Nr. 548
Kampf im Ysterioon
Atlans Flucht nach vorn
von Hans Kneifel
Seit Dezember des Jahres 3586, als die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört.
Schließlich ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt.
Jetzt schreibt man an Bord des Schiffes den Anfang des Jahres 3792, und der Arkonide hat trotz seines relativ kurzen Wirkens auf der SOL bereits den Anstoß zu entscheidenden positiven Veränderungen im Leben der Solaner gegeben – ganz davon abgesehen, dass er gleich nach seinem Erscheinen die SOL vor der Vernichtung rettete.
Atlan, der sich gegenwärtig mit der abgekoppelten SZ-2 in Flatterfeld aufhält, ist bestrebt, der unbekannten Macht, die die Ysteronen zu ihren verheerenden Nickelraubzügen verleitet, Einhalt zu gebieten. Er tritt die Flucht nach vorn an, sobald er Chart Deccon, den High Sideryt, in der Hand des Gegners weiß – und es kommt zum KAMPF IM YSTERIOON ...
Chart Deccon, Lyta Kunduran und Hage Nockemann – Sie erreichen das Ysterioon.
Girgeltjoff – Ein Freund der Solaner.
Atlan – Der Arkonide tritt die Flucht nach vorn an.
Breckcrown Hayes und Bjo Breiskoll – Atlans Begleiter.
Ferser'It und Bonelov'Vert – Zwei Roxharen an Bord der SZ-2.
Noch vor einem Jahrtausend hätten Terraner dieses Sonnensystem enthusiastisch bestaunt und jede Einzelheit untersucht, kommentiert und schließlich vielleicht als »Wunder« bezeichnet.
Heute jedoch, nach langen und intensiven Erfahrungen mit den scheinbaren Wundern des Kosmos, nahmen die Solaner jene Bilder, die sich auf den Panoramabildschirmen zeigten, als alltäglich hin.
Jetzt und hier waren es Photozellen und Linsen von höchstorganisierten Maschinen, die alle Bilder in sämtlichen Einzelheiten registrierten, speicherten und verarbeiteten. Aber in den Robots stellte sich zweifellos das Gefühl nicht ein, etwas Ungewöhnliches vor sich zu haben.
Das Nickelmaul-System war eine phantastische Facette des Weltalls.
Ein faszinierendes Sonnensystem!
Die riesige Sonne Kores – von den Solanern war sie zunächst aus verständlichen Gründen Nickelmaul genannt worden –, ein blauer Stern des O-Typs, beleuchtete ein leeres Stück Weltraum. Das Gestirn, dessen Durchmesser das Zwanzigfache der terranischen Sonne betrug, stand im Mittelpunkt eines vergleichsweise haarfeinen Ringes. Er kennzeichnete zugleich den äußersten Rand des Sonnensystems.
Einst hatte das Kores-System aus zwanzig unterschiedlich großen und verschiedenartigen Planeten bestanden.
Bis auf einen einzigen Planeten, der die Sonne auf einer lebensfeindlich nahen Bahnellipse umkreiste, waren sämtliche Planeten zertrümmert und zerstört worden. Kosmische Gravitationskräfte und der Strahlungsdruck des Sterns hatten Staub, kleine und große Bruchstücke und Wolken aus Trümmern auseinandergetrieben. Im Laufe der vielen Jahrtausende hatte sich der Ring gebildet. Er stellte sich völlig symmetrisch dar; ein Schlauch von nicht mehr als 880 Kilometern Durchmesser umgab die kreisnahe Ekliptikebene wie eine seltsame Mauer. Das ferne blauweiße Sonnenlicht vermochte die Staubwolken nur in der Außenzone halbwegs zu durchdringen. Im Innern des Staubschlauchs herrschte Dunkelheit, und nur wenige Kilometer tief erfüllte ein diffuses Glühen den Nebel.
Ein seltsames, in den Bezügen kosmischer Größenordnungen ebenfalls kleines Kunstgebilde schwebte innerhalb des so merkwürdig umgrenzten Weltraums.
Der übriggebliebene Planet jedoch, noch vor wenigen Tagen eine heiße Welt des solaren Merkur-Typs, spielte im Kores-System keine Rolle mehr. Pryttar war gestorben. Eine planetare Masse von rund 4000 Kilometern Durchmesser hatte sich im lautlosen, glühenden Inferno aufgelöst und trieb als unregelmäßig geformte Wolke aus kaltem Nebel und magmatischer Schlacke in riesiger Ausdehnung dem fernen Grenzring entgegen.
Das Kunstgebilde aber existierte noch.
Auf einer elliptischen Bahn umrundete ein Kugeloktogon die Sonne. Perihel und Aphel waren mit 2,7 beziehungsweise 4,8 Milliarden Kilometern errechnet worden. Jenes kalt schimmernde Ding, auf dessen siebenundzwanzig Kugelelementen die Vorsprünge und technischen Einrichtungen scharfe, gekrümmte Schlagschatten warfen, stellte eine würfelförmige Konstruktion von nur 650 Kilometern Kantenlänge dar. Die Kugelelemente waren mathematisch perfekt und miteinander durch dreißig Kilometer dicke Röhrenstücke verbunden. Ein Gitterwürfel, den zwei Besonderheiten auszeichneten. Mindestens zwei – mehr wussten die Fremden noch nicht.
Nur Wesen mit besonderen Spitzenbegabungen konnten die mentale Strahlung auf der Basis des schwingenden Nickels bereits weit außerhalb der Grenzen dieses Sternensystems spüren.
Eine andere Strahlung des Kugeloktogons, das wie eines der Schulmodelle einer Molekülstruktur aussah, bewirkte einen anderen, weitaus handfesteren Effekt.
Innerhalb einer Reichweite von rund fünf Lichtjahren wurden künstliche Metallkörper, also sämtliche Raumschiffe beispielsweise, beim Ansteuern des Oktogons abgebremst. Andererseits zog das Kugeloktogon das Metall Nickel mit geradezu magischer Kraft an, wenn dieses Metall in chemisch reiner Form existierte.
Warum ausgerechnet Nickel?
Das Metall Nickel, terranische Ordnungszahl 28, Atomgewicht 58.71, war schon im Jahr 1751 von Cronstedt und Bergmann »entdeckt«, genauer: klassifiziert worden. Keiner der Solaner, auch Atlan nicht, vermochte zu erklären, aus welchen Gründen gerade Nickel diese wichtige Rolle spielte.
Das Kugeloktogon wurde YSTERIOON genannt.
Es schien ein Heiligtum, ein Machtzentrum oder ein Relikt aus fernen Zeiten oder alles zusammen zu sein. Die Ysteronen, vom Nickel abhängig, hatten bisher den Solanern keine hundertprozentig stichhaltige Erklärung liefern können, jedenfalls keine, mit der sich Atlan zufriedengeben konnte.
Dennoch schien es, als würde sich in der Galaxis Flatterfeld und speziell im Kores-System eine außerordentlich wichtige Entwicklung vollziehen.
Das Bild des Systems war auf den Schirmen der SEARCHER zu erkennen.
Die Korvette, von etwa fünfzig Robotern verschiedener Typen besetzt, näherte sich dem Zentrum des ehemaligen Sonnensystems. Auch dieses Raumschiff wurde abgebremst und trieb, immer langsamer werdend, auf das Ysterioon zu.
Die Roboter hatten keine Augen, um die wirkliche Exotik des Systems zu bemerken. Aber die Informationen wurden blitzschnell, lückenlos und richtig verarbeitet.
Aber auch Roboter waren keineswegs unfehlbar.
*
Der elfte Tag des Wartens brach an. Die Nerven der drei Solaner waren zermürbt, ihre Stimmung befand sich am tiefsten Punkt.
»Ich glaube nicht, dass ich das Warten noch lange ertragen kann. Alles hat sich in mir aufgestaut. Ich fühle, dass ich kurz vor der Explosion stehe!«
Chart Deccon stand ächzend auf und reckte seine mächtige Gestalt. Zu seinem Zustand kam noch die Scham; spätestens seit dem Augenblick, als sie sich an Bord der Korvette geschlichen hatten, gab es für ihn endlose Stunden, in denen er seine Situation immer klarer erkennen musste. Das Thema, um das sich seine Gedanken bewegten, hieß, auf einen einzigen Nenner gebracht: Alpha und die Erben des High Sideryt.
»Du wirst es ebenso aushalten können wie wir«, gab Lyta Kunduran kalt zurück. »Außerdem ...«
Sie hob kurz die Hand, um anzudeuten, dass sie irgend etwas bemerkte.
»Was ist los?«
»Ruhe!«
Ungeduldig öffnete Chart Deccon seine Pranken, schloss sie wieder und bewegte sich in der engen Vierer-Kabine hin und her. Zwar belastete ihn das Eingeschlossensein in einer engen Raumschiffskabine nicht im mindesten – nicht mehr nach einem Leben von mehr als achteinhalb Jahrzehnten in der SOL, trotzdem fühlte er sich beengt.
»Die SEARCHER verringert ihre Geschwindigkeit«, flüsterte Lyta schließlich. Die Ungewissheit und das Fehlen von Informationen bedeutete für die drei Eingeschlossenen in der Korvette eine fast unerträgliche Nervenspannung. Nicht alle Informationen fehlten, wie die Magnidin soeben bewiesen hatte.
»Richtig. Die Korvette bremst ab. Oder sie wird abgebremst«, murmelte Lyta.
Es war ihr gelungen, von den Robotern unbemerkt einige Kommunikationsleitungen der SEARCHER anzuzapfen. In einigen Regalfächern standen kleine, flimmernde und zirpende Geräte.
Hage Nockemann rührte sich auf seiner Liege, öffnete ein Auge und biss auf das Ende seines Schnurrbarts. Sein faltiges Gesicht zuckte.
»Wo sind wir jetzt?«
»Wir werden es gleich erfahren«, entgegnete Lyta. Mit Hilfe der technischen Ausrüstung, die »Bit« Kunduran buchstäblich zusammengestohlen hatte, konnten die drei Solaner im Versteck sehr viel von dem mitverfolgen, was in der Zentrale der Korvette vor sich ging. Mit ihrer einmaligen Fähigkeit war es für Lyta nicht schwer gewesen, die Spiongeräte anzuschließen.
»Die SEARCHER ist, nachdem die verdammten Maschinen den Sperrgürtel der Pluuh durchstoßen durften, relativ schnell geflogen. Nun haben wir einen Trümmerring unterflogen, der etwa sechs Milliarden Kilometer von einer blauen Sonne entfernt ist.«
»Sonst keine Informationen?«, wollte Chart Deccon knurrend wissen. »Folgt uns jemand?«
»Ich konnte nichts feststellen«, antwortete Lyta kurz.
»Nichts von Atlan?«
»Nein. Nicht die kleinste Informationseinheit!«
Die winzige Ringuhr am Finger Lyta Kundurans zeigte das Datum, abgestimmt auf die Einteilung in der SOL, ebenso die Stunden und deren Unterteilung. Eben hatte die Tagesperiode angefangen; pünktlich war der Galakto-Genetiker aufgewacht. Auch sein Schnarchen hatte die zwei Kabinengenossen ernsthaft gestört. Noch konnten sie sich beherrschen, bald würde dieser Punkt überschritten sein.
Zweiundzwanzigster Februar also. Die von Robotern besetzte, von Robotern bis hierher absolut perfekt gesteuerte, vom falschen High Sideryt nicht nur aus taktischen Gründen ausgeschickte Korvette hatte ein Ziel dieses Fluges fast erreicht. Zumindest befand sie sich in einem Gebiet, in dem möglicherweise tatsächlich die SOL-Zelle-2 gefunden oder ein Kontakt mit ihr hergestellt werden konnte. Aber es mochte auch ganz anders kommen.
»Und was tun unsere blechernen Lieblinge?«, brummte Hage schläfrig, gähnte und deutete zur Decke. Lytas Antwort war eine direkte Schilderung von Vorgängen, die sie nicht auf gewohntem Weg, sondern als dekodierbare Informationen von den Robotern, Bildschirmen und einer größeren Anzahl anderer Geräte erfahren und umgesetzt hatte.
»Die Roboter suchen den Weltraum ab. Sie haben entweder etwas gefunden und steuern darauf zu, oder die Korvette wird angezogen, High Sideryt«, entgegnete die Magnidin. Deccon stieß ein leises, gefährlich klingendes Lachen aus.
»Weder Sideryt noch High! Bit – das ist vorbei.«
»Die Roboter erfassen ein Objekt, das wie das Kugeloktogon aus Bumerang aussieht, nur viel größer. Sie empfangen Funksignale, die sie zu diesem Objekt locken, das sie das Ysterioon, die Heimat der Ysteronen, nennen. Das ist unser Ziel.«
Erst Lytas fast unglaublich große Fähigkeit, die an paranormale Begabung grenzte, hatte überhaupt erst ermöglicht, dass die Flüchtenden aus der SOL nicht völlig blind, taub und ahnungslos geblieben waren. Ihre großen, grauen Augen richteten sich in stummem Vorwurf auf Chart Deccon, als sie fragte:
»Wie überlisten wir die Robots? Sonst sind wir auch weiterhin zur völligen Passivität verurteilt.«
»Mir ist auch nichts anderes eingefallen«, gab Chart unruhig zurück, »als hinauszustürmen und wild um mich zu schießen.«
»Eine Lösung, die den Vorteil absoluter Sinnlosigkeit hat!«, bekräftigte Hage Nockemann grimmig.
Sie hatten in den zurückliegenden Tagen buchstäblich ihren Verstand zermartert, alle drei Solaner. Sie versuchten, eine Methode zu finden, die Maschinen zu überwältigen oder auszuschalten. Aber nicht einmal Lyta hatte eine Idee. Nicht einmal ihr Verstand, kalt und beherrscht, von ihrem brennenden Ehrgeiz gesteuert, zusammen mit ihrem Verständnis für Positroniken, schaffte es, die Maschinen teilweise umzuprogrammieren. Wer sonst hätte es unternehmen können?
Nach einigem Zögern pflichtete Deccon bei:
»Order-7-B hat die Roboter mit größter Sicherheit derart perfekt programmiert, dass sie weder meinen Befehlen noch denen anderer, dritter Personen gehorchen werden. Das ist meine sichere Meinung.«
Ihre Unterhaltung jetzt war nur eine neuerliche Wiederholung der langen Diskussionen, die sie bisher geführt hatten. Solange sich die Lage nicht drastisch änderte, würden sie in ihrem Versteck bleiben müssen. Diese Kabine stellte das vierte Versteck dar, und zugleich schien es das sicherste zu sein. Das Schiff war auf gespenstische Weise leer, denn die Maschinen befanden sich nur in der Zentrale und den Unterzentralen. Aber ihr Programm schrieb ihnen vor, in unregelmäßigen und daher unberechenbaren Abständen die Korvette zu kontrollieren. Diese Kontrollen hatten die drei Solaner fürchten gelernt.
»Es ist auch meine Meinung«, fügte Lyta verdrossen hinzu. Hage zwirbelte nervös die ausgefransten Enden des traurig hängenden Schnurrbarts und sagte schnarrend:
»Ich will eure Meinungen nicht mehr hören; ich kenne sie bis zum Überdruss. Macht endlich konstruktive Vorschläge!«
Aus seinem Ton sprach Gereiztheit, die leicht in Hysterie umschlagen konnte. Allzu fern von einem durch Klaustrophobie hervorgerufenen Tobsuchtsanfall schien Nockemann heute nicht mehr zu sein. Dies würde allerdings sicher zu ihrer Entdeckung führen.
»Was können wir tun? Nichts!«, beharrte Lyta.
»Verdammt wenig.«
Hage machte eine schroffe, wegwerfende Bewegung, dann schwang er sich von seiner Pritsche und stapfte gereizt in die Versorgungszelle der Kabine. Er kam mit drei Kunststoffbechern zurück, in denen ein Getränk dampfte, das völlig unzutreffenderweise den Namen Kaffee innehatte. Schweigend verteilte er die Becher und starrte dann auf die winzigen Monitore, die Impulsanzeiger, die ebenso winzigen Oszillographen und die Analogschreiber, die im Regal standen. Nur Lyta war in der Lage, aus der Vielzahl der Anzeigen so etwas wie eine stichhaltige Information herauszulesen.
»Aber jetzt scheint sich die Situation zu ändern!«, meinte Lyta nach einer Weile. »Die Korvette schwebt genau auf das Ysterioon zu.«
Ihr schmaler, schlanker Finger deutete auf den kleinen Schirm des Monitors.
»Was bedeutet das für uns und unsere reichlich beschämende Lage?«, wollte Chart Deccon wissen.
»Das kann ich noch nicht sagen. Die Robots wissen es auch nicht«, lautete die unwirsche Auskunft.
Die Notlage hatte drei ausnehmend verschiedene Personen in diesem Versteck zusammengeführt. Der Gegensatz konnte nicht größer sein. Aber eben diese Notlage war es gewesen, die bis zu diesem Zeitpunkt verhindert hatte, dass sie sich gegenseitig an die Gurgel gesprungen wären.
Chart, Lyta und der Galakto-Gentiker hatten seit dem Start mehrmals das Versteck wechseln müssen. In völlig unterschiedlichen Intervallen glitten die Roboter, gleich welchen Typs, durch die Schiffskorridore und öffneten sämtliche Türen und Schotten, die nicht durch ein bestimmtes Signal gekennzeichnet waren. Ihre Kommunikation verlief lautlos und abhörsicher. Immer wieder wurden die Solaner durch die Geräusche näherkommender Maschinen aufgeschreckt und mussten flüchten.
Zunächst waren sie unterhalb der Hauptzentrale in drei Einmann-Kabinen versteckt gewesen. Kaum hatte Lyta die wichtigen Leitungen entdeckt und ihre Geräte angeschlossen, mussten sie die Kabinen räumen. Dabei galt es, verräterische Spuren zu verwischen. Auch jetzt konnte beispielsweise der Energieverbrauch, der bei einer heißen Dusche entstand, einen Robot auf die bisher unsichtbaren »Gäste« aufmerksam machen.
Sie wechselten in zwei Kabinen, die ein Deck tiefer lagen.