

Besuchen Sie uns im Internet unter:
www.herbig-verlag.de
© für die Originalausgabe und das eBook:
2012 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel
Umschlagfoto: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin
eBook-Produktion: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Heimstetten
ISBN 978-3-7766-8151-2
Für Eugen Brass,
meinen Lehrer, Freund und Trauzeugen
Inhalt
Prolog
Geheimsache Nofretete
I. Teil
Die Büste
Die Entdeckung
Borchardt beschmutzt die Königin
Zahi Hawass – Jäger der (geklauten?) Büste
Flucht oder Entführung?
Widersprüche ohne Ende – Zufall oder Absicht?
Hoffen und Bangen oder: Nofretete macht Politik
Die Rettung
»CT-Didi« und das Geheimnis der Büste
Das letzte ungelöste Rätsel: Wer waren Nofretetes Retter?
Der Geheimbund der Pharaonen
Der Zwist
Der »Büstenpoker«
Begehrlichkeiten
DDR-Forderung: Nofretete im Sonderzug nach Pankow
II. Teil
Die Königin
Das Phantom Nofretete
Der »Fall Mutbeneret«
Der Göttergatte
Thutmosis V. – der Pharao, der nie regierte
Von Frauen umgeben – die Familie Echnatons
Der »Teenager-König«
Die Strippenzieherin
Der Suizid
Die Hochzeit
Die Heb-Sed-Revolution
»Talatat« – das Zauberwort der Bautechnik
Ein Gott (entsteht)
Der mysteriöse Aton-Hymnus
Göttin Nofretete
»Kannte Moses Nofretete?«
Das markanteste Problem
Ägypten am Abgrund
Attentat auf das Herrscherpaar?
»Die Schöne der Schönen des Aton«
Nofretetes »politische Dimension«
Das »Brasilia« des Alten Ägypten
Ehekrach im Hause Echnaton
Der Mann aus der südlichen Vorstadt
Inzest im Pharaonenbett
War Nofretete Alkoholikerin?
Die Vorlieben des Herrn Echnaton
Die »Sex-Akte« der Nofretete
Nofretete und der »Pate der Ägyptologie«
Das King Tutankhamun Family Project
Warum fehlt Nofretete?
Kija und das Märchen von der »großen Liebe«
Zickenkrieg in Achetaton
Die wahre »große Liebe« der Königin
»Die Hethiter kommen!«
Nofretete: Die erste »Eiserne Lady«?
Die erste Mata Hari der Weltgeschichte?
War alles ganz anders?
Der Sohn der Nofretete
War Tutanchaton tatsächlich Nofretetes Sohn?
Dame, König und Spion – Nofretetes erfolgreichster Coup
Die Spaltung
Amuns Rache
Die rätselhaften Schicksalswege der »Amarna-Frauen«
Ausrottung einer Pharaonendynastie
»Der Schakal« von Achetaton
Attentate in Achetaton: Ein wahrer Politthriller?
Die Königin gibt nicht auf
Machtkämpfe in der Palastriege
Jahr 14 oder 15: Nafteta verschwindet – spurlos?
Fiel Nofretete etwa in Ungnade?
Wer war Dachamanzu?
Pharaonin Nofretete?
Der Siegelring Ihrer Majestät
Rätselraten um die Thronfolge
Finale Furioso
Achetaton: Der Letzte macht das Licht aus
III. Teil
Die Nachkriegszeit
Nofretetes Grab: Der »Amarna-Mann« weist den Weg
Das Amarna Royal Tombs Project
Hawass tritt auf den Plan
Der Fluch der Mumie: Nofretete bereits gefunden?
Fletchers persönlicher Exodus
Mord und Totschlag
Autoren, Agenten, Ägyptologen
Etwas ist faul im Staate Ägypten
Geheimaktion KV 35
Und es nimmt kein Ende
Epilog
Die Ermittlungen gehen weiter
Anhang
Danksagung
Bibliografie
Bildnachweis
Lesetipp
Prolog
Geheimsache Nofretete
10. Februar 1946. Die Sensation war perfekt: Nofretete, die altägyptische Königin, ist wieder aufgetaucht, genauer gesagt ihre weltberühmte, rund einen halben Meter hohe Kalksteinbüste. Noch im April des Vorjahres war sie in der von sowjetischen Armeen eingekesselten Nazi-Reichshauptstadt Berlin verwahrt gewesen. Jetzt, ein knappes Jahr danach, zeigte sie sich erstmals neuerlich in der Öffentlichkeit – unversehrt, in Wiesbaden!
Nofretete hatte also das Kriegsende wohlbehalten überstanden. An die hörbaren Erleichterungsseufzer schloss sich jedoch häufig die Frage an: Wie, zum Teufel, war ihr das gelungen? Und vor allem: Wie ist »die Schöne ist gekommen« (so lautet die Übersetzung ihres Namens) von der Spree nach Hessen ins Taunusvorland gelangt?
Es sollten – wie so oft in meinen Büchern – nicht die letzten Fragen sein, die sich mir stellten. Ganz im Gegenteil: Je mehr ich mich mit dem Schicksal Nofretetes befasste, umso mehr Fragezeichen taten sich auf. Die Antworten der Fachwelt darauf klangen (und klingen) ganz seltsam. So hatte ich mir das alles nicht vorgestellt.
Am Ende der Recherchen angelangt, habe ich kaum Material darüber gefunden, wie Nofretetes Lebensweg wirklich war, aber ich hatte Quellen und Dokumente zusammengetragen, die aufzeigen, dass Nofretete nicht nur wohlgeformt und geschminkt, sondern die eigentliche Protagonistin in einer der glanzvollsten Epochen der altägyptischen Historie war. Nicht im Traum hätte ich mir gedacht, dass Nofretete vielleicht die erste Religionsstifterin der Weltgeschichte gewesen sein könnte. Noch abwegiger erschien es mir zunächst, in ihr eine Militärstrategin zu sehen. Aber zumindest die Möglichkeit lässt sich heute nicht mehr leugnen.
Nicht minder geheimnisvoll ist die Geschichte ihrer Büste, deren Auffindung im Wüstensand von Tell el-Amarna sich in diesen Tagen zum hundertsten Male jährt. In der ersten »Retortenstadt« der Architektur arbeitete einst der begnadete Bildhauer Thutmosis. Als die Stadt nach wenigen Jahren aufgegeben wurde, ließ der Künstler neben anderem die heutzutage bekannte »Berliner Büste« zurück. Ob sie lediglich als Objektstudie diente oder ihrer Vollendung entgegenblickte, ist unbekannt und ein wissenschaftlicher Puzzlestein, über den sich die Ägyptologen nicht einig werden. Wie dem auch sei, fest steht: Die Entdeckungsgeschichte der Büste beginnt mit einer Lüge. Und sie wird wahrlich nicht die einzige sein, auf die wir stoßen – vorausgesetzt, Sie, lieber Leser, lassen sich auf das Wagnis ein, Nofretete sowie ihre berühmten Zeitgenossen wie Echnaton und Tutanchamun in einem völlig neuen Licht zu betrachten. Auch aktive Personen der Zeitgeschichte werden so manche fragwürdige Anekdote beisteuern. Das gipfelt in der Überlegung, ob es wirklich nur eine »Berliner Büste« gibt. Da wir (zunächst) davon ausgehen, widmen wir uns zuerst ihrer Entdeckungsgeschichte. Sie ist kurz, aber sehr interessant, weil sie viele Jahre geheim gehalten wurde …
Die Entdeckung
Die Mitteilung war ihrer Bedeutung angemessen kurz und knapp gehalten. Weil von enormer Wichtigkeit, kritzelte der stellvertretende Grabungsleiter der deutschen Amarna-Expedition, Hermann Ranke, nur wenige Worte aufs Papier. »Dringend!«, stand in der Nachricht zu lesen – und weiter: »Lebensgroße bunte Büste im Haus P 47!« Das war alles, mehr nicht.
Die Botschaft, die ein schon von Weitem lautstark »Mister, Mister« rufender Araber schleunigst überbrachte, war an den ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt nicht an der Grabungsstelle weilenden Chef des ägyptologischen Suchtrupps, den Berliner Professor Ludwig Borchardt, gerichtet. Gemäß Kalender handelte es sich um den Nikolaustag, also den 6. Dezember des Jahres 1912.
Fast genau zeitgleich, nur zehn Jahre später, am 5. November 1922, wird Howard Carter das Grab von Pharao Tutanchamun entdecken – allerdings mehrere Hundert Kilometer weiter südlich, im geheimnisschwangeren Tal der Könige. Wie wir sehen werden, besteht zwischen Tutanchamun, dem dort (noch) ungestört in einer relativ kleinen Gruft ruhenden Expotentaten und der mit der Kalksteinbüste porträtierten Dame eine bizarre Verbindung, der die Altertumsforscher mit modernsten Untersuchungsmethoden auf den Grund gehen. Doch fahren wir zunächst fort in unserer Geschichte.
Ludwig Borchardt machte sich nach Erhalt der Geheimdepesche umgehend auf den Weg zum Ort des Geschehens. Seit knapp zwei Jahren war sein Team in den Ruinen von Achetaton (übersetzt etwa »Horizont des Aton«), der einstigen altägyptischen Hauptstadt, überaus erfolgreich tätig. Selbstredend wusste der bekannte Archäologe auf den ersten Blick, was ihm seine »Nummer 2«, Hermann Ranke, mit der Nachricht sagen wollte. Das »P« stand für »Planquadrat« und bezog sich auf den Grabungsplan der Archäologen. Dahinter stand eine Zahl. Die »47« kennzeichnete das betreffende Grabungsareal. Dort war man direkt an der Grenzlinie zum 48. Quadranten auf das Haus des Oberbildhauers Thutmosis gestoßen – inklusive zugehöriger Bildhauerwerkstatt.
1 Das Atelier des Bildhauers Thutmosis in Tell el-Amarna. In diesen Ruinen entdeckte eine deutsche Grabungsexpedition am 6. Dezember 1912 die Büste der Königin Nofretete.
Und hier hatte der Vorarbeiter Mohammed bei der Schuttbeseitigung seine große Stunde. Dank seiner Aufmerksamkeit und Vorsicht entdeckte er, dass aus dem Abraum ein fleischfarbener Hals herausragte. Sofort stellte er die Räumarbeit ein und informierte seine Vorgesetzten. Ranke verfasste daraufhin das eingangs erwähnte Schreiben an Borchardt. Der eilte zum Fundplatz und begann vorsichtig, den Schutt eigenhändig zu entfernen.
Die Spannung war zum Greifen nah: Konnte man anfänglich nur das Halsstück erkennen, kamen in den darauf folgenden Minuten mehr und mehr Details der Büste ans Tageslicht. Der Nofretete-Biograf Philipp Vandenberg beschrieb, wie es nun weiterging: »Das Gesicht der Plastik war noch immer nicht zu sehen, denn die Büste lag mit dem Kopf nach unten und mit zur Wand gekehrtem Gesicht im Schutt.«
Ranke und Mohammed müssen die nächsten Minuten wie Stunden vorgekommen sein, denn die Freilegung der Büste dauerte an. Nur nervtötend langsam wurden auch die Gesichtskonturen des bearbeiteten Kalksteinblocks erkennbar. Dann aber war klar: Es handelte sich um die realistische Abbildung einer altägyptischen Königin. Erst jetzt ordnete Ludwig Borchardt die Bergung des Fundes an. So vorsichtig wie nur möglich, wuchteten der Chef, Mohammed und Ranke den rund 20 Kilogramm schweren behauenen Stein an die Oberfläche.
Borchardt hielt den Moment später in seinem Tagebuch fest: »(…) Dann wurde die bunte Büste erst herausgehoben und wir hatten das lebensvollste ägyptische Kunstwerk in Händen. Es war fast vollständig, nur die Ohren waren bestoßen und im linken Auge fehlte die Einlage.«
2 Die Büste der Nofretete. Einen knappen halben Meter hoch, gut 20 Kilogramm schwer, gehört sie zu den bedeutendsten Kunstwerken der Menschheitsgeschichte.
Unter Tageslicht besehen, betörte und bezauberte das Kunstwerk seine Betrachter endgültig. Die Lebensgröße der Skulptur, die fast vollständige Unversehrtheit des Gesichts und nicht zuletzt die Frische der Farben machten das Abbild zu einem in der Kunst- und Kulturgeschichte unvergleichlichen Fundstück – und zu einem Objekt, das augenblicklich die Besitzgier der Deutschen weckte. Das ergibt sich allein schon aus der geschilderten Bergungsgeschichte.
So, wie sie hier skizzenhaft wiedergegeben wurde, hat sie sich jedenfalls mit Sicherheit nicht zugetragen. Erinnern wir uns: Rankes Mitteilung lautete »Lebensgroße bunte Büste im Haus P 47!«. Woher, so fragt man sich, will Hermann Ranke diese Information bezogen haben? Immerhin ragte nach eigenem Bekunden lediglich eine kleine Halspartie aus dem Schutt. Das Antlitz gleichwohl, nebst dem größten Teil der fremdartig wirkenden Krone, blieb bis zum Eintreffen Borchardts im Abraum verborgen. Demnach war bis zur vollständigen Freilegung des Unikats allenfalls zu mutmaßen, was der gewissenhafte Mohammed im Haus P 47 zufällig aufgespürt hatte.
Borchardt beschmutzt die Königin
Die Preußen spielten auch weiterhin mit gezinkten Karten. Die Erklärung für dieses wenig noble Verhalten fällt leicht. Ganz im Geiste des damals herrschenden Hegemonialstrebens (bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs sollte es nicht einmal mehr zwei Jahre dauern), kam alsbald die Frage auf, wie man die Büste aus Amarna »legal« nach Deutschland verfrachten könne. Denn eines war den Mitarbeitern der Deutschen Orient-Gesellschaft sofort bewusst. Auf legalem Wege würden es die zuständigen Behörden niemals gestatten, dass die Büste außer Landes gebracht würde. Deshalb war guter Rat mehr als teuer. Hatten die Berliner doch zur Erlangung der Grabungslizenz für Tell el-Amarna – wie alle anderen Expeditionen – schriftlich zusichern müssen, die Regeln zur Fundteilung penibel einzuhalten. Aufgestellt hatten diese Regeln die Franzosen, die als Teil-Kolonialherren Ägyptens (und damals innige Gegner des Deutschen Kaiserreiches) einer Ausfuhr der Büste unter keinen Umständen zustimmen würden.
Den ersten Gedanken, das Objekt heimlich außer Landes zu bringen, hat man, falls man ihn je gehegt haben sollte, sofort verworfen. Im Falle der Entdeckung des Diebesgutes hätte das Ansehen Deutschlands schwersten Schaden genommen – eine Blamage, die Borchardt und Ranke in der Heimat sprichwörtlich Kopf und Kragen gekostet hätte. Illegaler Antikenschmuggel kam also nicht infrage. Doch die Deutschen waren recht findig und verfielen auf eine List. Wie aus alten Quellen hervorgeht, haben die Ausgräber die Büste der namentlich noch nicht bekannten Amarna-Königin mit Erde beschmiert und bei der Fundpräsentation in einer hinteren Ecke lieblos abgestellt. Sämtliche für die Franzosen eher lukrativen Stücke, ließ Borchardt als Blickfang für die Teilungskommission aufbauen.
3 Der erfolgreiche Geschäftsmann James Simon. Er finanzierte die denkwürdige Amarna-Expedition der Deutschen Orient-Gesellschaft.
Die Täuschung gelang – ganz legal, ohne irgendeine Bestimmungsverletzung. Damit war der Weg für Nofretete frei für die Reise nach Berlin. Natürlich war der Coup, und das wussten allen voran die Ausgräber selbst, anrüchig. Deshalb posaunten sie ihren Fund auch nicht hinaus in die Welt, sondern übergaben die Büste dem Finanzier ihrer Exkursion, dem gut betuchten Sammler und Sponsor James Simon. Die Berliner Bevölkerung erfuhr dagegen kein Sterbenswörtchen von der Ankunft der Büste in ihrer künftigen Heimat.
Doch eine Ausnahme gab es selbstverständlich: Dem deutschen Kaiser Wilhelm II. wurde sie selbstredend feierlich vorgezeigt. Der wiederum beglückwünschte die Borchardt-Gruppe herzlich. Ob der Kaiser zu diesem Zeitpunkt bereits über den Trick der Archäologen in Kenntnis gesetzt worden war, ist unbekannt. Jedenfalls scheint in jenen Tagen das Wort »Vertraulichkeit« noch einen gewissen Wert dargestellt zu haben. Immerhin beschwerte sich niemand öffentlich, dass bei der großen Amarna-Ausstellung 1913 stolz sämtliche von Borchardts Team ausgegrabenen Exponate zu sehen waren – bis auf die Büste, die im Keller verblieb. Das schlechte Gewissen scheint eben doch arg gedrückt zu haben …
Die Geheimhaltung gab man erst 1920 auf, als Mäzen Simon die Büste dem Staat übereignete. Aber selbst von diesem Augenblick an dauerte es rund ein halbes Jahrzehnt, bis Interessierte den Kopf in der Hauptstadt besichtigen konnten. Und seit dieser Zeit ist Feuer unterm Dach!
Zahi Hawass – Jäger der (geklauten?) Büste
In schöner Unregelmäßigkeit forderte seitdem die jeweilige ägyptische Regierung: Nofretete soll nach Hause. Besonders der heftig umstrittene Ex-Antikendirektor und ehemalige Minister für ägyptische Altertümer, Zahi Hawass, sorgte bei diesem Thema wiederkehrend für unfreundliche Schlagzeilen in den Medien. Fast im Zwei-Jahres-Rhythmus meldete er sich offiziell bei den zuständigen, aber auch bei nicht zuständigen deutschen Politik-Instanzen und brachte die »Painted Queen« ins Gespräch. Für die deutsch-ägyptischen Beziehungen war und ist das, wie man sich unschwer vorstellen kann, wenig förderlich. Dabei hatte es – was heute kaum mehr geläufig ist – bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren durchaus Übereinkünfte zur Beilegung der Spannungen gegeben. Sie kamen zustande, nachdem die Königin erstmals für die breite Bevölkerung zur Besichtigung ausgestellt worden war. Das Echo war enorm gewesen! Im Sog der erst zwei Jahre zurückliegenden Tutanchamun-Auffindung im Tal der Könige lag Nofretete genau im Trend der »Roaring Twenties«. Treffend beschreibt die Ägyptologin Joyce Tyldesley den Zeitgeist jener Epoche: »Die Ägyptologie war im Nachkriegseuropa gerade groß in Mode. Nofretete, mit ihrer klaren, fast modernen Schönheit, passte genau ins Bild und wurde bald zum Starexponat des Museums.«
Der ägyptische Staat reagierte prompt. Um Nofretete heimzuholen, griffen die Ägypter zu drakonischen Maßnahmen. Zuerst erhoben sie auf diplomatischem Wege erstmalig ihre Forderung auf Rückgabe von Thutmosis’ unvergleichlichem Kunstwerk. Schließlich gipfelten Kairos Maßnahmen in der strikten Anweisung, sofort sämtliche deutschen Ausgrabungen auf ägyptischem Boden einzustellen. Das rüde Vorgehen nebst den stringenten Anordnungen verfehlte bei den deutschen Altertumsforschern ihre Wirkung nicht, denn das war ein herber Schlag für die sehr angesehene deutschsprachige Ägyptologie.
Entsprechend kooperativ zeigte man sich deshalb letztendlich in Berlin. Schließlich kam es zu einer Vereinbarung, die es beiden Seiten gestattete, das Gesicht bei dem Schacher zu wahren. Nofretete sollte zurückkehren an den Nil. Im Gegenzug würden die Ägypter der Stiftung eine Statue und eine Sitzstatue überlassen – beide von ebenfalls hohem künstlerischem Wert.
Doch die Verhandlungspartner hatten die Rechnung ohne die Berliner Bevölkerung gemacht. Denn kaum war man handelseinig geworden, regte sich auch schon der heftige Protest der Öffentlichkeit, den Adolf Hitler nur allzu gerne aufgriff, war er doch selbst ein glühender Verehrer der königlichen Büste. Widerwillig mussten die Verhandlungsseiten den erzielten Kompromiss widerrufen.
Im Grunde genommen ist das auch heute noch der Stand der Dinge. Nofretete steht unter der Inventarnummer E 21300 wieder im Neuen Museum zu Berlin, das der Ägyptologe Dr. Dietrich Wildung hervorragend ausgestaltet und eingerichtet hat. Und wie seinerzeit, vor rund 75 Jahren, bilden sich auch heute noch fast täglich vor dem Museum lange Warteschlangen mit Menschen aus aller Herren Länder, die sämtlich nur von einem Wunsch beseelt sind: das Antlitz der Schönen vom Nil betrachten zu können. Dafür nehmen sie gerne auch stundenlange Wartezeiten in Kauf. So war es schon immer, seit Nofretete ihre neue Heimat an der Spree fand.
Flucht oder Entführung?
Zur Ruhe kam die »Berliner Königin Nr. E 21300« dennoch nicht. Nofretete war nach Tutanchamun binnen kürzester Frist zum Liebling der Massen avanciert. Dagegen war in Kairo die Enttäuschung über das aufgekündigte Tauschabkommen zunächst groß.
Doch unverzagt nahmen die Ägypter nach geraumer Zeit einen weiteren Anlauf. 1933, anlässlich der Inthronisierung König Fuads, wurden neuerliche Kontakte auf politischer Ebene geknüpft. Aber auch sie waren nicht zielführend. Der Grund war simpel: In Berlin hatte die Diktatur die Monarchie abgelöst. Nunmehr stand Adolf Hitler an der Spitze der Machtpyramide – und intervenierte gegen ein neues Abkommen. Mit Erfolg. Auf das »Warum nur« gibt es eine einleuchtende Antwort. »Der Führer«, wie er sich rufen ließ, zählte die Frauenbüste angeblich zu seinen Lieblingskunstwerken – so jedenfalls lautet der Tenor der diesbezüglich aus Ägyptologenkreisen zu erhaltenen Informationen. Auch unter Kunsthistorikern ist diese Annahme weit verbreitet und »hoffähig«.
4 Mehr als nur eine künstlerische Collage: Auch im Fall Nofretete offenbarte Hitler seine Borniertheit.
Und dann brach der Zweite Weltkrieg aus. Ab dem Frühjahr 1940 flogen Kampfflugzeuge der Royal Air Force erste Bombenangriffe auf die Reichshauptstadt – das Abbild der Königin geriet dadurch in höchste Gefahr. Sicherheitshalber hatten die umsichtigen Altertumswissenschaftler das Portrait der Königin bereits aus dem Berliner Museum entfernt und in einen Tresor der Reichsbank verfrachtet. Das dunkle, so gar nicht majestätische Lager der Büste war nichts anderes als eine Holzkiste, welche die Registraturnummer 28 erhielt.
Ob Nofretete ahnte, dass sie sich bereits mitten in einer Odyssee befand, die nicht mehr zu enden schien? Nächste Station war – noch immer in Berlin – der legendäre Flakturm Nummer 5 am Zoo. Hier gewährte ihr der »Saal N11« Schutz und Unterbringung.
Und jetzt wird die Irrfahrt gleichermaßen spannend wie mysteriös: Im März 1945, das Kriegsende war absehbar, wurde Nofretete noch einmal verladen. Sie sollte im Verbund mit weiteren Kostbarkeiten quasi auf dem letzten frei gehaltenen Weg aus Berlin abtransportiert werden – welch ein Wahnsinn angesichts der totalen alliierten Luftüberlegenheit! Doch wider Erwarten erreichte der Nofretete-Konvoi seinen Bestimmungsort, ein Salzbergwerk bei Merkers (Thüringen), schadlos, und das sogar im vorgesehenen Zeitrahmen.
Die gelungene Nofretete-Evakuierung zählt fraglos zu den größten Rätseln der noch relativ jungen Wissenschaftsdisziplin Ägyptologie. Es war in den letzten Tagen des Nazi-Regimes praktisch unmöglich, den Rotten gegnerischer Jagdflugzeuge zu entgehen oder am Boden nicht von den Truppen der Anti-Nazi-Koalition gestellt und zumindest festgesetzt zu werden. Allein Nofretete blieb unversehrt.
Man hat lange Zeit keine Erklärung für dieses unglaubliche Glück gefunden. Recherchen jüngeren Datums aber werfen ein völlig neues Licht auf den »Nofretete-Wagenzug«. Demnach war die Mission kein aus der Not geborener Fluchtversuch in einer konkreten Gefahrensituation. Vielmehr hat es nach Informationen der ZDF-Sendung Original und Fälschung aus der Reihe Terra X ein – buchstäblich – frontenübergreifendes Zusammenwirken von Amerikanern, Deutschen und mutmaßlich auch sowjetischen Verantwortlichen gegeben, um die Königinnenbüste vor der Vernichtung zu bewahren. Sogar in zeitlicher Hinsicht scheint der Abtransport Nofretetes minutiös geplant worden zu sein. Jedenfalls waren am Himmel keine Jagdmaschinen zu erspähen und auch die offensichtlich abgestimmten Routen wurden mit einer generellen Feuerpause kurzzeitig passierbar gemacht.
Wann und wie wurde diese einzigartige konzertierte Aktion ersonnen, geplant und vorbereitet? Wer war beteiligt an dem Unternehmen, das eine logistische und strategische Meisterleistung darstellt? 1981 kam Bewegung in die Frage. In jenem Jahr erschien plötzlich ein geheimnisvoller Fremder in Berlin und suchte dort Kontakt zu den Verantwortlichen für die ägyptische Sammlung.
Seine Vorstellung war denkbar knapp gehalten: Er heiße Edzard Folkers und sei die Person, die im April 1945 Order gegeben habe, die steinerne Nofretete aus dem Flakturm am Zoo auszulagern und Richtung Westen, nach Merkers zu verbringen. War also Folkers der ominöse Stratege? Selbst heute kann man diese Frage nur mit einem »Jein« beantworten. Doch so viel lässt sich feststellen: Nach dem aktuellen Stand der Dinge zu urteilen, wohl eher nicht, denn es existieren geradezu diametrale Aussagen und Aufzeichnungen, die ein anderes Szenario (mindestens!) genauso plausibel erscheinen lassen.
Zum Beispiel die Dokumente von Dr. Klaus Goldmann, einem ehemaligen Mitarbeiter der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und gleichzeitig ausgewiesenen Experten für die Verlagerungshistorie der Büste. Goldmann war im Besitz von Listen, aus denen klar hervorgeht, dass der Transport bereits einige Tage vor dem von Folkers genannten Datum durchgeführt worden ist.
Widersprüche ohne Ende – Zufall oder Absicht?
Allmählich fragt man sich, was hinter der ganzen Angelegenheit steckt. Wollte Hitler »seine« Nofretete in Sicherheit wissen? Oder gab es Kollaborateure, die sich durch den Diebstahl des Exponats Vorteile erhofften? Oder sind diese Erzählungen lediglich Teile in einem Vertuschungspuzzle, die dazu beitragen sollen, die wahren Hintergründe des Unternehmens zu verschleiern? Falls dem tatsächlich so ist, kann man nur anerkennend und gleichzeitig frustriert feststellen, dass das Vorhaben hervorragend in die Tat umgesetzt wurde, denn es kursiert sogar noch eine dritte Variante von der Rettung Nofretetes.
Danach – man höre und staune – gibt es mehrere Schilderungen, die besagen, dass Nofretete noch am 4. oder 5. April 1945 im Flakturm am Zoo gesehen wurde – so jedenfalls gibt es der gewöhnlich gut unterrichtete Kunstsachverständige Cay Friemuth in seinem Buch Geraubte Kunst an – und zwar geschützt hinter dickem Panzerglas, wie es in einer anderen Information ergänzend dazu heißt. Betrachtet man alle drei Varianten zusammen, bleibt als Schnittmenge kaum mehr als lediglich das Ziel übrig: die Mine Merkers in Thüringen.
5 Blick auf den Berliner Flakbunker Nr. 5 am Großen Tiergarten. Hier fand Nofretete mutmaßlich Schutz vor alliierten Luftangriffen und Kanonenbombardements.
Irgendwann auf dieser Fahrt ins Irgendwo hatte die Büste gefährliche Momente zu überstehen. Jedenfalls war sie in der Kiste, in der sie die Reise angetreten hatte, nicht auffindbar – die war nämlich leer, als man sie in Thüringen öffnete. Jemand musste also während der Fahrt eine günstige Gelegenheit gefunden haben, unbemerkt das antike Objekt zu inspizieren. Absicht oder Zufall? Fakt ist nur: Als der Konvoi seinen Bestimmungsort Merkers erreicht, fällt bei der Eingangsüberprüfung auf, dass »Behältnis 35« abgängig ist. Darin eingepackt waren ausgerechnet sämtliche Goldobjekte der Sammlung des Berliner Ägyptischen Museums. Bis heute sind die Pretiosen spurlos verschwunden.
Und wo war Nofretete abgeblieben? Sie war ebenfalls mit dem Konvoi angekommen. Allerdings nicht im Transportkasten mit der »Signatur 28«, in den sie verpackt worden war, sondern im »Container 34«. Wie sie da hineingekommen ist, ließ sich auch in all den folgenden Jahren nicht eruieren. Wieso aber konnte dieses Durcheinander überhaupt entstehen?[1] Mit der oft verwendeten Umschreibung, das lag an den »Kriegswirren«, ist es sicher nicht getan.
Den steinernen Nofretete-Kopf interessierte das alles herzlich wenig. Die Büste hatte ganz andere Sorgen. Sollte sie etwa in dem feuchten Bergwerk zerbrechen oder gar zerfallen? Was für ein tragödienhaftes Schicksal wäre das: dem heißen und schützenden Sand Ägyptens entnommen, nur um wenige Jahre darauf in einer kalten, feuchten Mine irgendwo in einem fremden Land der langsamen, aber unaufhaltbaren Zersetzung anheimzufallen.
6 Der spätere US-Präsident Dwight D. Eisenhower in der Mine Merkers beim Betrachten einiger der dort eingelagerten Kunstschätze. In dem Versteck fand man auch die antike ägyptische Büste der Königin vom Nil.
Doch dazu kam es nicht, wie wir wissen. Es sind Einheiten der 3. US-Armee, die nach ihrem opferreichen Gang von der Normandie bis Merkers sofort die in der Kali-Grube eingelagerten Schätze, darunter auch den Nofretete-Kopf, »übernahmen«. Letzterer wurde am 17. April 1945 abtransportiert. Das neue Ziel war der nächstgelegene sogenannte Central Collecting Point in Wiesbaden, eine von den Amerikanern eigens eingerichtete Sammelstelle für aufgefundene Kulturgüter. Diese Angaben lassen sich indirekt durch den vormaligen Besitzer der Büste und noch immer nicht besiegten Gegner verifizieren. Kein Geringerer als Reichspropagandaminister Joseph Goebbels hat nämlich in seinen Unterlagen festgehalten: »Unsere gesamten Goldreserven sind in die Hände der Amerikaner gefallen. Dazu noch ungeheure Kunstschätze – darunter die Nofretete.«
Es ist müßig zu betonen, dass die Schönheit vom Nil alsbald auch am Rhein den Ton angab – öffentlich wie inoffiziell. Tatsächlich tobte kurz nach ihrem Eintreffen in Wiesbaden neuerlich eine Diplomatenschlacht über den zukünftigen Verbleib der Büste, denn Ägyptens Regierung hatte die Skulptur nie »abgeschrieben«.
Wenn auch nur zum Verzweifeln zögerlich normalisierte sich in der Folgezeit das Leben in Deutschland wieder. Man war froh und dankbar für jede positive Ablenkung vom traurigen, ungewissen und hungerreichen Alltag. Mitten hinein in diese Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit setzten die US-amerikanischen Besatzer ein Zeichen. Am 10. Februar 1946 eröffnen sie in Wiesbaden eine Kunstausstellung. Nofretete mag sich an die Amarna-Zeit erinnert gefühlt haben, als sie in der Mitte eines der Ausstellungssäle als alleiniges Exponat thronte. Und wieder strömten die Menschen zu ihr – trotz der Strapazen, die damit für sie verbunden waren, und trotz bitterer Kälte.
Hoffen und Bangen oder: Nofretete macht Politik
Nur 48 Stunden nach Ausstellungsbeginn ging im US-Außenministerium prompt ein förmliches Auslieferungsersuchen der Ägypter ein. Anfänglich überlegten die Vereinigten Staaten ernsthaft, ob sie Kairos Begehren entsprechen sollten. Doch wieder einmal wurde die Realpolitik von der Realität überrollt. Dazu Cay Friemuth: Es sei beabsichtigt gewesen, »die Büste vor ihrer endgültigen Rückkehr nach Ägypten für zwei Monate im Metropolitan Museum (in New York/Anm. d. Verf.) auszustellen. Aber zu diesem Zeitpunkt haben die Befürworter der Kunstreparationen in der US-Administration vor dem unerwartet heftigen Widerstand aus dem In- und Ausland bereits kapituliert.« Damit war klar: Nofretete würde weiterhin in Deutschland ihr Dasein fristen.
Weiter unklar war hingegen, wo in Deutschland sie sich künftig ihren Besuchern zeigen sollte. Schließlich kam man überein: Nofretete sollte wieder zurück an die Spree. Bis es so weit war, sollte aber noch ein Jahrzehnt ins Land gehen, denn Nofretetes ursprüngliche Residenz auf der Museumsinsel war zu 70 Prozent zerstört. Erst am 22. Juni 1956 sah sie Berlin wieder und gar erst im Oktober 2009 erhielt sie ihren angestammten Platz zurück.
Somit hätte die mysteriöse Geschichte ein gutes Ende gefunden, hätten da nicht von Anfang an die nagenden Zweifel, Andeutungen und Gerüchte über ihre Echtheit kursiert. Original oder Fälschung? – diese Frage ist noch immer unbeantwortet.
Anmerkungen
[1] Sämtliche Angaben über Registraturnummern oder Inhalte der Behältnisse sind mit großer Skepsis zu betrachten. Je mehr man versucht, in diesem »Nummern-Dschungel« der Wahrheit auf die Spur zu kommen, umso fragwürdiger werden die Angaben. Auch Datumsangaben sind mit der notwendigen Vorsicht zu genießen.