Inhalt
Gut gegangen
Der Anfang
Das Geschenk des Zusammenseins
Wer lange leben will, muss sich zu Tode arbeiten
Die Hochzeit
Der Tag hat ganz normal begonnen
Die letzte Reise
Keine Erzählung kann wiedergeben, was wir wirklich erleben.
Aber sie kann Mut machen zu diesem Abenteuer des Lebens
und zur Poesie der Erinnerung.
Das Geniale am Tod ist, dass er niemanden vergisst.« Der Zauber lag in der Art, mit der er diese Ungeheuerlichkeit sagte, ziemlich leise, ganz nebenbei, mit der weiten Schwingung der Wahrheit und dem Charme seines ungarischen Akzents, lächelnd und wissend und ganz ohne Angst. Ich schrieb es in mein grünes Notizbuch und hätte nicht gedacht, dass diese Wahrheit so nahe ist.
Am letzten Tag war die verglaste Veranda, unser Lieblingsplatz im Appenzeller Haus, halb ausgeräumt, weil in unserer Abwesenheit Schmelzwasser von der Dachterrasse eingedrungen war, aber das Provisorium störte uns nicht. Wir schauten hinaus in die blaue Stunde des Winters, auf die unverrückbaren Berge, hinter denen andere unverrückbare Berge stehen. Wir waren glücklich, zu Hause zu sein, mit dem guten Gefühl, alles sei bestens.
Ephraims israelische Sekretärin war in diesen Tagen bei uns. Wenn sie mit mir über ihn redete, nannte sie ihn Ubi, so wie ich. Zu ihm aber sagte sie immer Ephraim. Ich habe es noch im Ohr, wie sie »Ephraim!« rief, »Ephraim!«, um ihn zurück ins Leben zu rufen. Manchmal denke ich, hätte sie »Ubi!« gerufen, »Ubi!«, vielleicht wäre es anders ausgegangen. Ich weiß, dies ist nur einer von den hilflosen, verzweifelten Gedanken, die die Irrationalität in ein Wörtchen packen, weil wir glauben wollen, wir hätten das Leben in der Hand. Trotzdem frage ich mich, warum ich in diesen Sekunden stumm war, warum nicht ich gerufen habe?
Ich hielt ihn in meinen Armen, über seinen Kopf gebeugt. Es war ein Augenblick unsäglicher Stille. Alles stand still. Ganz still.
»Ephraim!« Der Schrei schreckte mich auf. Ein einziges, alles umfassendes Nein brach in mir aus und ich rannte zum Telefon, die Rettung zu rufen, rannte, die Türen zu öffnen, rannte wieder zu ihm und legte ihn zurecht, so wie ich es gelernt hatte für den Notfall. Ich fing sofort an, ihn zu beatmen und sein Herz zu massieren. Einmal begonnen, darf man nicht unterbrechen, das, nur das hämmerte in meinem Kopf. Nicht unterbrechen. Und fest. Auch wenn die Rettung schnell kommt, es dauert ewig. Ich fragte mich nicht, was geschehen war, geschehen könnte, und auf keinen Fall habe ich auch nur einen Augenblick daran gedacht, dass wir uns bereits in diesem unfassbaren »Für immer« befanden. Es wird alles gut gehen, dachte ich, es wird alles gut gehen. Er hatte es soeben selbst zu mir gesagt. »Es ist gut gegangen, Popshika.«
»Ich hab mich hingelegt. Es ist gut gegangen, Popshika.«
Dann die unsägliche Stille. Es war, als wäre etwas aufgestiegen.
Ich aber, am Leben, klammerte mich an sein Leben. Wenn es gut gegangen ist, dann geht es ihm gut. Dann wird alles gut. Alles wird gut.
Die Männer von der Rettung sagten mir, ich solle hinausgehen. Ich wusste, was sie jetzt mit ihm taten. Sie versuchten es mehrmals, dann nicht mehr.
Hoffentlich hat er nichts davon mitbekommen, nichts davon gespürt. Man versicherte mir, dass er es nicht gespürt hat, nichts mehr gespürt haben konnte. Nichts mehr. Hat er überhaupt etwas gespürt? Hat er bemerkt, dass er fortgeht? »Es ist gut gegangen, Popshika.« Seine Stimme war leise, aber ganz klar. Auf Deutsch hat er es gesagt. Er hat es mir gesagt. Er wusste, ich bin da.
Ich hatte geglaubt, er verliert nur das Bewusstsein, nicht das Leben. Aber im Nachhinein betrachtet, da kein Leben mehr in ihn zurückgekommen ist, muss dieser Augenblick der Stille und des Friedens der Augenblick gewesen sein. Es war ein heiliger Friede, der in dieser letzten – oder vielleicht ersten – Sekunde lag, ein Friede, den das Leben nicht kennt, eine vollkommene Erlöstheit.
Nichts hatte es angekündigt. Nichts, was wir wahrgenommen oder in diese Richtung gedeutet hätten. Er war voller Pläne und Arbeitsdrang, telefonierte, gab ein Interview, schrieb Listen, was alles zu erledigen sei, und vor allem, wie seit eh und je, beklagte er seinen Untergang, das sicherste Zeichen dafür, dass es ihm gut ging.
Seit ich ihn kannte, beklagte er seinen Untergang, und von anderen, die ihn länger kannten als ich, weiß ich, dass er von Anfang an, schon bevor er die großen Erfolge gehabt hatte, seinen Untergang fürchtete. Prophylaktisch, hatte er mir erklärt, und dass dieser Untergang keinem, der nicht rechtzeitig stirbt, erspart bleiben würde. Rechtzeitig, das heißt in jungen Jahren, so wie Elvis Presley, Marilyn Monroe, Romy Schneider, Humphrey Bogart, James Dean … »Das hab ich schon verpasst«, meinte er und bezeichnete sich als lebende Legende. Ich lachte. Auch er lachte, aber nicht nur.
Ich sagte: »Du kannst nicht mehr untergehen«, und er: »Ich weiß, die Leiche ist schon zu groß.« Mitten im Leben, nimmermüde, voller Zukunft. Er wollte jetzt an der hebräischen und ungarischen Version seines letzten Romans arbeiten, den Mann treffen, der die Biografie über ihn plante, und noch ein Buch schreiben, wie schon so oft ein letztes. »Ich bin wie ein Raucher, habe große Erfahrung im Aufhören.« Angeblich hatte er bereits in den 80er-Jahren davon geredet, mit dem Schreiben aufzuhören, und seit ich ihn kannte sowieso. Aber er hat nicht aufgehört. Es war sein Leben.
Zeit ist vergangen, und man sagt, die Zeit heilt. Aber es sind ja nur wir selbst, die in Stunden, Tagen, in Jahren denken und damit versuchen, uns die Endlichkeit unseres Daseins begreiflicher zu machen. Wäre unser Dasein nicht endlich, bräuchten wir gar keine Zeit. Wäre unser Dasein unbegrenzt, würde ich jetzt nicht denken, dass es nun schon Jahre her ist, dass Ephraim das letzte Mal in der verglasten Veranda am Esstisch saß und ein Stückchen Huhn verspeiste, wie immer im schräg zum Tisch gerückten Sessel, mit weitem Weg vom Teller zum Mund. Ich weiß genau, wie viele Jahre, Tage, Stunden seither vergangen sind, weiß aber nicht genau, wie sie vergingen. Wirklich ohne ihn? Ich höre ihn, als wäre er da.
»Du bist mein größter Erfolg, schöne und außerordentlich gute Popshika.«
Zwei Stunden später …
… ist die Welt untergegangen.
Ich hatte geglaubt, durch die vielen Bücher, die ich über den Tod gelesen habe, durch mein Studium der vielen verschiedenen Einstellungen der Menschen zum Tod, sei ich per du mit dem Tod und er könne mich nicht erschrecken. Aber er erschreckte mich in einem Ausmaß, dass ich keine Worte dafür habe. Ein Satz von Philippe Ariès blieb in mir hängen. »Ein einziger Mensch fehlt dir, und die ganze Welt ist leer.« Ein einziger Mensch fehlt mir, und die ganze Welt ist leer.
Leer? Im Grunde ist es ganz einfach. Der Tod ist ein Teil des Lebens. Oder umgekehrt, das Leben ist ein Teil des Todes. Aber mein Herz scheint diese Logik nicht zu kennen.
Ich habe ihm gesagt: »Ich liebe dich so sehr, dass du auch sterben darfst.« Weil er sich frei fühlen sollte, ohne Druck, leben zu müssen. Was weiß ich denn, dachte ich immer, wie man sich zweiunddreißig Jahre älter als ich fühlt. Auch wenn wir immer glaubten, er werde neunzig oder hundert, er sollte nicht denken, er muss. Weil ich es mir schrecklich vorstelle, leben zu müssen und vielleicht zu müde zu sein oder nicht mehr zu wollen, keine Kraft mehr zu haben und vielleicht wirklich unterzugehen – alles nur, weil ein jüngerer Mensch erwartet oder verlangt, dass man dableibt. Nein, das wollte ich ihm nicht zumuten. Aber ich war nur darum so großzügig, weil er lebte und weil ich mir nicht vorstellte, es würde, solange ich lebe, jemals anders sein. Zusammen konnte uns nichts geschehen.
Ihn in eine dritte Person zu verwandeln, um von ihm zu erzählen, ist nach wie vor ein befremdlicher Vorgang. Eigentlich kann ich nur ihm von ihm erzählen. Aber wie soll ich ihm sagen, dass er gestorben ist? Ich habe Angst, dass er es glauben könnte und dass er dann nochmals stirbt. Inzwischen nämlich habe ich mich einigermaßen eingerichtet, lebe mit ihm sozusagen in gewandelter Form. In der ersten Zeit sind mir die Stimmen aller anderen fremd geworden, schlimmer noch, sie waren unerträglich. Ich lauschte nur der einen, seinen. Ich hob das Telefon nicht mehr ab, um niemanden und nichts zu hören. Gleichzeitig durchzuckte mich mit jedem Klingeln die Hoffnung, er würde anrufen. Einmal noch. Und weil er es nicht sein konnte, wozu abheben? Niemand erreichte mich, mit keinem noch so gut gemeinten Angebot. Niemand brauchte mich, so wie er mich gebraucht hat, niemand redete mit mir, so wie er mit mir geredet hat.
Panik ergriff mich, dass die Stimmen anderer seine überlagern oder verdrängen könnten. Und es beruhigte mich auch nicht, mit anderen über ihn zu sprechen. Ich wollte mit ihm sprechen, und wenn er schon nicht mehr da war, so wollte ich wenigstens, dass er aus mir spreche, dass ich er werde, um ihn am Leben zu halten – für mich. Hatte ich überhaupt ein eigenes Leben, ein von ihm unabhängiges Leben? Wollte ich das? Mein Leben mit ihm war das schönste, beglückendste, das, wonach ich mich immer gesehnt hatte. Unabhängigkeit ist gut und wichtig, aber verglichen mit dem Erlebnis der Liebe eine Art Notprogramm.
Bevor ich ihn kannte, war ich sehr emanzipiert und war mir selbst die Wichtigste. Doch nach meinem Leben mit Ephraim konnte ich nicht wieder zurück in mein Früher steigen. Er ist mit mir, und der Wunsch, es möge ihm gut gehen, ist wie mein Herzschlag. Eigentlich kam es genau so, wie er es mir vorausgesagt hatte. Je länger er nicht mehr so da war wie früher, desto mehr verwandelte sich die Konfusion in Dankbarkeit. Nicht dass der Wunsch verging, es möge wieder so sein wie früher, aber das Leben handelt nun wieder mehr von mir. Ohne dass ich nur mit mir selbst sein muss. Ich bin und werde immer mit ihm sein.
Er wusste, dass ich diese Bücher über den Tod las. Er bezog es nicht nur auf sich, aber auch. Wir sprachen über die Auffassung der jüdischen Religion im Gegensatz zur christlichen und muslimischen. Bei aller Ehrfurcht vor dem Allmächtigen hingen wir keiner bestimmten Religion an. Ohne Religion hört sich beim Tod alles auf. Dann ist es aus. Gewesen. Wie immer agierte er prophylaktisch. Er schrieb ein Testament und sagte zu mir: »Wenn dein Ubi nicht mehr ist, wirst du einen Hund haben.« Auch ich schrieb ein Testament und fragte ihn, ob er, wenn ich nicht mehr wäre, einen Hund hätte. Für ihn aber war klar, dass er diese Welt vor mir verlassen würde, und falls es doch anders kommen sollte, werde auch er nicht mehr sein. Dasselbe dachte auch ich.
Ich: »Wenn du stirbst, dann sterbe ich auch.«
Er: »Das besprechen wir, wenn ich gestorben bin.«
Von Anfang an habe ich mir gesagt, dass es gut ist so. Er muss nicht mehr alt werden. Muss nichts erleiden. Muss sich keine Sorgen mehr machen. Er muss seine Brille nicht mehr suchen, muss sich nicht mehr ängstigen, er muss nicht fürchten, er könnte vielleicht gebrechlich werden, seine schöpferische Kraft dahinschwinden fühlen. Nicht einmal seinen Untergang muss er jetzt noch befürchten, nichts mehr, auch keinen Schnupfen, der nach dem Untergang Platz zwei in seiner Furcht-Skala einnahm.
Aber mit all dem Schönen und Guten, mit seinem Lebenwollen, für mich, mit seinem Glücklichsein, mit mir, mit seiner Zufriedenheit und seinem berechtigten Stolz auf alles, was er erreicht hatte, mit all seinen Ideen und Überraschungen war es mit einem Schlag auch aus und vorbei. Vielleicht hatte er manchmal gedacht, unsere Liebe würde schrumpfen, wenn alles andere schrumpfte, einfach weil er immer an alles gedacht hatte, an alle Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Solche Gedanken kann ich verstehen. Niemand will eine Zumutung für den anderen sein und für ihn wäre das ganz besonders schlimm gewesen, denn diesbezüglich hatte er keine Demut. Er wusste, er ist meine große Liebe und meine große Liebe wird niemals schrumpfen, unter keinen Umständen. »Besser, so eine Behauptung wird nicht auf die Probe gestellt«, hat er gesagt und gelächelt.
Es war also gut so. Gut, dass nichts auf die Probe gestellt wurde … Aber auch die schwerste Probe wäre mir lieber gewesen, als nichts mehr mit ihm erproben zu können. Im Grunde seines Herzens hatte er das gewusst, genau wie ich wusste, was immer auch kommt, einer wird den anderen nicht verlassen. Wir liebten die Sicherheit unserer Zuneigung, vielleicht auch darum, weil es solch eine Sicherheit eigentlich nicht gibt. Unsere Verbindung, hat er immer gesagt, sei etwas, was es sonst nicht gebe. Von Anfang an richteten wir unsere Gemeinsamkeit auf das Jetzt ein. Es war immer Jetzt.
Dieses Jetzt ist verschwunden. Oder hat man auch in einer anderen Welt eine Gegenwart? Was für eine »andere Welt« ist das überhaupt? Ist die Welt nicht alles, warum also spricht man von einer »anderen Welt«? Ist jemand, der gestorben ist, auf der Welt oder ist er eben nicht mehr und in keiner Welt? Ich frage mich immer: Geht es ihm gut? Warum sagt er nichts? Oder sagt er etwas? Ist er es, der in meinen Träumen erscheint? Oder sind diese Bilder meine Erinnerungen, meine Sehnsucht? Sagt er etwas? Sieht er mich, so wie ich ihn im Traum sehe? Warum und wozu aufwachen? Habe ich überhaupt ein Recht, solche Fragen zu stellen? Sollte ich ihn nicht einfach lassen, loslassen, in Ruhe lassen in der anderen Welt, die zu meiner Welt gehört, weil die Welt alles ist?
Als sein Herz stehen blieb, ist all das, womit er sich und dann auch mich durchs Leben geschifft hatte, untergegangen. Diesen Untergang hatte er nie befürchtet. Dabei ist das doch der eigentliche, während der andere, der erfolgsorientierte, der prophylaktisch beklagte, nur als ständiger Begleiter des Aufstiegs diente. Ich habe im Ohr, wie er dieses Wort betont hat, das Wort, für das sein Name steht. Humor, sagte er, Humor. Wir sagen Humor. Doch ganz gleich, mit welcher Betonung ich mir dieses Wort seither vorsage, es klingt nicht mehr wie früher. Immer wieder hat er sich einen letzten Mohikaner genannt. Der letzte Mohikaner des wahren Humors. Sollte es noch ein paar andere letzte geben, wird jeder von ihnen jetzt denken, er sei der letzte.
Ich gehörte nie zu den Guten, die keiner Fliege etwas zu Leide tun. Wenn eine durchs Haus surrte und mich zu stören begann, habe ich sie einfach erschlagen. Jetzt klammern sich Skrupel an mich und ich denke, dass ich einer anderen, nämlich jener, die diese Fliege liebt, einen unsäglichen Schmerz zufüge, wenn ich eine erschlage. Ob eine Fliege eine andere Fliege liebt? Warum nicht. Auch über uns werden manche gedacht haben, ob diese Österreicherin den großen israelischen Schriftsteller wirklich liebt oder nur wegen seines Ruhmes mit ihm ist und er mit ihr, nur weil sie jünger ist und bereit, seine Lasten mitzutragen, warum musste er noch einmal heiraten, die neue Frau im Alter seiner Kinder, und diese neue Frau, also ich, wie konnte sie sich nur auf so etwas einlassen, einen achtundsiebzigjährigen Israeli zu heiraten und ihre Arbeit, ihre Heimat, ihre Freunde verlassen, um mit ihm in der Fremde zu leben?
Es sind die Fragen der anderen, nicht die der Liebenden. Mit der Sicherheit einer Liebenden frage ich nicht, warum eine Fliege eine andere lieben soll und ob Fliegen überhaupt lieben können. Liebende fragen nicht, Liebende lieben. Und trotzdem erschlage ich immer wieder eine, ganz einfach, weil sie mich stört. So wie meine Existenz manche Menschen gestört hat und weiterhin stören wird. Solange Ephraim da war, haben sie ihm und mir viel Freundlichkeit vorgespielt. Nachdem ich übrig geblieben war, hätte man die Witwenverbrennung wieder einführen sollen. Vorausgesetzt, tot bedeutet wirklich tot, mausetot.
Eines von Ephraims Büchern aus unserer gemeinsamen Zeit hat den Titel »Eintagsfliegen leben länger«. Darin bezeichnet er sich selbst als eine in die Jahre gekommene Eintagsfliege. Er meinte, in Anbetracht des Universums sei auch der größte Schriftsteller bestenfalls eine Eintagsfliege. »Was wir Menschen alles tun, um uns irgendwie unsterblich zu machen«, hat er oft gelächelt, auch über sich selbst. »Wie komisch wir kämpfen, um uns irgendeine Wichtigkeit zu geben.« Ein anderes Buch, über Politiker, hat den Titel »Wer’s glaubt, wird selig.« Die Politiker nämlich kämpfen am meisten und am sinnlosesten um irgendeine Bedeutung. Vor allem verlieren sie vollkommen den Überblick. Jede Eintagsfliege hat einen größeren Horizont als ein Politiker. Politiker, schrieb Ephraim, müssen keine besondere Qualifikation haben außer einer: sie müssen mittelmäßig sein.
Es macht mir nichts aus, wenn andere glauben, ich würde ihn glorifizieren. Seine Einzigartigkeit war nicht irgendeine Einzigartigkeit. Er fehlt mir.
Manche Menschen sagen mir, er sei genau so da wie vorher. Anders als ich behaupten sie zu wissen, dass er mich sieht, hört und spürt. Nur physisch, sagen sie, sei er woanders. Dies ist aber kein »nur«, und solche Sätze klingen vor allem schön, aber bringen sie ihn zurück? »Die Toten sterben in uns hinein« – auch dieser Satz klingt schön, wenngleich ein bisschen verwirrt. Ein Toter stirbt nicht mehr. Bestenfalls ist ein Lebender in uns hineingestorben.
Wie auch immer, die Wahrheit ist, er ist nicht mehr da. Nicht mehr wie vorher. Was ich jetzt für ihn tue, tue ich im Grunde für mich. Vorher hatten wir unser »wir«. Unsere Gegenwart war nie stillgestanden, in unserer Gegenwart hat er mich fortwährend überrascht. Auch wenn meine Erinnerung reich ist, überreich, überraschen kann er mich in der Erinnerung nicht. Ich muss lernen, mich selbst zu überraschen.
Vielleicht ist die Erinnerung auch die eigene, ganz persönliche Zukunft. Manche nennen dies »aus der Geschichte lernen«. Oder Kraft schöpfen, wenn man eine so schöne Geschichte hat wie ich. Ich bin dankbar, unendlich dankbar für meine Geschichte mit Ephraim. Er mochte die Menschen nicht, die Liebe nur mit Wörtern bekunden, sodass man sich nach Taten sehnt. Ich mochte sehr auch die Worte der Liebe. Von ihm bekam ich beides, die liebenden Taten und die liebenden Worte. Von beidem so viel, dass ich nie bankrottgehen kann.
Eine seiner überraschenden Liebeserklärungen hat er mir schon nach kürzester Zeit gemacht. Wir waren auf Durchreise in seiner Züricher Wohnung. Das Taxi wartete vor der Haustür. Er saß an seinem Schreibtisch und ordnete noch schnell verschiedene Papiere. »Schau«, sagte er und zog mich am Arm zu sich. »Schau meine Konto-Auszüge an. Die Kontostände. Du sollst alles wissen. Immer.« Die Zahlen sprangen in meine Augen. Die Namen der Banken. Die unterschiedlichen Währungen. Und seine Hände, die all die Papiere ineinanderschoben. Diese Hände, die so viel erlebt haben und mit denen er sein ganzes Werk geschaffen hat.
Ich war erstaunt und berührt. Nicht über die Kontostände, aber dass er mich das wissen lassen wollte, mir alles anvertraute, nichts befürchtete. Er sagte, noch nie habe er sich jemandem dermaßen anvertraut, mit gutem Grund, sagte er, denn er wisse, was er zu hören bekommen würde. »Wenn er so viel hat, kann er mir doch was geben, mehr geben.«
Ich fragte, warum er glaube, von mir würde er das nicht hören.
»Ich fühle Menschen«, war die Antwort.
Er musste sich vollkommen sicher gewesen sein. So wie ich.
Von da an konnten wir uns alles sagen, und er sagte: »Geld, Geld! Geld allein macht nicht glücklich. Geld ist nicht alles im Leben.« Und nach einer kunstvollen Pause: »Man muss auch Gold haben, Immobilien, Aktien und Wertpapiere.«
Der Anfang einer Geschichte ist das Gestrüpp, in dem wir später die Wurzel suchen, und die Wurzel, so könnte man glauben, ist die Erklärung für alles Weitere. So aber, genauso war es bei uns nicht. Unsere Seelen waren so sehr verwandt, dass ich von Anfang an meinte, wir kennen uns schon lange. Vielleicht aber meine ich das erst jetzt, im Nachhinein. Nicht alles war mir von Anfang an vertraut gewesen. Im Grunde genommen war sogar ziemlich viel ziemlich fremd und verwirrend. Weil er mich jedoch in alldem nie allein gelassen und nie enttäuscht hat, empfand ich nicht nur unsere Seelenverwandtschaft, sondern auch all das Fremde als Geschenk an mein kleines, geregeltes, empfindsames mitteleuropäisches Dasein.
Ephraim hatte gerade wieder einmal eine Auszeichnung bekommen, diesmal in Wien, vom österreichischen Bundespräsidenten persönlich überreicht. Sein deutscher Verlag, in dem auch meine Bücher publiziert wurden, hatte mir eine Einladung zu dieser feierlichen Zeremonie zukommen lassen, doch ich war nicht hingegangen. Dann gab der Verlag ihm zu Ehren einen Empfang beim Heurigen. Auch dort wollte ich nicht hingehen, weil nicht ich die Geehrte war. Ich wusste zwar, wer Ephraim Kishon war, aber ein Fan von ihm war ich nicht. Auch kein Feind. Ich hatte keine einzige Zeile von ihm gelesen.
Vielleicht war es zufällig so gekommen, vielleicht aber auch, weil ich mir bereits in jungen Jahren meine eigenen Bücher schrieb, Liebesgeschichten. Später auf der Universität wurde über den weltberühmten Satiriker nicht gelehrt, weil die Satire nicht im Zentrum der höheren Literatur stand oder weil er ein Israeli war oder weil ich lauter humorlose, verknöcherte Professoren hatte. Oder sollte die Wahrhaftigkeit unserer Seelenverwandtschaft nicht getrübt werden? Tatsächlich nämlich könnte man mir unterstellen, meine eigenen Texte seien von Ephraim Kishons Geist und Humor inspiriert gewesen. So wie er selbst von sich sagte, man könnte meinen, er habe für seine Texte den großen ungarischen Humoristen Franz Molnar zum Vorbild gehabt, der unter anderem gesagt haben soll: »Meine Frau schläft mit allen Männern, aber für Geld nur mit mir.«
In Wirklichkeit aber hatte Ephraim von Franz Molnars Existenz die längste Zeit gar nichts gewusst, genauso wie ich nichts von Ephraim Kishon. Die wahre Seelenverwandtschaft gründet nicht auf Vorbild und Nachahmung, sie existiert einfach, unerlernbar, gottgegeben sozusagen, ein Glücksfall.
Ich glaube nicht, dass meine Freundin aus Ahnung jenes schicksalhaften Glückes zu diesem Empfang beim Heurigen drängte. Sie dachte an meine Karriere im Verlag, und um mich zu locken, sagte sie, Ephraim Kishon sei ein besonderer Mensch. Sie packte das Buch von mir ein, das soeben erschienen war, riet mir, mich hübsch zu machen, schließlich würde ich dort meinen Verleger treffen und alle Dazugehörigen, und dazu gehörten nicht nur die ganze Belegschaft des Verlages, sondern auch die Autoren, also auch ich, und so musste ich wohl oder übel teilnehmen, auch wenn ich mich weder irgendwo dazugehörig fühlte und mich zum Gang in die Gesellschaft stets überwinden musste.
Mir war immer leid um die Zeit. Ich hatte einen interessanten und zeitraubenden Job an der Universität, einen Ehemann eintausend Kilometer entfernt, ich hatte einige Bücher veröffentlicht, ich wollte schreiben, und Schreiben braucht Zeit – und die bedeutenden Leute, das hatte ich längst bemerkt, waren meistens nur auf sich selbst konzentriert und auch sehr schnell langweilig. Unbedeutende konnten wesentlich interessanter sein. Ich zum Beispiel, fand ich.
Die Freundin und ich fuhren mit der Straßenbahn nach Grinzing. Es war September. Ich trug ein feines golden glimmerndes Mützchen. Ich hatte nicht bedacht, dass Ephraim Kishon aus dem Land der Israeliten kam und noch weniger, dass religiöse Juden, auch Frauen, immer eine Kopfbedeckung tragen. Was ihn betraf, hatte ich überhaupt nichts bedacht. Mir gefiel mein goldenes Mützchen, und ob ich damit auffallen würde oder nicht, war mir egal. Sowieso war dieser ganze Ausflug nur eine Pflichtübung für mich.
Als wir im Heurigenlokal ankamen, waren schon alle da. Eine vornehme Gesellschaft, hörbar gut gelaunt, so viele Menschen, dass mein erster Gedanke war, das hätte ich mir wirklich sparen können. Dann sah ich ihn. Er saß auf einer Heurigenbank, ein bisschen separiert vom Verleger. Ich musste lächeln. Denn plötzlich erinnerte ich mich an ihn. Ich hatte ihn doch schon einmal gesehen. Vor vielen Jahren, im Fernsehen, zusammen mit Miss Piggy in der Muppet-Show. Nie hatte ich mir die Muppet-Show angesehen, aber dieses eine Mal, zufällig, doch. Ich erinnerte mich sogar, dass ich mir damals gedacht hatte: Was für ein geistreicher, bezaubernder Mann. Jetzt erkannte ich ihn wieder, diesen geistreichen, bezaubernden Mann.
Ich gab ihm meine Hand, und er nahm sie. Heute wüsste ich dies so zu deuten, dass er kein religiöser Jude war, denn religiöse Juden geben keiner Frau die Hand. Sie fürchten, sie könnte unwohl sein, also unrein, und eine unreine Frau dürfen sie nicht berühren. Später sagte er mir, trotz meines Mützchens habe er sofort gewusst, dass ich keine Jüdin sei, denn nichts an mir sei jüdisch. Woran, fragte ich ihn oft, erkennst du, dass jemand Jude ist? Warum konnte ich keine Jüdin sein? Er sagte immer, er fühle es. Manchmal sehe man es auch. Das Äußere könne täuschen. Das Gefühl nicht.
Mit den Jahren konnte ich etwas von diesem Erfühlen erlernen. Ephraims Sicherheit im Erkennen habe ich jedoch bis heute nicht. Immer wieder sagte er mir, wie glücklich er sei, dass ich keine Jüdin bin. Warum? Weil eine Jüdin nicht so sein könnte wie ich. Warum? Warum überhaupt in einer solchen Unterscheidung denken? Er sagte, dass die israelischen Jüdinnen, die dort Geborenen, die Sabres, anders seien als die europäisch assimilierten Jüdinnen. Wie anders? Sabres seien härter, egoistischer, weniger liebevoll. Wenn ich dann fragte, ob ich wenigstens eine europäisch assimilierte sein könnte, schüttelte er den Kopf und lächelte »nein«.
Es war immer ein Thema. Für mich zunächst weniger als für ihn. Ich machte damals keinen Unterschied zwischen Juden und Nicht-Juden. Für mich, geboren und aufgewachsen in der Zeit der Tabuisierung des Holocaust, zählte nie die Zugehörigkeit zu einer Rasse oder einer Religion, sondern immer der einzelne Mensch. Inzwischen gelingt es auch mir nicht mehr. Das ewige Thema hat auch mich befallen. Denn im Heiligen Land war ich auf einmal nicht mehr nur ich, sondern immer auch eine Nicht-Jüdin, ein Spross der Nazi-Generation. Ephraim sagte: »Israel ist das einzige Land, in dem ich kein Jude bin. Weil in Israel alle Juden sind.« Aber wenn man dort kein Jude ist wie ich, dann wird dies in Israel bemerkt. Selten ausgesprochen, aber bemerkt.
Wäre ich genauso, wie ich bin, und dennoch eine Jüdin, wäre ich für ihn nichts anderes gewesen, als ich bin. Allerdings sagte er immer, als Jüdin wäre ich nicht, wie ich bin, und manchmal deutete ich seine Beteuerungen, wie froh er sei, dass ich keine Jüdin bin, als eine Art Selbstverteidigung gegen die unausgesprochenen Vorbehalte gegen mich in seiner israelischen Gesellschaft. Niemand hat, solange Ephraim mit mir war, auch nur ein einziges Mal eine Bemerkung gemacht. Aber viele werden doch gedacht haben, wie konnte er noch einmal heiraten, noch dazu eine Nicht-Jüdin, keine von uns … Nach seinem Tod bekam ich es sofort zu spüren. Nicht von seinen jüdischen Freunden in Europa. Aber in Israel.
Vielleicht war er über mein Nicht-Jüdin-Sein auch deshalb froh, weil dadurch keine Geschichte der Verfolgung auf mir lastete. Er traute dem Stillstand der Verfolgung nicht. Immer wieder sagte er, der Antisemitismus stehe in voller Blüte. Die Spielregeln, sagte er, hätten sich verändert, die Grundhaltung jedoch nicht. Heute sei es nicht salonfähig, gegen die Juden zu sein, also sei man heute gegen Israel, das gehöre zum intellektuellen guten Ton. Dieser Ton hat ihn traurig gemacht, tieftraurig. Wir hatten endlose Gespräche darüber. Er selbst hatte gegen die jüngeren deutschen Generationen nicht den geringsten Vorbehalt. Eine kollektive Schuld oder so etwas wie Erbsünde existierten für ihn nicht. Wohl aber die kollektive Schande.
Damals, bei unserer ersten Begegnung, dachte ich überhaupt nicht daran, dass er 1924 in Budapest geboren worden war, ausgestattet mit jenem großen Geist der ungarischen Juden, nur knapp seiner Vernichtung entgangen, und dass er nach dem Terror der Nationalsozialisten in Stalins Hölle gelebt hatte, floh und 1949, mit fünfundzwanzig Jahren, in Israel neu geboren wurde, wie er es selbst nannte, Hebräisch lernte und fortan all seine Werke auf Hebräisch schrieb, von rechts nach links »gegen den internationalen Verkehr«, und auf Hebräisch träumte, »mit ungarischen Untertiteln«. Ich hatte wirklich keine Ahnung von ihm und seiner Geschichte. Sah nur den Mann, der zusammen mit Miss Piggy aufgetreten war.
Bis heute weiß ich nicht, wie er meine Unkenntnis um sein Werk und seine Person verkraften konnte, war er doch sonst mindestens einen halben Tag lang zutiefst irritiert, wenn er jemandem begegnete, der ihn nicht kannte und nichts von ihm gelesen hatte. Tatsächlich erlitt er eine solche Irritation höchst selten. Über mich brach sie deswegen nicht aus, weil ich es ihm nicht gleich sagte, mich durchschummelte und er aufgrund meines Doktortitels wohl annahm, dass ich seine Werke natürlich gelesen habe, all mein Wissen jedoch nicht gleich zum Besten gebe. Dies glaubte er bis zum Schluss. »Popshika ist viel klüger, als sie tut«, sagte er oft. Schließlich sei es ja auch eine Art von Klugheit, wenn man andere glauben machen könne, man sei klug. Allerdings behauptete er, er sei bei dieser ersten Begegnung weder an meiner Klugheit noch an sonst irgendetwas interessiert gewesen, sondern nur an einem: meiner Nase. Er sagte das in vielen Interviews nach unserer Hochzeit, in denen er nach dem Anfang unserer Geschichte gefragt wurde. »Herr Kishon, wie haben Sie Lisa kennengelernt?« – »Ich bekam in Österreich vom Bundespräsidenten eine Auszeichnung und dann sah ich ihre Nase.«
Wie er auf der Heurigen-Bank saß, sichtlich gelangweilt und wohl auch ein bisschen erschöpft, neben sich bereits einen ganzen Stoß von Büchern, die die anderen Autoren dem großen Meister als Zeichen ihrer Ehrerbietung mitgebracht hatten, hat er mich mit seiner Nase an meiner Nase erkannt. Welch eine Zumutung, dachte ich, ihm auch noch mein Buch zu überreichen. Kein Schriftsteller liest die Bücher der Schriftstellerkollegen, liest nur, was er als Recherche für seine eigenen Arbeiten braucht, vielleicht noch das eine oder andere, was ihn brennend interessiert. Mein Buch, dem der Verlag den Titel »Männer sind Glückssache« gegeben hatte, würde Ephraim Kishon weder interessieren noch würde er es für eine Recherche brauchen können, geschweige denn, dass er auch nur eine Minute Zeit hatte für so etwas. Warum also sollte ich ihm ein Dankeschön abringen für etwas, was ihn nur belastete? Höflichkeitshalber würde er all diese Bücher bis in sein Hotel schleppen und dort mit schlechtem Gewissen und leisem Mitleid für all diese kleinen Autoren liegen lassen.
Ich wollte ihm mein Buch nicht geben, wehrte mich, zierte mich. Er lächelte amüsiert, als ich sagte: »Ich kann es gut verstehen, wenn Sie mein Buch nicht lesen werden. Wann denn. Wirklich, vergessen Sie es.« Er nahm es, ein Gentleman der alten Schule, bedankte sich höflich, meinte, es sei gewiss ein Meisterwerk, und legte es auf den Stoß der anderen.
Im Laufe des Abends setzte er sich zu mir. Es war laut und verraucht, und ich merkte, das Ganze strengte ihn an und langweilte ihn genauso wie mich. Er fragte mich über mein Leben, und als ich sagte, dass ich verheiratet sei, schnellten seine Augenbrauen hoch, und er fragte »Mit wem?«, und er suchte den Raum ab.
»Er ist nicht da«, lächelte ich und erzählte von meiner idealen Ehe.
»Es gibt keine ideale Ehe«, meinte er.
»Doch«, beharrte ich, »meine.«
»Dann dauert sie erst ganz kurz.«
»Nein, nicht so kurz. Mein Mann ist Künstler und lebt im Teufelsmoor.«
»Teufelsmoor?«
»Das ist gute tausend Kilometer weit weg.«
»Ich verstehe. Wie oft sehen Sie sich?«
Ich sagte, fünf, sechs Mal im Jahr. Jeder meinte, das sei viel zu selten, er aber rief spontan: »Viel zu oft!« Er rief es so laut, dass sich alle umdrehten.
Er dämpfte seine Stimme, sie wurde jetzt so leise, dass ich ihn, auch wegen seines Akzents, kaum mehr verstand. Er sagte, dass die Ehe neben der Einkommensteuer das größte Fiasko der Menschheit sei. Ich redete von Liebe, er davon, dass Liebe ein Wunschtraum bleibe.
»Glauben Sie mir«, flüsterte er, »ich bin ein sehr erfahrener Mann«, und er beharrte auf der Unmöglichkeit der Ehe.
Weil ich keines seiner Werke kannte, folglich auch nicht seine »Familiengeschichten«, wusste ich nichts von seinen berühmten Sätzen über die Ehe. »Die Ehe ist für Frauen gemacht. Darum sollen nur Frauen heiraten.« – »Wenn zwischen Mann und Frau die Stunde der Wahrheit schlägt, gibt es für den Mann nur eines: lügen, lügen, lügen.« – »Die Frauenseele ist für mich ein offenes Buch – geschrieben in einer unverständlichen Sprache.« Ich konnte nicht auseinanderhalten, was er als Satiriker aus seinen Werken zitierte und was er wirklich dachte. Galt all das, was er in seinen Büchern geschrieben hatte, auch für sein eigenes Leben? Ich wusste, wie gesagt, gar nichts von ihm.
Leise und komisch schimpfte er immer ausführlicher auf die Institution Ehe. In der Ehe, klagte er, würden die Ehefrauen alle Notizzettel ihrer Ehemänner studieren, Telefonrechnungen überprüfen, die Hosentaschen untersuchen, Flugkarten kontrollieren, ja, ein dermaßen akribisches Kontrollsystem in Gang halten, dass man sich frage, wie sie überhaupt noch für etwas anderes Zeit hätten. Sodass die Ehemänner die Kongresse erfunden hätten, die Herrenclubs und Männervereine, um zu fliehen, wobei sie aber auch auf ihrer Flucht in einer Weise kontrolliert seien, dass eigentlich nur der Selbstmord bleibe.
»Oder die Scheidung«, warf ich ein. Nein, nicht die Scheidung, er würde sich nicht mehr scheiden lassen, sagte er, niemals. Die Scheidung von seiner ersten Frau habe er kaum überlebt, so traurig habe ihn dies gemacht. Ich war beruhigt und deutete seine radikalen Äußerungen über die Ehe als satirische Übersteigerung. Als er mich fragte, ob ich mich scheiden lassen würde, wechselte ich das Thema und erklärte ihm die Messung des biologischen Alters. Man halte den Unterarm im rechten Winkel zum Körper von sich weg, spreize alle Finger auseinander, und wenn die männliche Heiligkeit stehe wie der Daumen, erklärte ich mit wissenschaftlicher Präzision, bedeute dies ein biologisches Alter von zwanzig Jahren, wenn sie stehe wie der Zeigefinger dreißig und so weiter.
Der Verleger neben uns begann laut zu lachen.
Kishon unterbrach ihn: »Stören Sie uns nicht, lieber Alter«, und erklärte mir, dass er den Verleger deswegen »Alter« nenne, weil ein Verleger, auch wenn fünf Jahre jünger, immer so etwas wie ein Onkel sei. Natürlich wollte er von mir hören, dass er jünger aussehe als der Alte, und nach dieser biologischen Theorie habe er die zwanzig noch gar nicht erreicht, lächelte er.
Zum Abschied gab er mir einen nassen Kuss neben den Mund. Altmännerküsschen, dachte ich, mit ungarischem Charme, und dann saßen wir wieder in der Straßenbahn, meine Freundin und ich. Sie sagte, ich hätte ihm gefallen, und ich sagte, ihm sei gewiss bloß langweilig gewesen, genau wie mir, und Schriftsteller bekämpften die Langeweile damit, dass sie irgendetwas reden, oft ganz Gegenteiliges von dem, was sie wirklich denken, eine Art Spiel, um zu testen, wie es auf den anderen wirkte.
Drei Wochen später sah ich ihn wieder, diesmal auf der Buchmesse in Frankfurt. Ich war sehr gut gelaunt. Lange Zeit hatte ich geglaubt, eher zu den elitären Intellektuellen zu gehören, obwohl sie mir eigentlich schon immer auf die Nerven gegangen waren mit ihrem Selbstmitleid, ihrer Intoleranz, ihren Vorurteilen und ihrem eitlen Habitus. Für meine ersten beiden Bücher, die in einem anderen Verlag erschienen waren, hatte ich großartige Kritiken im erlauchten Feuilleton der erlauchten deutschen Zeitungen bekommen, aber es wurde nur wenig verkauft. Inzwischen hatte sich mein Stil verändert, und nun wollte ich lieber, dass viele Menschen mein Buch lesen, viele verkauft werden, und dafür meinte ich in meinem neuen Verlag, in dem auch Ephraim Kishon verlegt wurde, die besseren Chancen zu haben.
Als ich sie auf der Buchmesse alle wieder sah, die Intellektuellen in ihren dunklen Gewändern, rauchend, arrogant und mit selbstquälerischem Gesichtsausdruck, freute ich mich, nun zu den fröhlichen freundlichen familiären eleganten Leuten meines neuen deutschen Verlages zu gehören. Und wer war noch da? Er. Mit diesem kleinen silbrigen Löckchen im Nacken. Ein Löckchen, das stets himmelwärts zeigte.
Als er mich sah, ließ er alle Leute rund um sich stehen und eilte auf mich zu. Er nahm meine Hand, »kezét csókolom«, »küss die Hand«, und gratulierte mir zu meinem Buch. Ja, sagte er, er habe hineingeschaut, nach dem ersten Satz habe er den zweiten gelesen und dann noch einen und noch einen und habe lachen müssen, wirklich lachen. Da habe er sich gefragt, was für eine Dame das sei, die ihn mit dem, was sie schreibt, zum Lachen bringe? Vor allem der Satz »Er küsste mich während« habe es ihm angetan.
»Sie müssen wissen«, sagte er, »mich zum Lachen zu bringen ist ein Kunststück. Ich lache fast nie.«
Ich war so erstaunt, dass ich annahm, er mache Spaß, weil er sich vielleicht wieder einmal langweilte, da er schon dutzende Male auf der Buchmesse gewesen war. Ich wusste damals noch nicht, dass er nichts nur so sagte. Er sagte immer die Wahrheit, und wenn er log, so zur Verteidigung seiner Wahrheit. Nur so, um jemandem zu schmeicheln oder um gut dazustehen oder aus Höflichkeit oder um zu glänzen, sagte er nichts.
»Mir hat Ihre Nase gefallen«, fuhr er fort. »Und dass Sie mir Ihr Buch nicht geben wollten, hat mir gezeigt, dass Sie mich verstehen. Und Sie haben Humor.«
Nach wie vor hielt ich es nicht für möglich, dass ich ihm etwas bedeuten könnte, und nach wie vor war mir das auch nicht wichtig. Aber dass ihm mein Buch gefiel, freute mich sehr. Als er dann diesen Satz aus meinem Buch zitierte, dachte ich, nein, er lügt nicht, er hat wirklich darin gelesen, zumindest diesen einen Satz. Im selben Augenblick sagte er: »Ich lüge nicht. Ich kann es mir leisten, die Wahrheit zu sagen.«
In der Zwischenzeit hatte ich von anderen Menschen gehört, dass er eingebildet sei, eitel, arrogant und unnahbar. Ich empfand ihn anders. So wie er das sagte, er könne es sich leisten, die Wahrheit zu sagen, war er nur aufrichtig, ohne das dümmliche Spiel der Bescheidenheit. Warum sollte er bescheiden sein? Auf dem langen Boulevard zur Buchmesse war alle fünfzehn Meter ein Plakatständer mit seinem Portrait und dem Titel seines neuen Buches aufgestellt. Sein Name hallte durch die Gebäude. Menschenmengen drängten zu ihm, um eine Unterschrift zu ergattern, eine Schlange von Reportern wartete am Verlagsstand, um ihn zu interviewen. Das war die Wahrheit. Das Problem, das in dieser Wahrheit lag, war vielmehr, dass er sie gewohnt war. Aber das und was eine solche Gewohnheit mit sich bringt, wusste ich damals noch nicht.
»Ich bedaure sehr, dass ich nicht mehr Zeit habe«, sagte er. Ich verstand vollkommen. »Und«, fügte er hinzu, »meine Frau ist hier. Ich kann Sie daher nicht zum Essen einladen. Schade.«
Ja, schade, dachte ich, aber macht nichts. Das Kompliment hatte ich schon bekommen, es war großartig, und abgesehen davon hatte auch ich keine Zeit. Ich bedankte mich sehr, und dann gab er mir wieder einen nassen Kuss, diesmal noch näher am Mund. Und diesmal wischte ich ihn nicht weg. Vielleicht wegen des Kompliments ließ ich ihn auf mir. Es war lustig, dass er wegen meiner Nase in mein Buch geschaut hatte und nicht weil ich einen intelligenten Eindruck auf ihn machte. Ich kannte ihn nicht und dachte nicht weiter nach. Später sagte er mir, schöne Frauen muss man für ihre Intelligenz loben, intelligente Frauen für ihre Schönheit. Vielleicht war dieses Prinzip in seinem Nasenkompliment soeben zur Anwendung gekommen? Irgendwie schien alles andere wichtiger als mein Buch, aber: Er hatte darin gelesen und mir – und hoffentlich auch dem Verleger – gesagt, dass ich außerordentlich talentiert sei.
Einen Augenblick lang dachte ich, vielleicht würde ich einen väterlichen Freund in ihm gewinnen, einen literarischen Berater und Förderer. Ich senkte meine Stimme auf den mir tiefstmöglichen Sound, sagte »Bis bald« zu ihm und ging meiner Wege.
Dieses »Bis bald« hatte ich nur so gesagt, sagte es zu vielen, so wie »Alles Gute«. Er aber, wie er mir später erzählte, hatte es wörtlich genommen und auf sich bezogen und geglaubt, ich hoffe auf ein »bald« mit ihm. Welch ein glücklicher Irrtum. Ohne mein »Bis bald« und ohne seinen Irrtum hätte er mich vielleicht nicht angerufen …
Im Grunde war dieser »Irrtum«, dieses Glück, typisch für ihn. Es war seine Reinheit, die Unschuld seines Herzens. Zwar hatte er nach allem, was ihm und seinem Volk angetan worden war, eine abgrundtief schlechte Meinung über die Menschen, von seinem Herzen aber ging er immer noch, wie ein Kind, zunächst einmal ganz unvoreingenommen auf jemanden zu, und weil er niemanden anlog oder nur, wenn es unbedingt sein musste, weil er so ehrlich und offen war, nahm er das Gleiche zwar nicht auch von anderen an, aber sein erster Schritt in die Richtung eines anderen war immer ohne Argwohn, immer ganz offen, und zunächst verstand er das, was man ihm sagte, in seiner ursprünglichen Bedeutung, jedenfalls in den vier Sprachen, die er beherrschte. Bei all seiner unbarmherzigen Sicht auf alle Lebewesen dieses Planeten und alle Ereignisse, die sie verursachen, war er auf eine bezaubernde Weise auch naiv, eigentlich wie jenes Ich in seinen Satiren oder auch sein berühmter Jossele.
Und so war der Anfang unserer Geschichte im Grunde wie der Anfang einer seiner Geschichten, auch meiner. Mit meinem »Bis bald« im Ohr rief er mich wenige Tage später in Wien zu Hause an. Ich konnte es nicht glauben. Da er sich nie mit Namen vorstellte, weil er davon ausging, dass jeder seine sanfte Stimme mit dem feinen ungarischen Akzent sofort identifizieren konnte, ich aber ganz und gar nicht mit seinem Anruf gerechnet hatte, fragte ich: »Wer spricht bitte?«
»Jeder kennt meine Stimme«, erwiderte er. Wieder hätte man denken können, wie eingebildet. Aber wieder war es nichts als die Wahrheit. Später sprachen wir darüber, warum Menschen, die ihn nicht gut kannten, ihn oft für eingebildet hielten. Er meinte, mit über 40 Millionen verkauften Büchern und den vielen Auszeichnungen, die er bekommen hatte, wäre es komisch, sich nichts darauf einzubilden. Wenn ihn jemand fragte, wie er sich seine hohen Auflagen erkläre, antwortete er: »Weil ich ein verdammt guter Schriftsteller bin. Und zudem Glück gehabt habe. Jemand hat mich gern da oben.« Dann lächelte er, so bescheiden, eigentlich auch demütig, fast unerklärlich bei all dem Schrecklichen, das er auch erlebt hat.
Bei unserem ersten Telefonat, es dauerte ungefähr zwei Stunden lang, musste ich es gestehen. Ich hatte noch nichts von ihm gelesen. Zuerst dachte er, ich mache einen Witz. Aber es war so. Er hatte inzwischen fast mein ganzes Buch gelesen und ich nichts von ihm.
»Ach, meine Liebe«, seufzte er, »wie ist das möglich?«
Ich erklärte ihm, dass ich Schriftstellerin sei, »das weiß ich bereits«, unterbrach er mich, »und Schriftsteller lesen doch nichts von anderen Schriftstellern«, argumentierte ich.
»Sie lügen«, sagte er und erinnerte mich daran, dass er mein Buch bereits gelesen habe. Außerdem hatte er sich gemerkt, was ich studiert habe, und daher, meinte er, hätte ich viel gelesen, sehr viel, alles außer Kishon.
Ich war arrogant, nicht er, ich war eingebildet und zugenagelt. Was mich ein wenig abhob von den anderen: Da ich wirklich nichts von ihm gelesen hatte, hatte ich auch kein Urteil und kein Vorurteil über sein Werk. Seine hohen Auflagen ließen im »Club«, wie er die Anhänger des erlauchten deutschen Feuilletons nannte, die Vorurteile gegen ihn nur so köcheln, ein Gemisch aus Neid auf seine Beliebtheit, sein dadurch erwachsener Wohlstand, seine Popularität, auf das Gewicht seiner »Stimme«, die so viele erreichte und nicht und nicht still wurde. Immer wieder wurde er als »rechts« und »konservativ« bezeichnet. Er reagierte darauf mit der Bemerkung, wer über eine Million erreicht habe, egal welcher Art die Million sei, ob verdienter Dollar oder verkaufter Bücher, wer über eine Million erreicht habe, gelte als rechts und konservativ, und tatsächlich werde kaum einer, der über eine Million erreicht habe, im linken Lager bleiben – es sei denn, das linke Lager sei sein Beruf. Ephraim hatte wie gesagt weit über 40 Millionen verkaufter Bücher zu verbuchen, und das linke Lager war nicht sein Beruf.
Über solche Gesetze hatte ich früher nie nachgedacht. Ich hatte keine Ahnung gehabt, was alles sich mit einer Million entscheiden kann. Als er mich zum ersten Mal anrief, war ich einfach nur erstaunt. Und ein bisschen beschämt. Eben weil ich nichts von ihm gelesen hatte. Doch eines hatte ich bereits begriffen: Obwohl ich ein ausgesprochenes Talent dazu habe, jemandem etwas vorzumachen, ihm konnte ich nichts vormachen.
Ihm wollte ich auch nichts vormachen. Etwas in mir wehrte sich dagegen. Ich war einfach erfreut über seinen Anruf, auch überrascht, und warum sollte er nicht ein wenig näher rücken, zumal er, wie mir schien, ganz von selbst rückte, mehr liebevoll als absichtsvoll. Auch mochte ich seine Stimme und die vielen überraschenden Gedanken, die er mit seinem charmanten ungarischen Akzent formulierte. Dass er zwei Stunden lang mit mir telefonierte, habe ich als nichts Besonderes registriert. Ich glaubte immer noch, er sei ganz einfach von meinem Buch begeistert.
Am Ende unseres ersten Telefonats fragte ich ihn, was ich von ihm lesen solle. Seine Erinnerungen »Nichts zu lachen«, sagte er, damit ich erfahre, wer er sei. Ich notierte den Titel, dachte aber nur daran, dass er, wer immer er sonst sei, ab nun vor allem mein väterlicher Freund und literarischer Berater und Förderer werden würde. Warum sonst sollte er mich angerufen haben?
Unser ganzes gemeinsames Leben lang habe ich für diese Wunschvorstellung stets sein belustigtes »Blöde Popshika« geerntet.
Nachdem ich in seinen Erinnerungen »Nichts zu lachen« zu lesen begonnen hatte, war ich schon nach den ersten Seiten so tief berührt, dass er mich von nun an nicht mehr nur in Bezug auf meine Wunschvorstellung interessierte, ja meine Wunschvorstellung regelrecht zurücktrat vor seiner Lebensgeschichte, seiner Überlebensgeschichte. Ich war so voller Staunen darüber, wie er sein Schicksal in die Hand genommen hatte, dass ich nicht aufhören konnte zu lesen. Natürlich dachte ich an die Möglichkeit, dass er so über sich schrieb, wie er gerne wäre, denn Schriftsteller haben dieses Talent. Doch ich hatte bereits begriffen, dass er, der ein noch viel größeres Talent zum Lügen hatte als ich, nämlich ein wirkliches, ein existenzielles, dass er gerade deswegen ein durch und durch aufrichtiger Mensch war. Die Wahrheit zu erkennen und die Wahrheit anzuerkennen, erklärte er mir, sei die Voraussetzung, um gut lügen zu können und um Satiren zu schreiben. Ohne Wahrheit im Kern gebe es keinen Humor. Und ohne Humor kein Verstehen, kein Verzeihen. Trotz seiner schlechten Meinung über die Menschen hatte er ihnen ihr Menschsein verziehen und viele Menschen einander nähergebracht durch das, was er über sie schrieb und wie er über sie schrieb.
Bei seinen nächsten Anrufen sprachen wir über sein Buch. Ich ahnte noch nicht, wie unsäglich einsam er war, doch mir schien, als stellte er gar keinen Anspruch auf Glück und Geborgenheit. Eigentlich war ich in diesen Tagen mehr mit seinem Buch als mit ihm beschäftigt. Das heißt, mit ihm in seinem Buch. Dass er alsbald nach Wien kommen würde, zu einer Signierstunde, wie er sagte, beeindruckte mich nicht sonderlich. Heute weiß ich, dass er viel zu schüchtern war, um mir am Telefon den wahren Grund seiner neuerlichen Wien-Reise zu sagen.
Wir verabredeten uns in der Halle des Wiener Hilton-Hotels, und ich wunderte mich, dass er vor unserem nächsten Wiedersehen jeden Tag anrief. Jetzt dachte ich, es würde ihn interessieren, was ich zu seinem Buch sage, aber warum ihn das interessieren könnte, darüber dachte ich nicht nach.