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eBook: ISBN 978-3-932337-97-0

gebundenes Buch: ISBN 978-3-932337-28-4

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Inhalt

Prolog

Die Zähmung des Elefanten und des Affen

Eine alte tibetische Geschichte

Es gibt zwei Feinde der Konzentration. Auf Tibetisch heißen sie göpa und jingwa. Göpa bedeutet beschäftigte, wilde oder zerstreute Aufmerksamkeit. Jingwa bedeutet Schläfrigkeit, Trägheit oder Versenkung.

Göpa entsteht meist aus einem Verlangen, dem der Geist sofort folgt. Ist der Geist auf irgendetwas außer dem Konzentrationsobjekt gerichtet, bezeichnet man dies als göpa. Ist der Geist schläfrig oder unachtsam, so handelt es sich um jingwa. Wenn man lernen möchte seinen Geist zu kontrollieren, muss man daran arbeiten, diese Störungen zu überwinden und zu beseitigen. Hängt in einem dunklen Zimmer an der Wand ein schönes Bild, benötigt man eine Kerzenflamme, um es anzuschauen. Durchzieht ein Luftzug das Zimmer, so beginnt die Flamme zu flackern und das Bild ist nicht mehr deutlich erkennbar. Ist die Flamme sehr klein und gibt sie zu wenig Licht ab, so kann man das Bild ebenfalls nicht deutlich sehen. Nur wenn die Flamme stark und ruhig ist, sieht man das Bild klar. Die Flamme steht für den Geist, das Bild für ein Konzentrationsobjekt, der Luftzug für göpa und die schwache Flamme für jingwa.

In frühen Stufen der Konzentrationsübung tritt die erste Störung (göpa) häufiger auf. Der Geist «springt» sofort vom Konzentrationsobjekt auf andere Dinge. Wer sich beispielsweise ein bekanntes Gesicht vorstellt und versucht, es einige Sekunden vor seinem inneren Auge zu bewahren, wird aller Wahrscheinlichkeit nach Mühe haben, die typischen Gesichtszüge zu sehen. Es ist sehr mühsam, diese Schwierigkeiten zu überwinden, weil man im Lauf seines Lebens viele Gewohnheiten erworben hat und dadurch nicht in der Lage ist, über eine längere Zeit seine Aufmerksamkeit auf einem Objekt zu halten. Es ist äußerst schwierig, eine alte Gewohnheit durch eine neue zu ersetzen. Gute Konzentration ist eine notwendige Voraussetzung für jede höhere Meditationsart und alle mentalen Tätigkeiten.

Denpa, geistige Sammlung, und shezhin, klare Einsicht in die Bewusstseinszustände, kämpfen gegen göpa und jingwa. Der Elefant steht für den Geist des Übenden. Elefanten, einmal gezähmt, folgen immer den Befehlen ihrer Herren. Das Gleiche gilt für den Geist. Ist der Elefant wild und ungezähmt, kann er sehr gefährlich und schädlich werden. Kontrolliert man den eigenen Geist nicht, kann er viel Leid verursachen. Der Augenblick, in dem jemand wegen des eigenen ungezähmten Geistes leidet, lässt sich mit einem wilden Elefanten vergleichen, der tiefe Fußabdrücke hinterlässt. Diese Abdrücke stehen für das «geistige Gift». Arbeitet man beständig daran, den eigenen Geist zu vervollkommnen, wird er in der Lage sein, vieles für einen zu leisten. Laut Buddha sind vom Leid bis zum Glück alle Bewusstseinszustände durch die Tätigkeiten des eigenen Geistes verursacht.

Am Anfang ist der Elefant schwarz – das ist jingwa, Versenkung des Geistes. Vor dem Elefanten befindet sich der Affe – göpa, die Zerstreutheit des Geistes. Der Affe kann keinen Augenblick ruhen. Ständig springt er umher, beschäftigt sich mit sinnlosen Dingen und wird von allem leicht abgelenkt, egal was er tut. Zunächst folgt der Elefant dem Affen; göpa führt den Geist zu unterschiedlichen Dingen. Hinter dem Elefanten geht der Mensch, der versucht, den eigenen Geist zu trainieren. In einer Hand hält er eine Leine – denpa, in der anderen einen Haken – shezhin.

Zuerst führt der Affe den Elefanten, der ihm folgt, ohne auf den Menschen zu achten, der hinter ihm herläuft. Der Meditierende kann den eigenen Geist nicht kontrollieren.

Auf der zweiten Stufe hat der Mensch den Elefanten beinahe erreicht. Er wirft dem Elefanten die Leine um den Hals und der Elefant dreht sich zu dem Menschen um.

Nun auf der dritten Stufe kann der Geist durch denpa einigermaßen gezähmt werden. Jetzt sitzt ein Hase auf dem Elefanten, der Hase symbolisiert das feinstoffliche jingwa. Früher hat man das feinstoffliche jingwa als eine natürliche Eigenschaft der Konzentration betrachtet – heute betrachtet man es als einen schädlichen Faktor. In den frühen Phasen benutzt man häufiger denpa als shezhin.

Auf der vierten Stufe ist der Elefant folgsamer, und der Mensch kann die Leine etwas lockerer halten.

Auf der fünften Stufe benutzt der Mensch die Leine und den Dressur-Haken gleichzeitig, während der Affe dem Elefanten folgt. Die Zerstreutheit des Geistes, göpa, stört den Übenden beim Meditieren nicht mehr. Er benutzt hauptsächlich nur noch shezhin.

Auf der sechsten Stufe folgen der Elefant und der Affe gehorsam dem Menschen. Er muss sich nicht mehr umdrehen, um den eigenen Geist zu kontrollieren. Der Hase, das feinstoffliche jingwa, ist verschwunden.

Auf der siebten Stufe überlässt es der Übende dem Elefanten, ihm freiwillig zu folgen. Die Leine und der Haken müssen nicht mehr benutzt werden. In diesem Augenblick geht der Affe weg. Göpa und jingwa erscheinen nur gelegentlich und in sehr abgeschwächter Form.

Auf der achten Stufe erscheint der Elefant ganz in weiß und folgt dem Menschen gehorsam. Es gibt weder Trägheit noch Zerstreutheit. Der Übende braucht sich nur noch wenig anzustrengen, um richtig zu meditieren.

Auf der neunten Stufe sitzt der Mensch in Meditation, während der Elefant ihm zu Füßen liegt. Der Übende ist in der Lage, sich auf die meditativen Aufgaben tage-, wochen- und sogar monatelang ohne Anstrengung zu konzentrieren.

Auf der zehnten Stufe sitzt der Mensch auf dem Elefanten und erreicht das vollkommene zhine, den ruhigen Geist.

Die elfte Stufe ist dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch, auf dem Elefanten sitzend, das Schwert in der Hand hält. Der Übende beginnt eine ganz neue, so genannte «höhere Meditation» – er fängt an, die Einsichtsmeditation zu praktizieren.

Auch das Feuer ist auf jeder Stufe abgebildet. Das Feuer steht für die zum Meditieren notwendige Kraft. Das Feuer erlischt allmählich, weil der Übende immer weniger Kraft für die Meditation braucht. Es erscheint wieder bei der elften Stufe, wenn der Übende mit der für ihn neuen Einsichtsmeditation beginnt.

Göpa lenkt unsere Gedanken auf die fünf Sinnesobjekte, die man schmecken, spüren, hören, sehen und riechen kann. Sie werden durch die Nahrung, durch Textilien, durch Musikinstrumente, durch den Spiegel und durch Düfte dargestellt. Die ersten neun Stufen sind die fünf Wege des zhine. Auf der zehnten Stufe erlangt der Übende die Vollkommenheit des Geistes, das wahre zhine.

Wenn wir zhine üben und dabei beispielsweise eine Abbildung Buddhas als Meditationsobjekt benutzen, müssen wir sie zuerst so gut wie möglich betrachten. Fangen wir danach an zu meditieren, betrachten wir nicht mehr die Abbildung, sondern richten unsere Aufmerksamkeit auf die Erinnerung der Abbildung, indem wir sie mit dem geistigen Auge beobachten. Zuerst wird die Erinnerung an das Objekt gar nicht deutlich sein; und doch sollten wir nicht versuchen, es klarer zu sehen – denn es ist unmöglich, damit zu beginnen. Stattdessen sollte man sich bemühen, den geistigen Blick auf das Erinnerungsobjekt zu lenken, unabhängig davon, ob es klar ist oder nicht. Die Klarheit wird zuletzt auf natürliche Weise eintreten. Am Anfang fällt es uns enorm schwer, uns auf das Meditationsobjekt zu konzentrieren; der Geist springt unaufhörlich hin und her. Bleiben wir beim Meditieren von Tag zu Tag beständig, stellen wir fest, dass wir den Geist im Lauf der Zeit immer länger auf dem Objekt halten können, erst eine bis zwei Minuten, dann drei bis vier, usw. Jedes Mal, wenn der Geist das Objekt verlässt, muss denpa ihn zurückbringen. Shezhin sollte benutzt werden, um zu sehen, ob Schwierigkeiten auftauchen. Wenn der Mensch einen Krug voll heißen Wassers einen engen Pfad entlangträgt, ist ein Teil seines Geistes auf das Wasser gerichtet, und der andere Teil achtet auf den Weg. Denpa muss die Konzentration aufrechterhalten, shezhin muss auf die Schwierigkeiten achten, die eventuell auftauchen könnten. Später müssen wir denpa nicht mehr so oft benutzen; mit viel Übung zieht sich göpa zurück. Durch den Kampf gegen göpa wird der Geist müde, und das erzeugt etwas jingwa. Nach einer Weile erreicht er die Stufe, auf der er sich überglücklich und gelassen fühlt. Diesen Zustand verwechselt man oft mit dem wahren zhine, in der Tat ist es jedoch feinstoffliches jingwa; es schwächt den Geist. Wenn wir weiter intensiv üben, wird auch dies verschwinden; wenn wir diese Schwierigkeit beseitigen, wird unser Geist klarer und wacher; sogar das Objekt wird klarer und die Meditationszeit verlängert sich. Der Körper verweilt in Ruhe, wir verspüren weder Hunger noch Durst. Mit der Zeit kann der Meditierende dies monatelang fortsetzen. Wie der Übende dabei seinen Geist empfindet, lässt sich mit Worten nicht mehr beschreiben.

Wenn wir uns ein Stück Textilgewebe anschauen, werden wir es zwar sehen, jedoch nicht scharf und detailliert. Nur wer seinen inneren Blick auf das Textilgewebe richtet, ist in der Lage es deutlich und klar zu sehen. Wenn der Mensch stirbt, wird sein Geist schwächer, meditiert er aber während des Sterbens, bleibt der Geist frisch und klar. Wer stirbt, verspürt meistens Täuschungen und Ängste, was zu tiefem Leiden führt. Wenn jemand erfolgreich meditiert, richtet er seinen Geist auf Buddha, Dharma (die buddhistische Lehre) und Sangha (die Mönchsgemeinde), was ihn vom Leid beim Sterben befreit.

Auf der neunten Stufe fühlen wir uns sehr glücklich und ausgeglichen; aber das ist noch nicht die wahre Vollendung der Meditation. Selbst wenn wir auf ein Objekt vollkommen konzentriert sind, ist immer noch nicht die Vollkommenheit des Geistes erreicht. Den heiligen Schriften zufolge würde es den Übenden selbst dann nicht beunruhigen, wenn die Wand neben ihm zusammenfallen würde. Setzt er die Meditation fort, spürt er ein besonderes Vergnügen in seinem Geist und Körper; dann nähert er sich dem Ziel des zhine. Der Körper fühlt sich leicht und unermüdlich; das ist auf dem Bild durch den fliegenden Menschen symbolisch dargestellt. Sein Körper ist sehr gelenkig und der Geist kann sich jeder Art der Meditation zuwenden, etwa wie dünne Kupferdrähte, die unter Strom vibrieren, die sich in alle Richtungen drehen können, ohne dabei zu platzen. Er spürt, dass das Objekt sich mit seinem Geist vereinigt hat.

Während der Übende seine Aufmerksamkeit auf das Meditationsobjekt richtet, ist sein Geist in der Lage die wahre Natur des Objektes zu erkennen. Setzt er die Übung fort, verspürt er besonderes Vergnügen bei der Beobachtung des Objektes. Dabei erkennt er auch, ob dieses Objekt leidet oder nicht, ob es beständig oder veränderlich ist, und er erkennt die höchste Wahrheit, die sich in dem Objekt befindet. Der tibetische Name für diese Einsichtsmeditation lautet ihagthong; ihag bedeutet höher und thong bedeutet verstehen oder begreifen. Durch diese Meditation begreift der Geist das Objekt besser als durch einfache Konzentration; wenn man die Übung einmal gemeistert hat, kann sich der Geist jedem Objekt zuwenden. Die Vervollständigung des ihagthong bietet großes geistiges Vergnügen, aber wenn der Mensch sich damit zufrieden gibt, ist es, als bliebe ein fertig gebautes Flugzeug am Boden stehen.

Der Geist muss sich tieferen und höheren Dingen zuwenden. Er muss benutzt werden, um auf der einen Seite karma und klesha (mentale Verschmutzung) zu überbrücken, und auf der anderen Seite, um Buddhas Tugenden zu gewinnen. Dazu kann das Meditationsobjekt nur shunyata (Leere) sein; andere Meditationen bereiten den Geist darauf vor. Wenn wir eine sehr gute Fackel haben, die alles, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, beleuchten kann, müssen wir sie benutzen, um das Wesentliche zu entdecken. Ursprung all unserer Schwierigkeiten ist das Unwissen (avidya). Wir müssen unser Wissen über shunyata nutzen, um das Unwissen zu vertreiben; der Geist muss das gereinigte zhine nutzen, sowie ihagthong, um die Wurzeln des Unwissens zu durchschneiden.

Auf der letzten Stufe hält der Mensch das flammende Schwert (die Einsicht über die wahre Natur des shunyata), um zwei schwarze Linien zu durchschneiden, die zwei avarane (Störungen) symbolisieren: die Störung des Unwissens (jneya-varane) und die Störung der Verschmutzung (klesha-varane). Die Letztere schließt sowohl karma als auch klesha ein.

Die Erkenntnis des shunyata ist von essenzieller Wichtigkeit für die Beseitigung der Ignoranz. Wenn der Mensch sich einmal der Leere (shunyata) nähert, befindet er sich auf dem Weg des prajna-paramita (prajna = Weisheit, paramita = Vollkommenheit).

Vorwort

Die Geschichte über einen Mann, einen Elefanten und einen Affen stammt aus Tibet und diente vor langer Zeit dazu, buddhistische Novizen und Mönche anzuspornen, sich auf die Suche nach dem Nirvana zu machen – auch und besonders dann, wenn sie sich niedergeschlagen fühlten, die Hoffnung verloren hatten, verzweifelt über das Verlassen des Weges nachdachten, dass sie es schaffen können, dennoch weiterzumachen. Die Geschichte entspricht der japanischen Lehrgeschichte der «zehn Bullenbilder», auch bekannt unter der Bezeichnung «Der Ochs und sein Hirte», die dank der Verbreitung des Zen-Buddhismus bekannt geworden ist. Sie wurde als Vorlage benutzt, um die Lehre der Individuellen Meditation darzustellen.

Wer sich auf die Suche nach der Wahren Natur aller Dinge begibt, geht meist nicht davon aus, dass er Schwierigkeiten mit der eigenen Willenskraft haben wird. Der Meister weiß jedoch, dass seinen Schülern die Erfahrung fehlt, um den Unterschied zwischen einem starken und einem schwachen Willen festzustellen. Die Schüler verfügen über einen Willen, den sie manchmal besser, manchmal schlechter benutzen können, der aber nicht ausreicht, um das weit entfernte Ziel zu erreichen – die Einsicht in die wahre Natur aller Dinge.

Um den eigenen Willen zu testen, genügt es deshalb nicht, dass sich der Schüler auf seine Erfahrung verlässt. Der Meister hingegen kennt die Techniken, mithilfe derer sich seine Schüler der Schwäche ihrer Willenskraft bewusst werden können. Jeder Leser kann durch die folgende Übung überprüfen, inwieweit er seinen eigenen Willen unter Kontrolle hat.

Übung

Bereiten Sie sich auf die Übung vor, indem Sie sich auf einen bequemen Stuhl setzen, entspannen und die Entscheidung treffen, so gut wie möglich zu üben. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf einen Punkt an der Wand und versuchen Sie ihn 12 Sekunden lang gedankenlos zu fixieren. Wahrscheinlich werden Sie feststellen, dass doch der eine oder andere Gedanke in ihrem Bewusstsein aufgetaucht ist. Wie entschlossen Sie sich auch vornehmen, den Punkt an der Wand ohne Gedanken zu beobachten, Sie werden feststellen, dass das ein unerreichbares Ziel ist!

Der Lehre der Individuellen Meditation zufolge besteht der Wille aus Konzentration und Geisteskraft. Konzentration wird als Fähigkeit definiert, die Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Objekt oder auf einen Prozess zu richten, Geisteskraft bezeichnet die Fähigkeit, sich mit dem Objekt bzw. Prozess, auf den die Aufmerksamkeit gerichtet ist, intensiv zu beschäftigen. In dem Beispiel mit dem Punkt an der Wand zeigt sich die Konzentration dadurch, dass der Beobachter über eine gewisse Zeit seinen Blick auf dem Punkt hält. Die Geisteskraft zeigt sich dadurch, dass der Übende den Punkt mit Hingabe beobachtet, bis sein Geist von dem Punkt so erfüllt wird, dass in ihm kein anderer Gedanke auftauchen kann.