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Stefanie Zweig

Neubeginn in der
Rothschildallee

Roman

LangenMüller

Meinem Herzensmann Wolfgang Häfele,
ohne dessen Zuspruch und Liebe dieses Buch
nie fertig geworden wäre.

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www.langen-mueller-verlag.de

© für die Originalausgabe: 2011 LangenMüller in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
© für das eBook: 2012 LangenMüller in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel
Schutzumschlagfoto: dpa Picture-alliance, Frankfurt
Satz: Ina Hesse
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7844-8065-7

Nur die Tölpel und Naiven wissen nicht,
was ein gutes Gedächtnis dem Menschen
antut.

1
Ein Sonntag wie kein anderer

September 1948

»Unser erster Sonntag daheim«, sagte Betsy Sternberg. »Gibt’s dafür ein Gebet, Fritz?«

»Bestimmt«, mutmaßte ihr Schwiegersohn. »Oder glaubst du, Moses hat sich nach vierzig Jahren Wüstenwanderung und dem ganzen Zores mit den Kindern Israels und dem Goldenen Kalb schweigend über den Honigtopf im Gelobten Land hergemacht?«

»Moses hat das Gelobte Land doch nie erreicht«, erinnerte ihn seine Tochter. »Ich war außer mir, als ich davon erfuhr.«

»Stimmt, Moses durfte sein Paradies nur aus der Ferne sehen. Aber uns hat Gott zurückgeführt«, entschied Betsy. Sie strich die blauweiß karierte Tischdecke glatt, die Anna, ihre geliebte Ziehtochter, zur Wiedereinweihung der alten Wohnung im eigenen Haus aus Küchenhandtüchern und Kissenbezügen genäht hatte. »Wenn mir einer gesagt hätte, ich würde wieder hier sitzen, mit meinem Schwiegersohn und meiner Enkeltochter Fanny über das Gelobte Land reden, echten Bohnenkaffee trinken und zum Fenster rausschauen und unseren alten Kirschbaum sehen, ich hätte kein Wort geglaubt. Betsy Sternberg schaut zu keinem Fenster mehr raus, hätte ich gesagt. Sie ist auf dem Transport in ihr zweites Leben gestorben. Ob Orpheus auch so durcheinander war wie ich, als er aus der Unterwelt zurückkehrte? Und was hat Odysseus gesagt, als er nach zwanzig Jahren wieder vor seiner Penelope stand?«

»Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?«, fabulierte Fanny. »Quatsch, das waren ja Schneewittchens Zwerge.«

»Bist ein ganz Braver, hat er gesagt«, lächelte Fritz. »Papi hat dir einen großen Kalbsknochen mitgebracht. Wenn sich ein Ehemann mit einem schlechten Gewissen zu seinem Hund herabbeugen kann, ist das schon die halbe Miete. Um den Hund hab’ ich Odysseus immer beneidet.«

»Ihr hattet doch nie einen Hund«, wunderte sich Betsy.

»Stimmt. Aber ich hab ihm trotzdem alles erzählt, bei der kleinsten Schwindelei hat er mit dem Schwanz gewackelt.«

»Deine Fantasie möchte ich haben.«

»Ich auch. Ich habe immer gefunden, Fantasie ist der zuverlässigste Fluchthelfer. Als ich mir heute beim Rasieren im Spiegel begegnete, brauchte ich allerdings keine Fantasie. Nur ein gutes Gedächtnis für das, was mich in meinem ersten Leben bewegt hat. Ich kam mir nämlich wie Rip van Winkle vor. Der entstammt einer Kurzgeschichte des Amerikaners Washington Irving und ist ein Bauer mit schlichtem Gemüt und einem Hang zur Flasche. Zur englischen Kolonialzeit gönnt er sich in seinem heimatlichen Bergdorf eine Mütze Schlaf und wacht erst nach zwanzig Jahren wieder auf. Da ist er Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika, hat einen ellenlangen, eisgrauen Bart und versteht die Welt nicht mehr. Sein zänkisches Weib, das ihm das Leben zur Hölle gemacht hat, ist gestorben. Alle Leute und sämtliche Hunde, die er gekannt hat, sind ebenfalls verschwunden. Der arme Tropf gerät vollkommen in Panik. Zu allem Übel sagt er auch noch ›Gott segne den König‹. Da halten ihn sämtliche Dorfbewohner für einen Verräter und beschuldigen ihn der Spionage.«

»So ging es lange in meinen Albträumen zu«, seufzte Fanny.

»Wem erzählst du das! Als ich in Holland untergetaucht war und keiner wissen durfte, dass ich jüdisch und aus Deutschland war, hatte ich immer Angst, man würde mich als Spion verhaften. Wie oft habe ich mir vorgestellt, ich liege mit hohem Fieber im Krankenhaus und rede im Delirium Deutsch, und die Krankenschwestern holen die SS. Oder ich spreche ein hebräisches Gebet. Wie ich mich kenne, bestimmt das falsche. Mutter hat sich ständig geärgert, dass ich den Segensspruch für das Brot mit dem für den Wein verwechselt habe. Noch als Achtjähriger. Und zu den hohen Feiertagen.«

Betsy strich Fritz über den Kopf. Es war eine leichte, flüchtige Geste. »Verzeihung«, sagte sie, denn sie hatte sich angewöhnt, bei ihrem Schwiegersohn Mütterlichkeit und Mitgefühl als versehentliche Berührungen zu tarnen. »Ich habe auch dauernd das Gefühl, dass ich in die falsche Zeit geraten bin. Vorhin habe ich mir einen Moment vorgestellt, ich müsste für Tante Jettchens Papagei die Weißbrotbrocken schneiden. Die hat er sonntags immer bekommen, wenn er lange genug ›Franzbrot und Rotwein‹ krächzte. Die Kinder konnten sich nicht satt hören, und Johann Isidor hat jedes Mal gedroht: ›Das Viech kommt in die Pfanne.‹ Tantchen war zu Tode beleidigt. Nur Vicky konnte sie trösten. Sie war ja Jettchens Liebling.«

»Schade, dass ich nicht dabei war«, sagte Fanny. »Es muss schön gewesen sein, damals mit vier Kindern.«

»Fünf, als Alice kam. Na ja, sie hat nie gleichzeitig mit Otto am Tisch gesessen. Mein ältestes Kind und mein jüngstes haben einander nie gesehen.«

Betsy rieb ihre Augen am Ärmel trocken. »Schon wieder erkältet«, stellte sie fest. »Da tränen meine Augen immer. Tut so, als wäre ich gar nicht da. Schaut euch lieber gut um. Wir wissen ja, dass das Gute nicht lange währt. Lasst es euch schmecken, ehe wir aufwachen und der liebe Gott uns Deppen nennt, weil wir wieder einmal auf unsere Träume reingefallen sind.«

»Wann?«, fragte Fanny. »Wann sind wir auf unsere Träume reingefallen?«

»Immer, Kind. Immer wieder. Bis es zu spät war. ›Von hier bringt uns keiner mehr weg‹, hat dein Großvater gesagt, als wir in dieses Haus eingezogen sind. Das war am 27. Januar 1900. Genau an Kaisers Geburtstag. Die Sonne hat gestrahlt, die Bäume waren alle weiß und der Himmel stahlblau, und ich hab gedacht, schöner kann das Leben nie mehr werden. Otto war damals noch unser einziges Kind, aber ich war bereits mit den Zwillingen schwanger. Otto war vier Jahre alt und durfte zur Feier des Einzugs zum ersten Mal seinen neuen Matrosenanzug anziehen. Er platzte vor Stolz. Selbst in der Wohnung ist er mit seiner Mütze rumgerannt. ›Gneisenau‹ stand drauf. Mein Gott, warum kann ich meine Erinnerungen nicht in einen Sack stopfen und den Sack im Main versenken? Es ist zum Heulen. Und genau das wird gleich geschehen.«

»Wir fallen nie mehr auf nichts rein«, beruhigte Fanny ihre Großmutter. Sie klopfte mit dem Kaffeelöffel gegen die Tasse. »Versprochen. Nie mehr auf nichts.«

»Das, meine Tochter, war eine doppelte Verneinung. In diesem Fall bedeutet sie, dass wir immer noch bereit sind, auf alles reinzufallen. Lass dir dein Schulgeld wiedergeben, Fräuleinchen. Das hätten wir früher gesagt. Da musste man für Bildung nämlich bezahlen – und nicht zu knapp. Lernt ihr denn gar nichts mehr in der Schule?«

»Doch! Dass Bismarck ein ganz bedeutender Mann war, der heute von den Leuten schrecklich verkannt wird. Wenn das gute Fräulein Dr. Bernau uns das erklärt, wird sie allerdings mäuschenleise. Mich wundert’s, dass sie beim Sprechen nicht die Hand vor den Mund hält. Deutlich wird die Bernauerin erst, wenn sie gegen das Schminken wettert. Mädchen aus gutem Hause schminken sich nicht, müsst ihr wissen, und Seidenstrümpfe brauchen sie erst recht nicht.«

»Das haben wir schon gehabt. ›Die deutsche Frau schminkt sich nicht‹, hieß es bei den Nazis. Hat sich übrigens kaum eine dran gehalten.«

»Meine ungeliebte Klassenlehrerin kann sich eben nicht von der guten alten Zeit trennen. Eine vor den vier Waltrauds in der Klasse hat mir erzählt, dass Fräulein Bernau bei den Nazis eine ganz Fanatische gewesen sei. Sie kam nie ohne ihr Parteiabzeichen in die Schule, selbst im Luftschutzkeller hat sie noch auf dem Hitlergruß bestanden. Und man brauchte nur zu sagen: ›Ich musste was für den BDM erledigen und konnte meine Hausaufgaben nicht machen‹, und schon hat Führers treueste Jungfer gütig genickt. Für Dr. Ilsetrude Bernau war der BDM wichtiger als Bildung. So wird mir jedenfalls immer wieder berichtet. Ich glaube, Madam weiß das alles selbst nicht mehr. Sie hat auf der ganzen Linie auf Toleranz umgeschaltet.«

»Und wie macht sich das bemerkbar? Behauptet sie etwa, Juden und Radfahrer seien auch Menschen?«

»So weit geht sie dann doch nicht«, kicherte Fanny. »Aber sie hält große Stücke auf Onkel Toms Hütte und hat in ihrer Jugend wohl für Josephine Baker geschwärmt. In jeder Deutschstunde fleht sie uns förmlich an, ins Theater zu gehen. Im Börsensaal spielen sie gerade den Nathan. Es ist hochaktuell, wie Lessing ausgedrückt hat, was wir heute alle fühlen«, ahmte Fanny ihre Lehrerin nach. »›Das muss jeden von uns zur Menschlichkeit anspornen‹. Schnief! Schnief! Heil! Aus reinem Daffke habe ich ihr nicht erzählt, dass ich bereits zweimal im Theater war. Schon wegen Otto Rouvel, der den Nathan so spielt, dass es mir wirklich ans Herz geht.«

»Außerdem hast du dich in den jungen Tempelherrn verliebt. Gib’s nur zu, Tochter.«

»Weiß Gott nicht. Doch der ganze Saal bricht in schallendes Gelächter aus, wenn er sagt: ›Ich habe Fleisch wohl lange nicht gegessen: Allein was tut’s? Die Datteln sind ja reif.‹ Das ist wirklich zum Schießen. Ich weiß noch genau, wie wir für die Fleischmarken Datteln bekamen und Hans und Anna so getan haben, als hätten sie ihr Leben lang darauf gewartet, eine Dattel zu kosten.«

»Noch mehr verwundert mich, dass du den Text auswendig kennst. Wie kommt’s? Ich dachte, alles, was mit der Schule zu tun hat, hängt meiner Tochter zum Hals raus.«

»Meterweit. Doch der Nathan ist die große Ausnahme. Selbst die Schule kann ihn mir nicht verleiden. Kennst du denn die Ringparabel?«

»Ja«, sagte Fritz. »Die Botschaft hörte ich schon früh, allein mir ging der Glaube flöten.«

Er erschrak, als er merkte, dass seine Hände zitterten. Für einen Moment, der ihm eine Ewigkeit war, kniff er die Augen zu, doch das Leben war ohne Erbarmen und zog den Vorhang auf. Fannys Mutter hatte davon geträumt, die Recha zu spielen. Beim ersten Rendezvous hatte sie Fritz davon erzählt. Sie hatten im Café Rumpelmayer am Fenster gesessen und sich vorgenommen, zusammen ins Schumann-Theater zu gehen und im Sommer sonntags im Wiesbadener Kurhaus Ananastörtchen zu essen. Fritz hatte französisches Käsegebäck und Rosé vom Kaiserstuhl bestellt und Victoria so getan, als kenne sie sich mit Weinen aus und würde für ihr Leben gern backen. Er sah ihr burgunderrotes, tief ausgeschnittenes Kleid mit den großen weißen Perlmuttknöpfen. Auf dem Revers glänzte eine goldene Schmetterlingsbrosche mit Rubinen und Smaragden auf den Flügeln. »Sie werden die schönste Tochter, die Nathan je gehabt hat, Fräulein Victoria«, hörte sich Fritz sagen.

»Ist was mit dir?«, fragte Betsy.

»Was soll mit mir sein?«

»Mit Menschen, die Gegenfragen stellen, ist meistens was. Besonders, wenn sie von einem Moment zum anderen so blass werden wie du eben.«

»Fanny, mich dünkt, deine Großmutter sieht zu viel.«

»Viel«, sagte Fanny, »aber nicht zu viel.«

Der Tageskalender, geschickt und liebevoll von ihr aus Papierresten gebastelt und für jeden Tag mit Zeichnungen, Zitaten aus der Literatur, Sprichwörtern und Weisheiten aus dem Alten Testament versehen, zeigte den 26. September. Für den Tag zuvor hatte Fanny das Lessingwort »Kein Mensch muss müssen« gewählt. Sie hielt ihrem Vater das abgerissene Kalenderblatt hin. »Hat er extra für uns geschrieben«, sagte sie. »Habe ich gleich bemerkt, als ich’s zum ersten Mal las.«

»Nebbich«, widersprach Fritz. »Meister Lessing hätte besser mit mir geredet, ehe er mit seinem Nathan begann. Jeder Mensch muss müssen.«

Die Sonne tauchte den Wintergarten in jenes herbstgoldene Licht, an das sich Betsy selbst in der Hölle von Theresienstadt hatte erinnern müssen. Die großen Fenster des kleinen Raums hatten die Bomben, die die beiden oberen Stockwerke des Hauses zerstört hatten, ohne einen Sprung überstanden. Auch der Kirschbaum im Hinterhof hatte die Feuersbrunst überlebt.

»Eine Rose blüht auch, wenn niemand zuschaut«, sinnierte Betsy. »Und ein Baum schert sich nicht um die Zeit, in der er lebt. Unserer schon gar nicht.«

Auf der mit Efeu bewachsenen Mauer, die das Haus Rothschildallee 9 von den Häusern in der Martin-Luther-Straße trennte, hockten Amseln und Blaumeisen. Tauben saßen auf Schornsteinen, die furchtlosen auf den Wäschegestellen vor den Küchenfenstern. Laut zwitscherten die Spatzen.

»›Die Vögel singen auch für die Juden‹, hat Johann Isidor gesagt. Das war an einem der letzten Tage in dieser Wohnung. Ich sehe noch, wie er in der Küche stand, in den Kirschbaum starrte und den Kopf schüttelte.«

»Um bei den Kirschen zu bleiben«, sagte Fritz. Sein Lächeln war ohne Fröhlichkeit. »Ich wette, ein gewisser Theo Berghammer erzählt jetzt überall und jedem, dass mit den Juden nicht gut Kirschen essen ist.«

»Hauptsache«, fand Betsy, »es gelingt uns irgendwann, nicht mehr an ihn zu denken. Wenn es bei uns Kirschauflauf gab, war er nicht wegzuschlagen. Josepha hat sich immer grün geärgert und gesagt, der Bub soll sich daheim satt essen.«

Theo Berghammer, im Haus Rothschildallee 9 aufgewachsen, war in der Zeit der großen Illusion Otto Sternbergs einziger Freund gewesen. Otto war als Achtzehnjähriger im Ersten Weltkrieg gefallen, Theo unmittelbar darauf schwer verwundet worden. Die Hoffnungen, die ihm auf Wohlstand und Achtung geblieben waren, setzte er ab 1933 in die Nazis – und musste das bitter büßen. Im August 1948 hatte nämlich Landgerichtsrat Dr. Friedrich Feuereisen nach zähen Verhandlungen mit einem Richter, dessen Rechtsempfinden seinem Berufsstand keine Ehre machte, sowohl die Wohnung im ersten Stock als auch das Haus Rothschildallee 9 endgültig für seine Schwiegermutter Betsy Sternberg zurückerkämpft. Trotz Theos wiederholten Eingaben und einem Versuch, den zuständigen Beamten auf dem Wohnungsamt mit einem silbernen Fischbesteck für zwölf Personen zu bestechen, das er 1940 bei der Ersteigerung von geraubtem jüdischem Vermögen ergattert hatte, musste die Familie Berghammer die Wohnung im ersten Stock räumen. Es war die, in der Sternbergs achtunddreißig Jahre gewohnt hatten und die sie binnen einer Frist von vierundzwanzig Stunden hatten räumen müssen. Zwei Tage darauf wurde das verdiente Parteimitglied Theo Berghammer dort eingewiesen.

Nach Deutschlands Niederlage, die er auch als seine persönliche empfand, verließ Theo endgültig die Fortune der Konjunkturritter. Er hatte fest damit gerechnet, nie wieder einem Mitglied der Familie Sternberg zu begegnen. Seine nach dem Einmarsch der Amerikaner verängstigte Frau pflegte er mit der immer gleichen Hoffnung zu beruhigen: »Die, die nicht rausgekommen sind, können gar nicht anders als tot sein. Und Erwin, Clara und die Tochter, die sich nach Palästina verkrümelt haben, sind viel zu weit ab vom Schuss, um sich mit dem Haus und unserer Wohnung zu beschäftigen.«

»Nächstes Jahr«, träumte sich Betsy zurück in ihre alte Hausfrauenvergangenheit, »wecke ich die Sauerkirschen im August ein. Josepha hat immer gesagt: ›Mitte August, oder das Vogelpack schlägt zu.‹ Einmal hat ihr Erwin sogar eine Vogelscheuche gebaut mit einem Tiroler Hut und einem Besen in der Hand, aber die Vögel haben sich nicht stören lassen. Josepha war außer sich. Wenn ich mich bloß erinnern könnte, wie viele Zimtstangen sie pro Glas genommen hat.«

»Wer weiß«, sagte Fritz, »ob es bis dahin wieder Zimtstangen gibt. Von Einweckgläsern und Gummiringen gar nicht zu reden. Wenn ich du wäre, würde ich lieber auf Rhabarber setzen. Der braucht keinen Zimt. Der hat immer gleich scheußlich geschmeckt.«

»Du bist ein ganz ungläubiger Thomas«, schimpfte Betsy. »Der Allmächtige hat doch an uns ganz andere Wunder geschehen lassen, als uns mit Gummiringen für Einweckgläser zu beliefern. Du hast natürlich auch deine Hand im Spiel gehabt. Und wie! Kennst du überhaupt meinen geliebten Schwiegersohn? Der ist unglaublich tüchtig, der lässt sich von keinem den Schneid abkaufen.«

»Die gute Laune, wenn ihm einer dumm kommt, schon gar nicht«, machte Fanny mit. Sie schlug ihrem Vater auf die Schulter. »Der erträgt sogar seine unausstehliche Tochter, ohne aus der Fassung zu geraten.«

»Schade«, fuhr Betsy fort, »dass er so entsetzlich bescheiden ist. Er will partout nicht wahrhaben, was er für seine Schwiegermutter getan hat. Ohne dich hätte ich noch nicht einmal einen Nagel zurückbekommen, Fritz, geschweige denn das ganze Haus. Mein Haus. Nein, unser Haus. Alles ist in so unwahrscheinlich kurzer Zeit geschehen, dass ich mich immer noch jeden Morgen zwicken muss, ehe ich wirklich glaube, dass ich am Leben bin. Von den Leuten, die ich nach der Befreiung im jüdischen Altersheim kennengelernt habe, höre ich ganz andere Geschichten, wenn es darum geht, wieder an das zu kommen, was die Nazis ihnen geraubt haben. Der alte Herr Grün, der drei KZs überlebt hat und der trotzdem nach vorn schaute, als ich ihm zum ersten Mal begegnete, ist zu einem kleinen grauen Männchen mit todtraurigen Augen geschrumpft. Er hatte in Frankfurt drei Geschäfte, genau wie wir. Und jetzt bekommt er nichts als dumme Briefe von den Ämtern und nie einen Menschen zu sehen, der zuständig ist.«

»Warte nur, bis ich mich als Anwalt niederlassen kann. Das sind ja gerade die Mandanten, mit denen ich rechne und die ich vertreten will. Ich fühle mich Menschen verpflichtet, die unser Schicksal teilen. Ich könnte als Anwalt nicht mehr genug Interesse für Eierdiebe und kleine Urkundenfälscher aufbringen; von Leuten, die sich scheiden lassen wollen, gar nicht zu reden. Scheidungen hielt ich immer für Sünde. Als Richter kann ich ja nichts für sie tun.«

»Lenk ausnahmsweise mal nicht vom Thema ab, Fritz. Ich will dir wenigstens einmal in Ruhe für das danken dürfen, was du für uns alle getan hast. Aber bei dem Wort ›Danke‹ tust du ja immer gleich so, als hättest du mir nur die Kohlen aus dem Keller geholt.«

»Fürs Selbstverständliche dankt man nicht.«

»Wer in aller Welt hat dir denn das weisgemacht?«

»Mein Vater, als er mir erklärt hat, was bei den Juden ein Gewohnheitsrecht ist. Mutter war stinkwütend. ›An einem Dankeschön ist noch keiner erstickt‹, hat sie gesagt.«

»Recht hat sie gehabt«, nickte Betsy. »Aber was ist heute noch selbstverständlich? Wahrhaftig nicht, dass ich mit euch in unserem alten Esszimmer sitze und in den Wintergarten starre und mir von der guten Märchenfee einreden lasse, ich wäre nie weg gewesen. Das Herz der Betsy Sternberg klopft, rast, spuckt und jubelt. Sie kommt sich vor, als wäre sie fünfzehn und bildschön und hätte gerade den Prinzen von Arkadien kennengelernt. Ist das nun Glück oder Gedächtnisschwäche? Oder Senilität?«

»Bei dir wahrhaftig nicht«, sagte Fritz.

»Ich weiß nicht. Ich sehe mich oft als debile alte Frau, die ihr Leben nicht mehr ganz im Griff hat. Manchmal habe ich Angst, ich werde vergessen, worauf ich warte.«

»Das wiederum hat nichts mit dem Alter zu tun, meine Liebe. Glaubst du, ich weiß immer, wer ich bin? Was ich weiß, ist, dass es derzeit mein ganz großer Wunsch ist, Erwin wiederzusehen. Er war mir immer mehr als nur Schwager. Dank Hitler haben wir uns eine viel zu kurze Zeit gekannt.«

Der Wintergarten war Betsys Lieblingsraum gewesen. Als junge Frau hatte sie dort auf der Recamiere gesessen und Thomas Manns »Buddenbrooks« gelesen. Das Buch war gerade herausgekommen und sowohl bei Betsys literaturbesessenen Kränzchenschwestern im Gespräch als auch bei den vielen Abendeinladungen, die den ehrgeizigen Sternbergs, die gesellschaftlich nach oben strebten, so wichtig waren. An einem zierlichen Marmortischchen hatte die Frau des Hauses ihren Tee mit dem anregenden Duft von Bergamotteöl getrunken, und an besonders guten Tagen hatte sie sich den Gugelhupf mit Schokoladenguss gegönnt, die Spezialität des Café Goldschmidt im Ostend. Im Wintergarten hatte Betsy die Einkaufslisten für große Einladungen und jeden Donnerstag die für das Sabbatessen der Familie zusammengestellt. An einem Tag im Mai, im ersten Frühling ihrer Ehe, hatte sie im Hinterhof zum ersten Mal den Pirol gehört, der alle Jahre wiederkehren sollte, nachmittags hatte Johann Isidor ihr einen kobaltblauen Georgette für ein Sommerkostüm mitgebracht und gesagt, sie dürfe sich den passenden Hut und neue Schuhe kaufen. Betsy war gleich am nächsten Morgen zu ihrer Putzmacherin geeilt. In ihr Tagebuch schrieb sie: »Mir grauet vor der Götter Neid, des Lebens ungemischte Freude ward keinem Irdischen zuteil (Schiller).«

Jahre später hatte sie bekümmert den Gummibaum angestarrt und verärgert dem Klavierspiel der Zwillinge gelauscht. Erwin und Clara, beide musikalisch und beide zu faul, um zu üben, hatten sämtliche Klavierlehrerinnen aus dem Haus getrieben, einmal gar den Klavierstimmer. Dem legten sie ein Schild »Vorsicht, explodiert bei Berührung durch Feiglinge!« unter den Deckel.

»Ich sehe noch sein krebsrotes Gesicht«, erinnerte sich Betsy, »und seinen weit aufgerissenen Mund. Er hat unser Haus nie mehr betreten.« Sie merkte zu spät, dass sie laut gesprochen hatte, und schaute sich erschrocken um, erzählte nach kurzer Zeit aber weiter, als hätte sie das vorgehabt: »Die beiden spielten jeden Tag ›Den treuen Paladin‹ und jeden Tag falsch. Ich musste mich zurückhalten, um ihnen nicht die Noten um die Ohren zu schlagen. Ihr Vater hat immer gesagt: ›Chopins Mutter muss eine Seele von Mensch gewesen sein, um so was zu ertragen‹, und ich hab stets geantwortet ›Chopin war ja auch kein Zwilling‹.«

Im Wintergarten hatte Johann Isidor an einem Sonntag im Herbst zwischen seinem zweiten und dem dritten Cognac seine Frau in einem Moment der Unachtsamkeit »Fritzi« genannt, und Betsy hatte sofort gewittert, dass ihr von allen respektierter, prinzipienfester, moralbewusster Ehemann seine Gattin betrog. Deshalb war sie auch nicht über die Maßen überrascht gewesen, als er drei Jahre später mit einem verschüchterten kleinen Mädchen an der Hand vor ihr stand und seinen ehelichen Fehltritt gestand. Der war acht Jahre alt und käseblass, hatte genau die Puppe im Arm, die ihr Vater der gleichaltrigen Victoria aus Paris mitgebracht hatte, und hieß Anna. Ihre Mutter war gerade gestorben. »Das war l917«, sagte Betsy. Sie fasste sich an die Stirn. »Mein Gott, schon wieder. Ich habe wieder laut gesprochen.«

»Das ist dein gutes Recht, Betsy. Du darfst laut sprechen und schreien, die Fenster zerdeppern und die Hauswände lila anstreichen. Falls du Farbe bekommst. Du bist hier zu Hause. Was war denn 1917?«

»Ach nichts. Nichts, was ihr nicht wisst. Die Wohnung verführt dazu, nach hinten zu schauen. Hoffentlich bleibt das nicht so. Ich habe nicht gelernt, mit Gespenstern zu leben.«

»Es wird so bleiben«, wusste Fritz. »Wir müssen lernen, uns nicht zu wehren. Der Mensch, der sich nicht erinnern will, ist schon tot.«

»Deshalb wehre ich mich ja auch nur manchmal. Ich sehe dauernd den Wintergarten vor mir, wie er früher war. Jeden verdammten Blumentopf.«

Große Porzellankübel mit kunstvoller Goldbemalung hatten auf niedrigen Mahagonihockern mit gedrechselten Beinen gestanden. Die Kakteen waren hoch gewachsen, die exotischen Blumen hatten jedes Jahr farbenfroh geblüht. »Vorsicht, Josepha, reißen Sie die Fenster nicht so weit auf. Kamelien vertragen keine Zugluft. Auch der Hibiskus braucht eine gleichmäßige Temperatur. Und nicht zu kaltes Wasser. Frau Meyerbeer platzt vor Neid, wenn sie unsere Passionsblumen sieht.« – »Sie verhätscheln ja Ihre Pflanzen mehr als Ihre Kinder, gnädige Frau.« – »Blumen geben auch keine Widerworte, Josepha. Sie danken uns unsere Liebe und Fürsorge, fragen einem keine Löcher in den Bauch, fahren nicht Karussell mit den Gefühlen ihrer Mutter, träumen nie schlecht und haben nicht mitten in der Nacht Durst. Schon Goethe, der nur ein einziges Kind hatte und bestimmt nie eine Windel in der Hand, war für die Blumen. Er hat sie die schönen Worte der Natur genannt.«

»Ich glaube«, sagte Fritz, »hier hat ein Orangenbäumchen gestanden, das Früchte trug. Ich war äußerst beeindruckt bei meinem ersten Besuch. Meine Mutter hatte überhaupt keinen grünen Daumen. Über Alpenveilchen und Primeln kam sie nie hinaus. Die Primeln blieben ihrem Ruf nichts schuldig und gingen spätestens nach vier Tagen ein.«

»Die Moosrosen in den rosa Töpfchen haben wir im Frühling in den Vorgarten umgepflanzt. Vicky hat immer darauf geachtet, dass ihre Rose den schönsten Platz im Garten bekam. Alle meine Kinder hatten einen ausgeprägten Sinn für Schönheit. Johann Isidor war das gar nicht recht. Vor allem bei Erwin hatte er Angst, er würde zu weich geraten. So ist es ja auch gekommen.«

»Ohne Erwin«, sagte Fritz, »wären Clara und Claudette nicht rechtzeitig aus Deutschland rausgekommen. Ich ziehe heute noch den Hut, wenn ich daran denke, wie energisch mein Schwager die Auswanderung in ein Land betrieben hat, von dem er nichts wusste und in das nur die wenigsten gelangten.«

In der Quarta hatte Erwin die Zwergapfelsine auf dem Gestell mit der roten Marmorplatte in leuchtenden Farben gemalt und unter das Bild »Mein Lebensbaum« geschrieben. Der Kunstlehrer am Kaiser-Friedrichs-Gymnasium hatte es in den Schulflur gehängt, obgleich er Juden nicht mochte und den vorlauten, schlagfertigen »Sternberg-Lümmel« schon gar nicht.

Victorias Lieblinge waren die Tränenden Herzen auf dem Balkon gewesen. »Mama, müssen Blumen sterben?« – »Alles Leben muss sterben, Victoria.« – »Ich will aber nicht sterben. Nie! Nie! Nie!« Betsys schönste Tochter, die Rebellin, die nach den Sternen gegriffen hatte, war keine dreiunddreißig Jahre alt geworden. In Theresienstadt hatten die Mörder sie mit ihrem achtjährigen Sohn in den Todeszug nach Auschwitz gestoßen. »Lass Salo nicht von der Hand, Vicky!« Ob Fanny, die Gerettete, sich je trauen würde, nach ihrer Mutter zu fragen, würde sie je von ihrem Bruder sprechen können, ohne dass in ihrem Gesicht geschrieben stand: »Warum er und nicht ich?«

»Woran denkst du, Oma? Du hast eben ausgesehen, als ob du ganz weit weg warst.«

»Ich brauch’ nicht zu denken, um weit weg zu sein. In meinem Alter genügt es, nur einen Moment die Augen zu schließen, und schon geht der Zug los. Entschuldigung, Kind. Hör einfach nicht hin, wenn ich rede. Du solltest mehr unter junge Leute gehen.«

»Wozu?«, fragte Fanny. »Die, die heute jung sind, haben gestern auf der anderen Seite gestanden. Ob ich will oder nicht, ich spüre es. Auch bei den Freundlichen. Gerade bei denen.«

Im Wintergarten blühten keine Blumen mehr. Auf dem breiten Fensterbrett standen zwei zerbeulte rote Dosen mit der Aufschrift »Campbell’s Tomato Soup« in weißer Schreibschrift. In der einen Büchse wuchs Schnittlauch, in der zweiten Petersilie; seit dem Umzug aus Annas Wohnung schwächelten beide.

»Vielleicht entscheiden sie sich doch fürs Leben«, sagte Betsy.

»Hauptsache, wir haben das getan«, sagte Fritz.

Betsy dachte an ihre drei Kinder im Ausland – Clara, Erwin und Alice. Seit sie wieder in der Rothschildallee sein durfte, ging ihr vor allem Claudette, Claras Tochter, nicht aus dem Sinn. Die im Jahr 1918 unehelich geborene Claudette hatte zur Verblüffung sämtlicher Verwandten und zum Unverständnis von Freunden und Bekannten, die ja alle wussten, was der siebzehnjährigen Clara widerfahren war, einen besonderen Platz im Herzen ihrer Großeltern gehabt. Theo Berghammer, als politisch Belasteter soeben zugunsten seiner ehemaligen Hauswirtin aus der Wohnung gewiesen, war Claudettes Vater. Clara mit den auf einen Schlag vernichteten Träumen von Studium, Beruf und neuer Frauenfreiheit hatte ihre Beziehung zu Theo jedoch nie zugegeben. Von ihren Eltern finanziell unterstützt und moralisch nicht verurteilt, von ihrem Zwillingsbruder Erwin so verehrt und geliebt wie in der Kindheit, hatte sie mit der kleinen Tochter in der Zweizimmerwohnung im vierten Stock gelebt. Claudette war mehr bei den Großeltern als bei der Mutter gewesen. Sie war fantasievoll, sanft und anlehnungsbedürftig, trotz ihrer Fröhlichkeit aber scheu und schnell gekränkt. Bei der Auswanderung nach Palästina war sie neunzehn Jahre alt, eine schöne Kindfrau mit Wespentaille, langen Beinen und verzaubernden Augen. »Was wünschst du dir zum Geburtstag, Claudette?« – » Dass mein Hund sprechen kann.« – »Und was, wenn du groß bist?« – »Zwei Hunde, die sprechen können.«

Für Betsy blieb ihre erste Enkelin »das Claudettche«, das ihren Großvater vergöttert und »Opa Bär« genannt hatte. In ihrem Onkel Erwin, dem ewigen Bohemien, rief sie Vatergefühle und Verantwortungsbewusstsein wach. Johann Isidor stand seine erste Enkelin näher, als es je die eigenen Töchter getan hatten; er erfüllte ihr jeden Wunsch und mit Lust jene, die ihr die Mutter abschlug. Zum letzten Mal sah er sein Claudettche am Frankfurter Hauptbahnhof. Sie stand am Fenster des Zugs nach Genua und hatte rot geweinte Augen. Ab diesem Tag wurde aus dem unbeugsamen Handelsmann Sternberg, der jede Schikane der Nazis ertragen hatte, ohne seiner Angst nachzugeben, ein gebrochener Mann.

»Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgegeben, Johann Isidor. Vielleicht kommen sie eines Tages zurück. Alle drei.«

»Vielleicht, aber nicht zu mir. Gott hat noch nie einen kranken alten Juden am Leben gelassen, damit er sein Enkelkind wieder sieht.«

Zwischen die Suppendosen mit den Küchenkräutern hatte Betsy eine kleine Figur aus Ebenholz gestellt – eine afrikanische Frauenschönheit in einem weiten roten Stoffrock und mit baumelnden Ohrringen aus winzigen bunten Perlen. Auf dem Kopf trug die junge Frau einen Bastkorb mit Bananen, Orangen und violett leuchtenden Weintrauben. Alice hatte die originelle Holzfigur zum fünfundsiebzigsten Geburtstag ihrer Mutter im vorigen Jahr aus Südafrika geschickt. Wann immer Betsy die Liebesbotin aus Kapstadt betrachtete, zerfraßen sie Sehnsucht und Ungeduld. Es war nun elf Jahre her, seitdem sie ihrem jüngsten Kind im Hamburger Hafen »Lebewohl für immer« zugerufen hatte. Zweiundzwanzig war Alice bei ihrer Auswanderung nach Südafrika und kein einziges Mal von zu Hause weg gewesen. Bis ihre Eltern und ihre Schwester mit Salo aus Frankfurt deportiert wurden und das Band zur Heimat zerschnitten wurde, schrieb sie jede Woche einen langen, heimwehkranken Brief.

Alice hatte Leon Zuckerman, einen ernsthaften, ehrgeizigen und frommen jungen Mann, noch in Frankfurt kennengelernt. Zunächst war sie seinetwegen jeden Samstag in die Synagoge gegangen und ihm dann, trotz der Bedenken ihrer Eltern, nach Südafrika gefolgt. Als die beiden heirateten, hatte der Bräutigam schief gelaufene Absätze und die Braut roch nach der scharfen Kernseife, die feine Leute noch nicht einmal ihrer Kochwäsche zumuteten. Der Rabbiner, der sie traute, schenkte ihnen Geld, damit sie die erste gemeinsame Nacht in einem Hotel verbringen konnten, und wünschte ihnen eine von vielen Kindern gesegnete Ehe. Neuneinhalb Monate darauf kam der kleine David zur Welt. Da verdiente sein Vater bereits genug, um selbst den Mohel für die Beschneidung zu entlohnen. Ob in Zeiten der Not oder im Erfolg, Leon ging keinen Meter vom gottesfürchtigen Weg seines Vaters ab. Er scheute keine Arbeit, nahm jede Herausforderung an und verlor nie den Mut. In Deutschland hatte er Kinderarzt werden wollen. Zehn Jahre nachdem er seinen Fuß auf afrikanischen Boden gesetzt hatte, war er Manager in einem der bekanntesten Hotels von Kapstadt – sehr wohlhabend, sehr zufrieden und sich stets Gottes Segen bewusst. Er war ein liebevoller, verliebter Ehemann und so stolz auf seine drei Söhne und die zwei Töchter, wie es in der alten Heimat sein frommer Vater auf seine vielen Kinder gewesen war.

Trotz der langen Schiffsreise, der immensen Kosten und der wirtschaftlichen Not im zerstörten Nachkriegsdeutschland hatten Alice und Leon mit allen Kindern zu Betsys fünfundsiebzigstem Geburtstag kommen wollen, doch Alice war unmittelbar vor dem Kauf der Schiffskarten zum fünften Mal schwanger geworden. Nun schrieb sie wieder lange, heimwehkranke Briefe. Ihr Mann versäumte es nie, die ihm unbekannte Schwiegermutter persönlich zu grüßen. Er nannte sie Mother Betsy (seine eigene Mutter und seine jüngste Schwester mit drei Kindern waren in Lodz ermordet worden). Die Söhne Zuckerman – David, Aby und Rafael – versäumten es nie, für die unbekannte »Granny« Bildchen und viele Kreuze zu malen. Jedes Kreuz stand für einen Kuss. Von ihrer Großmutter mütterlicherseits gab es im Hause Zuckerman lediglich ein einziges Foto, eine vergilbte Aufnahme aus dem Jahr 1917. Betsy hatte die kleine Alice, damals zwei Jahre alt, auf dem Arm. »Wir müssen unser so heiß ersehntes Wiedersehen vertagen, bis unsere Vicky keine Windeln mehr braucht«, hatte Alice soeben in ihrem Brief zu den hohen jüdischen Feiertagen geschrieben. »Leider lässt sich die Prinzessin damit verdammt viel Zeit. Mehr als die anderen vier zusammen. Ich habe ihr gedroht, dass ich sie allein zu Hause beim Hund und der Nanny lasse, wenn sie nicht spurt. Vicky war das ganz recht. Sie lutschte ungerührt am Ohr unseres engelsgeduldigen Spaniels weiter, aber du hättest mal das Protestgeheul ihrer Brüder hören sollen. Alle drei vergöttern ihre jüngste Schwester, und nun fängt unsere Rachel auch damit an, der Kleinen alles nachzugeben. Wie hast du es nur mit mir ausgehalten, Mutter? Ich war doch auch ein Nesthäkchen. Eine ganz abscheuliche Person, wenn ich mich recht erinnere. Hoffentlich werden meine Töchter nicht so eitel, faul und selbstsüchtig, wie ich es war, aber erzieh du mal Kinder in einem Land, in dem man so viel Personal hat, dass sich jedes Kind wie Graf Koks persönlich aufführt. Neulich bin ich genau zur rechten Zeit dazugekommen, um Rachel mit einem ordentlichen Klaps Mores zu lehren. Die zweijährige Miss Zuckerman hatte der schwarzen Nanny mit Geschrei zu verstehen gegeben, ihren Ball vom Boden aufzuheben. Und in was für einer Lautstärke! Mir ist richtig übel geworden.«

Betsys war in Gedanken noch bei der forschen Enkelin mit dem Kolonialgehabe, als sie zwei gekochte Eier aus ihrer Schürzentasche holte. »Arme Alice«, sagte sie. »Ich hatte auch fünf Kinder, aber in vernünftigen Abständen.«

»Du hattest keinen orthodoxen Mann«, rechnete ihr Fritz vor.

»Hoffentlich sind die Eier weich. Das haben unsere feinen neuen Eierbecher verdient. Ich habe seit Jahren keine weichen Eier mehr gekocht. Seit damals nicht«, meinte Betsy.

»Setz dich endlich hin, Oma. Ich kann das gar nicht sehen, wie du herumrennst und uns bedienst. Den Kaffee hol ich und alles andere, was fehlt, ebenfalls. Ich gehe bis zur Hauptwache oder zum Huthpark, wenn’s nötig ist. Hans hätte Sophie und mich aus dem Hause gejagt, wenn wir bei Tisch sitzen geblieben wären und Anna die ganze Arbeit überlassen hätten. ›Arbeit gibt Brot, Faulheit gibt Not‹, hat er immer gesagt. Ich habe mir das fürs Leben gemerkt. Außerdem habe ich mir was dabei gedacht, wenn ich die Erste bin, die aus der neuen Kanne ausschenkt.«

Fanny drückte die weiße Kaffeekanne für sechs Personen an die Brust. »So eine vornehme Kanne, die Tassen, große und kleine Teller, Schüsseln, Platten und Eierbecher in ihrem Hofstaat hat, habe ich noch nie in der Hand gehabt. Bestimmt ist das Ganze nur ein Traum, ein ganz mieser Teufelstrick.«

»Nein«, widersprach Betsy. »Geplatzte Träume sehen anders aus. Ganz anders. Auf die bin ich spezialisiert. Schaut euch gut um. Überall Schlaraffenland. Wir sollten ein Tischgebet sprechen, damit Gott nicht auf die Idee kommt, dass wir nicht wissen, wem wir zu danken haben. Weiche Eier für jeden«, zählte sie auf, »Butter, so viel wir wollen, Orangenmarmelade aus Südafrika, echter Bohnenkaffee, der mehr von der Welt gesehen hat als wir drei zusammen, und exakt die gleiche Kaffeekanne von Rosenthal wie früher. Es gibt eben doch Dinge zwischen Himmel und Erde, die selbst eine steinalte Frau noch nicht erlebt hat.«

»Wenn du dich heute noch ein einziges Mal als alte Frau bezeichnest«, sagte Fritz, »verlassen sowohl Fanny als auch ihr Vater das Haus. Du hast ja überhaupt keine blasse Ahnung, was es heißt, alt zu sein. Im Übrigen essen jetzt wieder alle Leute Eier. Deutschlands Hühner sind erwacht. Bei jedem Ei, das sie legen, gackern sie für Erhardt und die Demokratie.«

Seit der Währungsreform vom 20. Juni 1948 und mit der Einführung der Deutschen Mark hatte sich das tägliche Leben auf einen gewaltigen Schlag verändert. Nicht nur im Hühnerstall. Für die neue, harte Währung trennten sich Deutschlands Bauern auch bereitwillig von ihren Gänsen, Rindern, Schweinen und Schafen. In den drei Westzonen gab es wieder Fleisch, Kartoffeln, Gemüse und Obst. Konfitüre, Schinken, Wurst und Käse standen auf den Frühstückstischen. Das quittengelbe, bittere Maisbrot war bereits vergessen. Es gab Weißbrot, Brötchen und Kuchen. Am Tag, als die Deutsche Mark eingeführt wurde, hatte der Direktor der Wirtschaftsverwaltung der Bizone, Ludwig Erhard, für die drei Westzonen die Aufhebung der Rationierung von über vierhundert Waren angekündigt. Bis zum Herbst waren die endlich satten Verbraucher an Schaufenster voller Würste, an Sahnetorten in den Cafés und an die aufregenden Schilder »Frische Eier« »Butter« und »Alles ohne Marken« gewöhnt. Es gab Schuhe und Kleidung und auf dem Frankfurter Hauptbahnhof Wein zu kaufen. Frau Metzgerin stand vor der Waage und fragte höflich: »Darf’s ein bisschen mehr sein?« Jedes zugenommene Kilo wurde als Sieg gefeiert – mit Schwarzwälder Kirschtorte und einer Extraportion Sahne.

Vor zwei Tagen war ein städtischer Kurier mit Schildmütze in die Rothschildallee 9 gekommen und hatte zwei riesige Pakete abgeliefert, die sowohl an »Frau Bertha Luise Sternberg« adressiert waren als auch an »Landgerichtsrat Dr. Friedrich Feuereisen und Tochter Fanny«. Das Land Hessen hatte den jüdischen Bürgern, die den Nationalsozialismus überlebt hatten, von der Firma Rosenthal das berühmte Ess- und Kaffeeservice Maria Weiß für sechs Personen geschickt. Obenauf hatte ein vom Vertreter des Frankfurter Oberbürgermeisters unterzeichneter Brief gelegen.

»Es ist der Stadt Frankfurt, die ihren jüdischen Bürgern so viel zu verdanken hat, ein tief empfundenes Bedürfnis, Ihnen nach den Jahren von Verfolgung und Leid auf diesem Weg den Neuanfang ein wenig zu erleichtern.«

»Ein Wiedergutmachungsservice ist das«, sagte Fritz. Er klopfte mit dem Löffel gegen seine Tasse. »Wenn es um Juden geht, kommen nämlich heute selbst ganz honorige Leute auf ganz makabere Ideen. Ja, ich weiß, sie meinen es gut. Nur, ich habe früh begriffen, dass man sich vor Menschen in Acht nehmen muss, die es gut meinen.«

»Johann Isidor hat immer gesagt: ›Gut machen ist besser als gut meinen.‹«

Fritz war blass, seine Stimme laut. »Es tut uns leid, dass wir Ihre Frau und Ihren Sohn ermordet haben, verehrter Dr. Feuereisen, aber es war nicht so gemeint«, höhnte er. »Wir hoffen sehr, dass die neuen Teller Ihnen helfen werden zu vergessen. Ganz bestimmt werden sie das, meine Damen und Herren. Neue Teller sind genau das, was ein Jude braucht, um zu vergessen.«

»Es bringt nichts, alles immer wieder aufzuwühlen. Es ist wahrscheinlich wirklich gut gemeint gewesen. Wir haben ja tatsächlich kein Geschirr.« Betsy legte ihre Hand auf Fritzens Arm. «Ich habe übrigens gelesen, dass unser Oberbürgermeister Kolb selber bei den Nazis in Haft war.«

»Ich sag’s ja immer, es gab viele anständige Menschen in diesem Land. Schade, dass ich sie damals nicht gekannt habe.«

Es wurde trotz der Schatten eine Stunde der Zukunftshoffnung. Einen Moment erwog Fritz gar, von der anstehenden Veränderung in seinem Leben zu sprechen, doch wollte er die Entspanntheit des Augenblicks nicht gefährden und beschloss, bis Rosch haschanah zu warten. »Genau eine Woche«, murmelte er, »am 3. Oktober ist Erew.«

»Und das heißt?«

»Vorabend. Jüdische Feiertage beginnen immer am Vorabend. Sag nur, das weißt du nicht. Tut mir leid, Fanny. Schau nicht so betreten drein. Du kannst wahrhaftig nichts für das, was du nicht weißt. Dein Vater ist ein taktloser, gefühlloser Idiot. Begleitest du ihn trotzdem zu Rosch haschanah in die Synagoge?«

Fritz holte die Flasche Danziger Goldwasser aus dem Schrank, die er in Erinnerung an die Kaffeenachmittage seiner Mutter gekauft hatte. »Ich habe als Kind immer die Gläser ausgeleckt, wenn es niemand gesehen hat«, erzählte er. »Ach, du liebe Zeit, wir haben ja gar keine Gläser. So geht’s aber auch.« Er schenkte in die Eierbecher ein und trank den ersten auf einen Zug leer. Nach dem dritten und eine Stunde später sagte er: »Mutter hatte ja so recht. Man kommt sich so wunderbar reich vor, wenn man Danziger Goldwasser trinkt, hat sie immer gesagt.«

»Offenbar schlafen reiche Leute am Tisch ein, wenn sie zu tief in ihre Eierbecher schauen«, lachte Fanny. »Du hast noch nicht einmal gemerkt, dass es eben geklingelt hat. Dreimal. Sturm! Soll ich aufmachen?«

»Lass mal. Es ist der Mann, der hinausmuss ins feindliche Leben. Mein Gott, Betsy, du bist ja kreideweiß. Du musst dich doch nicht aufregen, wenn es klingelt. Nicht mehr. Es steht keiner mehr vor dieser Tür, den ich nicht im hohen Bogen rausschmeißen kann, wenn ich will.«

2
Schalom, Ora!

September 1948

Weil er unsicher war und Zeit brauchte, um seine Unruhe niederzukämpfen, drückte Fritz unverhältnismäßig lange auf den Summer der Haustür. Am Luftzug im Hausflur merkte er, dass sie unmittelbar nach dem ersten Summton aufgestoßen wurde, doch erst nach einer Weile ging ihm auf, dass sie nicht wieder zurück ins Schloss gefallen war. »Typisch«, murmelte er ungehalten. Er lehnte sich so weit über das Treppengeländer, dass er den oberen Rahmen des Flurfensters sehen konnte, und rief: »Hallo.«

Die Haustür, im Krieg beschädigt und erst seit zwei Monaten wieder in ihrem einstigen Zustand, blieb nur offen stehen, wenn sie einer hielt oder mit einem kleinen Hebel festklemmte, der auf der Rückseite angebracht war. Den kannten allerdings nur die Hausbewohner und zu deren Leidwesen auch die Hausierer, die neuerdings wieder primitiven Hausrat und Korbwaren anboten, und die Bettler – seitdem es wieder Lebensmittel in den Geschäften zu kaufen gab, aber viele Menschen nicht genug Geld hatten, um das zu tun, standen täglich erbärmliche Gestalten vor der Tür.

»Wird’s bald?«, rief Fritz ins Treppenhaus. Für Leute, die nichts von den Narben wussten, die Verfolgung und Todesangst im Leben des Dr. Friedrich Feuereisen hinterlassen hatten, hatte er die kräftige Stimme eines Mannes, der überraschende Besucher an einem Sonntag als Zumutung empfindet. Fritz riss das Fenster im Flur auf und schaute in den Hof hinunter, doch er sah nur zwei kleine Mädchen, die Federball spielten. Nervös rüttelte er am Fenstergriff, die nie überwundene Angst des Gejagten, der die Falle sieht und trotzdem auf sie zuläuft, kroch in ihm hoch.

Sollte ein Mann, der um sein Leben lief, die Treppen hoch zum Speicher rennen oder in den Keller flüchten? Es war höchste Zeit, mit Betsy über die schwere Luftschutztür im Keller der Hauswirtin zu reden. In der Stunde der Not war die Tür nicht rechtzeitig aufzubekommen. Auch der komplizierte Schlüssel, der verkehrt herum ins Schlüsselloch gesteckt werden musste, war eine Gefahr, wenn jede Minute zählte. »Der Schlüssel«, stöhnte Fritz.

Als er seine Stimme hörte – schwach und kinderängstlich –, kehrte er in die Gegenwart zurück. Er war beschämt und mutlos, als ihm aufging, dass der tüchtige, entscheidungsfreudige Jurist Dr. Feuereisen, der sich von niemandem etwas vormachen ließ, sich von der Haustürglocke zum Narren hatte halten lassen.

»Hallo«, rief er wieder. »Wer zum Kuckuck ist denn da?« Seine Stirn war schweißnass, die Augen brannten. »Verdammte Sauerei«, schrie er empört. »Ebe langt’s!«