänden der Kluft, da an beiden Seiten die Abstürze förmlich vorsprangen und ihre Kanten gegeneinander drängten.
Trotzdem war der Rinnensteig ein Bauwerk, das seinesgleichen suchte!
»Alles mögliche«, sagte Razamon fast bewundernd, »habe ich mir vorgestellt. Aber das habe ich nicht erwartet.«
»Eine Brücke wie jede andere«, erklärte Axton und schien nicht zu merken, dass ihn Razamon mit fassungslosem Gesichtsausdruck anstarrte, »nur größer und älter.«
»Das hast du schön gesagt«, knurrte der Berserker. Er lachte sarkastisch auf und ließ seinen Blick über die waagerechte Oberfläche, die Bögen und die beiden Türme gleiten. Die Brücke selbst, beziehungsweise ihr nördlicher Anfang, war rund vier Kilometer entfernt, das südliche Ende lag, zwar durch den weiten Abgrund getrennt und perspektivisch verzerrt und verkleinert, rechts neben den Wanderern von Pthor.
»Ja«, erwiderte Axton.
Aus dieser Entfernung waren keinerlei Gestalten und keine Bewegungen auf der Brücke auszumachen. Der nördliche Turm war jener dunkle Schatten gewesen, den die Pthorer schon vor einem guten halben Tag wahrgenommen hatten.
»Heute erreichen wir die Brücke nicht mehr«, sagte Razamon nach einer Weile. Schwarz und riesig erstreckte sich das Bauwerk vor ihnen. Links davon lief der dunkle Streifen des Titanenpfads auf den Anfang der Brücke zu.
»Nein. Wir müssen uns ein Nachtlager suchen«, entgegnete Axton. »Morgen, vor Mittag, sind wir am Titanenpfad und etwas später am nördlichen Turm.«
»So ist es.«
Für Razamon war die Konstruktion der Brücke verwirrend und fast eine Unmöglichkeit. Sie bestand offensichtlich nur aus Stein, aus riesigen Quadern, die allein durch Druck und Spannung zusammengehalten wurden. Der nördliche Turm war rund und ebenfalls aus mächtigen Steinbrocken errichtet. Er schloss oben mit einer Plattform ab, die sich hinter einer zinnenartigen Mauer befand.
Razamon blinzelte, aber auch im letzten Sonnenlicht konnte er nicht entdecken, ob es eine einsame Gestalt war, die auf dem Turm stand und regungslos Ausschau hielt. Er wandte sich wieder an Axton und sagte:
»Ich überlege mir, ob wir nicht nachts, im Schutz der Dunkelheit, die Brücke betreten sollten.«
»Bis wir dort sind, haben wir jeden einzelnen Knochen gebrochen«, antwortete Axton. »Das ist kein guter Einfall.«
Wäre Razamon allein gewesen, würde er genau diesen Versuch gewagt haben. Aber mit dem unwilligen Axton an seiner Seite war das Vorhaben zu riskant. Der Berserker ließ diese Überlegung sogleich fallen.
»Dann werden wir hier unser Nachtlager einrichten«, sagte er.
»Einverstanden.«
Sie fanden eine geschützte Stelle zwischen Bäumen, nicht weit entfernt von einer winzigen Quelle. Zwar gab es rundum keine Anzeichen, dass sie beobachtet wurden, aber sie blieben nervös und unruhig. Die Nähe der Brücke und des Titanenpfads verhieß nichts Gutes. Zumindest würde jeder, der nach Turgan wollte und aus dem restlichen Teil Dorkhs kam, hier den Anfang des Rinnensteigs als Ziel haben.
Während sie den kalten Braten kauten, sagte der Berserker:
»Wenn Atlan nach Turgan gegangen ist oder dorthin gebracht wurde, dann muss er wohl die Todesrinne auf dem Rinnensteig dort überquert haben, nicht wahr?«
»Wenn er nicht geflogen ist, auf jeden Fall«, murmelte Axton.
»Ob es uns die Bruen freiwillig sagen werden?«
»Weiß ich auch nicht – hat deine Freundin Katzenohr nichts darüber gesagt?«
»Sie wusste nichts. Sie nannte nur den Namen der Brückenwächter«, entgegnete Razamon. In der Dunkelheit verschwommen die Schlucht, die markanten Formen der Brücke und der zwei Türme und der Horizont mit der Landschaft. Spannung und Unruhe wichen nicht von den zwei Pthorern. Sie saßen da, kühlten ihre Füße mit kaltem Wasser und hingen ihren Gedanken nach. Razamon erinnerte sich an Lauder, jenen »Vierkämpfer«, der einst ebenfalls versucht hatte, den Rinnensteig zu bezwingen; damals hatten sicherlich ganz andere Verhältnisse geherrscht und er war vermutlich gescheitert. Razamon griff zu seiner kostbaren Waffe und hoffte, dass er sie morgen nicht würde benutzen müssen. Er sagte in die Dunkelheit:
»Ich übernehme die erste Wache, Axton. Wenn dich deine Albträume wieder laut aufschreien lassen, werde ich dich vorzeitig wecken.«
»Ich kann nichts dafür«, erwiderte Lebos Stimme ärgerlich, »dass ich träume. Ich habe keine Ahnung, welche Streiche mir meine Träume spielen.«
Razamon versuchte noch immer, seine Lage mit einer Spur Humor zu sehen. Er antwortete in gutmütiger Ironie:
»Jedenfalls hat dein Gestöhne den deutlichen Vorteil, dass es wilde Tiere vertreibt.«
»Hoffentlich erschreckt es dich nicht zu sehr«, sagte Lebo Axton.
»Kaum. Inzwischen bin ich's fast gewöhnt«, meinte Razamon. »Es würde mir fehlen, wenn es ausbliebe.«
»Das glaube ich dir nicht«, schloss Axton humorlos. Resigniert schwieg der Berserker. Er lehnte an einer Stelle des Lagers, die ihm einen größtmöglichen Blick ermöglichte. Er fasste den Griff der Metallaxt und dachte an den nächsten Morgen. Er würde eine erste Entscheidung bringen.
*
Nach einem schnellen Imbiss und einem Schluck aus der Quelle brachen die Pthorer im ersten Tageslicht auf.
Sie gingen, so schnell sie konnten, entlang der Abrisskante der Schlucht. Noch hing ein leichter Dunst über dem Land, und aus den Tiefen der Todesrinne stieg grauweißer, dicker Nebel auf.
Razamon betrachtete jede Einzelheit, die sich ihm zeigte, wenn sie sich langsam aus dem Dunst schälte. Der wuchtige, dunkelgraue Turm am nördlichen, also näheren Ende der Brücke wurde scheinbar immer größer. Der Titanenpfad zeigte sich deutlicher, sein Rand hob sich stark von dem hellen Grün der Steppe ab. Razamon erkannte, dass er Recht gehabt hatte. Bevor sie den Schnittpunkt zwischen Schluchtkante und Brückenanfang erreichten, mussten sie den Titanenpfad in seiner vollen Breite überwinden.
Etwa eineinhalb Stunden, nachdem sie sich auf den Weg gemacht hatten, standen sie in Bogenschussweite vor dem Titanenpfad.
»Hast du die vielen Pfade gesehen?«, fragte Lebo Axton. Vor ihnen mündeten ein halbes Dutzend breit ausgetretener Spuren in einen deutlich sichtbaren Pfad.
»Ja. Das kann nur bedeuten«, antwortete Razamon wachsam, »dass hier mehr Verkehr herrscht, als wir dachten.«
»Aber es ist niemand zu sehen. Nicht einmal die Chreean-Reiter!«