GRAUZONE
Text // Daniel Ketteler
Illustrationen // Martina Wember
Q38 — Edition Belletristik
ISBN 978-3-940249-57-9
© 2012 Verlagshaus J. Frank | Berlin
Chodowieckistr. 2 / 10405 Berlin
www.belletristik-berlin.de
„Wir jagen auf unseren Vorstellungen und Empfindungen dahin. Weder können wir ihnen in die Zügel fallen noch aus dem Wagen, in dem wir vorwärts fliegen, herausspringen, um den Zuschauer zu spielen. Jeder Gedanke über unsere Vorstellungen ist eine neue Vorstellung.“
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THEODOR ZIEHEN:
PSYCHOPHYSIOLOGISCHE ERKENNTNISTHEORIE, 1907
Sie hat ihn bestohlen. Nun sitzt er wieder stumm in seinem dunklen Büro. Um etliche Kilo erleichtert, schlurft er durch seine unterirdische Höhle. Die Wände des Bunkers sind feucht – wie immer, wenn es kurz zuvor kräftig geregnet hat. Die nackte Felswand glänzt wie eine überdimensionale Schleimhaut. Wurzeln wuchern aus der Decke, Gummistalaktiten, roher Fels. Dazu ein andauernder, modrig-pilziger Geruch in der Nase. Der Luftentfeuchter läuft auf Hochtouren, es dringt ein Summen ins Ohr, unterbrochen nur vom gelegentlichen Platschen dicker Wassertropfen in die aufgestellten Eimerchen. Im Halbdunkel Schatten, Hirngespinste, Erinnerungen. Und das untrügliche Gefühl, die gummiartigen Wurzeln könnten ihn jederzeit wie belebte Lianen packen, seinen Brustkorb umschlingen und ihn strangulieren. Er würde, unbeweglich und flachatmig, verhungern wie eine Fliege in altem Spinnweb. Sein Nest ist jetzt ein Netz. Es ist alles aus den Schubladen gerissen und durchwühlt. Auf dem Schreibtisch, auf der schweren Eichenplatte, stapeln sich die Zeichnungen. Der bunte Briefbeschwerer, die Glaskugel ist auf den Boden gerollt. Klebt Blut daran? Einige der kostbaren Papiere sind aus lauter Hast zerrissen. Man hatte es eilig. Schnell sollte es gehen. Die Diebin, die Vertraute, sie ist auf der Flucht. Den Bestohlenen erfasst ein Schwindel. D. lässt sich nieder auf dem schimmligen Schemel, er hat den Kopf auf die dünnen Arme gestützt, atmet gequält, die Lunge pfeift, das Asthma, die Luftfeuchte. Der Kiefer starr, die Bewegungen wächsern, das Denken zäh. Um den Kopf: ein Stahlriemen aus Medikamenten. Wie ein Bleihelm drückt der Schädelknochen aufs Gehirn. Das muntere Zwitschern der Gedanken, das sonst die Kalotte durchsaust, dieses vielstimmige, kaum zu dirigierende Orchester: wie ausgeknipst.
Feige und im Staube des Geschehens hat sie sich davongemacht, die Vertraute, hat sich seine Erfindung einfach unter den Arm geklemmt und weg. Wie angeschossenes Wild dreht er sich nun, drehen sich seine Gedanken im Kreise. Er war sich sicher, er würde sie, einmal in den sehnigen Händen, nicht mehr loslassen, würde sie würgen, bis ihr sonst so hysterisch-plapperndes Maul verstummte.
Versteinert starrt er gegen die Wand, ein Wassertropfen löst sich von der Wurzelspitze, kalte Spritzer benetzen die nackten, schwarz-braunen Füße, ein öliger Film bildet sich auf der altersfleckigen Haut.
Sie hat ihn bestohlen: M., Tochter des Klinikdirektors. Nie hätte er sich ihr anvertrauen dürfen. Leichtgläubig hatte er ihr das Versteck gezeigt, die Steinplatte angehoben und voller Stolz auf das Prachtstück, auf die kostbare Apparatur, gezeigt. Fröhlich hatte er angefangen zu plaudern, ihr seine neuesten Theorien zur Synchronisation psychischer Energien dargelegt, sich in Euphorie geredet, sich sogar die Blöße gegeben, einzugestehen, dass er im Grunde selbst nicht genau wisse, wie er es geschafft habe, ein derart rauschfreies Bild fremder Gedanken im eigenen Kopf zu reproduzieren. Einen Vorläufer davon habe sich der Alte ja bereits unter den Nagel gerissen, aber das hier, das sei sie – die Perfektion. Er war dann sentimental geworden, hatte von Übernatürlichem geschwätzt, dem göttlichen Funken. Heilen könne man am Ende mit dieser Kur, verrenkte Gedanken wieder gerade rücken, dem Wahn, der Dauerverwirrung ein Schnippchen schlagen. Es wäre das Ende der Medikamentenfolter, eine späte Revolution. Dann wieder der Zweifel an der Erfindung.
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Das Phänomen der Nacktschneckenplage rings um das Klinikgelände: Morgens schwärmen sie aus auf die kühlen Wege, kriechen hervor aus dem kniehohen Gras. Amorphe Seelenwesen, Elektroschleim. Die Vorstellung, die Tiere könnten Seelenfäden aus der Luft angeln, diese zu Brei verdauen. Die fressen sich auch tatsächlich gegenseitig. Hocken zu Knäueln auf ihren versehentlich platt getretenen Artgenossen und schlürfen die modrigen Säfte der Verwandten in ihre Gallertkörper. Seelenwanderung.
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Wie bei einem dieser neumodischen Computerspiele muss er tatenlos dabei zusehen, wie der Rest von Lebensenergie – das letzte ihm verbleibende, schmale Reservoir an Lebenszeit – auf einen immer kümmerlicheren Rest zusammenschmilzt. Schon spürt er, wie sein Atem flacher wird, wie das Herz unregelmäßiger schlägt, wie der Puls wie ein dauerndes Anrennen gegen die Schädeldecke hämmert. Hustenanfälle, Blut im Taschentuch. Hochdruck. Die alterschwachen Knochen, Rumoren im Gedärm, aufgestaute Wut. Der Rücken ist schwer gebeugt, die englische Krankheit, Kyphosen, das Höhlenbewohnersyndrom.
Bei einbrechender Dunkelheit war er um ihr Elternhaus geschlichen. Heruntergelassene Jalousien. Im toten Winkel der automatischen Beleuchtung schlich er zum Postkasten, plünderte ihn heimlich; mit dem hageren Ärmchen hatte er ein paar Briefchen herausgefischt: Stromrechnung, Kondolenzschreiben. Gehaltsabrechnung, Pizza-Express. Dann: der Brief eines Reisebüros. Herzklopfen, hektisch zerriss er das Couvert, der glatte Rand kratzte am Finger. D. riss das Schriftstück hervor, lutschte an der Wunde. Eine Rechnung, ein hoher Betrag. Na die hat Sorgen. Aber kein Reiseziel.
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Ob Lippenstift ein Verfallsdatum hat? Unter der abgezogenen Kappe, klack, schraubt sich eine rote, schon verkrustete Farbwurst hervor. Lange nicht benutzt, das postpubertäre Relikt. Pomadepenis, klebriger Stecken. Zynisch-breites Grinsen in Richtung Spiegel, fast reißt die brüchige Haut in den Mundwinkeln, das böse Leuchten in den, doch, so kann man sagen, immer noch schelmisch-jungen Augen. Ein paar Tropfen Wasser machen den Lippenschaft wieder geschmeidig. Nun zärtlich mit dem Finger über den roten Phallus gefahren und dann wie seit Jahren nicht mehr dick auftragen, die farbige Paste. Bisschen Fettcreme auch auf das mit ersten Falten überzogene Dekolleté, die Brüste per Hand austariert, alles am rechten Platz. Wühlen in Tablettenblistern, wo ist denn nur das Zahnputzzeug, alles in dem abgenutzten Kulturbeutel. Wildes Durcheinander auch bei den Comicfiguren, die sich seit Jahrzehnten auf dem Mäppchen prügeln. Zack, boing, peng. Im Zahnputzbecher rasch einen Bodensatz Champagner runtergekippt. Gleich beginnt das Abendprogramm. Noch schnell die Augenbrauen nachgezupft, süßer Schmerz, feine Linie. Es wird konkret.
Pubertät im Schnelldurchlauf: die spacke Lederjacke, den Hintern zusammengekniffen in der Stretchhose. Der nicht mehr ganz junge Leib zusammengehalten durch ein rotes Stretchtop, das wiederum elegant korrespondierend mit dem übertrieben-grellen Lippenrot. Sie sieht jetzt aus wie eine dieser britischen Gören vom Schüleraustausch, damals, als man sich aus Spaß im Kunstnebel und Laserlicht mit grellfarbigen Gotchapatronen beschoss und sie in einem der Plastikbunker, mitten in all dem Geknall und Gekreisch, ihren damaligen Schwarm, den sonst so liebenswürdigen Frank, hinter einem Tarnnetz mit diesem britischen Bomberjackenpuppie entdeckte. Nie wird sie die Wut vergessen, mit der sie auf den halbnackten, völlig panischen Freund mit einer Gotchasalve nach der anderen eindrosch. Trommelnder Discosound, die Schreie des Gepeinigten überhörend, das Zerplatzen der roten Farbkugeln auf der zartrosa Jungenhaut.
Frank säuberte sich damals, M. sah ihn durch die Laserlichter davonschleichen. Verstohlen kroch er, nur halb angezogen und bunt besprenkelt, im Nebel davon. Macht über diese kleine Hexe, den zerlaufenen Schminktisch. Die kleine Schlampe keines Blickes würdigend, stand sie einen unendlichen Moment da, in ihrer neumodischen Plastikrüstung: Jeanne d’Arc, unantastbar, stark. Maskierte Megäre, rasend durch den Freizeitpark, buntes Laserdiskolicht, bühnenreifer Nebel.
Und nun der Blick in den Spiegel. Dort die roten Bäckchen, genau wie die britische Göre, nur in erwachsen. Wie ein reingezwickter Mädchenhintern. Gefallen wollen. Zum Beispiel dem Gotchaparty-Frank, von dem sie bis heute träumt, sie hätte seine Wunden, nachdem die Britin abgezogen war, gepflegt, seine Haut mit feuchten Tüchern gesäubert, seine blauen Flecken mit Küssen liebkost usw.
Sie muss ihn gestern wie ein Nilpferd angestarrt haben, den Franzosen. Telepathisches Ringen um Zuneigung. Der mit seinem reizenden, leicht dümmlichen, immer latent unbeteiligten Gesichtsausdruck. Macht sich rar der Typ. Alter Trick. Funktioniert aber. Den ganzen Tag brannte das Verlangen, hatte sie am Strandhorizont nach dem jungenhaften Körper des Berufsjockeys Ausschau gehalten.
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Berger hatte ihn in die Geheimnisse der Psychophysik eingeweiht, ihn für die anfangs belächelte Idee der Gedankenübertragung begeistert. Aufmerksam geworden war der Ordinarius auf D. durch dessen perfekten Nachbau eines Sphygmographen, eines Messgerätes zur Aufzeichnung von Pulskurven. Die handwerkliche Präzision, gepaart mit der Idee der psychophysischen Korrelation, das Geschick des damals noch jugendlichen Konstrukteurs, dessen Wissensdurst hatten den Meister sofort für D. eingenommen.
Von der Radiotechnik und den Pulspsychogrammen zutiefst fasziniert, lag es nahe, die Methoden miteinander zu kombinieren.
Bereits im Kindesalter hatte sich D. in die unterschiedlichen Formen des Morse-Alphabets vertieft, war mit der Hand durch die Luft gefahren, getrieben von der Vorstellung, unsichtbare Informationen herauszufischen. Wie ein Planktonsieb am Grund des Wassers: darin verfangen sich feine Traumtierchen, Copepoden, Krill, Pfeilwürmer, Polychaeten, Tunicaten, Kammerlinge. Die Vorstellung, dass das komplette Universum in einer Kiste auf dem Dachboden eines Riesen Platz fände. Mise en abyme. Einfach die Ohren auf die Bahnschienen gepresst, dem Rumpeln zwischen den Seiten der Indianerbücher gelauscht.
Einmal hatte er Schläge bekommen, da war dem Stiefvater die Hand ausgerutscht. Seine Neugierde hatte D. dazu getrieben, das nagelneue Empfangsgerät der Familie zu zerlegen. Im Zentrum des Geschehens: die Elektronenröhre, Herzstück, gasgefülltes Vehikel eines Elektronenstrahls zur Gleichrichtung, Erzeugung, Verstärkung oder Modulation elektrischer Signale. Staunender Respekt vor der technischen Präzision, der neuartigen Röhrentechnik, Kathode und Anode, das scheinbar schon auf Distanz zu spürende Kraftfeld, welches von der Maschine ausging. D. schwört noch heute auf die Vorteile des Röhrenempfängers gegenüber dem Transistorradio. Robustes Fossil. Ohne die Erfindung des Radios wäre seine Maschine nicht denkbar. Der prügelnde Stiefvater vergaß stets zu erwähnen, dass sein Sohn das Gerät wieder Schraube um Schraube zusammensetzte, als sei nichts gewesen.
D. war Berger im Rahmen der täglichen Klinikverrichtungen aufgefallen. Vertieft hatte er in einer Ecke gehockt, Elektroschrott um sich gestapelt. Anfänglich hatte der Arzt das Ganze als Tic, als manierliches Verhalten abgetan. Zudem war die Hälfte der Apparatur einem Zimmerbrand zum Opfer gefallen und die notdürftige Isolation der Kabel in Flammen aufgegangen. All das roch streng und wirkte völlig krank und hilflos. Dementia praecox.
Bis D. seinem Arzt, Prof. Berger, bei einer Visite plötzlich das stinkende Bakelittelefon an die Ohrmuschel drückte und dieser zusammenzuckte: da war tatsächlich ein Rauschen zu hören! Wortfetzen wie im Traum oder kurz vor dem Einschlafen, Akoasmen und Hall. Neben dem Apparat lag ein schlafender Mitpatient, auf dessen Kopf eine Art Trockenhaube, Lockenwickler in den Haaren. D. erklärte: Jawohl, das seien die Gedanken. Alle grienten. Berger war geschockt. Er selbst hatte es gehört, ganz kurz, das Flüstern der Gedanken, den schlafenden Irren. Später fragte er sich, ob das eine Halluzination gewesen sein könnte, aber er war sich sicher: Damals, da hatte ihn etwas angefaucht, diese etwas frequenzbeschleunigte Stimme war in Windeseile über sein Trommelfell gehuscht: „… Kleine Schlenker haben Beine ... ich werde sie fassen an den Fersen …“ So etwas in der Art. Berger starrte auf das Kabel. Es führte zur Trockenhaube. Er zog sie dem Schlafenden vom Kopf. Der erwachte und schielte nach hinten, gähnte, man sah Zahnstummel, er rieb sich die Augen. „Das kribbelt, bisschen wie Brause.“ Berger prüfte den Inhalt der Haube. Sollten seine eigenen, jahrelangen Versuche mit dem Elektroenzephalogramm etwa weniger von Erfolg gekrönt sein als das einmalige Hören an diesem halb verkohlten Telefonverstärker? Es war ein altes Küchensieb, darin gebrauchte Elektroden. Woher D. die habe? „Aus dem Müll.“ Berger erinnerte sich, er hatte, seit das neue Siemens-Gerät zur Verfügung stand, alte Teile entsorgt. Er hatte den Krempel, sicher etwas unachtsam, in einen umherstehenden Eimer geworfen. D. stolz: „Und Ihre Mitteilungen habe ich gelesen. Natürlich, und erst das Singen der Flamme!“
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D., der Unterschätzte. Klar, ein bisschen konfus war er, nicht immer auf Linie. Aber warum man ihn nicht wollte im Leben, da draußen, das hatte er sich immerzu gefragt, das fragt er sich noch heute. Klar, er hatte sich quergestellt, nicht zuletzt dem prügelnden Stiefvater. Er hatte die Dreistigkeit besessen, seinem vermeintlichen Gönner die Arbeit zu verweigern, asozial nannte man das. Dieses kleine Wort, wie eine beiläufig hingeworfene Diagnose. Er hatte sich in seine Spezialinteressen vertieft. Albern hatte der Alte das gefunden, Spinnereien eines Heranwachsenden. Aber er hatte es durchgehen lassen, solange D. das Vlies schwang, solange die Stube glänzte. Alles ging gut, bis sich D. ganz auf das Eine zu konzentrieren begann. Er grub Gänge ins Innere. Wenn er sich erst selbst genug inwendig kannte, könnte er auch den Durchbruch in den Anderen schaffen. Es schien nicht mehr weit, wie in einem Stollen arbeitete er sich vor. Die Ärzte sagten, er habe gepredigt. Der Tante, einer gläubigen Katholikin, gefiel das. Sie betete Rosenkränze, streichelte D. über seine schwarzen Locken. Mit den vorstechenden Wangen, den noch blitzenden Augen sah er tatsächlich aus wie ein junger Jesus. Er maß den schmalen Grat, der Himmel und Boden voneinander trennt, den Spalt, der immer enger wird und einen am Ende fast zerquetscht. D. hatte jetzt mehrere Tage bei seinem Onkel im Keller gesessen. Das war sein Lieblingsplatz. Zuerst hatten ihn die Waren dort unten interessiert, mit seinen Händen wärmte er Schrauben an, drehte Gewinde mit der lauten Maschine. Er drechselte und pustete sich dann die Holzspäne von den Armen. Oberlippenflaum spiegelte sich im Lampenglas, es roch nach Holz und kaltem Kalk. Dann hatte er sich gefragt, warum die Temperatur an den Wänden stieg und zur Mitte der Örtlichkeit hin abfiel. Hin und her war er geschritten, hatte alle Sensoren ausgefahren, sich ganz auf die Temperaturen konzentriert. Mit der Wange lehnte er sich an den kühlen Backstein, und war eine zeitlang – die Ärzte behaupteten Stunden – dort verharrt. D. schloss die Augen, sog Luftschichten ein, indem er wiederholt aus der Hocke nach oben fuhr. Es war eine Art Trance. Jetzt war er ganz inwendig. Wie eine Jacke, der man das Fell nach außen stülpt. Theta, 4–8 Hertz, gerade so, dass es nicht ins Delta kippt. Nicht jeder kriegt das hin, hatte der Berger später geflüstert, es sei ein Talent, eine spezielle Disposition.
D. erinnert sich noch an den Moment, als sie kamen. Sicher, er hatte Angst, kauerte hinter einer der Tonnen. Der Onkel hatte schon Tage vorher mit dem Heim gedroht, Erziehung und Strenge eingefordert, hatte die leiblichen Eltern beschuldigt, besonders den Vater. D. roch eine sich täglich ausweitende Schnapsfahne. D. bäumte sich auf, als der Vater wieder schrie. D. habe keine Angst mehr vor ihm, er werde sich nichts mehr bieten lassen und notfalls weglaufen. Ganz locker hatte D. das hingesagt. Dann sackten ihm die Beine weg. Er sah atemlos zu, wie sein Gegenüber nach einem schrundigen Holzscheit griff. D. sah, wie der Vater die armlange Holzlatte hielt, wie die sonst so rote Hand sich des Blutes entleerte. In einer Starre stand er da und sah, wie sein Stiefvater im Halbdunkel die Waffe hob. Das Lämpchen zitterte auf. Dann schrie D. Er schrie so laut er konnte, schrie, dass selbst der Alte einen Schreck bekam. Im Augenwinkel tat sich etwas. Die Nachbarn kamen hereingeplatzt. Es war die Dicke von nebenan. Und D. schrie weiter wie am Spieß. Er schrie so lange, bis er zusammensackte. Die Dicke von nebenan näherte sich zaghaft, er schrie von Neuem. Seine Stimmbänder würden nicht mehr lange halten, die Klangfarbe, ein dünnes Braun, ein matschiges Wimmern. „Die holen dich, kommst unter Verschluss …“
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Berger hatte von einem Besuch Kihns berichtet. Dieser Schmarotzer habe sich selbst eingeladen und sich dann scheinheilig bei der Frau beliebt gemacht, nicht zuletzt indem er den Kindern dauernd mit seiner schmierig-kalten Klaue über das unschuldige Haar streichelte. Ein Ekel im Ganzen. Schon hatte er die Statur der Tochter gelobt, die ordentlichen Zöpfe. Beim Essen versuchte Kihn mit dem Besteck wie ein Hochadeliger zu jonglieren. Natürlich habe auch Berger dessen (unerträglich misanthropen) Artikel über die Ausschaltung der Minderwertigen aus der Gesellschaft gelesen und allein die Vorstellung, D. könne in Kihns Augen am Ende so eine Ballastexistenz sein, machte Angst. Mit Fadengläsern hatte Kihn die Frau beeindruckt. Fadengläser und Champagner. So ging es. Schon bald war Berger aus dem Amt. D. hatte es geahnt. Kurze Zeit früher waren sie unter Tage gegangen. Der Keller war jetzt der Ort, war ihr Ort, das Labor. Jahre später tauchte der Name Kihn im „Spiegel“ auf. Pluszeichen habe er gemacht, Pluszeichen oder Kreuze, redete sich raus. Auch Berger habe Pluszeichen gesetzt, da macht man sich nichts vor, die sind ja alle gleich – bis heute. Die Seelenheiler, das sind Monstren, da ist sich D. jetzt sicher. Die Nazis hätten ja durchaus ihren spröden Charme gehabt, das Schneidige, dass gefiel ihm, dem Berger, diese Stringenz, das Elektronische am Ganzen, die elektrisierte Menge, Pole wie bei einem Stabmagneten.
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Allabendlicher Aufmarsch. Reservistenparade im Luxushotel. Die älteren Herrschaften – wie immer zuerst da, verpulvern ihre Rente am Kuchenbuffet, sichern sich dicke Kuchen, in altem Fett gebacken. Schweinerei, wie die sich das Zeug kiloweise auf die Teller schaufeln, ohne überhaupt an den Hauptgang zu denken. M., wie immer alleine an Tisch 26, vor sich eine Flasche Tafelwein, rot, Bordeaux, Import – die allenorten angepriesene, hiesige Plörre ist leider kaum zu genießen. Langstieliges Glas, mäßig-krampfige Schlückchen, als habe sie Halsweh. Zusammen mit den Tabletten macht das nach der Hitze ziemlich blöd. Vielleicht wird sie sich ja auch noch mit dem Franzosen intensiver unterhalten – Kopfkino, verschmolzene Körper – das Glas schnell wieder abgesetzt.
Hinten am Strand steuert ein Klimbimverkäufer eine Horde Abiturienten an. Die haben sich mit ihren Surfbrettern hübsch nebeneinander in der Abendsonne aufgereiht, stürzen ein Bier nach dem anderen in ihre überhitzten Leiber. Es ist, als ob die glatten Gesichter in der Abendsonne rot verglühen. In seinem Hochmut fummelt einer der Jungspunde mit einem Rolex-Imitat großspurig vor dem armen Hippiestrandsklaven mit dem nimmerleeren Bauchladen herum.
Die präpotenten Kerle sind ihr mindestens genauso zuwider wie das degenerierte Rentnerpack. Nichts kann deren mit Selbstverständlichkeit zu Schau gestelltes Selbstbewusstsein trüben, Mallorca-Affen, Schweißbandträger, Pimmelküken. Man sollte sie alle zu Tode spritzen mit einem fiesen Cocktail, zack. Heute Nacht wird der Rädelsführer, der mit dem V-förmigen Oberkörper, mit seiner vom Sonnenstich enthemmten Bierlaune widerwillige Strandmäuschen zu sich ins Zimmer zerren. Ihr würde einmal mehr nichts anderes übrig bleiben, als einsam durch die kühlen Betonflure vor den Appartements zu schleichen und an den Türen das unflätige Stöhnen zu belauschen. Nagen am Aas. Das zarte Sich-Ergeben hinter dem Sichtschutz, hinter der Tür, der undurchdringlichen Rigipswand. Ein Wimmern, mit einem letzten, schweren Seufzer sanft verstummend. Unter dem Türschlitz weht ein feiner Zug, Wind, der einem die Härchen aufstellt. Kühler Abendwind auch bei geöffneter Terrassentür, feinste Geruchspartikel, pheromongeschwängerte Vernebelung, homöopathisch aufdosiert. Mit stockendem Atem wird sich M. gegen den kalten Sichtbeton lehnen, aufatmen und durch das modische Synthetik-Strechtop die Kühle auf der Haut spüren, dann ihre Stirn am Asphalt reiben, den kalten, klaren Kopf. Dazu ein hubschrauberartiges Dröhnen im Unterleib. Wie gewöhnlich kurz darauf Gerumpel im Zimmer, Stühlerücken, Reißverschlüsse, ritsch-ratsch, „Hilf mir doch mal …“, eine melodiöse Mädchenlache, Toilettenspülung, Mülleimer, klapp, klapp. Darauf folgend ein hastiger Aufbruch, Geschnalze und Gekicher. Sie muss ihre heißen Ohren vom Furnier lösen. In letzter Minute zieht sich M. zurück, geordneter Rückzug. Sie würde beobachten, wie sich nach einer kurzen Anstandszeit die Tür des Appartements öffnet, wie die beiden im Schatten der Treppe hinunter zur Bar schlendern, um einen fruchtig-postkoitalen Calypso-Hausdrink einzunehmen.
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D. vertraute sich der kleinen Psychiaterin an. Was blieb ihm anderes übrig, er sei doch zu unrecht hier, stecke fest, sei in der Falle. D. sprudelte, predigte: „Hab ja selbst nicht recht glauben können, dass es funktioniert. Aber es gibt, ich bin nicht der erste, der dies annimmt, universelle Felder, das sind die Grundmuster jedes biologischen Systems. Das ist kodiert, quasi fix kodiert. Nenn es morphogenetisches Feld, nennt es Entwicklungsfeld, was auch immer. Das sind so Strukturen, die bereits an einem Ort existieren. Es ist ein Leichtes für sie, sich auch an anderen Orten zu manifestieren. Man sieht so was an Kristallstrukturen, es sind Gedächtnisse der Natur. Es ist wie Kunst, denn alles speist sich aus Vorangegangenem. Nimm die Bibel, nimm Homer, nimm irgendwelche Steinplatten, immer war es schon da. Diese Schmierereien. Vergiss die Naturgesetze! Natur bedeutet nicht Gesetz, Natur bedeutet Gewohnheit. In den 20ern hat man zum Beispiel die Fähigkeit von Ratten untersucht, aus Labyrinthen herauszufinden. Ratten, verstehst du, Frau Doktor? Zuerst brauchten die Viecher 165 Fehlversuche, bevor sie ohne Fehler durch das Labyrinth fanden, nach einigen Generationen waren es nur 20! Unglaublich, oder? Einfach so. Das blieb aber völlig unbeachtet! Das Ergebnis mein ich. Denn alles, was irritiert, bleibt unbeachtet, das passt nicht ins Konzept. So wie das hier! Darwin war in damals, verstehst du, er ist es noch heute, aber das hier, das ist nicht Darwin, das ist nicht Vererbung durch Zufall, das hier ist Vererbung nach Training, ist Vererbung nach Lamarck. Da wird der Hals der Giraffe umso länger, je höher die Bäume wachsen, das ist kein klassischer Evolutionsprozess, das hier ist einer, der quasi epigenetisch zurückwirkt, da ist nichts prädestiniert, da findet Kopplung statt. Jeden Tag und jede Sekunde. Und würde man genau schauen, man hätte es merken können. Man muss auf dem Kopf gehen, dann ist auch Luft in den Zehen ...“
Die junge Ärztin schien ihm noch offen zu sein, nicht so verrannt in ihre Lehrbücher wie der schlaksige Kerl von der Notaufnahme. Klar, so argumentierte D., er habe mit dieser Eisenstange ein wenig am See rumgebohrt, es sei ja einfach nicht mehr gegangen, er musste sich erleichtern, habe die Bürde der Erkenntnis nicht mehr ausgehalten, trage daran schwer, das sei ja eine gewaltige Last, die er nun schon seit mehr als 30 Jahren mit sich herumschleppe. Er habe ein Burnout, sonst nichts. Das Wissen gehöre in verantwortungsvolle Hände, jawohl, er könne Gedanken übertragen, jetzt sei es raus.
Das Haldol begann zu wirken, D. murmelte noch etwas weiter in sich hinein, lag auf der Gummimatratze, das Pissoir aus Pappe neben sich, in einem Anstaltshemd mit Blutfleck. Er murmelte „Auf dem Kopf gehen … Luft in den Zehen …“ Dieser Mann tat M. leid, der war anders als die Anderen, der war klarer im Blick. M. schloss, zweifelnd an ihrer Diagnose, die schwere Tür des Isolationszimmers. An der Innenseite war der blecherne Schutz vom vielen Dagegenrennen schon ganz abgemackelt.
Ein dicker Mann, frisch zurück aus Übersee. Er lupft seine verspiegelte Sonnenbrille, Lichtstrahlen schleudern umher, Stäbchen und Zapfen, der über den Tag erhitzte Beton. Wie ein Prisma zerstreut die Sehhilfe Lichtstrahlen, blinkt und blitzt sie in der zitternden Hand. Photonen und Solar. Raumladungszone, Halbleitertechnik. Jetzt pulsen die Elektronen, rührt sich das Silizium. Ab in den Akkumulator. Sieben Stockwerke tiefer freut man sich über ein reibungsloses Funktionieren der Brotschneidemaschine, über das Pfeifen des Eierkochers. Dampfende Pfannen, Anrichten der Brotkörbchen, das Schneidrad, wie es summt und brummt. Der Sonnenstrom. Und während sich das Zählwerk im Nachbarraum gemächlich dreht, sich die Sonne langsam neigt, quetscht der Filmkenner Sonnenfett auf seinen behaarten Arm. Unter dem UV sind schwitzende Melanozyten, Rötung der Kopfglatze, eine scharf-surrende Kreissäge, Brot zerteilend. Die Küchendame denkt an ihren Sohn, wie prächtig der inzwischen gediehen ist. Bald wird auch er mit einem Scooter durch die Gegend brausen wie all die anderen Kids. Ein Helm wäre mit Schützenhilfe des Vaters schnell für uncool erklärt. Sie nimmt sich vor, diesmal unnachgiebig zu sein, zwei Mütter hat sie schreien hören um ihre Söhne. Dazu der Weihrauchschwenker, Friedhof und staubige Erde.
Surrende Klinke, Ratsch, ratsch, wütendes Brot: Finger ins Schneidrad, ziehender Schmerz, das Messer dreht sich weiter, dreht sich aus. Tief im Fleisch, da rattern die Zähne am Knochen, während, nach einem kurzem Aufschrei, die Umstehenden herbeistürzen. Tücher werden der bleichen Frau um die Hand gewickelt, ein Tapeverband angefertigt. Nach kurzer Zeit auf dem einsamen Stuhl zieht sich die langjährige Angestellte einen strammen Gummihandschuh an, zurück am Platz, verrichtet sie Putzarbeiten, pochender Finger, alles halb so wild. Blut suppt durch Mull, durch den Handschuh glänzt es rot.
Krack, ein Ruck am Bambusstuhl. M. zuckt zusammen, da liegt er, der kleine, erschrockene Junge, neben dem Stuhl, weit aufgerissene Augen. Der kindliche Moment, in dem sich Lachen und Weinen scheiden, ein fast unmerklicher Gesichtskrampf und schon weicht das Entsetzen einem schallenden Gelächter. Quietschend rennt er nun auf seinen kleinen Bruder zu, schlägt wild lachend auf ihn ein, auf ihn, der ihn in diese peinliche Lage gebracht hat, der ihn vor den Stuhl dieser verkniffenen strengen Lippenstiftlady schubste, vor die Füße der strengen alten Frau mit der randlosen Brille. Gleich wird sie ihn an den Ohren herbeiziehen, die Kinderdomina, hat sicher so einen Kinderofen wie im Märchen, und Finger wie Stöckchen.
M. würde liebend gerne mal so richtig zutreten, der kleinen Ratte, von seinen bürgerlich-saturierten Eltern unbemerkt, den Po versohlen. Allein der Gedanke daran wirkt entlastend.
Von dem Zwischenfall in die Realität katapultiert, widmet sie sich wieder dem verhassten Gemüse auf ihrem Teller, die Erbsen wie immer abgezählt, drapiert zu einem kleinen Parcours. Eine alte Angewohnheit, zugleich Statement gegen die schmatzenden Kuchenbuffet-Rentner. Dann, ein Ritual, alles mit der Gabel durcheinandergewirbelt und mitsamt den Kroketten zermatscht. Schon biegt sich die Gabel unter dem Druck der Hand, stampft und matscht mit voller Härte auf ihrem Teller herum. M. nimmt eine Scheibe Brot, sieht Blut daran, fremde Körperzellen. Betrachtet den frischen, schon tief ins Backwerk gesogenen Tropfen. Legt es zurück, das Stück, reibt die Hände am Tischtuch, will sich beschweren, lässt es, nimmt das Brot, und beißt beherzt hinein, speichelt den Brocken erstmal kräftig ein, spürt den Würgreiz. Stellt sich vor, wie die fremde DNA im Magensaft angedaut, wie sie von Enzymen zerlegt, in Basenpaare gebrochen und schließlich zu Molekülen recycled wird.
M. jongliert einen Dessertteller am Franzosentisch vorbei. Auf dem dick geknüpften Teppich läuft es sich wie auf Watte. Der Gedanke, sich einfach fallen zu lassen, eine kleine Sauerei auf dem roten Orientteppich zu veranstalten, sich dann hilflos hochziehen am Tischtuch, alles runterreißen und die verkleideten Servicepinguine aus ihrer gestellten Ruhe bringen. Schmiert stattdessen gelangweilt an einem Kräuterbutterbrot herum.
Den Kopf kurz angehoben, schamhaft treffen sich Blicke. Das Frauchen zwei Tische weiter schaut hastig und wie zufällig in eine andere Richtung. Schluck Rotwein, jetzt schon beherzter, das Glas in einem Zug geleert.
Wie sie so etwas immer gehasst hat, genau wie den strengen, angewiderten Blick des Vaters von der Seite, die Aufforderung des alten Erbsenzählers, schneller, gesitteter zu essen. Zügig, wortlos. Der alte Anhedonist stopfte sich zuletzt fast faustgroße Klöße zwischen die Backen. Ihr blieb das alberne Gematsche, der stille Protest. Aus Trotz hatte sie immer weniger zu sich genommen; je fetter der Vater wurde, desto weiter schrumpfte sie zusammen. Danach folgten endlose Diskussionen mit der Psychologin, einer Freundin der Familie, deren ständiges Nachgebohre: „Fühlst du dich denn nicht mehr wohl in deinem Körper?“ Mitleidiger Blick: „Ist es dir unangenehm, was mit dir geschieht? Kenn ich, das war damals nicht einfach, das Wachsen von allem? Die Brüste.“ Ihr wurde schlecht. „Und weißt du, das mit dem Bluten, das ist auch ganz normal, wenn man sich da zunächst schämt. Hast du … Sehnsüchte? … Natürlich nur, wenn du magst.“ Sie konnte das kaum ertragen. Mochte sich die Ohren zuhalten und tat das am Ende auch. Das war alles nur eine weitere, übergriffige Schamlosigkeit des alten Kontrollfreaks, ihm diese ehemalige Fickfreundin vor die Nase zu setzen. Der könnte M. immer noch das bohnenweiche Hirn zerquetschen. Dann kam sie mit Inzestkram, geilte sich förmlich daran auf. Vater war ein Specht, Duschen ging nur noch mit Abschließen und genau auf solche Details hatte es die Psycholady dann auch abgesehen. M. nahm weiter ab, machte sich dünn, riss aus. Einmal wurde sie sogar im Kastenwagen vor die Tür des Professors zurückgefahren. Das war ein kleiner Sieg. Es waren sogar die gleichen Polizisten, die sonst die Irren rumkarrten. Mürrisch hatte der Alte in der Tür gestanden, steif wie eine Geisha mit seinem lächerlich rot-umbordeten Morgenrock. Endlich ist er tot, essen kann sie den Brei immer noch nicht, kriegt die Pampe einfach nicht runter, kann aber auch das Matschen nicht lassen. Sie wollte sich das eigentlich längst abtrainiert haben (die Kollegen guckten auch immer so indigniert), allein: Es wollte nicht gelingen. Ein Blick auf das Angerichtete: braune Matsche, da krampft es ihr glatt den Schlund zusammen.
Die Kellner, Pinguine, verkleidete Fischerjungen, tänzeln munter auf und ab, schwatzen ihren Hotelgästen billigen Fusel als erlesene Tropfen auf. Dazu die Prunksucht der Rentner, deren protzige Colliers, halb in den Fettfalten versinkend, massige Nahrungsreste auf dem Teller (halb angebissene Hähnchenschenkel, angenagte Backpflaumen, Fettgebäck und Feigen). Überfüttertes Nachkriegspack! Wieder zuhause bei Kaffee und Kuchen werden sie mit dem Überfluss prahlen, wer soll das nur alles aufessen …? „Reichlich“ war es, „reichlich“, genau, das ist das Wort. M. will denen am liebsten auf der Stelle die Reste vom Teller picken, reißt sich aber zusammen, diesmal. Auf dass sie in ihren Futterneidlauben unter Bergen aus duftend Gegrilltem ersticken. Dazu die in Zweierteams reisenden Damen, die tuchig-ponchoartigen Einheitsumhänge, die fettig-glänzende, übereinbalsamierte Haut.
Es gibt hier kaum Leute in ihrem Alter, alle entweder älter oder aber blutjunges, geldgemästetes Studentenpack. Wobei ihr die Männer in ihrem Alter ohnehin uninteressant scheinen, ein in den frühen 70ern geborenes, durch und durch weibisches Mannsvolk. Was machen eigentlich die Altersgenossen? Richtig: die sitzen, wie ihre beste Freundin, die feine, schöne, ehemals dickliche Gisela, zuhause bei ihren ersten Kindern, lassen sich aussaugen bis zur Unkenntlichkeit, um als höchstes der Gefühle ihrem (zugegebenermaßen noch recht ansehnlichen) Göttergatten ein ganz besonderes Biogericht mit Rucola und gerösteten Walnüssen zu kredenzen. Dazu eine neumodische Gazpacho Andaluz. Merci. Seit Wochen hatte sie nicht mehr angerufen, die feine Dame, weiß wohl noch gar nichts von ihrer Kündigung, dem Urlaub auf der Insel und ist auch sonst viel zu sehr mit ihren Blagen beschäftigt. Beim letzten Besuch herrschte ständiges Geschrei, nerviges Geköchel, Muttermilch im Wasserbad, kreischende Küken. Das alles, um alsbald wieder in die Arbeitswelt einzusteigen. Nie hatte sie das Entzücken in den Augen ihrer Busenfreundin verstanden, wenn ihr die kleinen Schreihälse über den Weg liefen, Gisela kümmerte sich schon zu Studententagen ganze Nachmittage um die Nachzuchten ihrer Verwandtschaft – und das unentgeltlich.