Originalausgabe. Copyright © 2011-2012 by Werner Kristkeitz Verlag, Heidelberg. Alle Rechte für sämtliche Medien und jede Art der Verbreitung, Vervielfältigung, Speicherung oder sonstigen, auch auszugsweisen, Verwertung bleiben vorbehalten.
ISBN 978-3-932337-95-6
ISBN gebundenes Buch: 978-3-932337-48-2
www.kristkeitz.de
810–2010 u. Z.: 1200 Jahre Individuelle Meditation –
Ihre Entstehung
Im neunten Jahrhundert wurde die Lehre unter dem Namen «Besondere Lehre» bekannt. In den Anfängen wurden die Inhalte der Lehre auch niedergeschrieben, allerdings verschwanden diese Aufzeichnungen im Lauf der Zeit. Entgegen der anfänglichen Meinung, dass die Lehrinhalte niedergeschrieben werden sollten, änderte sich diese Ansicht. Es galt, die Lehre nur noch von einem Meister auf seine Schüler zu übertragen.
Manche Meister oder Linienhalter versuchten sogar ihrer eigenen Aufzeichnungen habhaft zu werden und sie zu vernichten, was ihnen auch in hohem Umfang gelang. Erst viele Jahre später wurden Teile verschollener Aufzeichnungen ihrer Schüler im Rahmen des buddhistischen Gedankengutes gesammelt, zusammengeführt und veröffentlicht.
Bis in die Neuzeit gab es keine weiteren Niederschriften der Lehre, es galt sogar unter den Linienhaltern die verbreitete Meinung, dass sie nichts aufschreiben sollten, sondern ihr Wissen mündlich übermitteln sollten, um es damit lebendig zu halten.
Da es eine wichtige Aufgabe des Linienhalters ist, die Lehre dem Zeitgeist anzupassen, haben sich der letzte und der aktuelle Linienhalter darüber abgestimmt, dass die Lehre der Individuellen Meditation mit ihrem Ansatz zur persönlichen Entwicklung einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wird.
Das vorliegende Buch umfasst die Geschichten über die ersten fünf Meister der Individuellen Meditation. Es wird vom Entstehen der Uridee, der Ausreifung des Ansatzes und der Vermittlung an verschiedene Schüler erzählt.
Dieses Buch lässt sich auf verschiedene Arten lesen und auf unterschiedlichen Ebenen verstehen.
Zum einen wird es für viele Leser eine interessante und unterhaltsame Geschichte sein, andere wiederum werden daraus einzelne Erkenntnisse in ihr eigenes Leben integrieren.
Einer großen Anzahl von Lesern, die sich mit Meditation beschäftigen, wird die Lektüre eine enorme Motivation auf ihrem Weg mitgeben, selbst Einsichten zu sammeln und tieferes Verständnis für ihre Praxis zu bekommen.
Allen sei der Wunsch, die eigene Inspiration anzuregen, mit auf dem Weg gegeben.
In einer Nomadenfamilie im Himalaya wurde im Jahr 784 ein Kind geboren, das den uns bekannten Namen erst 26 Jahre später bekommen hat. Das Kind hat bereits in seinem sechsten Lebensmonat angefangen, ununterbrochen etwas zu murmeln. Zuerst wussten seine Eltern nicht, was er zu sagen versuchte, mit der Zeit erkannten sie, dass er etwas so lange wiederholt hat, bis es zu einem verständlichen Wort wurde. Auf diese Art lernte er schnell, Worte auszusprechen. Offensichtlich verfügte er schon in diesem sehr jungen Alter über ein perfektes Gehör und experimentierte mit der Stimme, bis er das zutreffende Wort aussprach. Im Alter von neun Monaten bildete er schon einfache, jedoch vollständige Sätze. Seine ersten Worte waren nicht, wie bei anderen Kindern, ‹Mama›, ‹Papa› oder die Namen der Haustiere, sondern ganz ungewöhnliche Begriffe, wie ‹Sterne› und ‹Himmel› etc.
Der erste Satz, den seine Mutter von ihm gehört hat, war: «Das Licht kommt vom Himmel.» Der zweite Satz war: «Die Sterne scheinen.»
Danach hörte er auf, vollständige Sätze zu bilden. Als hätte er sich zurückentwickelt, begann er ‹Mama›, ‹Papa› und die Namen anderer Familienmitglieder laut auszusprechen und zu wiederholen, bis diese Personen zu ihm kamen. Dann hörte er plötzlich ganz auf zu sprechen.
Als er ein Jahr alt wurde, entdeckte er zwei Realitäten, eine objektive, die aus materiellen Dingen bestand, und die andere, subjektive, die nur in seinem Geist existierte. Er glaubte, dass er beide selbst herstellen kann. Der Beweis dafür war, dass die Personen immer dann erschienen, wenn er an sie dachte und deren Namen aussprach. Er glaubte damals, dass es ausreichen würde, einen Namen laut genug zu sagen, und aus diesem Wort könne dann die Person oder das Tier entstehen. Da er nicht immer in der Lage war, durch das Schreien eines Namens die Person zum Erscheinen zu bringen, machte er sich Vorwürfe, weil er dachte, dass er seinen Gedanken und das daraus entstandene Wort nicht laut genug gesagt hätte. Er versuchte es immer lauter zu sagen, aber die Personen bzw. Tiere kamen trotzdem nicht. Nach wenigen Monaten begriff er, dass es einen Teil der Wirklichkeit gibt, den er nicht beeinflussen kann, und er fing an, die Wege zu suchen, wie er das Unbeeinflussbare vielleicht doch beeinflussen könnte. Aus dieser Suche ist ein unvorstellbarer Wissensdurst entstanden. Jeden neuen Begriff, den er einmal gehört hatte, pflegte er sich zu merken, als wäre er ein wertvoller Schatz. Er betrachtete sein Gedächtnis als eine große Schatzkammer und die Worte als Diamanten. Um die Worte niemals zu vergessen, wiederholte er sie endlos, bis er sie sich so gemerkt hatte, dass sie niemals verschwänden. Auf diese Art baute er seine ganze Wissensstruktur auf. Er hatte vor allem Angst vor der Langeweile und dachte, wenn er genügend Material in seinem Geist hätte, dann hätte er immer genug zu tun, weil er über dieses Material endlos nachdenken könnte. Als er einmal diese Gewohnheit entwickelt hatte, alles gründlich zu erlernen, wurde sie zu einem Automatismus, der sich immer dann meldete, wenn er mit irgendeiner Neuheit konfrontiert wurde.
Das Kind hatte ein starkes Interesse für Magie entwickelt. Er dachte, dass er über eine Fähigkeit verfüge, die kein anderer Mensch hatte. Er konnte Geräusche und Klänge hören, die sich außerhalb des menschlichen Gehörs befanden. So konnte er zum Beispiel Ultraschall hören. Er erkannte, dass unterschiedliche Tiere auf bestimmte Schwingungen reagieren, wobei nur er in der Lage war, diese zu hören. Mit dieser Fähigkeit konnte er immer ein Tier finden, wenn es verloren gegangen war. Laut seinen Erzählungen konnte er das verlorene Tier hören, wie es in der Ferne jammerte. Diese Fähigkeit zeigte sich bei ihm bereits in seinem vierten Lebensjahr. Die Eltern glaubten, dass er besonders begabt sei, und entschieden sich deshalb, ihn in ein Kloster zu geben. Dort traf er viele gelehrte Mönche, die er zunächst allerdings kaum verstehen konnte. Er verstand nur die Nomadensprache, die sehr einfach und derb war, aber eine gehobene Sprache, wie sie im Kloster gesprochen wurde, war für ihn wie eine fremde Sprache. Er begriff aber schnell, dass er diese Sprache auch erlernen konnte, genauso wie er in seinem sechsten Monat zu sprechen lernte. Jedes neue Wort, das er gehört hatte, wiederholte er unaufhörlich, bis er es sich so tief eingeprägt hatte, dass er es niemals mehr vergaß.
Im Kloster hatte er die Gelegenheit, wenn er etwas nicht verstanden hat, die anderen Mönche nach der Erklärung zu fragen, aber er achtete darauf, seine Fragen nur einmal gestellt zu haben und die bekommene Antwort sich dann gut zu merken. Dadurch wurde er für die älteren Mönche ein sehr umgänglicher Fall – er lernte alles deutlich schneller als andere Kinder im Kloster.
Die Mönche bemerkten seine Lernfähigkeit, und einmal fragte ihn einer, wie es ihm denn gelänge, so schnell zu lernen. Daraufhin erwiderte das Kind: Dharma, Dharma, Dharma, Dharma und danach wiederholte er Prajnaparamitta, Prajnaparamitta, Prajnaparamitta, Prajnaparamitta. Der Mönch begriff dadurch, dass diese Wiederholungen die Kunst des schnellen Lernens des Kindes waren.
Später pflegte das Kind zu sagen, ein Wort sei wie ein Diamant und sein Gedächtnis wie eine Schatzkammer, in der er seine Worte aufbewahrt.
Als er fünf Jahre alt war, konnte er gut lesen und schreiben, aber seine Handschrift konnte keiner außer ihm selbst lesen. Sein Lehrer hatte dann darauf bestanden, dass er lesbarer schreiben sollte, und er erwiderte, dass es für ihn genüge, wenn er es selbst lesen kann. Trotz dieser Einstellung gab er sich große Mühe, die Schönschrift zu erlernen und zu meistern. In der Kalligrafie erlangte er sein erstes Samadhi, und die Bestätigung dafür bekam er von seinem Kalligrafielehrer.
Im Kloster hatte er den Status einer lebendigen Enzyklopädie. Wenn jemand etwas nicht wusste, wandte er sich an das Wunderkind und bekam die richtige Antwort. Natürlich bezogen sich diese Fragen nur auf die alten buddhistischen Schriften, die er gelesen und deren Inhalte er sich gemerkt hatte. Er konnte die Inhalte nicht buchstäblich, d. h. auswendig wiederholen, sondern nur faktisch. Seine Wissensstruktur hatte er nach seinen eigenen Kriterien und Prinzipien aufgebaut – sie hatte die gleiche Struktur wie die Sprache, die er gemeistert hatte. Deshalb konnte er alles sofort aus dem Gedächtnis abrufen, genauso wie er sofort seine Gedanken in die passenden Worte kleiden konnte.
Nach seinem 12. Lebensjahr machte er es sich zur Gewohnheit, immer, wenn er etwas Freizeit hatte, über die erlernten Inhalte nachzudenken, er analysierte sie und versuchte schlüssige Zusammenhänge zu finden. Es war schon damals vorauszuahnen, dass er sich auch irgendwann Gedanken über Karma und Wiedergeburt machen würde. Er suchte Beweise für diese beiden Phänomene, fand aber keine. Weder die einfachen Mönche noch die großen Lamas waren in der Lage, ihm zufrieden stellende Antworten zu liefern. So kam er zu dem Schluss, dass das Karma-Gesetz und die Wiedergeburt nur im Glauben enthalten sind.
Es war Anfang des neunten Jahrhunderts, als dieser junge Mönch auf die Idee kam, die Lehre Buddhas zu hinterfragen. Er beobachtete die Menschen, die zum Kloster kamen, unterhielt sich mit ihnen und machte sich Gedanken über die Grundideen des Buddhismus. Er wollte wissen, ob diese Menschen ihr Leben selbst bestimmten oder ob sie sich, wie es das Karmagesetz verlangte, ihrem Schicksal fügten. Die Antworten der Klosterbesucher fielen sehr unterschiedlich aus.
Die einen glaubten tatsächlich, dass es nicht möglich sei, selbst etwas zu bewirken, andere dachten, sie könnten ihr Leben positiv beeinflussen, indem sie durch gute Taten ihr Karma verbesserten. Wieder andere trauten sich nicht, Dinge in ihrem Leben zu ändern, denn sie meinten, sie würden dadurch ihr Karma und damit auch ihr Leben nach der Wiedergeburt noch verschlechtern. Nur wenige waren der Ansicht, ihr Leben im Griff zu haben und es aktiv gestalten zu können.
Der anonyme Mönch dachte über diese Ergebnisse lange nach und beschloss, sich mit anderen Mönchen darüber auszutauschen.
Doch statt seine Meinung anzuhören und sie mit ihm zu besprechen, erzählten sie dem Abt des Klosters von seinen Ideen, woraufhin dieser ihn aus der Klostergemeinschaft ausschloss. Der Mönch hatte keinen Beruf erlernt und wusste nicht, wie er sein Leben außerhalb des Klosters gestalten sollte. In der Hoffnung, mit anderen Mönchen seine eigenen Überlegungen zu überprüfen, ging er auf eine Pilgerreise. Meist hatten diese Mönche jedoch kein offenes Ohr für ihn, besonders wenn sie erfuhren, dass er wegen seiner Ansichten aus der Klostergemeinschaft ausgeschlossen worden war. Doch je weiter er sich von seinem Kloster entfernte, desto aufgeschlossener wurden die Mönche, was ihn am Anfang überraschte – er hätte erwartet, dass Menschen aus seiner nächsten Umgebung mehr Verständnis für ihn haben würden als Fremde. Erst später konnte er es verstehen.
In Tibet breitete sich zu dieser Zeit eine besondere Art des Buddhismus aus, die heute als Diamantweg bekannt ist. Anhänger dieser Richtung betrachteten sich selbst als etwas Besonderes. Sie waren davon überzeugt, dass sie sich als Einzige auf dem richtigen Weg befänden, und werteten dadurch andere Richtungen ab. Als er Mönchen anderer Schulen begegnete, stellte er fest, dass sie für seine Lage mehr Verständnis hatten, weil sie – obwohl sie ihren eigenen Weg gingen – ihn weiterhin als einen buddhistischen Mönch betrachteten. In vielen Gesprächen mit diesen Mönchen konnte er seine Ansichten überprüfen und kam zu dem Schluss, dass sie den Menschen mehr entsprachen als der tibetische Buddhismus.
Besonders in China konnte er sich mit anderen Mönchen über seine Ideen austauschen, weil er den Eindruck hatte, dass chinesische Buddhisten für seine Ideen offener waren als die Inder, mit denen er sich vorher getroffen und unterhalten hatte. Anfänglich wanderte er allein von einem Pilgerort zum anderen. Mit der Zeit begleiteten ihn immer mehr junge Mönche, einige aus Neugierde, andere aus eigener innerer Verzweiflung heraus und um seine Ansichten zu überprüfen.
Ohne einer bestimmten Route zu folgen, wanderte er von einem Pilgerort zum anderen. Manchmal suchte er sich den nächstgelegenen aus, manchmal entschied er sich für den am wenigsten besuchten Ort, besonders dann, wenn er unterwegs allein sein wollte.
In Gesprächen mit chinesischen Mönchen tauchten immer wieder zwei Namen auf: Bodhidharma und Hui Neng, die zu jener Zeit in Tibet noch unbekannt waren. Zuerst wollte er von Hui Nengs und Bodhidharmas Ansichten nichts wissen; er war ständig mit seinen eigenen Ideen beschäftigt. Als er erfuhr, dass Bodhidharma großen Wert auf die Körperertüchtigung legte und ein System des aktiven Meditierens entwickelt hatte, beschloss er, das dafür bekannte Shaolinkloster aufzusuchen.
Er ahnte nicht, dass er sich damit auf ein Abenteuer begab, das nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch die Zukunft der Individuellen Meditation prägen würde. Auf dem Weg zum Shaolinkloster kam er auch an dem Ort vorbei, wo Hui Neng, der sechste Patriarch, die Lehre von seinem Meister übernahm und danach in Richtung Süden flüchtete. Dies war einer der zwei Berge, die bekannt waren als Zwillingsberge (Shuangfeng), nämlich Dong-Shan.
Am Shaolinkloster angekommen, wollte er nicht gleich hineingehen, sondern sich zuerst auf das Gespräch mit dem Meister des Klosters vorbereiten. Im nahe gelegenen Wald setzte er sich in den Hohlraum eines zerbrochenen Baumstammes und beabsichtigte, die ganze Nacht zu meditieren, schlief aber bald ein und erwachte erst wieder bei Tagesanbruch. Die Nacht war so kalt gewesen, dass er kaum aufstehen konnte. Im Shaolinkloster kam er in einem elenden Zustand an, halb verkrüppelt, von starken Rückenschmerzen geplagt und mit einem Bein hinkend. Als die jungen Mönche und Novizen ihn sahen, konnten sie ihr Lachen nicht unterdrücken, und schallendes Gelächter verbreitete sich über den ganzen Übungsplatz, auf dem die aktiven Meditationen praktiziert wurden.
Der anonyme Mönch fragte nach ihrem Lehrer. Das Lachen verstummte und sie machten einen Durchgang frei, an dessen Ende ein Mönch stand, der so jung war wie alle anderen. Alle Blicke richteten sich auf ihn und der anonyme Mönch wusste sofort, dass das der Lehrer war. Mit der Entschlossenheit eines Menschen, dem es aufgrund starker Schmerzen egal geworden ist, ob er dem Lehrer gegenüber den erwarteten Respekt zeigt oder nicht, sprach er ihn an. Der Lehrer bewegte sich in seine Richtung, umrundete ihn in wenigen Schritten und griff nach seinen Armen. Er zog sie nach oben, drückte einige Stellen an seinem Rücken, die ihm einen Schrei entlockten, und plötzlich wurde alles still. Einen Augenblick später stellte der anonyme Mönch fest, dass er wieder aufrecht stehen und normal gehen konnte. Sein hinkendes Bein fühlte sich wie früher an und sein Rücken war wieder schmerzfrei. Er wusste sofort, dass er im Shaolinkloster die Heilkunst erlernen würde. Wenn sie auf den gleichen Grundlagen basierte, die für den Geist gelten, dann würde er diese Grundlagen in seinen eigenen Weg integrieren.
Er stellte sich als der heimlose Mönch vor, und als er erkannte, dass von ihm noch mehr erwartet wurde, fuhr er fort: Ohne-Heim sei er nicht nur, weil er aus seinem Kloster ausgeschlossen wurde, sondern weil er sich von der Lehre Buddhas abgewandt habe, die Sangha war bis dahin sein Heim, und deshalb sei er nun ein heimloser Mönch.
Der Lehrer fragte ihn nach seinem Namen und er erwiderte, dass er ohne Heim und ohne Namen sei, er sei nur noch ein Nichts. Darauf entgegnete der Lehrer, dass er ihn aber sehe und ihn sprechen höre. Der anonyme Mönch sagte nun, dass er im Shaolinkloster lernen möchte und dass er dort auch gerne lehren würde.
Der Lehrer erlaubte ihm, bis zur Antwort auf seine Bitte vor dem Klostereingang zu sitzen und zu meditieren. Als der Mönch darauf hingewiesen wurde, dass das Warten lange dauern könnte, erwiderte er nichts und begann zu meditieren.
Bei Anbruch der Nacht sah er, dass viele Kinder, Novizen und Mönche das Kloster in unterschiedliche Richtungen verließen. Zwei von ihnen blieben in seinem Blickfeld. Der Vollmond warf sein Licht auf die Erde und der Mönch sah, wie einer der beiden Novizen aus der Liegestützenhaltung heraus versuchte, mit dem Fuß den eigenen Kopf zu berühren, als wollte er die Bewegung eines Skorpions nachahmen. Der Junge richtete seinen Blick wie besessen auf den Boden und verharrte bewegungslos. Der Mönch wunderte sich so sehr darüber, dass ein Kind solch enorme Geduld und innere Ruhe aufbringen konnte, dass er seine Meditation unterbrach und zu dem Kind ging, um herauszufinden, was es so fesselte. Er sah, dass der Novize ein dünnes Stäbchen in seiner rechten Hand auf dem Boden hielt und mit diesem Stäbchen einen Skorpion immer wieder reizte und provozierte, damit der Skorpion genau das täte, was das Kind selbst nachzuahmen versuchte. Er drehte sich um und erblickte die andere Person, einen Jugendlichen, der offensichtlich auch ein Novize war und sich wie eine Spinne bewegte. Der Blick des Jungen war ebenfalls auf den Boden gerichtet, und als der anonyme Mönch näher kam, sah er die Spinne. In diesem Moment öffnete sich sein Geist und verbreitete sich um ihn herum, als wäre er aus dem Käfig hinausgegangen, und er, der bis zu diesem Augenblick geglaubt hatte, alle Geisteszustände erfahren zu haben, begriff, dass er zum ersten Mal in seinem Leben die wahre Geistesfülle erlebte, weil er sich sowohl mit dem Kind und dem Skorpion als auch mit dem Jungen und der Spinne vereinigte. Er fühlte sich nicht mehr als Mönch und als Mensch, er konnte nur noch ein Wort flüstern: «alles». Er wiederholte dieses «Alles» noch einige Male, bis er schließlich beim Ausatmen ergänzte: «ist eins». Ruhig kehrte er zu seinem Platz neben dem Eingangstor zurück, setzte sich hin und blieb regungslos mit offenen Augen sitzen, ohne die Augäpfel zu bewegen. Der Junge und das Kind kamen zu ihm, starrten ihn an und bewegten sich vor seinen Augen. Als sie erkannten, dass sein Blick wie der eines Blinden aussah, verbeugten sie sich vor ihm und sagten mehrmals: «Danke, Ohne-Heim, danke.»
Von diesem Augenblick an hieß der Mönch «Wu Jia» (von «Wu» = ohne und «Jia» = Heim). Ihm wurde plötzlich klar, was all diese Mönche, Novizen und Kinder in der Nacht taten: Sie versuchten, das Wesen von Tieren und Gegenständen zu erkennen und dieses auf irgendeine Art auszudrücken. Ob sie sich mit dem wahrgenommenen Objekt zuerst vereinigen mussten, um dessen Wesen wiederzugeben, oder ob sie zuerst das Wesen des Objektes erkennen mussten, um es nachzuahmen, wusste er noch nicht. Dass sie auf diese meditative Art den Weg zur Geistesfülle beschritten, war ihm klar, weil er diesen Weg selbst gerade eben zurückgelegt hatte.
Am nächsten Tag war Wu Jia das einzige Thema im Kloster. Ein alter Mönch brachte ihm Reisgebäck und Wasser. Er blieb noch einige Tage an seinem Platz und wartete auf die Nacht, in der Hoffnung, sich wieder mit allem vereinigen zu können. Mönche, Novizen und Kinder gingen jede Nacht an ihm vorbei und verteilten sich im Wald und in den Tälern, aber keiner blieb mehr vor dem Klostertor. Eines Nachts wollte Wu Jia einem Mönch folgen, aber dann kam ihm der Gedanke, dass er ja bereits wusste, was er sehen und erfahren würde. Er befreite sich von dem Wunsch, die Geistesfülle wieder zu erleben, und verspürte danach eine enorme Erleichterung, so, als würde er einen schweren Felsbrocken aus den Händen zu Boden fallen lassen, bevor der Felsbrocken ihn selbst zu Boden zwingen würde. Dies wurde die erste wirklich reine Nacht seines Lebens. Er wartete nicht mehr auf die Rückkehr der Mönche und fragte sich auch nicht mehr, wann er ins Kloster eingelassen würde. Der Schlaf quälte ihn nicht mehr und er fühlte sich, als sei er in einem endlos tiefen Brunnen, allein und weit entfernt von allen Dingen. Dieses Gefühl hätte er als «Leere» bezeichnet, wenn ihn jemand danach gefragt hätte, zu dem er es hätte sagen können. Er wusste, dass er etwas erlebte, von dem er niemals zuvor gehört hatte.
Er betrachtete seine Hände, die er gleichzeitig als eigene und fremde empfand, als leere Hände, und er stellte auf eine besondere, nicht denkende Art fest, dass er gleichzeitig dachte und nicht dachte und dabei weder wusste noch nicht wusste, ob er dachte oder nicht dachte. Wann dieser Zustand aufhörte, konnte er nicht feststellen. Als er wieder zu denken begann, erkannte er, dass er die ganze Zeit über gedacht hatte, wusste jetzt aber, dass sein Denken vorher anders gewesen war.
Eine ganze Woche verging und immer mehr Mönche, Novizen und Kinder versammelten sich tagsüber vor ihm und sprachen von «Ohne-Heim», ohne sich auch nur ein einziges Mal an ihn zu wenden, als wäre er nur ein Pfeiler vor dem Eingangstor.
Als er eines Nachts zum ersten Mal versuchte, die Stellung einer Eidechse einzunehmen, kam ein alter Mönch zu ihm und erlaubte ihm, sich auf das Bett im Eingangsbereich zum Klosterhof zu legen. Wie lange er geschlafen hatte, begriff er, als er sah, dass die Sonnenstrahlen am nächsten Tag fast senkrecht von oben auf sein Gesicht fielen. Neben seinem Bett stand ein Fass, das wie eine Trommel aussah, und auf diesem Fass stand eine Schale mit Reis, Nüssen und Bohnen. Der alte Mönch zeigte ihm den Weg zur Meditationshalle, in deren Mitte der Meister saß und ihm mit der Hand einen Platz wies, wo er sich hinsetzen sollte.
Der Meister sagte nichts und beide schwiegen einige Minuten, als hätten sie es so vereinbart. Plötzlich hörte Wu Jia eine schrille Stimme, die ihm eine Gänsehaut verursachte. Es war nicht die Stimme des Meisters, sondern eine Stimme von außen, die sagte: «Alles ist eins», und die Worte bewegten sich von einer Seite der Halle zur anderen und wieder zurück, wie ein endloses Echo. Der Meister klatschte in die Hände und das Echo hörte auf. Die Stimme wiederholte den Satz immer wieder und jedes Mal klatschte der Meister. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Stimme ganz verstummte. Der Schauder verwandelte sich in eine Spannung, die weder im Körper noch im Geist zu spüren war. Der anonyme Mönch fühlte sie hinter seinem Rücken in der Luft. Er drehte sich um, sah aber nichts. Er streckte seine Hand aus und verspürte an dieser Stelle einen leichten Widerstand und kalte Luft im Raum. Der Meister streckte seinen Arm in die gleiche Richtung, spreizte die Finger und die Spannung löste sich auf. Der Meister sagte nur: «Chi.» Er fragte den Mönch, was er am besten tun könne, und der Mönch antwortete: «Ich kann gut denken und lange sitzen.» – «Dann wirst du hier lernen, mehr zu tun und weniger zu denken und zu sitzen», sagte der Meister und verließ die Halle.
Wu Jia wurde ein Platz in der Meditationshalle zugeteilt.
Der alte Mönch, der sich zuvor um ihn gekümmert hatte, unterhielt sich mit ihm über sein ganzes Leben und erfuhr, dass Wu Jia 26 Jahre alt war, sich mit alten buddhistischen Schriften auskannte und alle 40 Achtsamkeitsmeditationen beherrschte. Den Weg zum ruhigen Geist hatte er bereits gemeistert, vom klaren Geist ahnte er lediglich, dass es ihn gibt, und glaubte, ihn als einen Hauch in seiner ersten Nacht vor dem Klostertor erlebt zu haben. Der alte Mönch sagte, dass Wu Jia nicht weniger als ein Jahr im Kloster bleiben müsste. Wu Jia versprach, so lange im Kloster zu bleiben, bis man ihn gehen lassen würde. Während er nämlich die Mönche, Novizen und Kinder nachts beobachtete und tagsüber anhörte, sah er allmählich ein, dass er noch viel lernen müsste, um aus seinen Überlegungen eine Lehre zu entwickeln, eine Lehre, die den Weg zur Geistesruhe jedem ermöglicht, der die Geistesruhe erlangen möchte.
Während fünf Jahren übte Wu Jia, das Wesen der Tiere, Pflanzen und Naturphänomene zu erkennen, sich mit ihnen zu vereinigen, sich dabei zu verlieren und den Zustand des reinen Geistes zu erlangen. Er lernte auch, das Chi zu spüren, und entdeckte, dass diese Fähigkeit denjenigen vorbehalten war, die das Chi auch steuern konnten.
Als er 31 Jahre alt wurde, verabschiedete sich der alte Mönch von ihm, und der Meister lud ihn zu einem Gespräch ein. Der Meister fragte, ob er das Wesen aller Tiere, Pflanzen und Naturphänomene erkennen und sich mit ihnen vereinigen könne. Wu Jia antwortete: «Ja, das kann ich.» – «Kannst du auch mein Wesen erkennen und es mir zeigen?», fragte der Meister. Der Mönch erwiderte: «Das kann ich noch nicht.» Der Meister stand auf und verließ die Halle.
Ein Jahr später teilte Wu Jia dem Meister mit, dass er dessen Wesen erkannt und sich mit ihm vereinigt hätte. Die schrille Stimme meldete sich und wiederholte: «Alles ist eins», der Mönch klatschte, aber der Satz rollte wie eine Welle von einer Wand der Halle zur anderen und übertönte die schrille Stimme so, dass der Mönch seine Ohren mit den Händen zuhalten musste, weil er fürchtete, dass das Echo sie durchbohren würde. Der Meister klatschte nur ein Mal und das Echo hörte auf. Der Meister stand auf und verließ die Halle. Der Mönch schämte sich seines Hochmutes und wünschte, er wäre nicht im Kloster, sondern auf dem Weg zu einem anderen Pilgerort.
In dieser Nacht schrieb er einen Satz auf ein Blatt, das er dann auf den Platz des Meisters legte: «Das abgerissene Blatt von meinem Baum fliegt im Sturm und lacht, es sieht das Tor am Himmel. Eis und Finsternis.»
Am nächsten Tag mischte er sich zum ersten Mal unter die anderen Mönche, Novizen und Kinder und begann, sich mit ihnen über das Hauptthema des Tages auszutauschen.
Es ging um einen Mönch, der nach einer dreitägigen Meditation schlafen ging und bis zum nächsten Mittag durchschlief. Die Mönche lachten darüber und Wu Jia lachte mit ihnen zusammen über den schlafenden Mönch, über sich selbst und über alle anderen, die um die Mittagszeit immer noch schlafen. Nachts ging er in den Wald, suchte sich die dunkelste Stelle aus, und als er immer noch den Eindruck hatte, dass er sehen konnte, ging er zu dem Loch in dem Baumstamm, in dem er seine erste Nacht in der Nähe des Shaolinklosters verbracht hatte, weil er dachte, dass er das Wesen der Nacht erkennen und sich mit diesem Wesen vereinigen würde. Vor Tagesanbruch kehrte er ins Kloster zurück, ging zu seinem Platz in der Halle und schlief ein. Ihm fiel auf, dass das Loch im Baum mit der Zeit immer bequemer wurde, obwohl er den Baum nicht jede Nacht aufsuchte. Dann begriff er, dass auch andere Mönche diesen Platz zum Meditieren benutzten.
Ein weiteres Jahr verging, der Meister rief ihn wieder zu sich und fragte, ob er das Wesen seines eigenen Wesens kannte. Wu Jia klatschte mit den Händen und der Klang rollte von einer Wand zur anderen durch die Halle, wurde immer stärker und verstummte, als der Meister klatschte. Nur noch ein leichtes Klopfen blieb als Echo im Raum, der Meister klatschte wieder, das Echo aber blieb. Wu Jia klatschte nochmals und das Echo brüllte von einer Wand zur anderen. Er klatschte noch einmal und alles wurde still, so still, dass beide in der Stille das Wesen der Nacht spürten.
Beide standen auf und verließen die Meditationshalle.
Am nächsten Morgen besuchte der Meister Wu Jia und sagte: «Dein Weg ist weder der Weg der Tiere noch der Weg Buddhas, obwohl du sie beide zurückgelegt hast. Geh nach Kaifeng und besuche Shu-Gian, sag ihm, woher du kommst, und erwähne mich, er wird dann wissen, was zu tun ist.»