Nr. 620
Das leuchtende Auge
Mit der SOL in der Bannzone
von Hans Kneifel
Die Verwirklichung von Atlans Ziel, das schon viele Strapazen und Opfer gekostet hat – das Ziel nämlich, in den Sektor Varnhagher-Ghynnst zu gelangen, um dort den Auftrag der Kosmokraten zu erfüllen, scheint nun außerhalb der Möglichkeiten des Arkoniden zu liegen. Denn beim entscheidenden Kampf gegen Hidden-X wurde Atlan die Grundlage zur Erfüllung seines Auftrags entzogen: das Wissen um die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst.
Doch Atlan gibt nicht auf! Im Bewusstsein, sich die verlorenen Koordinaten wieder besorgen zu müssen, folgt der Arkonide einer vagen Spur, die in die Randgebiete der Galaxis Xiinx-Markant führt, wo die SOL in erbitterte Kämpfe verwickelt wird.
Inzwischen schreibt man an Bord des Generationenschiffs das Ende des Jahres 3807 Terrazeit. Der hoffnungslos anmutende Kampf gegen das Manifest C, das die SOL in die Vernichtung zu führen drohte, ist siegreich beendet – dank den Informationen vom Atlan-Team, das der gefährlichen Zentrumszone von Xiinx-Markant bereits einen Besuch abgestattet hat.
Nun, nach Ausschaltung der lebenden Bomben, die die Heimatwelt Cpt'Carchs, respektive Twoxls, in Stücke zu sprengen drohten, fliegt die SOL auch zum Zentrum von Xiinx-Markant.
Dieses Zentrum birgt DAS LEUCHTENDE AUGE ...
Atlan – Der Arkonide kämpft gegen wandernde Sonnen.
Anti-Homunk – Atlans Gegenspieler.
Cara Doz – Die neue Pilotin der SOL zeigt ihr Können.
Iray-Barleona – Eine Schlafende wird zur Schlüsselfigur.
Breckcrown Hayes – High Sideryt der SOL.
Tyari – Sie unternimmt eine Expedition.
Entschlossenheit, aber auch Zweifel spiegelten sich in Atlans Gesicht. Nachdenklich und langsam fasste er seine Überlegungen zusammen.
»Der Schlüssel für weitreichende Lösungen vieler, wenn auch nicht aller offenen Fragen liegt im absoluten Zentrum der Galaxis Xiinx-Markant.«
»Niemand widerspricht dir«, gab Breckcrown Hayes zurück. »Immerhin sind wir mit der vollständigen Besatzung der SOL unterwegs.«
»Bis auf die BANANE und ihr Team.«
»Sie werden sich wohl bei Twoxl auf dem Planeten Cpt nicht allzu lange aufhalten.«
Atlan zuckte die Schultern und hob seinen Krug. Er nahm einen tiefen Schluck und wischte den schneeweißen Schaum von den Lippen.
»Das Fatale daran ist, dass ich misstrauisch bin. Führt unser Vorstoß zum Erfolg? Gefährden wir uns aufs neue? Was erwartet uns dort? Ich weiß es einfach nicht, Breck!«
»Das kann uns niemand beantworten, weder die Telepathen noch Sanny.«
Breckcrown Hayes und Atlan standen einen Steinwurf weit von der Hauptzentrale entfernt in einer der wenigen Bars. Der Raum war fast leer. Vor ihnen auf der mattglänzenden Theke zeichneten die Böden zweier bauchiger Krüge Ringe aus Kondenswasser auf den Lack. In den Gefäßen war tiefschwarzes Bier mit weißem Schaum. Für den Augenblick existierten für das Schiff und alle seine Raumfahrer keine größeren Probleme.
»Sicher finden wir nicht das Paradies im Mittelpunkt der Galaxis«, erklärte der High Sideryt grimmig.
»Richtig. Eine triviale Feststellung, schwerlich zu unterbieten!«
Sie stießen ein kurzes Lachen aus und griffen gleichzeitig nach den Bierkrügen. Nach allen Informationen, die mühsam genug gesammelt worden waren, konnten Atlan und die Solaner im Mittelpunkt der Milchstraße wichtige Funde machen.
»Beispielsweise könnte«, fabulierte Atlan halblaut, »dort eine Station sein, ein Wendepunkt auf dem Weg zu Anti-ES.«
»Oder zu den verlorengegangenen Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst? Zumindest einige deutliche Hinweise. Oder ein einziger, sicherer.«
»Und selbst alle Kraft und sämtliche Unterstützung der SOL ist für uns keine Garantie für Erfolg.«
»Wir haben es erkennen müssen; mehrmals.«
Niemand fürchtete sich inzwischen noch vor den Manifesten. Sie hatten ihren Schrecken verloren, seit es den Solanern gelungen war, mit positronisch erzeugten starken Magnetfeldern dem Manifest C, Erfrin, zu Leibe zu rücken. Die Maschinen und Geräte, die dazu verwendet worden waren, blieben einsatzbereit.
»Sechsundachtzig Lichtjahre bis zum Brennpunkt«, sagte Breckcrown und leerte sein Glas. »Gehen wir zurück in die Zentrale?«
»Es gibt wohl keine Zwischenfälle. Sehen wir uns an, was die Fernortung herausfinden kann.«
Die SOL beendete in diesen Sekunden eine Linearetappe. Da die Entfernung zum Zentrum nicht auf Lichtsekunden genau feststand, hatten sich die Stabsspezialisten entschlossen, rund zehn Lichtjahre vor dem Kern in den Normalraum zurückzugehen und erst einmal aus sicherer Distanz zu orten. Es war eine fast immer angewendete Vorsichtsmaßnahme. Zunächst war die Vermutung aufgetaucht, dass das Zentrum der Galaxis entweder leer oder von undurchlässigen Staub- oder Energiewolken erfüllt oder wenigstens abgeschirmt sei. Je mehr sich die SOL oder einzelne Schiffe dem Mittelpunkt näherten, desto mehr veränderten sich die Ergebnisse der Fernortung. Inzwischen waren die Solaner mehr oder weniger davon überzeugt, dass auch diese Milchstraße im Innersten voller Sonnen war.
Breck winkte dem Arkoniden. Auch Atlan trank den letzten Schluck des bitteren Bieres, einer neuen Pioniertat der Versorgungstechniker. Er folgte dem High Sideryt in die Zentrale.
Auf den Monitoren standen bereits die Bilder aus den Ortungszentralen.
»Wie erwartet«, murmelte Atlan und packte mit beiden Händen die Lehne eines Sessels.
Die Ergebnisse waren weitaus präziser als alles andere, was bisher gefunden worden war.
Das Zentrum stellte sich aus einer Entfernung von rund zehn Lichtjahren als kugelförmige Zusammenballung vieler Sonnen dar.
Die dunklen, wenig leuchtstarken Sonnen besaßen nur wenige Planeten; die Ortung konnte allerdings an Ort und Stelle weitaus schärfere Analysen erstellen. Die Sonnen standen sehr eng beieinander. Der Durchschnitt der ermittelten Werte lag bei knapp drei Lichtstunden. Es gab aber auch einzelne Zonen von weitaus höherer Dichte. Eine Feststellung der Ortung irritierte den Arkoniden.
Mittelwert dreitausend Grad Celsius.
Atlan überlegte und sagte sich schließlich, noch ehe die Analysen eintrafen:
»Bei derart ›kühlen‹ Sonnen konnten Planeten nur dann Leben entwickelt haben, wenn sie fast unglaublich nahe bei ihren Zentralgestirnen kreisten, weniger als eine Lichtminute entfernt.« Atlan konnte nicht glauben, dort viele Sternenvölker zu finden – aber die Möglichkeiten des Universums waren größer als seine Phantasie.
Atlan wandte sich an SENECA.
»Haben die Fachleute Zeichen für Leben festgestellt?«
»Bis jetzt weder Zeichen für bewohnte Planeten noch andere Aktivitäten. Aber das kann sich an Ort und Stelle ändern.«
»Es wäre richtig, wenn wir unser weiteres Eindringen ebenfalls in Etappen zurücklegen.«
»Ich werde diese Methode vorschlagen!«, antwortete SENECA.
Natürlich wollte Atlan mit der SOL in den Kern vorstoßen. Er witterte Gefahren und wusste, dass er sich nicht täuschte. Im Notfall wurde alles, worüber die Solaner verfügten, zur Unterstützung gebraucht. Der weitere Flug würde sich schwierig gestalten, wenn Atlan die Gravitationslinien auf den Ortungsschirmen richtig deutete. Immerhin würden sie kurze Linearetappen durchführen können; sicher öffneten sich immer wieder kurze Gassen in dem Gewimmel der Gestirne.
»Findest du durch das Meer von Sonnen hindurch, Cara?«, fragte Breckcrown unsicher.
»Ich schaffe es«, sagte sie knapp, aber nicht unfreundlich. Als sie nickte, flog ihr strähniges weißblondes Haar um ihren schmalen Schädel.
»Bis hinein ins Zentrum?«, fragte Atlan. Sie hob in einer schwer zu deutenden Geste die dünnen Arme in die Luft und gab zurück:
»Dann werden die Linearetappen kürzer. Am Schluss müssen wir in Unterlicht schleichen.«
»Wenn du es sagst ...«, zweifelte Hayes.
Atlan wusste, dass es keine andere Möglichkeit gab. Dorthin mussten sie. Er versenkte seinen Blick in die Masse der Sterne, in dieses gigantische Glutnest aus leuchtschwachen Infrarotsonnen, die in ihrer Gesamtheit wie eine Lavamasse wirkten, wie ein Schwarm seltsamer, sterbender Kugelgeschöpfe. Im infraroten Bereich der Monitore allerdings entwickelten sie eine wilde Leuchtkraft und bildeten einen flammenden galaktischen Kern.
»Ich überlasse dir die Art des Vorgehens«, sagte der Arkonide laut. »Wir wollen uns nicht tagelang anschleichen.«
Die SOL flog noch immer fast lichtschnell, und Cara Doz erwiderte in ihrer charakteristischen Wortkargheit:
»Danke. Weiter.«
Die SERT-Einrichtung an ihrem Kopf hatte sie nicht abgenommen. Die beiden Kabel, die zur Konsole führten, schwangen hin und her, als sie sich wieder an die Arbeit machte.
Die SOL glitt nahezu erschütterungsfrei in den Linearraum.
*
Sie trafen sich, nicht ganz zufällig, in einem der vielen Verpflegungscenter, und wie selbstverständlich setzten sie sich mit ihrem Essen gemeinsam an einen Tisch.
An der Stirnseite des Raumes befand sich ein fast vier Quadratmeter großer Bildschirm, den Atlan sofort aktivierte.
»Ich will nichts versäumen«, sagte er leise. »So behalte ich den Überblick.«
Der Schirm zeigte einen großen Ausschnitt der Hauptzentrale, die Vorausschirme, die Emotionautin und die Spezialschirme der Ortung. Iray-Barleona rückte ihren Stuhl eine Handbreit zur Seite. Atlan setzte sich und drehte das vollbeladene Tablett um hundertachtzig Grad.
»Und dort, im Zentrum«, sagte er, als begänne er mit einem Märchen, »hockt Anti-Homunk in seinem Leuchtenden Auge, was immer es ist, und wartet auf uns.«
»In einem kosmischen Schloss, erbaut von den Vei-Munatern«, nahm Iray seinen Hinweis auf. Auch sie meinte es nur halb scherzhaft.
»Es würde niemanden verblüffen«, mischte sich Sanny ein und betrachtete wieder einmal neidvoll die »riesigen« Portionen auf den Tellern und Schalen der Freunde, »wenn Leuchtendes Auge und Zentrum identisch wären.«
»Mich am allerwenigsten«, sagte Tyari knapp.
Von den Vei-Munatern, den Erbauern des Kriegsstrahlungs-Projektors und anderer Merkwürdigkeiten, stammte auch das Leuchtende Auge, das galt bei den Teilnehmern jener Auseinandersetzungen als sicher. Ob es tatsächlich der Sitz des Erzfeindes war, blieb fraglich – wenn sich auch Atlan eine große Wahrscheinlichkeit ausrechnete.
Bjo Breiskoll musterte das Bierglas des Arkoniden und schüttelte den Kopf.
»Hilft dieses bittere Bier beim Nachdenken, Atlan?«
»Und wie«, erwiderte der Aktivatorträger. »Hilft es dir nicht dabei, endlich herauszufinden, wo wir unseren potentiellen Henker finden können.«
Breiskoll wickelte längliche Nudeln um seine Gabel und warf, ehe er antwortete, einen kurzen Blick auf die holografische Wiedergabe.
»Nein. Ich trinke dieses Zeug nicht. Ich kann schon den Geruch nicht leiden.«
Sie gaben sich alle entspannt und maßvoll heiter. Sie sagten sich, dass Sorgen und schreckliche Überraschungen von selbst eintrafen. Sie würden reagieren, wenn es soweit war, und dann mit voller Kraft. Bis zu diesem Zeitpunkt erfreuten sie sich am augenblicklich problemfreien Leben in der SOL.
Insider, der mit vier Händen aß, war natürlich zuerst fertig. Er hielt den Weinbecher und die Espressotasse gleichzeitig in die Höhe und meinte versöhnlich:
»Merkwürdig. Mir schmeckt alles.«
Sie erkannten, dass die SOL wieder eine Ortungsphase durchführte. Das Hantelschiff raste, die obere Kugelschale der SZ-1 voraus, auf eine Barriere von Sonnen zu, die sich unendlich langsam vor dem Schiff zu teilen und auseinanderzuziehen schien. Hage Nockemann kam herein, und schlagartig war er der Mittelpunkt des Interesses.
Er ging vom Eingang zur Essensausgabe, und schon pfiff Vorlan Brick bewundernd hinter ihm her.
»Ein echter Dressmann!«, kicherte er. »Hage! Hat dir Wuschel deine schönen Kleider aufgefressen?«
Tatsächlich trug Nockemann glänzende neue Bordstiefel, eine helle Hose und darüber einen weichen Pullover aus schimmerndem Material. Auf dem Knie der Hose breitete sich ein dunkler Fleck aus, der Unterarm des Pullovers war von drei Brandlöchern gezeichnet.
»Und Blödel hat ihm eine kosmetische Behandlung verpasst!«, rief Breiskoll lachend.
»Man sieht's!«, kommentierte Tyari, und auch sie lachte. Das lange grauschimmernde Haar Nockemanns war perfekt geschnitten und lag in aparten Wellen an seinem Kopf. Der Schnauzbart war gestutzt und verlieh ihm plötzlich ein würdevolles Aussehen. Die Haut seines Gesichts schien tatsächlich einer Regenerationsbehandlung unterzogen worden zu sein, denn sie war sonnengebräunt, durchblutet, ungewöhnlich gut rasiert und straff. Seine Falten wirkten plötzlich interessant und gaben ihm den Eindruck eines erfahrenen Mannes, dessen Leben aus tiefen Einsichten und atemberaubenden Erlebnissen bestand. Und die Lachfältchen um seine Augen, die von den Angehörigen des Atlan-Teams offensichtlich erst jetzt zur Kenntnis genommen wurden, ließen erkennen, wie viel treffsicheren Humor er haben musste. Er stellte sein Essen auf einen freien Platz des Tisches. Der Weinbecher schwankte; der untere Teil des Pullovers und das andere Hosenbein wurden von Spritzern und Tropfen getroffen.
»Ich habe tief über Xiinx-Markant nachgedacht«, sagte er trocken und wickelte das Besteck aus der Serviette. Klirrend fiel die Gabel auf den Boden. Seine Rede wurde undeutlich, als er sich bückte, um sie aufzuheben. »Da bin ich durch die Korridore gelaufen, ganz in Gedanken. Irgendwo haben sie mich erwischt und in einen Raum gezogen, in dem es nach ...« Er ratterte gut ein halbes Dutzend chemischer Formeln herunter und meinte damit Grundsubstanzen von Salben, Gesichtswassern und Seife, »... roch. Ehe ich zu mir kam, war schon alles geschehen.«
Lautes Gelächter unterbrach ihn. Er blickte völlig verstört von einem Gesicht zum anderen. Schließlich keuchte Uster:
»Er war im Studio von Brooklyn!«
Unter der Leitung von Solania von Terra war irgendwo im Mittelteil der SOL ein Gesundheitsraum neu eingerichtet worden. Dort arbeiteten Roboter, speziell entwickelte Geräte und Solaner; sie führten sogar kosmetische Operationen durch und handhabten ein riesiges Instrumentarium. Während er aß, berichtete Hage weiter, immer wieder von Lachsalven unterbrochen:
»Blödel suchte mich. Er kam, zog an einem Arm, und sie zogen am anderen. Dabei haben sie meine Kleidung zerfetzt.«
Erneutes Gelächter war die Folge. Iray wischte sich Lachtränen aus den Augenwinkeln. Auf dem Monitor war zu sehen, dass die SOL die nächste Linearetappe begann.
»Und jetzt erkennt dich dein Robot nicht mehr!«, schrie Insider. »Klatsch-hurra! Tröste dich – in zwei Wochen siehst du wieder so schön aus wie zuvor.«
Vom Fleisch tropfte Soße auf den Ärmel des Pullovers. Insiders Vorhersage würde zweifellos eintreffen.
Plötzlich schlossen sich Bjos schräge Augen.
Wieder einmal schien sein sensationelles Gespür für Vorgänge weit voraus im Kosmos zu funktionieren. Die Pupillen, wie die einer Katze geschlitzt, blinzelten aufgeregt. Unbewusst kratzten seine Finger an einem rötlichbraunen Haarbüschel am Unterarm.
»Ich glaube ... ich spüre etwas«, sagte er leise.
Sofort war es still am Tisch. Nur Hages Löffel klirrte und erzeugte ein schmerzend lautes Geräusch.
»Was siehst du?«, fragte Atlan angespannt.
»Inmitten einer großen, leeren Zone, umwabert vom Infrarotlicht der Gestirne, spüre ich eine Zelle des Bösen. Es kann identisch sein mit dem, was Atlan das Leuchtende Auge nennt. Dort liegt, was wir suchen ... der leere Raum ist schätzungsweise ein halbes Lichtjahr groß ...«
Keuchend stieß er die Luft wieder aus und lehnte sich zurück.
»Also doch!«, rief Atlan fast euphorisch. Sanny, die von Atlan sehr viel über die Stationen ihres früheren Lebens erfahren hatte, schüttelte ihren runden Kopf.
»Du scheinst dich auf den bevorstehenden Kampf zu freuen, Arkonide?«, sagte sie in mildem Tadel. Atlan erwiderte scharf: