Nr. 827
Jododoom, der Prophet
Begegnung mit einem Fremden und seinem Schatten
von Hans Kneifel
Nach der großen Wende in Manam-Turu haben sich Atlan und seine engsten Gefährten anderen Zielen zuwenden können, die sie in die Galaxis Alkordoom führen, in der der Arkonide bekanntlich schon zugange war. Fartuloon, Lehrmeister des Kristallprinzen Atlan, gelangt zusammen mit Geselle, seinem neuen »Robotsohn«, ebenfalls nach Alkordoom. Der Calurier wird dabei nicht nur räumlich versetzt, sondern auch körperlich verändert, indem er in Alkordoom, wo er schon als Colemayn, der Sternentramp, gewirkt hatte, wieder Colemayn-Gestalt annimmt und sich zuerst an der gleichermaßen fruchtlosen wie gefährlichen Suche nach der Welt des ewigen Lebens beteiligt.
Atlan und Colemayn/Fartuloon operieren zwangsläufig getrennt, sind jedoch beide bestrebt, wieder zueinander zu finden. Doch das haben die beiden selbst im Januar des Jahres 3821 terranischer Zeitrechnung noch nicht bewerkstelligen können.
Während Atlan mit den Seinen seine Abenteuer in der Vergangenheit sucht und findet, ist der Sternentramp mit der HORNISSE, zu deren Crew seit neuestem auch der geklonte Hage Nockemann gehört, am Rand des Nukleus im Einsatz.
Dort kommt es auch zu der Begegnung mit einem Fremden und seinem Schatten. Der Fremde ist JODODOOM, DER PROPHET ...
Colemayn – Der Sternentramp fliegt zur Sonne AK-4166.
Geselle – Colemayns »Sohn« besteht Luftkämpfe.
Jododoom und Jodokat – Ein Fremder und sein Schatten.
Gindi, Alikoo und Kermanhahi – Eingeborene des Planeten Como.
Gindi, der Wegspürer, zuckte zusammen und wachte mit pfeifenden Atemzügen auf.
Er gähnte, drehte den kantigen Schädel hin und her und blinzelte in den ersten Strahlen Aqafiers. Gindi witterte Gefahr; unruhig bewegte er die Zehen in den ledernen Stiefeln mit den breiten Flechtnähten und dem Muschelschmuck.
Mit einem Satz war der hochgewachsene Comer auf den Beinen. Warmes, rötliches Licht füllte den frühen Morgen aus. Gindi schüttelte sich und nahm den breiten Ledergurt mit den Waffen vom Astknorpel. Es war wichtig für den Stamm, dass die Zeit zwischen Sonnenaufgang und dem Einbruch der Nacht gut genutzt wurde.
Jede Bewegung des Wegspürers ließ Kraft, Schnelligkeit und Furchtlosigkeit erkennen. Der Stamm Entschlossene Jäger und Felshaus-Fürsten kannte keinen besseren Jäger für diese Aufgabe. Gindi wusste es und war stolz darauf. Er hielt den Atem an und lauschte regungslos und mit gespannten Muskeln.
Vogelstimmen in den Büschen und Baumkronen signalisierten, dass kein Zingg in der Nähe lauerte.
Aus der Ferne kamen die krachenden Geräusche, die von Felsentrümmern erzeugt wurden. Sie rasselten die Hänge hinunter und zerschmetterten dünne Baumstämme. Gindi wickelte das Liegefell und die Decke zu einem engen Bündel zusammen und warf es über die Schultern, ehe er mit schnellen, weiten Sätzen den kaum sichtbaren Pfad hinuntersprang. Er erreichte den schmalen Wasserlauf, kauerte sich nieder und trank aus den hohlen Händen. Die Krallen seiner Finger hatten sich weit zurückgezogen; sie schoben sich erst wieder heraus, nachdem er sich ohne Eile gewaschen hatte und seine Mähne sorgfältig kämmte.
Er griff in den Lederbeutel, holte Braten, hartes Fladenbrot und trockene Früchte hervor, und während er aß, sicherte er nach allen Seiten und suchte mit den großen, grünlichgelben Raubtieraugen die Ufer nach verräterischen Spuren und Zeichen ab.
Seine Aufgabe war wichtig.
Auch an diesem Tag musste er versuchen, den besten, schnellsten und sichersten Pfad zum Gebirge zu finden. Später würden Stammesangehörige, Gefangene, Sklaven und Alte den Pfad ausbauen, verbreitern, befestigen und, wo nötig, Brücken errichten. Jeder überflüssige Schritt kostete Zeit und Arbeitsleistung, die beim Bau von Felsenhäusern oder dem Anbau von Erdfrüchten fehlte. Die Sonne stieg; es wurde wärmer, und riesige Mengen Insekten kamen aus dem Gebüsch hervor und fingen an, über dem sprudelnden Wasser des Baches große Schwärme zu bilden. Prüfend zog Gindi die lange, biegsame Klinge aus dem Lederfutteral, kratzte mit der Kralle entlang der Schneide und nickte sich selbst zu.
Der Comer stieß ein fauchendes Murmeln aus und fing seinen Weg genau an dem Punkt an, an dem er ihn unterbrochen hatte, gestern, als es zu dunkel geworden war.
Es gab mehr Möglichkeiten, einen Pfad zu finden oder einen falschen Weg einzuschlagen, als der Comer Finger an beiden Händen hatte. Bis jetzt, neun Tagesmärsche vom Felsenhaus entfernt, konnte er zufrieden sein.
Gindi entfernte sich vom Bachlauf, umrundete einige Felsen und betrat den breiten Hohlweg. Hier zog sich ein Tierpfad hindurch, ein breit ausgetretener Wildwechsel, meist ein sicherer Beweis dafür, dass ein kurzer Weg ohne viele Widerstände sich ab und zu ergab.
Der Comer lief mit sprungartigen Schritten am Rand des schlammigen Pfades entlang. Der Pfad wandte sich in halber Höhe eines runden, von Wald bestandenen Hügels über den Hang. Es wäre leicht, ihn zu verbreitern und die Bäume, die man umschlug, zur Befestigung zu verwenden oder als Baumaterial. Ab und zu kappte Gindi einen dicken Zweig, schnitzte seine Zeichen hinein und befestigte ihn so, dass er selbst einem Comer mit schlechten Augen auffallen musste.
Das Ziel war eine Hochfläche, auf der es Wasser gab, viel Stein zum Bauen, genügend guten Boden und in allen Richtungen reiche Jagdgebiete. Dorthin wollte der Stamm umsiedeln, wenn die Menge seiner Mitglieder zu groß geworden war – und die Straßen würden dem ungehinderten Handel helfen.
Der Wegspürer nahm seine Aufgabe ernst; er dachte bei jedem Schritt nur an das Ziel und daran, dass er seine Macht vergrößerte, wenn er erfolgreich blieb und lebend zurückkam.
Als es dunkelte, war Gindi zufrieden. Mit diesem Abschnitt des Weges würde auch seine Ehre wachsen.
*
Der Ort, den sechshundert Comer bevölkerten, nannte sich Unzählbare Quellen.
Die Häuser bestanden aus Fundamenten, die aus kantigen, sauber bearbeiteten Blöcken zusammengesetzt waren. Hölzerne Balken, dicke Dächer aus Stroh, schwere Vorhänge aus gefärbten Pflanzenfasern und viele rauchende Schlote belebten das Halbrund. Über die warmen Quellen, die sich in unzählige terrassenartige Becken ergossen und leicht nach Mineralien aus dem Weltinnern rochen, spannten sich viele Stege und Treppen.
Als die Sonne am höchsten stand und sich viele Comer in den Schatten zurückzogen, ertönte über der trockenen Steppe eine Reihe von Geräuschen, an deren Klang sich niemand erinnern konnte.
Damals, vor mehreren Generationen, gab es schon einmal derlei Krachen, Heulen und Zischen ...
Blitze schienen am hellen Tag einzuschlagen. Eine Sandwolke brodelte in die Höhe. Ein plötzlicher Windstoß – nicht eine einzige Wolke stand am dunkelblauen Himmel, aus dem die Sommer-Aqafier brannte. Als der Wind die Sandschleier zur Seite trieb, schälten sich die Umrisse eines metallischen Giganten daraus hervor.
Der Riese sah entfernt wie ein Comer aus; zwei mächtige Beine, zwei Arme mit Fingern, ein stämmiger Rumpf und ein Kopf. Mit gemessenen Schritten, aber keineswegs langsam, kam die Gestalt auf den Mittelpunkt von Unzählbare Quellen zu.
Die Kinder flüchteten kreischend zu ihren Müttern. Die Alten versuchten sich zu erinnern, und die Krieger packten ihre Waffen.
Die Gestalt kam näher, und hinter ihrem Rücken schien etwas, das nicht größer war als ein Unterarm, in der staubigen Luft zu schweben.
»Ihr Comer braucht keine Angst zu haben!«, rief die Gestalt so laut, dass einige Schwärme jener kleinen Vögel aufflatterten, die in den Abfällen der Siedlung herumpickten und sich im warmen Wasser die Federn putzten, weil dadurch die Milben aus dem Gefieder flüchteten.
»Habt keine Angst! Lasst eure Waffen stecken – ich will nichts anderes, als mit euch in Freundschaft sprechen.«
Jemand kreischte mit der Stimme eines jungen Raubtiers:
»Wer bist du?«
Zwei Pfeile heulten durch die Luft und fuhren mit trockenem Zischen in den Sand vor den Fußspitzen des Wesens, das zwei Köpfe größer war als der längste Comer. Sie zerbrachen, als der Koloss weiterstapfte.
»Ich bin der Prophet. So nennt man mich, und es ist überaus zutreffend.«
Die Gestalt sah einerseits aus, als sei sie aus einer Art Metall hergestellt, aus einer ähnlichen Art, aus der die Messer, Pfeilspitzen und Äxte gemacht wurden. Andererseits bewegte sie sich fast ebenso geschickt wie einer der rotfelligen Comer. Die Jäger und Sammler sahen jetzt deutlich, dass hinter dem Riesen ein Ding in der Luft schwebte, das zwei miteinander und ineinander verschmolzenen Kugeln ähnelte. Es war von der Farbe des Savannensandes.
»Was willst du, Prophet?«
Einige Comer hatten sich aus dem Schatten bis an den Rand der Brüstungen herangewagt. Ihre Krallen rissen tiefe Rillen in das Holz.
»Jododoom will mit euch reden. Wir suchen ein Heiligtum.«
Der Wind hatte sich gelegt, Staub und Sand hatten sich gesenkt. Die Krieger und Jäger sahen deutlich, dass eine gerade Linie – so gerade wie ein fliegender Pfeil – vom Zentrum der Savanne bis an den Rand des untersten Beckens führte. Unverändert schwebte der schweigende Begleiter hinter der Schulter des »Propheten«.
Beide Erscheinungen waren absolut fremd.
Sie mussten ein Teil der Legenden und Sagen sein, die von den zahnlosen Alten an den Lagerfeuern oder den glühenden Holzkohlen der Kochstellen erzählt, wiedererzählt und immer mehr verändert wurden. Aber die Fremden bedeuteten augenscheinlich keine Gefahr: sie hielten im Zentrum des halbwegs kreisförmig angeordneten Dorfes an und schwiegen, bis ein Jäger all seinen Mut zusammennahm und, den gespannten Bogen in den Händen, zu ihnen hinunterrief:
»Ihr wollt reden?«
»Wir sind euch freundlich gesinnt!«
»Worüber wollt ihr reden, Fremde?«
»Über das Heiligtum.«
»Wir haben viele Totems, Figuren und Götzen. Über welches?«
In atemlosem Staunen lauschten und starrten die Comer. Einige Alte blinzelten unter den wärmenden Fellen hervor, die sie um die Schultern geschlungen hatten.
»Vor achtmal soviel Jahren, wir ihr Finger an den Händen habt, kamen Fremde von den Sternen.«
Ein ungläubiges und erstauntes Brummen, Seufzen und Murmeln pflanzte sich unter den Bewohnern des Dorfes fort; nur unter jenen, die verstanden, was der Fremde sprach und wovon er sprach. Tatsächlich! In den alten Sagen war von einem Besuch von Fremden die Rede, die den Comern einige Fähigkeiten gezeigt hatten ...
»Das ist richtig. Die Märchenerzähler reden davon!«
Der Koloss und sein schwebender Geist benutzten die unterste Rampe und kamen näher.
»Mir ist die Geschichte eurer Welt bekannt. Ich kenne auch euch und eure Bräuche«, erklärte der große Fremdling, unter dessen Gewicht sich die Bohlen und Bretter des Steges bogen.
»Woher?«
»Das tut jetzt nichts zur Sache. Die Fremden, die euch besuchten, sahen so ähnlich aus wir ihr und ich, aber ohne Fell und mit weicher, heller Haut. Sie nannten sich Celester. Sie haben ein Heiligtum zurückgelassen.«
»Man sprach davon.«
Dieses Heiligtum schien, das merkten die Comer, außerordentlich wichtig zu sein. Keiner ahnte, worum es sich wirklich handelte.
»Dieses Heiligtum, das ihr schützen solltet, hat einen bestimmten Namen. Man spricht ihn ›Hyperfunkgerät‹ aus. Sicherlich kennt ihr Comer die Legenden oder gar den Ort, an dem sich das Heiligtum befindet. Oder von euch versteckt wurde. Mit wem müssen wir sprechen, um etwas zu erfahren?«
»Wissen wir nicht. Mit Givrom vielleicht, dem Alten, draußen im Baum?«
»Bringt uns dorthin.«
Als der Fremde, der sich Jododoom nannte, in halber Höhe der umlaufenden, steigenden und fallenden Holzgerüste stand, war er von allen Seiten aus gleich genau zu erkennen.
Durch die Augen des breitschultrigen Fremden, der zweifellos kräftiger als jeder Comer-Jäger war, aber zum grenzenlosen Erstaunen der Dörfler keineswegs eine Bedrohung ausstrahlte, mussten Unzählbare Quellen und alle seine Bewohner einen steinzeitlichen und barbarischen Eindruck machen. Für ein Doppelwesen, das von den Sternen kam, waren Jäger und Holzfäller nicht die richtigen Partner. Andererseits hatte es zwischen diesen beiden ungleichen Parteien keine Furcht und nicht die dünnste Spur von Aggression gegeben. Mit ihren Sinnen, die der Natur und allen ihren Äußerungen weitaus näher waren als jeder anderen Überlegung, schienen die Comer zu ahnen, dass der metallene Riese ihnen nicht schaden wollte.
»Aber auch Givrom hat das Heiligtum nicht!«, lautete die zögernde Antwort.
»Vielleicht weiß er, wo es versteckt ist?«
Jemand lachte zögernd.
»Vielleicht kennt er ein Märchen, eine Sage, die etwas über das Heiligtum erzählt.«
»Ich bitte noch mal: bringt mich zu ihm.«
»Ein Jäger wird euch führen.«
Aus dem unaufhörlich sprudelnden Wasser stiegen unterschiedliche Gerüche auf. Dichter Dampf schlug sich mit winzigen Kristallen am Holzwerk nieder und umgab es mit einer Schicht, die je nach Quellenart eine andere Farbe hatte. Knisternd lösten sich schalenförmige Teile und versanken im warmen Wasser, als der riesige Besucher wieder kehrtmachte und die Stufen hinunterging.
»Was schwebt da hinter dir?«, fragte der Jäger, der mit katzenartigen Bewegungen dem Fremden folgte und unter dem Schattenbaum am Fuß der Siedlung stehen blieb. Er zeigte mit dem Ende seines langen Bogens auf die bräunliche Doppelkugel.
»Jodokat«, erwiderte Jododoom.
»Dein Bruder?«
»Ich bezeichne ihn als meinen ›schwebenden Schatten‹, der alles weiß, aber nicht spricht.«
»Ihr seid ein seltsames Paar.«
»Nicht nur auf eurer Welt, auch zwischen den Sternen, in der Gegenwart und in zukünftigen Tagen – es ist vieles höchst seltsam, gefährlich und tödlich.«
»Was weißt du?«
»Vieles«, erklärte Jododoom traurig. »Aber nicht alles. Wenn ich das Heiligtum erreiche, weiß ich mehr. Ich sage euch alles, was ich weiß.«
»Gut. Komm.«
Der sehnige Jäger Sajel war einen Kopf kleiner und halb so breit, obwohl unter dem Fell seiner Schultern dicke Muskelpakete spielten. Die Comer waren von den Ereignissen überrascht; fast regungslos blickten sie dem ungleichen Paar und dem schwebenden Schatten nach.
Niemand wusste, was von diesem Zwischenfall zu halten war.
Kamen die Gestalten aus der legendenhaften Vergangenheit zurück?
Einige Minuten lang schwieg jeder. Tiefe Enttäuschung hatte sich breitgemacht, obwohl jeder an Bord mit diesem Ereignis hatte rechnen müssen.
Endlich räusperte sich Colemayn und versuchte, seiner heiseren Stimme einen tröstenden Klang zu geben. Es gelang nur unvollkommen.
»Im Leben eines Sternentramps gibt es viele Enttäuschungen. Das war die vorläufig letzte. Trösten wir uns alle damit, dass die Äußere Barriere absolut dicht ist.«
»Wenn's alle sagen, wird's wohl stimmen. Hurgha!«, stellte Shah Run Tai fest.
Die HORNISSE, längst wieder perfekt überholt und in bester technischer Verfassung – was von der Stimmung der Crew nicht behauptet werden konnte –, hatte den Durchbruch aus dem Nukleus hinaus in die Sonnensteppe überlebt, und jetzt, zwanzig Tage nach der Reparatur und dem Aufenthalt auf New Marion, war sie von der Barriere abermals zurückgeschmettert worden. Geselle drehte sich im Pilotensitz herum, sah Colemayn nachdenklich in die Augen und erkundigte sich in trockenem Ton:
»Auf welche Weise versuchen wir jetzt, unsere Langeweile zu betäuben?«
»Wir ermitteln auf statistische Weise die Koordinaten jener WELT DES EWIGEN LEBENS«, schlug der Sternentramp sarkastisch vor. »Wir warten. In diesen Tagen herrscht allerorten reger Schiffsverkehr. Früher oder später werden wir auf interessante Neuigkeiten stoßen.«
»Wir könnten nach Atlan forschen!«, schlug Sharfedt vor.
»Oder Knoten in die Zeitlinien schlagen«, meinte Twardjy Pyong. »Das käme auf das gleiche hinaus.«