Nr. 583
Die Fünfte Kolonne der Molaaten
Der Vorstoß zum Flekto-Yn
von Hans Kneifel
In den mehr als 200 Jahren ihres ziellosen Fluges durch die Tiefen des Alls haben die Besatzungsmitglieder des Generationenschiffs SOL schon viele gefährliche Abenteuer bestanden. Doch im Vergleich zu den schicksalhaften Auseinandersetzungen, die sich seit dem Tag ereignen, da Atlan, der Arkonide, auf geheimnisvolle Weise an Bord gelangte, verblassen die vorangegangenen Geschehnisse zur Bedeutungslosigkeit. Denn jetzt, im Jahre 3804 Solzeit, geht es bei den Solanern um Dinge von wahrhaft kosmischer Bedeutung.
Da geht es um den Aufbau von Friedenszellen im All und um eine neue Bestimmung, die die Kosmokraten, die Herrscher jenseits der Materiequellen, für die Solaner parat haben. Und es geht um den Kampf gegen Hidden-X, einen mächtigen Widersacher, der es auf die SOL abgesehen hat und dessen Standort man inzwischen einigermaßen genau bestimmt zu haben glaubt.
Während man gegenwärtig auf der SOL eine hektische Suche nach den Unterlagen über eine Waffe gegen das Hypervakuum veranstaltet, mit dem Hidden-X sich vor ungebetenen Besuchern schützt, geht ein Aktionsplan Atlans seiner Vollendung entgegen.
Der Plan sieht einen Vorstoß zum Flekto-Yn vor. Ausgeführt wird dieser Plan durch DIE FÜNFTE KOLONNE DER MOLAATEN ...
Atlan – Der Arkonide bringt die Fünfte Kolonne zum Einsatz.
Sanny – Anführerin der Fünften Kolonne der Molaaten.
Oserfan – Ein Gefangener erhält die Freiheit.
Isydor und Cerbelin – Zwei Robotmolaaten.
Cryss'Narm – Ein Krymoraner.
Erster Tag
Zwölfter Oktober
An Bord der SOL
Breckcrown Hayes streckte seine langen, muskulösen Beine unter dem niedrigen Tisch aus. Langsam hob er den Becher, nahm einen tiefen Schluck und blickte dem Arkoniden in die Augen.
»Dich lässt dieser Dunkelplanet Krymoran nicht mehr los, wie?«, fragte er.
»Immerhin ist Krymoran eine Station auf der Suche nach unserem Gegner. Jeder von uns weiß, dass die Endphase unserer Auseinandersetzungen mit Hidden-X bevorsteht.«
»Du sagst das in einer Weise, als würde der letzte Kampf morgen früh ausbrechen«, knurrte Breckcrown.
»Das ganz sicher nicht. Du weißt, auf welche Art von Auseinandersetzung unser Gegner spezialisiert ist.«
Sie wussten es – alle! Hidden-X war heimtückisch und kämpfte nicht selbst. Es ließ andere für sich die tödlichen Auseinandersetzungen führen.
»Und auch der Plan meiner Friedenszellen«, gab Atlan halblaut zu, »erfüllt die Erwartungen nicht, die ich in ihn gesetzt habe. Denke an die Roxharen.«
»Ich denke eher an den verschollenen Oserfan«, sagte Hayes knapp. »Die Vorbereitungen laufen, nicht wahr?«
»Ich denke auch an die Molaaten auf Krymoran«, setzte Atlan hinzu. »Wir werden auch diesmal eine Lösung finden.«
Zusammen mit Hayes und den maßgeblichen Solanern, unterstützt von fast jedem an Bord, waren unterschiedliche Maßnahmen durchgespielt und schließlich realisiert worden. Trotz aller Fortschritte blieb Atlan ungeduldig und unzufrieden. Es ging nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatten.
Trotzdem blieben sie alle voller Entschlossenheit.
Der High Sideryt stand auf und lehnte sich an das Schott. Sie befanden sich in Atlans eigenem Wohnraum.
»Einen Moment«, sagte Hayes, berührte eine Kontaktplatte, und ein Bildschirm flammte auf.
Die Ortungsabteilung meldete sich.
»Hat sich Wajsto Kolsch inzwischen gemeldet? Haben wir irgendeine Nachricht von der HAUDEGEN?«, fragte Hayes.
»Nichts, High Sideryt«, lautete die Antwort. »Wir erwarten auch keine Meldung. Eine Meldung würde bedeuten, dass Kolsch auf dem Flug zu den Chailiden in Schwierigkeiten geraten ist.«
»Alles klar«, brummte Hayes und schaltete ab.
»Sehen wir also nach, was die kleinen Molaaten unternehmen«, sagte der Arkonide.
»Das ist dein Job, Atlan.«
»So sehe ich das auch. Kümmerst du dich um die beiden verschwundenen Buhrlos?«
»Ja. Ich habe schon alles unternommen.«
Sie schüttelten sich kurz die Hände. Atlan lehnte sich, nachdem Breckcrown den Raum verlassen hatte, mit geschlossenen Augen zurück und verschränkte die Arme im Nacken.
Die Chailiden sollten dazu gewonnen werden, als »geistiges Potenzial« gegen den schmerzenden Mentaldruck zu dienen, der von Hidden-X kam und einen Vorstoß auf breiter Front unmöglich machte. Bisher konnten nur Mentalstabilisierte sich in die Auseinandersetzung wagen – und das bedeutete, dass die Schlagkraft der notwendigerweise kleinen Gruppen zu gering war.
Nach einigen Minuten löste sich der Arkonide aus seiner Bewegungslosigkeit und trat an den Terminal, der ihn mit SENECA verband.
Atlan identifizierte sich, als das charakteristische Zeichen auf dem Schirmbild aufleuchtete, und fragte:
»Du weißt von der Suche nach der so genannten Waffe gegen das Hypervakuum.«
»Ich weiß«, erwiderte SENECA sachlich, »dass Sanny und unzählige andere Kommandos praktisch das ganze Schiff durchsuchen.«
»Mit Erfolg?«
»Bis jetzt haben die vielen Kommandos alles Denkbare gefunden. Aber ich habe nicht beobachten können, dass Unterlagen oder einschlägige Pläne aufgetaucht sind. Ich melde mich sofort in SOL-City, wenn ich etwas feststelle.«
»Einverstanden.«
Atlan streckte die Hand aus, um die Verbindung zu trennen.
»Und auch die beiden verschwundenen Buhrlos sind nicht wieder aufgetaucht?«
»Nein«, antwortete SENECA. »Sie melden sich nicht, und ich bin sicher, dass sie sich bewusst einer Entdeckung entziehen.«
»Wir werden sie weitersuchen«, meinte Atlan nachdenklich. »Das hat etwas zu bedeuten. Mein Misstrauen ist wach, SENECA.«
»Verständlich. Jedenfalls haben Morszek und Bessborg die SOL nicht verlassen«, versicherte die Biopositronik und trennte die Verbindung.
Anschließend schaltete sich Atlan in das Interkomnetz ein.
Eine grell ausgeleuchtete Hangarschleuse erschien auf dem Bildschirm. Atlan sah einige Sekunden lang der Betriebsamkeit zu, die rund um die Space-Jet herrschte. Bordmechaniker und Spezialrobots testeten die Systeme und machten den Diskus startfertig.
»Atlan!«, meldete sich ein Mechaniker. »Willst du wissen, wie weit wir sind?«
»So ist es. Wie sieht es mit der PARTISAN aus?«
»Einwandfrei. Die Jet ist in einem hervorragenden Zustand. Fliegst du selbst?«
Atlan nickte.
»Ja. Wir alle werden wieder mit dem Mentaldruck zu kämpfen haben. Allein schon aus diesem Grund muss das Vehikel tadellos in Ordnung sein. Klar?«
»Selbstverständlich. Irgendwelche Sonderwünsche? Gepolsterte Pilotensessel oder ein besonderes Musikprogramm für den Linearflug?«
Atlan lachte schallend und erklärte mit plötzlicher Fröhlichkeit:
»Lasst euch etwas einfallen. Mir ist fast alles recht.«
»Machen wir, Atlan.«
»Wir haben vor, in rund vierundzwanzig Stunden zu starten. Uns erwartet ein volles Programm auf Krymoran. Falls ihr etwas braucht, sagt es Breck. Der High Sideryt weiß, was davon für die SOL abhängt.«
»Kein Grund zur Beunruhigung«, sagte der Mechaniker, winkte und schaltete den Bildschirm ab. Atlan als Chef der Fünften Kolonne; das war ein Thema, das ein wenig Aufregung in das Bordleben brachte.
Unruhe erfüllte Kyrm-Shartt oder, wie die Stadt auch genannt wurde, den Ort der gebrochenen Steine. Noch nie hatte das Volk, dem Harre'Arft angehörte, innerhalb so kurzer Zeit so viele Verwundete, so viele Tote zu beklagen gehabt.
Viele Helligkeitswechsel, mehr als zehnmal zehn, waren seit dieser unglückseligen Stunde vergangen. Harre'Arfts Überlegungen hatten sich seit dem Erlebnis geschärft. Jetzt würde er diese Überlegungen öffentlich niederlegen, also an den Fels schreiben.
*
Harre'Arft biss das Ende des Fyll-Stängels ab und fing zu schreiben an.
»Jeder, der hier stehen bleibt, soll lesen, was beschlossen wurde. Viel Leid kam über Kyrm-Shartt und, wie wir meinen, über andere Städte unserer Welt. Selbst die Ältesten erinnern sich nicht, dass vom Auftauchen einer Handvoll Fremder jemals solch chaotische Folgen ausgegangen sind. Wenn wir alle Gerüchte in richtige Zusammenhänge bringen, dann geschah dies:
Eine Helligkeitsperiode begann, und ein riesiges schwebendes Ding erschien. Die Besucher stiegen auf die Außenfläche unserer Welt hinaus und gingen umher, von unseren Jägern beobachtet. Sie sprachen durch seltsame Geräte mit den vielen kleinen Wesen mit den Pelzen in der Farbe jungen Laubes. Auch vermochten sie, mit jenen großen, schlanken Ausgesetzten zu sprechen, die abseits der Lager hausten und von den Kleinen unterstützt wurden. Ganz plötzlich schlug eine unbekannte Macht zu. Sie überzog die Oberfläche und sogar Teile der Kammern, Säle und Korridore zumindest unserer Stadt mit dem giftigen Nebel einer Verwirrung des Verstandes. Wahnsinn brach offen aus, Hass und die Sucht, andere zu töten. Wir wurden gezwungen, gegen die Fremden vorzugehen.
Wir erkannten – viel zu spät! – dass wir manipuliert wurden.«
Harre'Arft hörte zu schreiben auf. Der Fyll-Wurzelstrunk war trocken geworden. Er warf ihn weg, hob einen neuen auf und ordnete seine Überlegungen.
Was wusste er? Welches Rätsel verbarg jene grausame Mächtigkeit, von der nur Hass und Tod ausgesandt wurden, vor den Krymoranern? Und wohin waren die Fremden verschwunden? Kamen sie wieder?
Harre'Arft schrieb weiter:
»Es ist sicher, dass wir nur gewinnen können, wenn wir mit den Fremden sprechen können. Oder mit denen, die ›Molaaten‹ genannt werden. Und vielleicht hat es auch einen Sinn, mit den Rebellen Fragen zu klären, denn sie haben sicher eine andere Sicht aller der Probleme, die uns bedrängen.
Es muss sich vieles ändern.
Wir müssen jene Macht kennen lernen, die uns manipuliert. Und eines Tages müssen wir sie bekämpfen.
Aber wo finden wir jenen Mächtigen, von dem unser Leben abhängt?«
Selbst Bjo Breiskoll, der schon viele abenteuerliche Versuche miterlebt hatte, schüttelte halb anerkennend, halb verblüfft den Kopf.
»Erstaunlich«, murmelte er leise.
»Hübsch, dieser Cerbelin, nicht wahr?«, fragte Sanny rhetorisch. »Auch Isydor wird, scheint mir, ein wahres Kunstwerk.«
Auf den Montagetischen lagen bewegungslos zwei seltsame Mischwesen. Sie bestanden zu zwei Dritteln, jedenfalls was ihre Außenhaut betraf, aus einem kurzhaarigen, weichen Pelz in demselben sanften Grünton, wie er auch Sannys Pelz kennzeichnete. Der Kopf war klein und rund und nur zum Teil mit bronzefarbenem Fell überzogen. Statt der kreisförmigen Pupillen befanden sich hochwertige Linsenkombinationen in den Außenhöhlen. Auch einige Teile des Körpers waren weit geöffnet und ließen das technische Zubehör eines Robots erkennen.
»Sie werden beide von echten Molaaten – wenigstens optisch – mit Sicherheit nicht zu unterscheiden sein«, kicherte Sanny. »Immerhin haben sie mich als Modell genommen.«
Sie zeigte auf die Techniker und dann auf das Schott, das diesen Raum mit einem der Fabriksektoren verband.
»Hoffentlich ist euer Dimensionstransmitter derselben Ansicht.«
»Wir sind sicher, dass die Kennung des Transmitters auf einfacher optischer Basis funktioniert. Entweder arbeitet er mit Molaaten, oder er arbeitet nicht, weil alles Nicht-molaatische ihn sperrt. Entsprechende Versuche haben stattgefunden.«
Bjo winkte ab und bewegte sich in seiner eigentümlichen Geschmeidigkeit rund um den kompliziert ausgestatteten Werkbank-Montagetisch herum.
»Entschuldige«, wandte sich Bjo wieder an Sanny und zwinkerte. »Aber mir scheinen die Namen keineswegs typisch molaatisch zu sein. Besonders Isydor ...«
Diesmal winkte sie nachlässig ab.
»Dient zur genauen Unterscheidung.«
Eine der Maschinen richtete sich halb auf, deutete mit einem der unfertigen Stahlplastik-Pelzarme auf Breiskoll und sagte mit haargenau der Stimme, die Bjo von Sanny kannte:
»Ich bin Teil einer Relaiskette. Ich würde mich freuen, wenn du auch Mitglied der Fünften Kolonne wärest.«
Bjo grinste, zwinkerte mit seinen schräggestellten Augen und versicherte:
»Ihr habt gewonnen.«
Die beiden Spezialroboter waren jeweils exakt achtundvierzig Zentimeter groß. Sie würden, wenn die weiche Verkleidung ganz geschlossen und befestigt war, zwei Molaaten bis aufs sprichwörtliche Haar gleichen. Cerbelin und Isydor enthielten zusätzlich zum normalen Bewegungsapparat, der Mikropositronik für die Steuerung und dem Sinnes- und Wahrnehmungsapparat einen ausklappbaren Kleintransmitter. Natürlich würde dieses Gerät, wenn es ausgefahren war, die perfekte Tarnung zerstören. Die Hyperfunkanlage, der Impulsstrahler in einem Arm und der Paralyse-Schocker im anderen Handgelenk, waren weniger aufwändige Bestandteile der Konstruktion. Bjo wusste, wie Atlan diese beiden Robotmolaaten verstanden haben wollte. Sie sollten als taktische Reserve dienen, als Überraschung für potentielle Gegner und als Relaiskette.
»Du bist der Chef der Kommandogruppe«, sagte Bjo. »Du musst mit diesen Kunstartikeln zurechtkommen.«
»Wir sind gebaut worden, um keine Schwierigkeiten zu machen«, erklärte mit Drux' Stimme der Robot Cerbelin. »Unlogisches Verhalten kann von uns nicht erwartet werden.«
»Offensichtlich stand für den Wortschatz Tristan Bessborg Modell«, sagte Breiskoll. »Hat er sich gemeldet?«
»Weder er noch Hreila sind aufgetaucht«, antwortete Sanny. »Wann will Atlan losfliegen?«
»In einem Tag.«
»Es sind noch viele Einzelheiten des Aktionsplans zu besprechen«, äußerte sich die kleine Molaatin. »Das Risiko ist nicht klein.«
»Das Risiko ist unberechenbar groß«, brummte Bjo. In den Gedanken der hier Versammelten spürte er nur Entschlossenheit und schieren Tatendurst, und Sanny strahlte den Drang nach Rache aus.
»Hidden-X ist für die Zerstörung unserer Heimatwelten verantwortlich«, sagte Sanny. »Und auf Krymoran warten Tausende Molaaten auf unsere Hilfe. Niemand sonst kann ihnen helfen. Deswegen sind wir so begierig darauf, den Feind, der auch euer Feind ist, vernichtend zu schlagen.«
»Ich kann's verstehen.«
Bjo setzte sich auf einen Schaltschrank und sah zu, wie die Techniker nach einer Weile weiterarbeiteten.
*
Die Hochleistungsbatterie hatte als erstes ihre Funktion eingestellt.
Eine viel zu lange Zeit war es dunkel gewesen. Dann brachten sie ihm kleine, schüsselartig ausgehöhlte Steine, in denen sich pflanzliches oder tierisches Öl befand. In der Flüssigkeit schwamm ein Docht, den sie an einer Fackel anzündeten. Die Flamme rußte erbärmlich, aber immerhin war seine Kammer beleuchtet, und er verlor seine Angst vor der Dunkelheit.
Knirschend bewegte sich der Steinkoloss des Eingangs. »Nicht schon wieder Pilze und Grünzeug, über dem Feuer gegrillt!«, stöhnte Oserfan auf.
»Nein. Braten und Früchte.«
»Das bedeutet, dass ihr gejagt habt. Wie sieht es draußen aus ... oder vielmehr oben? Etwas Neues?«
»Die Roxharen suchen überall nach Überlebenden oder Toten.«
Der Translator arbeitete noch immer. Er hatte die Feinheiten der Sprache erfasst, und es gab so gut wie nichts mehr, das nicht sinnentsprechend übersetzt wurde.
»Du willst mir sagen, dass meine Freunde gekommen sind und mich abholen?«, erkundigte sich Oserfan sarkastisch. Er hatte an dem kleinen grauen Farbstreifen im Nacken und an den beiden Narben an den Oberarmmuskeln seinen »Freund« Cryss'Narm erkannt.
»Noch nicht«, erwiderte der Rebell ausweichend.
»Wann?«
»Wer weiß, Oserfan.«
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