Nr. 668
Chaos um die Futurboje
Entdeckung auf einem kleinen Planeten
von Hans Kneifel
Es geschah im April 3808. Die entscheidende Auseinandersetzung zwischen Atlan und seinen Helfern auf der einen und Anti-ES mit seinen Streitkräften auf der anderen Seite ging überraschend aus. Die von den Kosmokraten veranlasste Verbannung von Anti-ES wurde gegenstandslos, denn aus Wöbbeking und Anti-ES entstand ein neues Superwesen, das hinfort auf der Seite des Positiven agiert.
Die neue Sachlage ist äußerst tröstlich, zumal die Chance besteht, dass auch in der künstlichen Doppelgalaxis Bars-2-Bars nun endgültig der Friede einkehrt. Für Atlan jedoch ist die Situation alles andere als rosig. Der Besitz der Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst, ohne die er nicht den Auftrag der Kosmokraten erfüllen kann, wird ihm nun durch Chybrain vorenthalten. Ob er es will oder nicht, der Arkonide wird verpflichtet, die Namenlose Zone aufzusuchen.
Inzwischen schreibt man den August 3808. Trotz der Vernichtung des Junk-Nabels, des letzten Übergangs zwischen Normaluniversum und Namenloser Zone, gibt es eine überraschende Möglichkeit, dennoch in dieses Raumgebiet zu gelangen.
Diese Möglichkeit wird durch Atlan genutzt. Zusammen mit drei Vulnurern macht er einen erneuten Vorstoß. Dabei erwartet ihn das CHAOS UM DIE FUTURBOJE ...
Atlan – Der Arkonide wird konsultiert.
Than, Oyz und Droos – Die Atiq-Drillinge des Vulnurerschiffs MORGEN.
Tyari – Sie ist Gegenstand einer weiteren Todesvision.
Baugh – Oberpriester der Vullkauger.
Fronsel – Baughs Gegenspieler – ein Häretiker.
Endlich hatten sich die Gerüchte und Legenden bewahrheitet.
Atiq-Than stand vor dem Futur.
Er schwieg, skeptisch wartend. Nur die zitternden Fühler verrieten seine Erregung. Seine großen Facettenaugen, in denen sich die wenigen Lichter hundertfach spiegelten, betrachteten die steinerne Skulptur. Das Objekt war in vielerlei Hinsicht ein Geheimnis oder besser: ein geheimnisvoller Fund.
In der MORGEN existierten Räume, die nur sehr selten betreten wurden. Es gab eigentlich keinen Grund, diesen abgelegenen Bereich des Schiffes aufzusuchen; die Technik arbeitete zuverlässig und brauchte Inspektionen nur in großen Zeitabständen. Einem vagen Impuls folgend, hatte sich Atiq-Than vor wenigen Stunden auf die Suche nach nichts Bestimmtem gemacht – und dabei das Futur gefunden.
Das Futur war uralt.
Niemand wusste, woher es stammte, und wer – aus welchen Gründen und zu welchem Zweck – das Idol aus graugolden gemasertem, hellbraunem Stein gemeißelt hatte. Das Futur war massig und gedrungen, etwa einen Meter hoch, also halb so groß wie der vulnurische Wissenschaftler. Voller Nachdenklichkeit betrachtete Atiq-Than seinen Zufallsfund. Er erinnerte sich an all die seltsamen und abergläubischen Erzählungen, die er über das Futur gehört hatte. Nicht nur er; auch unzählige andere Vulnurer, die erst winzige Teile ihres Geschichtsbewusstseins entdeckt hatten. Dabei war ihnen von den Solanern im Riesenschiff geholfen worden.
Das Futur ... es existierten in den Schiffen eine Handvoll Vulnurer, die, ohne es zu kennen, es als Heiligtum verehrten.
Natürlich würde er seinen Fund in kurzer Zeit allen bekanntgeben und zugänglich machen. Aber noch nicht jetzt. Er wollte eine Weile mit dem Futur allein sein und versuchen, einen Zipfel des Schleiers aus der Vergangenheit zu heben, der die Steinskulptur umgab.
Das Futur trug Merkmale, die auch den Vulnurern eigen waren; Facettenaugen und herausmodellierte Ansätze für Fühler. Auch die Gliedmaßen, die an den Körper angelegt waren, sahen entfernt wie die Gehwerkzeuge der Vulnurer aus. Schmale Gurte mit ringförmigen Schlaufen kreuzten sich über den polierten Teilen, die an abspreizbare Flügel erinnerten und an die gewölbten Chitinpanzer. Der Ausdruck des starren Gesichts war verschlossen und zurückhaltend, von einer tiefen Weisheit erfüllt. Die Plastik aus schwerem Stein stand auf einer metallenen Speicherbank, die sich quer über die Rückwand des vergessenen Raumes spannte. Das Licht von einem Dutzend Tiefstrahler und einigen gerichteten Lampen, die Atiq-Than instand gesetzt hatte, verlieh der mythologischen Gestalt ein starres, selbstbewusstes Aussehen.
Im Augenblick befand sich kein Solaner auf der MORGEN. Sonst würde ihn Atiq-Than um einen Rat gebeten haben. Was war zu tun?
»Nun«, sagte Atiq zu sich selbst, »zuerst werde ich meine Brüder benachrichtigen. Aber auch sie wissen nicht mehr als ich.«
Atiq-Oyz und Atiq-Droos beschäftigten sich ebenso mit der Forschung, die ihnen allen etwas mehr über die Vergangenheit sagen sollte. Ohne die vergangene Zeit zu kennen, war Planung für die Zukunft nicht möglich.
Während Than zur Gegensprechanlage ging, warf er noch einen Blick auf die Statue. Jetzt sah er sie nicht mehr direkt von vorn, sondern von der Seite, also im Profil. Abermals fiel ihm der Ausdruck des Fundstücks auf. Das Futur wirkte, als ob es sich mit hart angespannten Muskeln und Sehnenknoten von seinem Standplatz schnellen wollte. Die Lichteffekte machten, dass der Stein sich tatsächlich zu bewegen schien.
Atiq-Than drückte mit einer Schere der obersten rechten Endglied-Zange auf den konkav geformten Kontaktknopf.
Augenblicklich knackte der Lautsprecher. Die Linsen zeigten den Blick in den Arbeitsraum der zwei anderen Brüder.
»Oyz! Droos!«, rief er aufgeregt. »Kommt sofort her. Ich habe einen aufsehenerregenden Fund gemacht.«
»Geburt der Lichtquelle!«, schnarrte Atiq-Droos zurück. Er war der am wenigsten Bedächtige der Drillinge; ein draufgängerischer Vulnurer, dessen Aktionen oftmals seine eigenen Gedanken überholten. »Du störst.«
»Zuhören!«, schrie Than. »Oyz! Nimm unseren Bruder und schleppe ihn hierher. Seht auf den Bildschirm.«
Er machte mit seinen langen Beinen zwei Schritte zur Seite. Er, der Angehörige der dritten Kaste, würde allen fünfundsechzigtausend Insassen der Schiffe ein Begriff sein, ebenso wie das Futur für jeden ein Begriff war.
Droos und Oyz standen auf, kamen näher und starrten auf den Schirm. Das abgerundete Rechteck spiegelte sich hundertfach in den Facetten ihrer großen Augen. Sie sahen, zunächst schweigend, dann aufgeregt zirpend, dass ihr Bruder nicht eine seiner üblichen Phantastereien von sich gab.
»Tatsächlich!«, rief Atiq-Droos. »Das uralte Ding, von dem niemand etwas weiß.«
»Wo bist du? In welchem Raum? Wie kommen wir dorthin?«, wollte Oyz wissen. Seine Redeweise war ebenso bedächtig wie die Art seiner Handlungen. Er war nicht sonderlich fleißig; die beharrliche Ruhe seiner Gedanken, so führte er stets aus, förderte überraschende Erkenntnisse zutage, die in jeder Art von Hektik verkümmerten.
Sein Bruder beschrieb den Weg mit äußerster Genauigkeit.
Atiq-Than und seine beiden Brüder waren an Bord aller drei Schiffe in jeder Hinsicht eine Seltenheit. Fast noch niemals in der bekannten Geschichte der »Bekehrer« hatte es drei Eier, drei Larven oder Puppen von einem Elternpaar gegeben. Schon in der kurzen Zeit nach dem Aufbrechen der weißledernen Puppenhüllen hatte sich bewiesen, dass ein Elternpaar Nachkommen von so unterschiedlichem Charakter hervorbringen konnte – bei aller Klugheit, die schon bald hervorgetreten war.
»Wir kommen.«
»Ihr braucht euch nicht zu beeilen. Das Futur hat lange auf seine Entdeckung gewartet. Jetzt kommt es auf die eine oder andere Stunde nicht mehr an.«
»Gleich sind wir bei dir.«
Atiq-Than bewegte seinen Kopf in der Geste der Zustimmung. Trotz aller Begeisterung blieb er zurückhaltend und skeptisch. Die Sehnsucht nach der Lichtquelle durfte seine wissenschaftliche Arbeit nicht überlagern. Aus dem zufälligen Fund durfte gerade er, der Vulnurer mit den kühlen, abwartenden Gedanken, keine voreiligen Schlüsse ziehen, obwohl die Solaner ihm erklärt hatten, was sich wirklich hinter dem Begriff verbarg.
Er wandte sich wieder dem Futur zu, blieb eine Körperlänge davor stehen und betrachtete die Figur.
Die Umrisse begannen wieder zu verschwimmen. Atiq-Than war stark irritiert. Er konzentrierte sich auf seinen Fund und erkannte in einer Reihe eigentümlich lähmender Schritte der Einsicht, dass sich die Figur in Wirklichkeit bewegte. Sie wich nicht von der Stelle, aber jedes Teil des Käferkörpers, das nicht einer harten Chitinschicht entsprach, dehnte sich aus und zog sich zusammen. Die Augen drehten sich und richteten den Blick deutlich auf Than.
»Das ... das ist unmöglich! Schwerer, massiver Stein!«, summte er fast im Ultraschallbereich. Seine Erregung verdrängte augenblicklich sein Staunen und seine Zurückhaltung.
Aber ... die Annahme, dass das Futur aus geädertem Stein bestünde, stammte von ihm.
Gleichzeitig mit dem charakteristischen Geräusch, mit dem das Schott aufglitt, dessen Riegel und mechanische Teile sich so lange nicht mehr bewegt hatten, ertönten scheinbar aus der Luft vor ihm knarrende Laute.
»Worte! Das Futur, es spricht!«, zirpte Atiq-Than auf.
Hinter ihm bewegten sich die Brüder in den Raum hinein. Erschrocken breitete er beide Armpaare weit aus und hielt sie auf. Sie blieben links und rechts eben ihm stehen und starrten mit weit vorgestreckten Fühlern auf das in seiner Fremdartigkeit drohende Bild.
»Von der seltsamen Sprache«, erklärte Atiq-Oyz schleppend, »hast du uns nichts gesagt.«
»Das Futur hat eben erst damit angefangen.«
»Und es bewegt Teile seines seltsamen Körpers. Es wirkt auf mich wie ein mutierter Vulnurer«, sagte Droos hastig.
»Still. Hört zu!«
Atiq-Droos schaltete ein Aufnahmegerät ein, das er aus dem federnden Schlingenband zog, einem Teil seiner körperfremden Ausrüstung als Altertumsforscher. Mit zitternden Klauenenden schaltete er den Recorder ein und richtete das Mikrophon auf die Figur.
Während sich die Tracheenschlitze dehnten und zusammenzogen, während sich die Muskeln des gedrungenen Körpers sprungbereit bewegten und sich das geheimnisvolle Ding dennoch nicht von der Stelle rührte, stieß der offene Mandibelmund des Futurs langsam einzelne Worte aus.
Die Drillinge verstanden nichts, aber sie erahnten einiges. Eine spätere Analyse würde ihnen sagen können, ob sie etwas aus dem Text verwenden konnten, zum Wohl ihres kleinen Volkes.
»Die Alte Sprache!«, meinte Atiq-Droos.
»Die niemand mehr sprechen oder verstehen kann«, zischelte Atiq-Than.
Unzweifelhaft handelte es sich um ein Idiom der Vulnurer. Nur ein Wesen ihrer Art konnte solche Laute erzeugen. Die Worte und Sätze waren, obwohl scharf betont und in einem dunklen, hallenden Knurren ausgestoßen, unverständlich.
Es konnten Informationen sein; Schilderungen aus der fernen Vergangenheit dieses seltsamen Wesens. Aber ebenso war es vorstellbar, dass es sich um Drohungen, Befehle oder Anweisungen handelte.
Halb gelähmt vor Erstaunen und Erregung, in die sich mehr und mehr Furcht mischte, sahen und hörten die Drillinge zu.
Nach einer kurzen Zeit, in der es unverändert sprach und die Vulnurer mit einem dosierten Schwall bedeutungsvoller Laute überschüttete, änderte das Futur noch einmal sein Verhalten. Die scheinbar festen Formen des bearbeiteten Steins zerflossen ganz langsam. Das Futur, das so schwer und massiv wirkte, pendelte langsam hin und her, vorwärts und zurück. Die Augen sahen alles und jeden innerhalb dieses kleinen Raumes gleichzeitig und unverwandt an.
Dann schwieg das Futur nach einem letzten zischenden Pfeifen.
»Jetzt haben wir ein großes Problem«, meinte Atiq-Oyz schließlich. »Oder mehrere gleichzeitig. Sicherlich war die Botschaft von äußerster Wichtigkeit.«
»Wir müssen es untersuchen!«, schlug Than vor. Aber er wusste instinktiv, dass dieses Vorhaben alles andere als einfach sein würde. Ruhig machte er zwei Schritte nach vorn und streckte behutsam, als wolle er das Futur nicht erschrecken, alle vier Arme vor und krümmte die vibrierenden Endglieder dem wieder erstarrten Fundstück entgegen.
»Was hast du vor?«
»Wartet!«
Noch ein Doppelschritt. Die Brüder blieben zurück und beobachteten den Versuch aus sicherer Entfernung. Als sich die weit geöffneten Mehrfachscheren dem Futur bis auf drei Scherenlängen genähert hatten, reagierte der lebende Block aus Gestein.
Das hatte der Vulnurer nicht erwartet.
Aus dem Körper züngelte ihm knisternde Energie entgegen. Fahle Blitze fuhren aus der Haut des Futurs und lähmten augenblicklich die Gelenke seiner Extremitäten. Er schrie mehr vor Schreck als vor Schmerz auf und rettete sich mit einem Sprung zurück. Seine Brüder fingen den Stolpernden auf. Eine Aura aus lähmender stechender Energie umgab das Futur, bildete kurze Zeit lang einen grünen Schimmer und erlosch, nachdem noch ein Schauer von dünnen Blitzen in alle Richtungen gefahren war. Auf der Oberfläche des Metallpults breiteten sich kleine Blasen schmorender Versiegelung aus, und der dicke Staub stank nach verbranntem Abfall.
»Nun können wir absolut davon überzeugt sein«, sagte Atiq-Droos, nachdem er sich bis zur Rufanlage zurückgezogen hatte, »dass wir einem der größten Geheimnisse unserer Vergangenheit auf die Spur gekommen sind. Dank der Neugierde unseres gemeinsamen Bruders Than.«
»Du sagst es«, führte Atiq-Than aus und massierte seine Gelenke. Nur langsam wich die Betäubung. Tief saßen Schreck und starke Ehrfurcht vor dem Futur in ihm. »Zumindest haben wir Altertumsforscher das Futur gefunden.«
»Und nicht etwa Angehörige der Pilotenkaste. Was tun?«
»Das Schott schließen und die Nachricht in den Schiffen bekanntgeben. Wir kommen, fürchte ich, mit den Forschungen nicht weiter. Wer soll uns erklären, was das Futur sagte?«
Sie zogen sich zurück, ließen aber Linsen und Mikrophone des Kommunikationsgeräts in der Rückwand auf das Futur gerichtet. Dann schloss sich die schwere Platte.
Binnen kurzer Zeit war die erstaunliche Nachricht verbreitet. Eine unübersehbare Welle der Erregung erfasste sämtliche Vulnurer. Aber sie wussten nicht, wie sie den Text entschlüsseln sollten.
Schließlich, fast widerstrebend, sagte Atiq-Oyz mit einem Lachen der Verzweiflung:
»Wir kennen die Möglichkeiten und die Qualität unserer Forschungen. Wir betreiben sie schon lange und in aller Ernsthaftigkeit. Viel konkretes Wissen über unsere Herkunft haben wir nicht erhalten. Das, was wir genau wissen, fanden wir mit der Hilfe der Solaner heraus.«
»Du hast Recht«, entgegnete Than. »Leider. Ich schlage vor ...«
»... dass wir Atlan und die Solaner wieder um Hilfe bitten?«, meinte Atiq-Droos. Natürlich wusste er seit geraumer Zeit, dass es innerhalb der Besatzung eine zahlenmäßig nicht relevante Gruppe Vulnurer gab, die, ohne es zu kennen oder mehr als eine vage Ahnung zu haben, das Futur aus wörtlich weitergegebener Tradition als »Heiligtum« verehrten. Auch ihnen musste Gewissheit zuteil werden.
»Ja. Nichts anderes verspricht Erfolg.«
Atiq-Than vollführte die rituelle Geste der Ergebenheit in das Schicksal.
»Ich werde also mit den Piloten und Technikern der HEUTE sprechen. Sie sollen Atlan um Hilfe bitten.«
»Die einzige richtige Lösung.«
Ohne dass sie darüber sprachen, wussten sie, dass nur ein Wesen anderen Wesen helfen konnte, das seine eigene Vergangenheit kannte. Geschichte war unter anderem vergleichende Wissenschaft. Um vergleichen zu können, musste man einen Maßstab besitzen. Diese Erfahrungen hatten die Vulnurer nicht. Jede Hilfe war wichtig, und ganz besonders jetzt. Atiq-Than wiederholte:
»Die Solaner wissen viel. Sie haben uns schon oft geholfen. Sie werden uns auch jetzt nicht im Stich lassen.
Ich werde Atlan bitten, der vierte Altertumsforscher zu sein – mit uns zusammen. Es geht um einen Fund von nicht abschätzbarer Wichtigkeit. Und es eilt.«
Nur wenige Zeit verstrich. Dann sprachen die Piloten der MORGEN mit dem Arkoniden. Er versicherte, sofort mit einigen Spezialisten zu kommen.
Mit peitschenden Fühlern, halb ausgeklappten Flügeln und schnellen Bewegungen der vielgelenkigen Beine bewege sich Baugh, der schwarzgepunktete Oberpriester, die schräge Rampe hinauf.