Ally Condie
Cassia & Ky – Die Ankunft
Band 3
Übersetzt von Stefanie Schäfer
FISCHER E-Books
Ally Condie lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Salt Lake City, USA. Nach ihrem Studium unterrichtete sie mehrere Jahre lang Englische Literatur in New York, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Ihre Romane um ›Cassia & Ky‹ werden in mehr als 30 Sprachen übersetzt und sind große internationale Bestseller.
Weitere Titel der Autorin:
›Die Auswahl‹ (Cassia & Ky 1) – lieferbar bei Fischer Taschenbuch (Bandnummer 18835)
›Die Flucht‹ (Cassia & Ky 2) – lieferbar bei Fischer Taschenbuch (Bandnummer 19498)
›Atlantia‹ – lieferbar bei Fischer Taschenbuch (Bandnummer 19884)
Weitere Informationen, auch zu E-book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie nach einer Idee von Theresa Evangelista / Umschlagabbildung: Samantha Aide
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
›Reached‹ bei Dutton, einen Unternehmen der Penguin Group, New York.
© Allyson Braithwaite Condie 2012
Dieses Werk wurde im Auftrag von Sonnet LLC, Writers House LLC, New York, durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen, vermittelt.
Das Gedicht ›Geh nicht gelassen in die gute Nacht‹ von Dylan Thomas wurde zitiert aus der Ausgabe: Dylan Thomas, ›Windabgeworfenes Licht‹, herausgegeben und mit einem Nachwort von Klaus Martens, aus dem Englischen von Erich Fried, Curt Meyer-Clason u.a.
© 1992 Carl Hanser Verlag München
Die Gedichte ›Dich hab ich nicht erreicht‹ und ›Sie fielen wie Flocken‹ von Emily Dickinson sowie ›In Zeiten der Pestilenz‹ von Thomas Nashe wurden übersetzt von Stefanie Schäfer.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen
des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402323-6
Für Calvin,
den nie die Angst erfüllte,
von fremden, fernen Orten zu träumen
Ein Mann wälzte einen Felsen den Berg hinauf. Als er den Gipfel erreichte, rollte der Stein wieder hinunter an den Fuß des Berges, und er begann von vorn. Die Leute im nahen Dorf wussten davon. Sie glaubten, es sei eine Strafe. Nie leisteten sie ihm Gesellschaft oder halfen ihm, denn sie fürchteten jene, die die Strafe verhängt hatten. Er wälzte. Sie sahen zu.
Jahre später bemerkte eine neue Generation, dass der Mann und sein Stein allmählich im Berg versanken, so wie Sonne und Mond am Horizont untergingen. Sie konnten den Mann, der den Stein zum Berggipfel hinaufrollte, kaum noch erkennen.
Ein Mädchen wurde neugierig und wanderte den Berg hinauf. Als sie sich dem Mann näherte, sah sie zu ihrem Erstaunen, dass der Stein mit Namen, Daten und Ortsnamen bedeckt war.
»Was haben diese Worte zu bedeuten?«, fragte das Kind.
»Das sind die Sorgen der Welt«, antwortete der Mann. »Ich wälze sie immer wieder den Berg hinauf.«
»Sie benutzen sie, um den Berg auszuhöhlen«, stellte das Kind fest, als es die tiefe Furche betrachtete, die der Stein hinterlassen hatte.
»Ich erschaffe etwas«, entgegnete der Mann. »Wenn ich fertig bin, bist du an der Reihe, meinen Platz einzunehmen.«
Das Mädchen hatte keine Angst. »Was erschaffen Sie?«, fragte es.
»Einen Fluss«, sagte der Mann.
Das Kind ging den Berg hinunter und fragte sich, wie man einen Fluss erschaffen konnte. Doch nicht lange darauf, als die Regenzeit einsetzte, die Flut durch die Furche schoss und den Mann mit sich riss, übernahm sie seine Aufgabe, rollte den Stein und wies den Sorgen der Welt ihren Platz und Weg.
Das ist die Entstehungsgeschichte des Steuermanns.
Der Steuermann ist ein Mensch, der einen Stein wälzte und vom Wasser fortgerissen wurde. Der Steuermann ist jemand, der den Fluss überquerte, indem er sich von den Gestirnen leiten ließ. Der Steuermann hat kein Alter. Seine Augen und seine Haare schimmern in jeder erdenklichen Farbe. Er lebt in Wüsten, auf Inseln, in Wäldern, auf Bergen und in den Ebenen.
Der Steuermann führt die Erhebung an – die Erhebung gegen die Gesellschaft – und der Steuermann stirbt nie. Wenn die Zeit eines Steuermanns vorüber ist, übernimmt ein anderer seine Aufgabe.
Und so geht es immer weiter, wie ein Stein, der immerfort rollt.
An einem Ort jenseits der Grenzen auf der Landkarte der Gesellschaft wird der Steuermann ewig leben und lenken.
Jeden Morgen geht die Sonne auf, färbt die Erde rot, und ich denke: Dies könnte der Tag sein, an dem sich alles ändert. Vielleicht wird heute die Gesellschaft fallen. Doch dann bricht erneut die Nacht herein, und wir alle warten noch immer. Doch ich weiß: Der Steuermann ist real.
Bei Sonnenuntergang nähern sich drei Funktionäre dem Eingang eines kleinen Hauses. Das Haus gleicht zum Verwechseln allen anderen in der Straße: zwei Läden an jedem der drei Fenster auf der Vorderseite, eine Eingangstreppe mit fünf Stufen und ein kleiner, stacheliger Dornenbusch rechts neben dem Gartenweg.
Der älteste Funktionär, ein Mann mit grauem Haar, hebt die Hand, um anzuklopfen.
Eins. Zwei. Drei.
Die Funktionäre stehen so dicht vor der Glasscheibe, dass ich das aufgenähte Abzeichen auf der rechten Uniformbrusttasche des jüngsten Funktionärs erkennen kann. Es ist leuchtend rot und sieht aus wie ein Blutstropfen.
Ich lächle. Er auch. Denn der Funktionär bin ich.
Früher wurde die Ernennung zum Funktionär mit einem großen Fest und einer Zeremonie in der Stadthalle gefeiert. Die Kandidaten brachten ihre Eltern, Partnerinnen oder Partner mit. Aber die Ernennungsfeierlichkeit ist keine der drei großen Zeremonien – wie das Willkommensbankett, das Paarungsbankett oder das Abschiedsbankett –, und so ist sie nicht mehr das, was sie einmal war. Die Gesellschaft versucht zu sparen, überall da, wo es möglich ist. Und sie gehen wohl davon aus, dass angehende Funktionäre loyal genug sind, sich nicht darüber zu beschweren, dass ihre Zeremonie etwas von ihrer Festlichkeit einbüßt.
Bei meiner Ernennung stand ich dort zusammen mit vier anderen, jeder von uns in einer neuen weißen Uniform. Der Oberfunktionär heftete mir mein erstes Abzeichen an: den roten Kreis, der das Gesundheitsministerium repräsentiert. Dann schworen wir alle den Eid auf die Gesellschaft, wobei unsere Stimmen unter der Kuppel des fast leeren Saales widerhallten, und versprachen, unser von der Gesellschaft ermitteltes Potential auszuschöpfen. Das war alles. Mir machte es nichts aus, dass die Zeremonie nichts Besonderes war, denn ich bin nicht wirklich ein Funktionär. Der bin ich nur nach außen, denn meine wahre Loyalität gilt der Erhebung.
Ein Mädchen in einem lilafarbenen Ballkleid eilt hinter uns den Bürgersteig entlang. Ich sehe ihr Spiegelbild in der Scheibe. Sie hält den Kopf gesenkt, als hoffe sie, dass wir sie nicht bemerken. Ihre Eltern folgen kurz darauf. Die drei sind unterwegs zur nächsten Airtrain-Haltestelle. Heute ist der Fünfzehnte, also findet heute Abend das Paarungsbankett statt. Es ist nicht einmal ein Jahr her, dass ich gemeinsam mit Cassia die Treppe zur Stadthalle hinaufgeschritten bin. Jetzt sind wir beide weit von unserer Heimat Oria entfernt.
Eine Frau öffnet die Haustür. Sie hält ihr kleines Baby im Arm. Ihm sollen wir seinen Namen geben. »Bitte treten Sie ein«, sagt sie. »Wir haben Sie schon erwartet.« Sie sieht müde aus, obwohl dies einer der glücklichsten Tage ihres Lebens sein sollte. Zwar wird das Thema in der Gesellschaft kaum diskutiert, aber hier in den Äußeren Provinzen ist das Leben härter. Es scheint, als konzentrierten sich die Ressourcen auf die Provinz Central und dünnten sich zu den Rändern der Gesellschaft hin immer weiter aus. Alles hier in Camas, einer der entlegensten Provinzen, ist irgendwie schmutzig und abgenutzt.
Nachdem sich die Tür hinter uns geschlossen hat, zeigt uns die Mutter den kleinen Jungen. »Er ist jetzt sieben Tage alt«, erzählt sie, obwohl wir das natürlich schon wissen. Deswegen sind wir hier. Die feierliche Namensgebung findet immer genau eine Woche nach der Geburt statt.
Das Kind hält die Augen geschlossen, doch wir wissen, dass sie tiefblau sind. Das steht in unseren Daten. Haarfarbe: braun. Wir wissen auch, dass er zum errechneten Termin geboren wurde und sich unter der fest gewickelten Decke zehn Finger und zehn Zehen verbergen. Die Gewebeprobe, die ihm nach der Geburt im medizinischen Zentrum entnommen wurde, war exzellent.
»Sind Sie bereit?«, fragt Funktionär Brewer, der von uns den höchsten Rang hat. Wie immer schwingt in seiner Stimme genau die richtige Mischung von Wohlwollen und Autorität mit. Er hat das schon Hunderte Male gemacht. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, ob Funktionär Brewer der Steuermann sein könnte. Es würde jedenfalls zu ihm passen, und er ist sehr diszipliniert und effektiv. Doch jeder könnte der Steuermann sein.
Die Eltern nicken auf Brewers Frage hin.
»Laut unseren Unterlagen fehlt ein Geschwisterkind«, bemerkt die Zweithöchste, Funktionärin Lei, mit ihrer sanften Stimme. »Möchten Sie, dass Ihr Sohn bei der Zeremonie anwesend ist?«
»Er war nach dem Essen so müde«, antwortet die Mutter entschuldigend. »Er konnte kaum noch die Augen offen halten, da habe ich ihn schon zu Bett gebracht.«
»Aber das ist doch völlig in Ordnung«, beruhigt sie Funktionärin Lei. Da der kleine Junge erst knapp über zwei Jahre alt ist – wobei zwei Jahre als der ideale Abstand zwischen Geschwistern gelten –, ist seine Anwesenheit nicht erforderlich. Er würde sich später wahrscheinlich ohnehin nicht an das Ereignis erinnern.
»Welchen Namen haben Sie ausgewählt?« Funktionär Brewer nähert sich dem Terminal in der Diele.
»Ory«, sagt die Mutter.
Funktionär Brewer gibt den Namen ein, und die Mutter dreht das Baby dem Bildschirm zu. »Ory«, wiederholt Funktionär Brewer. »Und als zweiten Vornamen?«
»Burton«, sagt der Vater. »Das ist in unserer Familie so üblich.«
Funktionärin Lei lächelt. »Was für ein hübscher Name!«
»Schauen Sie sich mal an, wie es aussieht«, fordert Funktionär Brewer die Eltern auf, und diese nähern sich, um sich den Namen des Babys anzusehen: ORY BURTON FARNSWORTH. Unter dem Schriftzug verläuft der Barcode, den die Gesellschaft ihm zugeteilt hat. Wenn er ein planmäßiges Leben führt, wird die Gesellschaft nach seinem Tod mit diesem Barcode auch die letzte Gewebeprobe markieren, die auf seinem Abschiedsbankett entnommen wird.
Aber so lange wird es die Gesellschaft nicht mehr geben.
»Falls Sie keine Änderungswünsche haben«, sagt Funktionär Brewer, »schicke ich ihn jetzt ab.«
Mutter und Vater überprüfen noch einmal den Namen. Die Mutter lächelt und hält das Baby noch ein wenig näher vor den Bildschirm des Terminals, als könne es seinen eigenen Namen lesen.
Funktionär Brewer sieht mich an und sagt: »Funktionär Carrow, Zeit für die Tablette.«
Das ist meine Aufgabe. Ich nicke und öffne den Metallbehälter.
»Wir müssen ihm die Tablette vor dem Terminal verabreichen«, erinnere ich die Eltern. Die Mutter hält den Kleinen noch ein wenig höher, so dass sein Gesicht für die Aufzeichnungen der Terminalkamera deutlich sichtbar ist.
Mir haben diese kleinen Immunisierungstabletten, die bei der Zeremonie zur Namensgebung verabreicht werden, schon immer gut gefallen. Sie sind rund und wie aus drei winzigen bunten Kuchenstücken zusammengesetzt: ein Drittel blau, ein Drittel grün und ein Drittel rot. Obwohl die Wirkung dieser Tablette vollkommen anders ist als die der drei Tabletten, die Ory später stets bei sich tragen wird, repräsentieren die Farben das Leben, das er in der Gesellschaft führen wird. Die Immunisierungstablette sieht fröhlich, kindgerecht und bunt aus und erinnert mich an die Farbpaletten auf unseren Bildschirmen in der Primarschule.
Die Gesellschaft verabreicht diese Tabletten allen Babys, um sie vor Krankheiten und Infektionen zu schützen. Sie sind auch für die Allerkleinsten leicht einzunehmen, denn sie lösen sich im Mund sofort auf. Diese Methode ist wesentlich humaner als die Schutzimpfungen früherer Gesellschaften, bei denen mit einer Nadel in die Haut des Babys gestochen wurde. Sogar die Erhebung plant, nach dem Umsturz die Immunisierung beizubehalten, wenn auch mit einigen Änderungen.
Das Baby regt sich, als ich die Tablette auswickle. »Könnten Sie ihm bitte den Mund öffnen?«, frage ich die Mutter.
Sie nickt. Als sie es versucht, dreht das Baby den Kopf, macht Sauggeräusche und will trinken. Wir alle lachen, und als der Kleine den Mund öffnet, lasse ich rasch die Tablette hineinfallen. Sie löst sich sofort auf der Zunge auf. Jetzt muss er nur noch schlucken, und das tut er, als hätte er nur auf seinen Einsatz gewartet.
»Ory Burton Farnsworth«, deklamiert Funktionär Brewer, »wir heißen dich in der Gesellschaft willkommen.«
»Danke«, antworten die Eltern im Chor.
Der Austausch hat reibungslos geklappt, wie immer.
Funktionärin Lei sieht mich an und lächelt. Das lange Haar fällt ihr seidenglatt über die Schulter. Manchmal frage ich mich, ob sie auch zur Rebellion gehört und weiß, was ich tue – ich ersetze die Tabletten der Gesellschaft durch die, die ich von der Erhebung erhalten habe. Fast jedes Kind, das in den letzten zwei Jahren in den Äußeren Provinzen geboren wurde, hat seine Immunisierung durch die Erhebung empfangen. Schon andere vor mir haben mit dem allmählichen Austausch begonnen.
Dank der Erhebung wird der kleine Junge nicht nur gegen die meisten Krankheiten immun sein. Auch die rote Tablette wird keine Wirkung bei ihm zeigen, so dass die Gesellschaft ihm nicht seine Erinnerungen rauben kann. Jemand hat das für mich getan, als ich ein Baby war, ebenso wie für Ky und wahrscheinlich auch für Cassia.
Schon vor Jahren hat die Erhebung die Pharmafabriken infiltriert, in denen die Tabletten hergestellt werden. Neben den Medikamenten für die Gesellschaft werden auch die für die Erhebung dort produziert. Unsere Tabletten bieten den Kindern denselben Schutz wie das Medikament der Gesellschaft, dazu aber noch die Immunität gegen die rote Tablette sowie ein paar andere Extras.
Zur Zeit meiner Geburt hatte die Erhebung noch nicht genügend Ressourcen, um Tabletten für alle zu produzieren. Deshalb mussten sie einige von uns auswählen, unter dem Gesichtspunkt, wer eventuell später nützlich für sie sein könnte. Doch inzwischen gibt es genug für alle.
Die Erhebung ist für alle da.
Und sie wird nicht scheitern – wir werden nicht scheitern!
Auf dem schmalen Bürgersteig gehen Funktionär Brewer, Funktionärin Lei und ich hintereinander zum Aircar. Eine weitere Familie mit einer Tochter im feinen Ballkleid eilt die Straße entlang. Die Mutter sagt aufgebracht zum Vater: »Ich habe dir immer wieder gesagt …«, doch dann erblickt sie uns und verstummt.
»Hallo«, grüßen wir im Vorbeigehen. »Herzlichen Glückwunsch.«
»Wann sehen Sie Ihre Partnerin wieder?«, fragt Funktionärin Lei.
»Das weiß ich nicht«, antworte ich. »Die Gesellschaft hat den Termin unserer nächsten Terminal-Unterhaltung noch nicht festgelegt.«
Funktionärin Lei ist ein wenig älter als ich, mindestens aber einundzwanzig, weil sie bereits ihren Ehevertrag gefeiert hat. Doch seitdem ich sie kenne, ist ihr Mann als Soldat irgendwo an den äußersten Grenzen stationiert. Ich kann sie nicht fragen, wann er zurückkehrt, denn solche Informationen sind streng geheim. Wahrscheinlich weiß Funktionärin Lei selbst nicht einmal, wann sie ihn zurückerwarten kann.
Die Gesellschaft wünscht nicht, dass wir Außenstehenden von unserer Arbeit erzählen. Cassia weiß, dass ich Funktionär bin, kennt aber keine Einzelheiten. Funktionäre arbeiten in allen möglichen Bereichen der Gesellschaft.
Die Gesellschaft bildet uns im medizinischen Zentrum für verschiedene Berufe aus. Die Medics kennt jeder, weil sie Krankheiten diagnostizieren und Menschen heilen können. Daneben gibt es Chirurgen, Pharmakologen, Krankenschwestern und Ärzte wie mich. Uns Ärzte setzt die Gesellschaft in den unterschiedlichsten Gebieten der Medizin ein, wie zum Beispiel in der Verwaltung des medizinischen Zentrums. Ich wurde für die Immunisierung der Babys und für die Entnahme der Gewebeproben bei Abschiedsbanketten eingeteilt. Die Gesellschaft behauptet, dies sei eine der verantwortungsvollsten Aufgaben, die ein Funktionär ausüben könne. Eine Grundausbildung in den wichtigsten medizinischen Bereichen durchläuft jeder von uns.
»Welche Farbe hat sie gewählt?«, fragt Funktionärin Lei, als wir uns dem Aircar nähern.
Im ersten Moment bin ich irritiert, doch dann wird mir klar, dass sie Cassias Kleid meint. »Sie hat Grün gewählt«, antworte ich. »Sie sah wunderschön aus.«
Plötzlich ertönt ein Schrei, und wir drehen uns alle drei wie auf Kommando um. Der Vater des Babys kommt so schnell er kann auf uns zugerannt. »Unser älterer Sohn wird einfach nicht wach!«, ruft er. »Ich bin in sein Zimmer gegangen, um nach ihm zu sehen und – irgendetwas stimmt nicht mit ihm!«
»Rufen Sie über Terminal einen Medic!«, antwortet Funktionär Brewer, und wir eilen zurück ins Haus. Ohne anzuklopfen laufen wir hinein und weiter durch zu den Schlafzimmern. Funktionärin Lei lehnt sich ängstlich an die Wand, bevor Funktionär Brewer die Kinderzimmertür öffnet. »Alles in Ordnung?«, frage ich. Sie nickt.
»Hallo?«, ruft Funktionär Brewer.
Die Mutter blickt zu uns auf, das Gesicht aschfahl. Sie hat das Baby noch auf dem Arm. Ihr anderes Kind im Bett reagiert nicht. Er liegt auf der Seite, mit dem Rücken zu uns. Er atmet, aber langsam. Seine Zivilkleider sitzen am Hals etwas locker, so dass man seine Haut sieht. Die Hautfarbe wirkt ganz normal, doch zwischen seinen Schulterblättern entdecke ich ein kleines rotes Mal, und ich spüre eine Welle des Mitleids und der freudigen Erregung zugleich.
Das ist der Anfang!
Die Erhebung hat prophezeit, so würde er sich ankündigen.
Ich muss mich beherrschen, um nicht die anderen im Zimmer anzusehen. Wer außer mir weiß Bescheid? Gehört sonst noch jemand zur Erhebung? Wissen noch andere darüber Bescheid, wie die Rebellion aussehen wird?
Die Inkubationszeit kann unterschiedlich sein, doch wenn die Krankheit einmal ausgebrochen ist, verschlechtert sich der Zustand des Patienten rapide. Die Sprache wird schleppend, der Patient wird schwächer, bis ein fast komatöser Status erreicht ist. Die auffälligsten Zeichen der Seuche sind ein oder mehrere kleine rote Male auf dem Rücken des Patienten. Wenn sich die Seuche einmal großflächig in der Bevölkerung ausgebreitet hat und nicht länger von der Gesellschaft verborgen werden kann, beginnt die Erhebung.
»Was ist das?«, fragt die Mutter. »Ist er krank?«
Wieder reagieren wir alle drei gleichzeitig. Funktionärin Lei fühlt den Puls des Kindes, und Funktionär Brewer wendet sich der Mutter zu, während ich versuche, ihr die Sicht auf das reglos im Bett liegende Kind zu versperren. Solange ich nicht ganz sicher weiß, dass die Erhebung beginnt, muss ich mich wie gewohnt verhalten.
»Er atmet«, antwortet Funktionär Brewer.
»Sein Puls ist in Ordnung«, bemerkt Funktionärin Lei.
»Die Medics sind gleich da«, sage ich.
»Können Sie ihm denn gar nicht helfen?«, fragt die Mutter. »Ihm ein Medikament geben, ihn behandeln …«
»Tut mir leid«, erwiderte Funktionär Brewer. »Er muss zuerst ins medizinische Zentrum gebracht werden, bevor man etwas tun kann.«
»Aber er atmet gleichmäßig, und sein Puls ist in Ordnung«, beruhige ich die Mutter. Keine Sorge, hätte ich am liebsten hinzugefügt. Die Erhebung hat ein Heilmittel. Ich hoffe, sie bemerkt den zuversichtlichen Tonfall in meiner Stimme. Leider kann ich ihr nicht offen sagen, woher ich weiß, dass alles gut werden wird.
Das ist es. Der Beginn der Erhebung.
Wenn die Erhebung an die Macht kommt, können wir selbst über unser Leben bestimmen. Wer weiß, was dann geschieht? Als ich Cassia damals zum ersten Mal geküsst habe, hat sie nach Luft geschnappt, wahrscheinlich vor Überraschung. Nicht wegen des Kusses: den hatte sie erwartet. Nein, sie war wohl eher überrascht darüber, wie er sich anfühlte.
Sobald wir uns wiedersehen, werde ich es ihr sagen, von Angesicht zu Angesicht sagen: Cassia, ich liebe dich und möchte dich zur Frau haben. Was fehlt dir, um genauso zu empfinden? Eine ganz neue Welt?
Denn das ist genau das, was wir haben werden.
Die Mutter nähert sich ihrem Kind ein wenig. »Es ist nur …«, sagt sie mit erstickter Stimme. »Er ist so still!«
Ky hat versprochen, sich heute Abend mit mir am See zu treffen.
Diesmal küsse ich ihn zuerst.
Und dann drückt er mich so fest an sich, dass die Gedichte, die ich unter meinem Hemd an meinem Herzen trage, rascheln, so leise, dass nur wir beide es hören. Sein Herzschlag, der Rhythmus seines Atems, der Ton und das Timbre seiner Stimme klingen wie Musik in meinen Ohren, so dass ich am liebsten laut singen würde.
Er wird mir erzählen, wo er gewesen ist.
Ich werde ihm erzählen, wo ich hingehen will.
Ich strecke die Arme aus und überprüfe, ob auch nichts Verräterisches unter den Ärmeln meines Hemdes hervorschaut, denn unter meinen formlosen Zivilkleidern schmiegt sich heute rote Seide weich an meinen Körper. Ich trage eines der Hundert Kleider, das bei den Händlern aufgetaucht ist – wahrscheinlich Diebesgut. Den Preis, den ich dafür bezahlt habe – ein Gedicht –, war es allemal wert. Wie schön es ist, einen so leuchtend bunten Stoff ans Licht halten und über den Kopf streifen zu können! Wie leicht ich mich darin fühle!
Ich arbeite als Sortiererin für die Gesellschaft hier in der Hauptstadt der Provinz Central, aber insgeheim bin ich für die Erhebung im Einsatz und handle mit den Archivisten. Nach außen hin bin ich ein braves Mitglied der Gesellschaft in Zivilkleidung, doch darunter trage ich Seide und Papier auf der Haut.
Ich habe festgestellt, dass sich die Gedichte am leichtesten transportieren lassen, indem ich sie mir um die Taille oder um die Handgelenke binde. Natürlich trage ich nicht alle meine Gedichte bei mir, sondern habe einen Platz gefunden, an dem ich die meisten verstecken kann. Einige möchte ich jedoch niemals missen.
Ich öffne meinen Tablettenbehälter. Alle Tabletten sind da: grün, blau, rot. Und noch etwas. Ein winziger Papierschnipsel, auf den ich die Worte erinnere dich notiert habe. Sollte ich je dazu gezwungen werden, die rote Tablette zu nehmen, schiebe ich diesen Zettel in meinen Ärmel, und wenn ich dann in den Behälter sehe, weiß ich, dass man mir meine Erinnerungen geraubt hat.
Bestimmt bin ich nicht die Erste, die auf so eine Idee gekommen ist. Wie viele meiner Mitmenschen wissen etwas, was sie nicht wissen sollten – nicht was sie verloren haben, aber dass sie verloren haben?
Mir bleibt nur die Hoffnung, dass ich nichts vergesse und ebenso resistent gegen die Wirkung der Tablette bin wie Indie, Xander und Ky.
Die Gesellschaft denkt, dass die rote Tablette bei mir wirkt. Aber sie wissen nicht alles. Was die Gesellschaft angeht, bin ich natürlich nie in den Äußeren Provinzen gewesen. Weder habe ich Canyons durchquert noch nachts unter einem funkelnden Sternenzelt, umtost von silbriger Gischt, einen Fluss bezwungen. So weit bekannt ist, war ich nie weg.
»Das ist deine Geschichte«, sagte der Abgesandte der Erhebung, bevor sie mich nach Central schickten.
Er reichte mir ein Blatt Papier, und ich las:
Die Funktionäre haben mich im Wald von Tana gefunden, in der Nähe meines Arbeitslagers. Ich weiß nichts mehr über den Abend und die Nacht, die ich dort verbracht habe. Ich weiß nur, dass ich irgendwie in den Wald geraten bin.
Ich blickte auf. »Es gibt eine Funktionärin, die bereit ist, deine Geschichte zu bestätigen, und behaupten wird, dich in den Wäldern gefunden zu haben«, sagte mein Gegenüber.
»Ich soll eine rote Tablette erhalten haben«, riet ich. »Um mir die Erinnerung daran zu nehmen, wie sie die anderen Mädchen in Luftschiffen abtransportiert haben.«
Der Mann nickte. »Offenbar hat eines der Mädchen im Lager eine Störung verursacht. Diejenigen, die aufgewacht sind und sie gesehen haben, haben alle eine rote Tablette erhalten.«
Indie, dachte ich. Sie war diejenige, die schreiend weggelaufen war. Weil sie wusste, was man mit uns vorhatte.
»Wir behaupten einfach, du hättest anschließend gefehlt«, sagte der Mann. »Man hat dich einen Moment aus den Augen gelassen, und du hast dich entfernt, während die rote Tablette ihre Wirkung entfaltete. Später hat man dich dann gefunden.«
»Wie habe ich überlebt?«, fragte ich.
Der Mann tippte auf das Blatt Papier.
Ich hatte Glück. Von meiner Mutter habe ich gelernt, welche Pflanzen giftig sind. Ich habe nach Nahrung gesucht. Im November wachsen dort noch immer essbare Pflanzen.
Die Geschichte hat sogar einen wahren Kern. Die Lehren meiner Mutter haben mir tatsächlich geholfen zu überleben, allerdings in den kargen Canyons, nicht im Wald.
»Deine Mutter hat im Arboretum gearbeitet«, fuhr der Mann fort. »Und du kennst dich im Wald aus.«
»Stimmt«, sagte ich. Es war der Wald auf dem Hügel in Oria und nicht in Tana, aber vielleicht klang der Vorwand trotzdem glaubwürdig.
»Es passt also alles zusammen«, sagte der Mann.
»Solange mich die Gesellschaft nicht ins Kreuzverhör nimmt«, erwiderte ich.
»Das wird nicht geschehen«, entgegnete er. »Hier sind ein Silberetui und ein Tablettenbehälter als Ersatz für deine verlorenen Sachen.«
Ich öffnete die Pillendose. Eine grüne Tablette, eine blaue. Und eine rote natürlich, welche die ersetzen sollte, die ich angeblich auf den Befehl einer Funktionärin in Tana eingenommen hatte. Ich dachte an die anderen Mädchen, die die Tablette tatsächlich geschluckt hatten. Die meisten erinnerten sich jetzt nicht mehr an Indie und wie sie geschrien hatte. Sie war einfach verschwunden, genau wie ich.
»Denk daran!«, mahnte der Mann. »Du weißt nur noch, dass du auf einmal im Wald warst und nach Nahrung gesucht hast. Du hast alles vergessen, was wirklich in den letzten zwölf Stunden, bevor du an Bord des Luftschiffs gegangen bist, passiert ist.«
»Was soll ich tun, wenn ich in Central bin?«, fragte ich. »Man hat mir gesagt, ich könne der Erhebung am besten aus dem Inneren der Gesellschaft heraus dienen. Warum?«
Ich sah, wie mich der Mann forschend musterte, als frage er sich, ob ich der Aufgabe gewachsen sei, die mir zugedacht war. »Die Gesellschaft hat geplant, dich für deine endgültige Arbeitsstelle nach Central zu schicken«, sagte er. Ich nickte. »Du bist eine Sortiererin. Eine sehr gute, geht man nach den Daten der Gesellschaft. Jetzt, da dein Aufenthalt im Arbeitslager vorüber ist, weil du dort gute Arbeitsleistung gezeigt hast, werden sie froh sein, dich endlich einsetzen zu können. Die Erhebung kann daraus ihren Nutzen ziehen.« Dann erklärte er mir, welcher Sortiervorgang der entscheidende war und was ich tun sollte, wenn ich dabei eingesetzt wurde. »Du musst geduldig sein«, riet er mir. »Es kann eine Weile dauern.«
Das war ein guter Rat, denn bisher habe ich nichts Wichtiges sortiert. Jedenfalls ist mir nichts aufgefallen. Aber das macht mir nichts aus. Ich brauche die Erhebung nicht, um die Gesellschaft von innen zu unterwandern.
Wann immer ich kann, schreibe ich. Ich forme Buchstaben auf die unterschiedlichsten Arten: Aus Bündeln von langem Gras bilde ich ein K, zwei Stöcke lege ich zu einem X übereinander. Ihre feuchte Rinde hebt sich dunkel von der silbrigen Metallbank ab, die auf einer Grünfläche in der Nähe meiner Arbeitsstelle steht. Auf dem Boden bilde ich einen Kreis – ein O – aus Steinen, so wie ein geöffneter Mund. Und natürlich schreibe ich auch auf die Weise, die Ky mir beigebracht hat.
Überall halte ich nach schriftlichen Zeugnissen anderer Ausschau. Doch bisher scheint niemand außer mir das Schreiben erlernt zu haben und es anzuwenden, jedenfalls habe ich noch keine Anzeichen dafür entdeckt. Doch eines Tages wird es soweit sein. Vielleicht sitzt schon jetzt irgendwo jemand verborgen in seiner Wohnung und schwärzt mit Feuer Holzstöckchen an, wie Ky es früher getan hat, um den Namen eines geliebten Menschen zu schreiben.
Ich bin mir ganz sicher, dass ich nicht die Einzige bin, die kleine Akte der Rebellion vollzieht. So mancher schwimmt gegen den Strom oder taucht darunter hindurch. Ich war diejenige, die aufgeblickt hat, wenn etwas Dunkles die Sonne verdeckte, und zugleich war ich der Schatten, der an dem schmalen Grat entlanggehuscht ist, wo Erde und Wasser den Himmel berühren.
Tag für Tag wälze ich den Stein, den mir die Gesellschaft aufgebürdet hat, den Hügel hinauf, immer und immer wieder. In meinem Inneren verbergen sich die wahren Dinge, die mir Kraft verleihen – meine Gedanken, die kleinen Steine meiner eigenen Wahl. Sie kullern mir durch den Kopf: klein, manche glattpoliert vom vielen Rollen, andere neu und rau, manche schmerzhaft kantig.
Zufrieden darüber, dass man die Gedichte nicht sehen kann, gehe ich den Flur zu meinem winzigen Apartment entlang und betrete die Diele. Ich will gerade die Tür schließen, als von draußen jemand anklopft. Erschrocken weiche ich zurück. Ein Besucher, um diese Zeit? Wie viele andere, die schon gepaart wurden, aber noch keinen Ehevertrag geschlossen haben, lebe ich allein in meiner winzigen Wohnung, und wie auch früher in unserem Viertel, wird es auch hier nicht gern gesehen, wenn wir einander besuchen.
Vor der Tür steht eine Funktionärin. Sie lächelt mich freundlich an. Merkwürdig – sie ist ganz allein. Normalerweise sind Funktionäre immer zu dritt unterwegs. »Cassia Reyes?«, fragt sie.
»Ja?«
»Bitte kommen Sie mit mir«, sagt sie. »Sie werden im Sortierzentrum gebraucht und müssen Überstunden leisten.«
Aber ich wollte mich doch heute Abend mit Ky treffen! Es schien doch so, dass sich die Dinge für uns besserten – endlich sollte er nach Central fliegen, und die Nachricht, die er mir geschickt hatte, um mir mitzuteilen, wo und wann wir uns treffen konnten, erreichte mich rechtzeitig. Manchmal hatte es Wochen anstatt weniger Tage gedauert, bis ein Brief ankam, aber dieser war schnell gewesen. Widerwillig mustere ich die Funktionärin: weiße Uniform, säuberlich angebrachte Abzeichen, undurchdringliches Gesicht. Warum lasst ihr uns nicht in Ruhe?, frage ich mich im Stillen. Benutzt doch die Computer. Lasst sie die ganze Arbeit tun! Doch das würde einem der wichtigsten Grundsätze der Gesellschaft widersprechen. Nämlich dem, den sie uns von klein auf immer wieder erklärt haben: Technologie kann versagen, so ist es den Gesellschaften vor der unseren ergangen.
Plötzlich fällt mir das Ungewöhnliche an der Situation auf – ob es jetzt an der Zeit ist, die Aufgabe der Erhebung zu erfüllen? Ich betrachte die Funktionärin genauer, doch ihr Gesicht bleibt unbewegt und ruhig. Man sieht ihr nicht an, was sie weiß oder für wen sie tatsächlich arbeitet. »An der Airtrain-Haltestelle sind noch andere«, erklärt sie.
»Wird es lange dauern?«, frage ich.
Sie antwortet nicht.
Auf der Fahrt im Airtrain passieren wir den See, der dunkel in der Ferne liegt.
Niemand geht je dorthin. Der See ist noch aus der Zeit vor der Gesellschaft mit Umweltgiften belastet, und man kann nicht gefahrlos hineingehen oder daraus trinken. Die Gesellschaft hat die meisten Kais und Anlegestellen abgerissen, an denen die Leute vor langer Zeit ihre Boote liegen hatten. Doch bei Tageslicht sieht man noch drei gleich lange Stege nebeneinander, die übrig geblieben sind und wie Finger in das Wasser hineinragen. Vor Monaten, als ich den See das erste Mal gesehen habe, habe ich Ky von diesem Ort erzählt. Dass es ein guter Platz wäre, um sich zu treffen – ein Ort, den er von oben genauso gut finden kann wie ich von hier unten.
Jetzt kommt auf der anderen Seite des Airtrains die Kuppel der Stadthalle von Central in Sicht, wie ein zu naher Mond, der niemals untergeht. Unwillkürlich werde ich noch immer von Stolz erfüllt und höre im Geiste unsere Nationalhymne, wenn ich die vertrauten Umrisse einer Stadthalle sehe.
Doch auch die Stadthalle besucht niemand mehr.
Sie und die angrenzenden Gebäude sind von einer hohen weißen Mauer umgeben, die schon vor meiner Ankunft hier errichtet wurde. Renovierungsarbeiten sind der offizielle Grund. Schon bald würde die Sperrzone wieder geöffnet, heißt es.
Die Sperrzone fasziniert mich, vor allem, weil niemand weiß, aus welchem Grund sie wirklich errichtet wurde. Das, was auf der anderen Seite der Mauer ist, zieht mich an, und manchmal nehme ich nach der Arbeit einen kleinen Umweg in Kauf, um an der glatten weißen Oberfläche entlangzuspazieren. Jedes Mal denke ich daran, wie viele Bilder Ky und seine Mutter auf diese Mauer hätten malen können, die im leichten Bogen verläuft und in meiner Vorstellung einen perfekten Kreis bildet. Da ich nie ganz herumgegangen bin, kann ich mir dessen jedoch nicht sicher sein.
Bisher konnte mir auch niemand eine Antwort darauf geben, seit wann genau die Sperrzone existiert – irgendwann im Laufe des letzten Jahres muss sie entstanden sein. Keiner scheint sich daran zu erinnern, warum sie errichtet wurde, jedenfalls verrät es niemand.
Ich möchte wissen, was sich hinter jenen Mauern befindet.
Ich will so viel! Glück, Freiheit, Liebe. Aber auch ein paar ganz konkrete Wünsche habe ich.
Zum Beispiel hätte ich gern ein ganz bestimmtes Gedicht und einen Mikrochip. Auf diese beiden Dinge warte ich noch. Ich habe zwei meiner Gedichte für das Ende eines anderen eingetauscht, das mit den Worten Dich hab ich nicht erreicht beginnt und von einer Reise erzählt. In den Canyons habe ich den Anfang entdeckt und möchte unbedingt das Ende haben.
Das zweite Geschäft ist noch riskanter und kostspieliger. Ich habe sieben Gedichte eingetauscht, um Großvaters Mikrochip aus dem Haus meiner Eltern in Keya zu mir bringen zu lassen. Ich habe den Händler gebeten, sich an meinen Bruder Bram zu wenden und ihm eine verschlüsselte Botschaft von mir auszuhändigen, von der ich weiß, dass er sie entziffern kann. Schließlich hat er auch die Spiele gemeistert, die ich damals zu Anfang seiner Schulzeit auf dem Schreibcomputer für ihn erstellt habe. Er wäre wohl auch eher bereit, mir den Mikrochip meines Großvaters zu schicken als meine Mutter oder mein Vater.
Bram. Ich wünschte, ich würde eine silberne Uhr finden, um ihm die zu ersetzen, die die Gesellschaft ihm weggenommen hat. Bisher waren aber alle zu teuer. Einen angemessenen Betrag würde ich bezahlen, aber keine Wucherpreise. Das habe ich in den Canyons gelernt: was ich bin, was ich nicht bin, was ich zu geben bereit bin und was nicht.
Das Sortierzentrum ist bis an den Rand seiner Kapazität gefüllt. Wir sind unter den Letzten, die eintreffen, und eine Funktionärin führt uns zu unseren Arbeitsplätzen. »Bitte beginnen Sie unverzüglich«, sagt sie, und kaum habe ich Platz genommen, erscheinen Worte auf meinem Bildschirm: Nächster Sortiervorgang: exponentielle paarweise Zuordnung.
Ohne eine Miene zu verziehen, richte ich den Blick auf den Bildschirm. Innerlich spüre ich jedoch einen kleinen Stich der Aufregung, als setzte mein Herz einen Schlag aus.
Auf diese Art von Sortiervorgang solle ich achten, hat die Erhebung mir aufgetragen.
Meine Kolleginnen und Kollegen lassen sich nicht anmerken, ob der Sortiervorgang irgendetwas für sie bedeutet, aber ich bin mir sicher, dass noch andere im Raum ihren Monitor anstarren und sich fragen: Ist es endlich so weit?
Warte auf die Daten, ermahne ich mich. Ich muss nicht nur auf einen bestimmten Sortiervorgang achten, sondern auch auf eine bestimmte Art von Daten, die ich falsch zuordnen soll.
Bei der exponentiellen paarweisen Zuordnung sind die Elemente hierarchisch gegliedert, indem jede ihrer Eigenschaften nach Wichtigkeit klassifiziert wird. Anschließend werden die Elemente mit denjenigen gepaart, deren Eigenschaften gleichrangig sind – eine verzwickte, komplizierte, mühselige Arbeit, die volle Konzentration und Aufmerksamkeit erfordert.
Der Bildschirm flackert, und die Daten erscheinen.
Endlich! Das ist es!
Der richtige Sortiervorgang. Der richtige Datensatz.
Ist das der Beginn der Erhebung?
Für einen Augenblick zögere ich. Kann ich sicher sein, dass die Erhebung den Check-Error-Algorithmus außer Kraft setzen kann? Was, wenn nicht? Dann werden all meine Fehler registriert. Der Alarm wird ertönen, und die Funktionärin wird nachsehen, was ich da tue.
Meine Hände zittern nicht, als ich ein Element über den Bildschirm schiebe und gegen den Impuls ankämpfe, es dort einzusortieren, wo es richtigerweise hingehören würde. Langsam bugsiere ich es an seinen Zielort und ziehe mit angehaltenem Atem den Finger zurück.
Kein Alarmton.
Der Bug der Erhebung hat funktioniert.
Ich bilde mir ein, einen leisen, erleichterten Seufzer im Raum zu hören. Und dann kommt eine Erinnerung, die leicht wie ein Pappelsamen im Wind vorbeischwebt.
Habe ich so etwas schon einmal getan?
Nein, ich kann dieser Erinnerung jetzt nicht nachhängen, ich muss sortieren.
Es fällt mir richtig schwer, absichtlich Fehler zu machen, nachdem ich so viele Monate und Jahre meines Lebens damit verbracht habe, so perfekt wie möglich zu arbeiten. Ich handle wider meine Natur, aber die Erhebung will es so.
Normalerweise fließen die Daten schnell und ununterbrochen, doch diesmal entstehen zwischendurch kleine Pausen, in denen die Informationen neu geladen werden müssen. Das bedeutet, dass sie teilweise von außerhalb kommen.
Die Tatsache, dass wir in Echtzeit arbeiten, deutet auf einen gewissen Zeitdruck hin. Ob die Erhebung jetzt stattfindet?
Ob Ky und ich gemeinsam dabei sein können?
Ganz kurz nur stelle ich mir vor, wie die schwarzen Luftschiffe über die weiße Kuppel der Stadthalle hinweg einschweben und wie mir der kühle Wind durch das Haar fährt, wenn ich ihm entgegenlaufe. Dann presst Ky seine warmen Lippen auf meine, und diesmal ist es kein Abschied, sondern ein Neuanfang.
»Wir paaren!«, sagt eine Männerstimme in die Stille hinein.
Aus meiner Konzentration gerissen, blicke ich blinzelnd vom Bildschirm auf.
Wie lange haben wir sortiert? Ich habe hart gearbeitet und versucht, die Anforderungen der Erhebung zu erfüllen. Ab einem bestimmten Punkt bin ich völlig in den Daten und in meiner Aufgabe aufgegangen.
Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich etwas Grünes – die Uniformen von Wachen. Sie nähern sich dem Mann, der gesprochen hat.
Die Funktionäre habe ich gesehen, als wir hereingekommen sind, aber seit wann sind die Wachen hier?
»Für das Bankett«, sagt der Mann und lacht. »Da ist etwas schiefgelaufen. Wir sortieren für das Paarungsbankett! Die Gesellschaft kommt nicht mehr nach!«
Ich halte den Kopf gesenkt und sortiere weiter, doch in dem Moment, als sie ihn an mir vorbeizerren, hebe ich den Blick und sehe ihn an. Sie haben ihn mit einem Tuch geknebelt, so dass er nur noch unverständliche Laute ausstoßen kann. Einen Moment lang sehen wir uns in die Augen, dann ist er fort.
Mit zitternden Händen fahre ich weiter über den Bildschirm. Hat er etwa recht?
Sind wir wirklich dabei, junge Leute zu paaren?
Heute ist der Fünfzehnte. Der Tag des Paarungsbanketts.
Die Funktionärin damals zu Hause hat mir erzählt, die Paarung fände eine Woche vor dem Bankett statt. Warum wurde das geändert? Wodurch ist die Gesellschaft derart unter Druck geraten? Daten, die so kurz vor dem Ball ausgewählt werden, enthalten zwangsläufig Fehler, weil keine Zeit mehr bleibt, sie auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.
Außerdem hat die Paarungsbehörde ihre eigenen Sortierer. Die Paarungen sind für die Gesellschaft von größter Wichtigkeit. Bedeutendere Menschen als wir sollten sie vornehmen.
Vielleicht hat die Gesellschaft einfach nicht mehr genug Zeit und auch nicht genügend Personal. Irgendetwas geschieht dort draußen. Ich habe fast das Gefühl, als sei die Paarung bereits durchgeführt worden, müsse aber in letzter Minute noch einmal wiederholt werden.
Die Daten könnten sich geändert haben.
Beim Paaren repräsentieren die Daten Menschen: Augen- und Haarfarbe, Temperament, bevorzugte Freizeitaktivität. Was könnte sich bei so vielen Menschen so plötzlich geändert haben?
Vielleicht haben sich die Menschen nicht geändert. Vielleicht sind sie weg.
Doch was könnte eine solche Dezimierung der Gesellschaft verursacht haben? Bleibt noch ausreichend Zeit, um für jeden Einzelnen Mikrochips herzustellen, oder werden die silbernen Etuis heute Abend leer sein? Ob mit den anderen Sortierern etwas geschehen ist?
Ein Datensatz taucht auf und erlischt so schnell wieder, dass ich ihn kaum erkennen kann.
Wie Kys Gesicht auf dem Mikrochip damals.
Warum findet das Paarungsbankett überhaupt statt, wenn die Fehlerwahrscheinlichkeit so hoch ist?
Weil das Paarungsbankett das wichtigste Fest der Gesellschaft ist. Die Paarung ist die Voraussetzung für alle anderen Zeremonien; sie ist die bedeutendste Errungenschaft der Gesellschaft. Wenn das Bankett nicht mehr stattfindet, und sei es nur einen Monat lang, werden alle Bürger erfahren, dass grundlegende Umwälzungen im Gange sind.
Deswegen hat die Erhebung gerade jetzt den Bug eingeschleust, durch den einige von uns falsche Paarungen bilden können, ohne erwischt zu werden. Wir ruinieren den ohnehin schon fehlerhaften Datensatz noch zusätzlich.
»Bitte stehen Sie auf«, sagt die Funktionärin, »und nehmen Sie Ihre Tablettenbehälter heraus.«
Ich gehorche, ebenso wie die anderen. Hinter den Trennwänden tauchen Gesichter auf, verunsicherte Blicke, besorgte Mienen.
Seid ihr resistent?, würde ich die anderen gerne fragen. Werdet ihr euch hinterher an dies hier erinnern?
Werde ich mich daran erinnern?
»Nehmen Sie die rote Tablette heraus!«, befiehlt die Funktionärin. »Bitte warten Sie, bis sich ein Funktionär in Ihrer Nähe befindet, um die ordnungsgemäße Einnahme zu überwachen. Es gibt keinen Anlass zur Sorge.«
Die Funktionäre schreiten durch den Raum. Sie sind vorbereitet. Sobald jemand seine rote Tablette eingenommen hat, füllen sie dessen Behälter sofort nach.
Sie haben also bereits gewusst, dass sie die roten Tabletten irgendwann am heutigen Abend benötigen würden.
Hand zum Mund, Rot durch die Kehle, Erinnerung zunichte.
Erneut schwebt die kleine Erinnerungsflocke vorüber. Ich werde das ungute Gefühl nicht los, dass die vage Erinnerung irgendwie mit dem Sortiervorgang und der jetzigen Situation zu tun hat. Wenn ich mich doch nur erinnern könnte …
Erinnere dich. Schritte nähern sich. Sie kommen näher. Früher hätte ich mich das nie getraut, aber die Geschäfte mit den Archivisten haben mich Geschicklichkeit gelehrt. Ich schraube den Deckel des Behälters auf und lasse die winzige Notiz – erinnere dich – heimlich in meinem Ärmel verschwinden.
»Bitte nehmen Sie die Tablette ein«, fordert die Funktionärin mich auf.
Diesmal habe ich nicht solches Glück wie damals zu Hause. Die Funktionärin, die vor mir steht, wendet nicht den Blick ab, und es gibt kein Gras unter meinen Füßen, in das ich die Tablette treten könnte.
Ich will das nicht! Ich will meine Erinnerungen nicht verlieren!
Und wenn die rote Tablette bei mir genauso wenig wirkt wie bei Ky, Xander und Indie? Dann kann ich mich hinterher an alles erinnern.
Wie auch immer: Ky werde ich nicht vergessen. Ihn können sie mir nicht mehr nehmen, dazu ist es zu spät.
»Jetzt!«, befiehlt die Funktionärin, und ich lege die Tablette in den Mund.
Sie schmeckt salzig. Wie ein Schweißtropfen, eine Träne oder vielleicht ein Schluck Meerwasser.
Der Steuermann wohnt irgendwo in den Grenzgebieten. Er wohnt hier in Camas.
Er wohnt nirgends. Er ist ständig in Bewegung.
Der Steuermann ist tot.
Der Steuermann kann nicht getötet werden.
All diese Gerüchte werden im Lager flüsternd erzählt. Wir wissen nicht, wer der Steuermann ist, nicht mal, ob er männlich oder weiblich, jung oder alt ist.
Unsere Kommandeure erzählen uns, der Steuermann brauche uns und könne ohne uns nichts ausrichten. Uns wird der Steuermann dazu benutzen, die Gesellschaft zu stürzen – und zwar schon sehr bald.
Natürlich können es die Trainees nicht lassen, bei jeder Gelegenheit über den Steuermann zu sprechen. Manche spekulieren, dass unser Chefpilot, der unser Training überwacht, der Steuermann sei – der Anführer der Erhebung.
Die meisten Trainees wollen es dem Chefpiloten unter allen Umständen recht machen, so dass es schon fast peinlich ist. Ich nicht. Ich bin nicht wegen des Steuermannes bei der Erhebung, sondern Cassia zuliebe.
Als ich in dieses Lager gekommen bin, habe ich anfangs befürchtet, die Erhebung würde uns hier ebenso als Lockvögel benutzen, wie es die Gesellschaft getan hat, aber dafür hat sie zu viel in unsere Ausbildung investiert. Nein, ich glaube nicht, dass wir so hart trainiert haben, um dann in den sicheren Tod zu gehen. Doch was geschieht, wenn die Erhebung an die Macht kommt? Darüber wird nicht oft geredet. Es heißt, dann hätten wir alle mehr Freiheiten, und es gäbe keine Aberrationen oder Anomalien mehr. Aber das sind auch schon so ziemlich alle Spekulationen.
Die Gesellschaft hat uns Aberrationen richtig eingeschätzt. Wir sind gefährlich. Ich bin so einer, dem ein guter Bürger nachts nicht im Dunkeln begegnen möchte – ein schwarzer Schatten mit tiefliegenden Augen. Die Gesellschaft glaubt jedoch, ich sei längst in den Äußeren Provinzen umgekommen. Eine Aberration mehr, die sie losgeworden sind.
Ein fliegender Toter.
»Fliegen Sie zwei scharfe Kurven«, befiehlt die Stimme meines Vorgesetzten aus dem Lautsprecher im Armaturenbrett. »Eine Linkskurve nach Süden und dann sofort eine Rechtskurve nach Norden, beide bei hundertachtzig Grad.«
»Zu Befehl«, antworte ich.
Bei der Prüfung muss ich meine Koordinationsfähigkeit unter Beweis stellen und zeigen, dass ich das Schiff beherrsche. Bei einer koordinierten Wendung in sechzig Grad Schräglage ist die Schwerkraft, die auf mich und das Luftschiff einwirkt, doppelt so hoch wie im Normalfall. Ich kann keine abrupten Korrekturen oder Kursänderungen durchführen, weil sonst die Gefahr droht, dass ich das Schiff übersteuere oder es auseinanderbricht.
In den Kurven werden mein Kopf, meine Arme, ja, mein ganzer Körper tief in den Sitz gepresst, und ich muss mich anstrengen, um weiter aufrecht zu sitzen. Als der Druck schließlich nachlässt, klopft mein Herz, und ich fühle mich unnatürlich leicht.
»Hervorragend!«, lobt mein Ausbilder.
Man munkelt, ab und zu beobachte uns der Chefpilot. Er säße im Kontrollturm und verfolge unsere Manöver auf den Bildschirmen. Manche Trainees glauben, schon einmal mit dem Chefpiloten geflogen zu sein – er habe sich dann als Ausbilder ausgegeben. Ich glaube nicht daran. Aber dass er zuschaut, könnte durchaus sein.
Ich stelle mir vor, dass auch Cassia mich sieht.
Ich wende das Luftschiff. Beim Start hat es geregnet, aber die Wolken habe ich unter mir zurückgelassen.
Cassia ist weit weg. Doch wer weiß – vielleicht bewirken Sehnsucht und Luftspiegelungen, dass sie in den Himmel schaut und etwas Schwarzes sieht, und weil sie weiß, wie ich fliege, weiß sie, dass ich es bin. Es sind schon seltsamere Dinge geschehen.