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Nr. 587

 

Krieger für Hidden-X

 

Der Hypervakuum-Verzerrer wird eingesetzt

 

von Hans Kneifel

 

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In den mehr als 200 Jahren ihres ziellosen Fluges durch die Tiefen des Alls haben die Besatzungsmitglieder des Generationenschiffs SOL schon viele gefährliche Abenteuer bestanden. Doch im Vergleich zu den schicksalhaften Auseinandersetzungen, die sich seit dem Tag ereignen, da Atlan, der Arkonide, auf geheimnisvolle Weise an Bord gelangte, verblassen die vorangegangenen Geschehnisse zur Bedeutungslosigkeit. Denn jetzt, im Jahre 3804 Solzeit, geht es bei den Solanern um Dinge von wahrhaft kosmischer Bedeutung.

Da geht es um den Aufbau von Friedenszellen im All und um eine neue Bestimmung, die die Kosmokraten, die Herrscher jenseits der Materiequellen, für die Solaner parat haben. Und es geht um den Kampf gegen Hidden-X – einen mächtigen Widersacher, der es auf die SOL abgesehen hat.

Züge und Gegenzüge wechseln bei der erbitterten Auseinandersetzung zwischen den Kontrahenten einander ab. Nach den jüngsten Erfolgen über Hidden-X, die in der Abwehr des »Anschlags auf die Zukunft« und in der »Rettungsaktion für Chybrain« gipfelten, sind die Solaner zuversichtlich. Allerdings hat Hidden-X noch einige äußerst unliebsame Überraschungen für Atlan und die Solaner parat. Dazu gehören auch die KRIEGER FÜR HIDDEN-X ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Hidden-X – Der Gegner der Solaner lässt eine Sonne verschwinden.

Oggar – Das Multibewusstsein wird entführt.

Breckcrown Hayes – Der High Sideryt ist um das Verschwinden von Solanern besorgt.

Ursula Grown – Kommandantin des neuen Hypervakuum-Verzerrers.

Myrrhn, Shorrn und Narrm – Drei führende Anterferranter.

1.

 

Die Zeremonie war keineswegs prunkvoll oder beeindruckend. Trotzdem wurde sie über alle Visiphone an Bord der SOL übertragen.

Am ersten Dezember 3804 taufte der High Sideryt Breckcrown Hayes den Hypervakuum-Verzerrer.

Vor der Kuppel des Bordobservatoriums stand im gekennzeichneten Bereich künstlicher Anziehungskraft eine kleine Gruppe von Personen in Raumanzügen. Die Kuppel war von innen hell erleuchtet, so dass die Gestalten scharfe Silhouetten bildeten. Dann flammten Scheinwerfer auf, die man mit Haftmagneten am Mantel der langgestreckten Plattform befestigt hatte. Farbige Kabel wanden sich wie Schlangen durch die schwerelosen Bezirke und verschwanden irgendwo im Innern des Verzerrers. Die Stimme von Breckcrown Hayes war zu hören.

»Wir alle hoffen«, sagte er mit seiner rauen, prägnanten Stimme, »dass dieses Gerät unsere Hoffnungen erfüllt. Die Besatzung der SOL hat mit der Hilfe von SENECA, ohne den der Bau nicht möglich gewesen wäre, den Hypervakuum-Verzerrer gebaut und zusammengesetzt. Es war ein gewaltiger Kraftakt für uns alle.«

Hayes machte eine kurze Pause.

Über die Bildschirme zogen die Ansichten der kantigen Plattform mit ihren eigentümlichen technischen Installationen. Die Aufnahmen waren im unmittelbaren Bereich der SOL gemacht worden, im harten Licht der Außenbordscheinwerfer. Die Umhüllungen und Verkleidungen des Energietrichters, die der Funkantennen, des Energiewandlers und die Öffnungen der Triebwerke glitten vorbei. Dann richtete sich die Übertragungskamera wieder auf den High Sideryt. Breckcrown fuhr fort:

»Niemand von uns, selbst SENECA, weiß genau, ob dieses riesige Gerät funktioniert – und wie es eigentlich funktioniert. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir mit seiner Hilfe die Angriffe von Hidden-X zurückschlagen können, ist groß. Aber es wohnt dieser Maschinerie ein guter Teil an Wunderglaube inne. Wir hoffen, ohne zu wissen. Der nächste Angriff des gewaltigen Gegners, der den Flug der SOL so lange blockiert und aufgehalten hat, wird sicher in Kürze erfolgen.

Freunde an Bord! Einige Tage, die wenig aufregend waren, liegen hinter uns. Die Drohung von Hidden-X, uns alle zu versklaven, wurde deutlich ausgesprochen, und dieses Wesen mit all seinen erstaunlichen Möglichkeiten hat bisher jede Drohung wahrgemacht. Um so seltsamer ist es, dass es den Bau des Verzerrers nicht verhindert hat. Atlan hat den großen Spiegel des Flekto-Yn zerstört; dieser vernichtende Einsatz hat uns allen gezeigt, dass Hidden-X keineswegs unverwundbar ist.

Es sind innerhalb des Hypervakuum-Verzerrers noch einige wenige Arbeiten durchzuführen, dann sollte das Gerät einsatzbereit sein. Kommandantin der Plattform wird die Stabsspezialistin Ursula Grown sein. Sie trägt große Verantwortung, weil sie unabhängig von der SOL wird handeln müssen.

Zum Andenken an einen Mann, der keineswegs unumstritten war, einigten wir uns darauf, dem technischen Gerät einen vertrauten Namen zu geben. Stellvertretend für alle von der SOL taufe ich deshalb die Plattform auf den Namen Chart Deccon.«

Er ging auf die Kuppel zu, holte aus und zerschmetterte außerhalb der gekennzeichneten Sicherheitsfläche einen Behälter aus dünnem Glas. Eine Flüssigkeit breitete sich aus und zerstob in eine Wolke von Kristallen.

Ehe sich die Wolke zerteilte und in langgezogenen Schleiern auflöste, glitzerten die winzigen Kristalle zauberhaft im Licht der Scheinwerfer und bildeten bizarre Muster. Die Kommandantin der Station fügte hinzu:

»Wir werden, obwohl wir die zugrundeliegende Technik nicht oder noch nicht begreifen, nicht zögern, den Verzerrer als Waffe einzusetzen. Bisher haben die SOL und die Plattform ihren Standort mehrfach gewechselt, denn in diesem sonnenlosen Gebiet des Universums gibt es keine Verstecke. Wir bleiben wachsam und skeptisch, was den nächsten Schlag von Hidden-X betrifft – er wird, darauf können wir vertrauen, bald erfolgen.

Ich wünsche uns allen viel Glück.«

Nacheinander wurden die Scheinwerfer abgeschaltet. Die Techniker des HV bauten die Gestänge ab. Aus dem Dunkel schwebte eine Space-Jet heran und setzte in der Nähe der grün leuchtenden Observatoriumskuppel auf. Hayes, Atlan und einige andere Begleiter des High Sideryt stiegen in den Diskus, der sie zurück in die SOL brachte.

»Nun haben wir eine gigantische Waffe zusammengebaut«, sagte der Arkonide zu Hayes, als sie vor sich die riesige Masse der SOL auftauchen sahen, gekennzeichnet nur durch ein paar geöffnete Schleusen, die wie Positionslichter wirkten, »von der wir nicht wissen, wie sie zu betätigen ist.«

»Ich vertraue auf die kreative Intelligenz SENECAS«, erwiderte Hayes knapp. »Drücken wir die Knöpfe. Dann wird man sehen, was passiert.«

»Irgend etwas wird sicher passieren«, meinte Atlan. »Wir warten weiter?«

»Wir warten. Ich habe das sichere Gefühl, dass wir nicht lange werden warten müssen«, erklärte Hayes.

»Außerdem, Breck, sollten wir zwar mit allen Mitteln der Fernortung arbeiten, aber vorläufig keine weiteren Erkundungsvorstöße unternehmen.«

»Ist ohnehin nicht beabsichtigt.«

Die Barrieren, die noch vor kurzer Zeit die Zone-X geschützt und das Eindringen zu unerträglichen Schwierigkeiten gemacht hatten, waren – vorübergehend? – verschwunden. Der Hyperfunk zwischen der Plattform, der SOL oder ausgeschleusten Beibooten wurde nicht gestört. Rund zweihundert jener merkwürdigen Dunkelplaneten standen verstreut in der kugelförmigen Raumzone; noch einige der ausgesetzten und auf errechneten Bahnen kreisenden Leuchtbojen waren intakt und dienten der Ortung als Markierungspunkte. Für die Kommandos der SOL gab es im Augenblick keinen ernsthaften Grund, irgendwelche Vorstöße zu unternehmen. Die SOL und die Plattform CHART DECCON befanden sich gegenwärtig einige Lichtstunden vom imaginären Rand entfernt und würden in Kürze abermals ihre Position wechseln.

»Was mich weiterhin beschäftigt, um nicht zu sagen, beunruhigt«, erklärte Atlan nachdenklich, mehr zu sich selbst, »ist, dass es weder von Chybrain noch von Wöbbeking ein Lebenszeichen oder eine Information gibt.«

»Richtig. Mir scheint, der gegenwärtige Zustand ist vergleichbar mit der lähmenden Ruhe vor einem großen Sturm«, zitierte Breck.

»Eine treffende Definition!«, stimmte Atlan zu.

Beide beschäftigte jedoch die Drohung von Hidden-X am allermeisten, jenes Versprechen, dass die Solaner den großen Spiegel im Flekto-Yn als Sklaven wieder aufbauen würden. Wie würde es Hidden-X anstellen, ausgerechnet Solaner dorthin zu schaffen?

Eines aber wussten sie mit Sicherheit:

Die Besatzung der SOL würde sich mit äußerster Entschlossenheit gegen jeden Angriff zu wehren wissen – wie schon so oft bisher. Denn auch dieser Gegner hatte einige schwache Seiten gezeigt.

Die Jet wurde eingeschleust, und nach wenigen Minuten umfing die ruhige Arbeitsamkeit im Innern des riesigen Schiffes wieder die Frauen und Männer, die der Taufzeremonie beigewohnt hatten. Erst Stunden später gab die Ortungszentrale eine Meldung durch, die ungewöhnlich genug war, um alle Verantwortlichen aufhorchen zu lassen.

Zwei Dunkelplaneten nähern sich aus der Zone-X und driften mit erheblicher Geschwindigkeit auf die Randzone zu. Keinerlei Antriebsfelder oder anmessbare Kräfte feststellbar. Die Möglichkeit weiterer Veränderungen ist sehr groß.

Hidden-X scheint eine neue Entwicklung einzuleiten, meldete sich Atlans Extrasinn.

2.

 

Myrrhn war der Zweiundzwanzigste im Ag-mehn-dju-Bündnis, und er hatte es eilig.

Als er die lange, geschwungene Rampe zum Versammlungssaal hinaufrannte, machten seine dicken Stiefelsohlen knirschende Geräusche. Die Krallen der Finger klickten am Metall des Geländers. Die Strahlen der untergehenden Sonne ließen die Flanken des Raumhafenturms aufleuchten und machten aus einem der spitzkegeligen Raumschiffe, das eben zur Landung ansetzte, einen rotgelb glühenden Meteor.

Die heutige Sitzung, der Bund dieses Abends, war für ihn und einundzwanzig andere von Anterf von entscheidender Bedeutung.

Er nahm mit wenigen weit tragenden Sprüngen seines geschmeidigen, von dünnem Fell bedeckten Körpers die letzten Darns zwischen Rampe und dem kreisrunden Portal des Saales. Als er den Kontaktknauf berührte, schwoll das Summen der atmosphärischen Triebwerke des Kreuzers noch einmal an und riss, als das Schiff den Boden des Planeten berührte, unvermittelt ab. Myrrhn warf einen kurzen Blick hinüber zum Raumhafen und nickte zufrieden; wenn es ihnen gelang, den Geistigen Äther zu verdichten und die Wissende zu stabilisieren, würden auch die Besatzungen der Raumschiffe es ihnen danken. Denn auch die Flotte musste wissen, ob und welches ungewöhnliche Ereignis bevorstand.

Das Schott öffnete sich.

Der Saal war einer kubischen Höhle nachempfunden. Viele Wohnräume der Anterferranter besaßen diese Form, die, mit weichem Material in allen denkbaren Farben und Farbkompositionen ausgeschlagen, den Eindruck einer Wohnhöhle wiedergab. Als Myrrhn eintrat, standen alle einundzwanzig Mitglieder des Bündnisses auf und senkten kurz ihre Köpfe. Obwohl Myrrhn der Jüngste war, besaß er von ihnen allen die stärkste Form der Konzentrationsfähigkeit.

»Ich begrüße euch, Mitglieder der Notgemeinschaft«, sagte er mit seiner schnurrenden Stimme. Seine grünen Augen leuchteten auf, als er näherkam und seinen Platz in der runden Sitzordnung aufsuchte.

»Was hat dich aufgehalten?«, fragte Tzarf ohne den Hauch eines Vorwurfs.

»Ich sprach mit einem Astronomen. Er kam vor Stunden mit der KOLLISION zurück. Er war im Schnittachsenbereich«, erwiderte Myrrhn und setzte sich. Unter dem weichen Fell, über das sich die breiten Gürtel und Bänder aus Reptilienschuppenleder spannten, zeichneten sich plötzlich dicke Muskelbündel ab.

Aufmerksam hörten ihm die anderen Anterferranter zu. Sie bekleideten ausnahmslos wichtige Stellungen in dieser Stadt und waren sich ihrer Verantwortung voll bewusst.

»Tatsächlich? In der Mitte der beiden Galaxien?«, fragte Shorrn beeindruckt. »Was sagte er?«

Myrrhn streckte die langen Beine aus, bewegte seine Fußballen in den weiten Stiefeln und machte die ersten Lockerungsübungen. Halblaut berichtete er, was der Wissenschaftler über das Zentrum der beiden kollidierenden Spiralmilchstraßen gesagt hatte. Myrrhn gab eine Kurzversion davon.

»Er bestätigte, dass die ersten Sterngruppen der Ränder sich vor etwa achthundert Jahren berührt haben mussten. Er bestätigte sämtliche bisher gemachten Messungen und ließ eine Handvoll Theorien zusammenbrechen. Definitiv unzweifelhaft ist, dass sich unsere Spiralgalaxis mit einer anderen getroffen hat. Die andere durchdringt unsere genau im rechten Winkel. Aus der Entfernung müssen die Systeme jetzt eine Art Kreuz bilden, oder den Buchstaben Mon in der Versalienform. Und das Wichtigste: Der Vorgang kommt offensichtlich in absehbarer Zeit zum Stillstand.«

»Wann?«, wollte Ztyrrh wissen.

»Deswegen«, unterbrach Shorrn, »finden wir uns heute zum Bündnis zusammen.«

Die zweite Milchstraße hatte sich, völlig unbemerkt, aus den Tiefen des Universums genähert. Es gab Schüler der Weltenmeister-Theorie, die wissen wollten, dass ihr schwer begreiflicher Götze dieses gewaltige Sternensystem aus unergründlichen Bezirken herbeigeschafft und senkrecht auf die eigene Galaxis hatte prallen lassen. Der Vorgang der Durchdringung vollzog sich in rasender Geschwindigkeit, um den Faktor Hundert höher als bei vergleichbaren Systemen, die sich nur in den Fernrohren der Astronomen zeigten. In den letzten Jahren war unangreifbar gemessen worden, dass die schnelle Bewegung des eindringenden Milchstraßensystems, ebenfalls eine Galaxis mit Spiralarmen, sich verringerte.

»Noch etwas, ehe wir mit dem Ag-mehn-dju anfangen?«, wollte Ztyrrh wissen.

»Nur noch eines«, berichtete Myrrhn. »Ihr werdet es natürlich in voller Ausführlichkeit lesen und in den Berichten hören können. Die Astronomen haben mit all ihren Instrumenten nicht einen einzigen Zusammenstoß von kosmischen Objekten beziehungsweise deren Reste oder Folgeerscheinungen registrieren können.«

»Trotzdem bin ich sicher«, sagte Myrrhn abschließend, »dass diese geschichtliche Entwicklung für uns ein Ereignis von ungeheurer Tragweite verbirgt.«

»Wie wir alle.«

Sie nahmen die Haltung ein, die es ihnen ermöglichte, ihre Körper total zu entspannen. Ihre Gedanken konzentrierten sich, während die einundzwanzig anderen und Myrrhn versuchten, das Bündnis einzugehen. Mindestens zweiundzwanzig Anterferranter, ein Mehrfaches davon oder eine beliebig große, aber stets gerade Anzahl konnten sich zu solchen Bündnissen zusammenschließen. Die Benutzung der Fähigkeit indirekter Teleportation aber war verboten und tabu – nur Notfälle oder besonders wichtige Anlässe rechtfertigten Ag-mehn-dju.

Für Myrrhn und seine Freunde war die heutige Beschwörung ein mehr als wichtiger Anlass. Sie hatten lange und intensiv darüber nachgedacht und sich letztlich entschlossen, es zu tun.

Gleichzeitig war Ag-mehn-dju der Begriff einer anonymen Gottheit, die von ihnen auch die Wissende genannt wurde. Ein Begriff, kein Name.

Sie spürten, wie sich der Ring zu schließen begann.

Ihre Gedanken, ihr gesamtes Wesen berührten sich und verflochten sich untereinander, ohne dass sich die Anterferranter berührten, und das Ziel blieb noch unbestimmt, gleichzeitig überall und dennoch nicht zu packen. Der Äther, nicht das bekannte Gas, sondern die Partikel der Wissenden, die überall innerhalb der Lufthülle ihres Planeten Anterf vorhanden waren als einzelne, monadische Wesenheiten, fing in der Vorstellung der Bündnispartner an, sich zu stabilisieren.

Rund hunderttausend Megadarns weit reichte die Fähigkeit.

Je größer der Verbund war, desto schwerere Dinge, Lebewesen oder Gegenstände konnten ohne zeitlichen Verzug im dreidimensionalen räumlichen Koordinatensystem an jeden beliebigen Punkt innerhalb dieses Durchmessers von hunderttausend Megadarns versetzt werden.

Unhörbar flüsterte Myrrhn in den zusammengeschlossenen Bewusstsein:

»Wir aber wollen die Wissende hier!«