Aus dem Englischen von Richard Barth
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel Swimming Home bei And Other Stories in High Wycombe, die deutsche Erstausgabe 2013 als Quartbuch bei Wagenbach.
E-Book-Ausgabe 2021
© 2011 Deborah Levy
© 2013, 2021 für die deutsche Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung: Julie August unter Verwendung der Fotografe »Aya Revers Blue« aus der Serie »Aya Pool«, 2020 © Corinna Rosteck. Reihenkonzept von Rainer Groothuis.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN 9783803141255
Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN 978 3 8031 2837 9.
www.wagenbach.de
Für Sadie und Leila, meine Lieben auf ewig
»Jeden Morgen erzählen in allen Familien Männer, Frauen und Kinder, WENN SIE NICHTS BESSERES ZU TUN HABEN, einander ihre Träume. Wir alle sind unseren Träumen ausgeliefert und wir sind es uns schuldig, ihrer Macht auch im Wachzustand Tribut zu zollen.«
La Révolution surréaliste, Nr. 1, Dezember 1924
Juli 1994
Als Kitty Finch das Lenkrad losließ und zu ihm sagte, dass sie ihn liebe, da wusste er nicht mehr, ob sie sich mit ihm unterhielt oder ihm drohte. Das Seidenkleid rutschte ihr von den Schultern, als sie sich über das Lenkrad beugte. Ein Kaninchen lief über die Straße, und das Auto scherte aus. »Warum packst du nicht deinen Rucksack und schaust dir die Mohnfelder in Pakistan an, wie du es dir immer gewünscht hast?«, hörte er sich sagen.
»Ja«, sagte sie.
Es roch nach Benzin. Ihre Hände flatterten über dem Lenkrad wie die Möwen, die sie vor zwei Stunden von ihrem Zimmer im Hotel Negresco aus gezählt hatten.
Sie bat ihn, sein Fenster zu öffnen, damit sie hören könne, wie die Insekten im Wald einander riefen. Er kurbelte das Fenster herunter und forderte sie sanft auf, sich auf die Straße zu konzentrieren.
»Ja«, sagte sie, den Blick wieder auf die Straße gerichtet. Und dann erzählte sie ihm, dass die Nächte an der Côte d’Azur immer so schön »weich« seien. Die Tage seien hart und röchen nach Geld.
Er streckte den Kopf aus dem Fenster und spürte, wie die kalte Bergluft auf seinen Lippen brannte. In diesem Wald, der jetzt eine Straße war, hatten einst urzeitliche Menschen gelebt. Sie wussten, dass die Vergangenheit in Felsen und Bäumen zu Hause war, und sie wussten, dass ihr Begehren sie unbeholfen, verrückt, rätselhaft und verkorkst werden ließ.
Mit Kitty Finch so intim zu sein war eine Lust, eine Qual, ein Schock und ein Experiment gewesen, vor allem jedoch ein Fehler. Er bat sie noch einmal, ihn bitte, bitte, wohlbehalten nach Hause zu seiner Frau und seiner Tochter zu bringen.
»Ja«, sagte sie. »Das Leben ist nur lebenswert, weil wir hoffen, dass es irgendwann besser wird und dass wir am Ende alle wohlbehalten heimkehren.«
Der Swimmingpool im Garten der Ferienvilla glich weniger einem dieser tristen blauen Pools, wie man sie aus Urlaubsprospekten kennt, als einem Teich. Einem Teich in Form eines Rechtecks, den eine italienische Steinmetzfamilie aus Antibes aus dem Stein gehauen hatte. Der Körper trieb am tiefen Ende, wo das Wasser im Schatten einer Reihe von Pinien kühl blieb.
»Ist es ein Bär?« Joe Jacobs deutete vage Richtung Wasser. Er spürte, wie sich die Sonne in das Hemd einbrannte, das sein indischer Schneider für ihn aus einem Ballen Rohseide angefertigt hatte. Sein Rücken brannte wie Feuer. In dieser Juli-Hitzewelle schmolzen selbst die Straßen.
Seine Tochter, Nina Jacobs, vierzehn Jahre alt, stand in ihrem neuen, mit Kirschen bedruckten Bikini am Poolrand und warf ihrer Mutter einen ängstlichen Blick zu. Isabel Jacobs öffnete gerade den Reißverschluss ihrer Jeans, als wolle sie ins Wasser springen. Gleichzeitig sah Nina, wie Mitchell und Laura, Freunde der Familie, mit denen sie einen Sommer lang diese Villa teilten, ihre Teetassen abstellten und zu den Steinstufen gingen, die am seichten Ende in den Pool führten. Laura, eine schlanke, eins neunzig große Riesin, schleuderte ihre Sandalen von sich und watete bis zu den Knien ins Wasser. Eine abgewetzte gelbe Luftmatratze stieß gegen den moosbewachsenen Beckenrand und trieb die Bienen auseinander, die dort in verschiedenen Stadien des Todeskampfs schwammen.
»Was glaubst du, was es ist, Isabel?«
Von dort, wo sie stand, sah Nina, dass es eine Frau war, die da nackt unter der Wasseroberfläche trieb. Sie schwamm auf dem Bauch, die Arme von sich gestreckt wie ein Seestern, und ihre langen Haare umspielten ihren Körper wie Seegras.
»Jozef glaubt, es sei ein Bär«, antwortete Isabel im distanzierten Ton einer Kriegskorrespondentin.
»Wenn es ein Bär ist, werde ich ihn erschießen müssen.« Mitchell hatte vor kurzem auf dem Flohmarkt in Nizza zwei alte persische Pistolen gekauft und war ständig auf der Suche nach etwas, worauf er schießen konnte.
Gestern hatten sie alle über einen Zeitungsartikel diskutiert, in dem von einer 94 Kilogramm schweren Bärin berichtet wurde, die in Los Angeles aus den Bergen herabgestiegen war und ein Bad im Pool eines Hollywoodschauspielers genommen hatte. Dem Tierschutzverein von Los Angeles zufolge war die Bärin läufig. Der Schauspieler verständigte die Polizei. Die Bärin wurde mit einem Narkosegewehr betäubt und dann in den nahen Bergen ausgesetzt. Joe Jacobs hatte laut darüber nachgedacht, wie es sich anfühlen mochte, wenn man betäubt wurde und dann heimstolpern musste. Hatte das Tier jemals nach Hause gefunden? Hatte es in seiner Benommenheit den Weg vergessen und zu halluzinieren angefangen? War die Bärin aufgrund des »chemischen Käfigs«, der im Betäubungspfeil enthaltenen Barbiturate, vielleicht ganz wacklig auf den Beinen gewesen? Hatte das Betäubungsmittel der Bärin am Ende geholfen, mit dem Stress des Lebens zurechtzukommen und ihre Aufgewühltheit zu bezähmen, sodass sie nun die Behörden bekniete, ihr kleine Beutetiere hinzuwerfen, in die man Barbiturate gespritzt hatte? Joe hatte seine Tirade erst beendet, als Mitchell ihm auf die Zehen trat. Aus Mitchells Sicht war es sehr, sehr schwer, den Dichterarsch, den seine Leser als JHJ kannten (und den mit Ausnahme seiner Frau alle anderen Joe nannten), dazu zu bewegen, sein blödes Maul zu halten.
Nina schaute zu, wie ihre Mutter einen Kopfsprung in das trübgrüne Wasser machte und zu der Frau hinschwamm. Wahrscheinlich rettete ihre Mutter ständig irgendwelche Leute, die mit aufgedunsenem Körper in einem Fluss trieben. Wenn sie in einer Nachrichtensendung auftrat, gingen angeblich die Einschaltquoten nach oben. Ihre Mutter verschwand nach Nordirland, in den Libanon oder nach Kuwait, und dann kam sie zurück, als wäre sie nur mal eben Milch holen gewesen. Wer auch immer die Frau im Pool war – gleich würde Isabel Jacobs sie am Knöchel packen. Plötzlich spritzte das Wasser so heftig, dass Nina zu ihrem Vater rannte, der seine Hand auf ihre sonnenverbrannte Schulter legte, woraufhin sie laut aufschrie. Als aus dem Wasser mit weit aufgerissenem, nach Luft ringendem Mund ein Kopf auftauchte, glaubte sie eine Schrecksekunde lang, das Brüllen einer Bärin zu hören.
Eine Frau mit tropfenden, hüftlangen Haaren stieg aus dem Pool und rannte zu einem der Plastikliegestühle. Sie sah aus wie Anfang zwanzig, aber das war schwer zu sagen, weil sie auf der Suche nach ihrem Kleid hektisch von einem Stuhl zum anderen hüpfte. Das Kleid war aufs Pflaster gefallen, aber keiner kam ihr zu Hilfe, weil alle ihren nackten Körper anstarrten. Nina war von der glühenden Hitze ganz benommen. Der bittersüße Geruch von Lavendel stieg ihr in die Nase, schnürte ihr die Luft ab, und der keuchende Atem der Frau vermischte sich mit dem Summen der Bienen in den welkenden Blumen. Sie fragte sich, ob sie einen Sonnenstich hatte, denn ihr war, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Verschwommen sah sie, dass die Frau für jemanden, der so dünn war, überraschend volle und runde Brüste hatte. Ihre langen Oberschenkel waren mit den Gelenken ihrer hervorstehenden Hüften verbunden wie die Beine der Puppen, die sie als Kind hin und her gedreht hatte. Das Einzige, was an dieser Frau echt wirkte, war das Dreieck blonder Schamhaare, das in der Sonne glitzerte. Nina verschränkte bei ihrem Anblick die Arme vor der Brust und machte einen Buckel. Am liebsten hätte sie ihren eigenen Körper unsichtbar gemacht.
»Ihr Kleidliegt da drüben.« Joe Jacobs deutete auf das Knäuel aus zerknittertem blauem Baumwollstoff unter dem Liegestuhl. Sie hatten sie alle peinlich lange angestarrt. Die Frau nahm das dünne Kleidchen und streifte es resolut über den Kopf.
»Danke. Ich bin übrigens Kitty Finch.«
Genau genommen sagte sie: Ich bin Kah Kah Kah, und stotterte eine Ewigkeit so weiter, bis sie schließlich bei Kitty Finch anlangte. Sie konnten es alle gar nicht erwarten, dass sie endlich sagte, wer sie war.
Nina bemerkte, dass ihre Mutter noch im Wasser war. Als sie über die Steintreppe herausstieg, war ihr nasser Badeanzug mit silbernen Piniennadeln übersät.
»Ich bin Isabel. Mein Mann dachte, Sie wären eine Bärin.«
Joe Jacobs presste die Lippen aufeinander, um nicht aufzulachen.
»Natürlich dachte ich nicht, dass sie eine Bärin ist.«
Die Augen von Kitty Finch waren so grau wie die getönten Scheiben von Mitchells Mietwagen, einem Mercedes, der vor der Villa auf dem Kies geparkt war.
»Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich in den Pool gesprungen bin. Ich bin gerade angekommen, und es ist sooo heiß. Es gab ein Missverständnis bei den Mietzeiten.«
»Was für ein Missverständnis?« Laura starrte die junge Frau feindselig an, als hätte sie gerade einen Strafzettel von ihr bekommen.
»Na ja, ich dachte, ich wohne hier von diesem Samstag an zwei Wochen. Aber der Hausmeister ...«
»Sofern man einen arbeitsscheuen, bekifften Mistkerl wie Jürgen einen Hausmeister nennen kann.« Die bloße Erwähnung von Jürgens Namen ließ Mitchell angewidert in Schweiß ausbrechen.
»Mmh. Jürgen sagt, ich hätte die Daten durcheinandergebracht, und jetzt krieg ich die Anzahlung nicht zurück.«
Jürgen war ein deutscher Hippie, der es nie mit irgendetwas genau nahm. Er bezeichnete sich als »Naturmenschen« und war immerzu in Hermann Hesses »Siddhartha« vertieft.
Mitchell drohte ihr mit dem Finger. »Es gibt Schlimmeres, als seine Anzahlung nicht zurückzubekommen. Wir hätten Sie beinahe betäuben und in die Berge hinaufkarren lassen.«
Kitty Finch hob ihr linkes Bein an und zog langsam einen Dorn aus der Fußsohle. Ihre grauen Augen suchten nach Nina, die sich noch immer hinter ihrem Vater versteckt hielt. Dann lächelte sie.
»Ich mag deinen Bikini.« Sie hatte schiefe, gegeneinander verschobene Vorderzähne, und ihr trocknendes Haar wellte sich zu kupferfarbenen Locken. »Wie heißt du?«
»Nina.«
»Findest du, ich sehe aus wie eine Bärin, Nina?« Sie krümmte ihre rechte Hand, als wäre es eine Tatze, und schlug damit nach dem wolkenlosen, blauen Himmel. Ihre Fingernägel waren dunkelgrün lackiert.
Nina schüttelte den Kopf, verschluckte sich an ihrem eigenen Speichel und fing an zu husten. Alle setzten sich. Mitchell auf den hässlichen blauen Stuhl, weil es der breiteste und er der dickste war, Laura auf den rosa Korbstuhl, Isabel und Joe auf die beiden weißen Plastikliegen. Nina hockte sich bei ihrem Vater auf die Stuhlkante und spielte an den fünf silbernen Zehenringen herum, die ihr Jürgen am Morgen geschenkt hatte. Alle saßen im Schatten, nur nicht Kitty Finch, die sich verlegen auf den glühendheißen Pflastersteinen niederkauerte.
»Sie haben keinen Stuhl. Ich hol Ihnen einen.« Isabel wrang die Spitzen ihrer nassen schwarzen Haare aus. Wassertropfen glitzerten auf ihrer Schulter und rannen dann wie eine Schlange ihren Arm hinab.
Kitty schüttelte den Kopf und errötete. »Oh, keine Umstände, bah bah bitte. Ich warte nur, bis Jürgen zurückkommt und mir den Namen meines Hotels sagt, dann bin ich weg.«
»Aber natürlich müssen Sie sich setzen.«
Laura sah verdutzt und mit einem unguten Gefühl zu, wie Isabel einen schweren Holzstuhl voller Staub und Spinnweben zum Pool zerrte. Es war einiges im Weg: ein roter Eimer, ein kaputter Blumentopf, zwei in Betonklötzen steckende Sonnenschirme. Keiner half ihr, weil sie nicht so recht wussten, was sie vorhatte. Isabel, die es irgendwie geschafft hatte, ihre nassen Haare mit einem Haarclip in Form einer Lilie hochzustecken, stellte den Holzstuhl allen Ernstes zwischen ihren Liegestuhl und den ihres Mannes.
Kitty Finch blickte nervös von Isabel zu Joe, so als sei ihr nicht ganz klar, ob ihr dieser Stuhl nun angeboten oder aufgenötigt wurde. Sie wischte viel zu lange mit dem Saum ihres Kleides die Spinnweben ab und setzte sich dann endlich hin. Laura faltete die Hände im Schoß, als bereite sie sich auf ein Vorstellungsgespräch mit einer Bewerberin vor.
»Waren Sie schon mal hier?«
»Ja, ich komme seit Jahren hierher.«
»Arbeiten Sie?« Mitchell spuckte einen Olivenstein in eine Schüssel.
»Gewissermaßen. Ich bin Botanikerin.«
Joe strich sich über die kleine Stelle am Kinn, wo er sich beim Rasieren geschnitten hatte, und lächelte sie an. »In Ihrem Beruf gibt es ein paar schöne, eigentümliche Wörter.«
Seine Stimme war überraschend sanft, als ahne er, dass Kitty Finch es als beleidigend empfand, wie Laura und Mitchell sie verhörten.
»Ja. Joe mag Wörter, die ai-gön-thüm-lich sind. Er ist nämlich ein Dichter.« Mitchell sprach »eigentümlich« aus, als ahme er einen dümmlichen Aristokraten nach.
Joe lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. »Ignorieren Sie ihn einfach, Kitty.« Er klang auf eine unerklärliche Weise verletzt. »Für Mitchell ist alles ai-gön-thüm-lich. Seltsamerweise gibt ihm das ein Gefühl der Überlegenheit.«
Mitchell stopfte sich fünf Oliven in den Mund und spuckte die Steine Richtung Joe, als wären es Kugeln aus einer seiner kleineren Pistolen.
»Vielleicht« – Joe beugte sich jetzt vor – »könnten Sie uns inzwischen erzählen, was Sie über Kotyledonen wissen?«
»Klar.« Kitty zwinkerte Nina zu. »Kotyledonen sind die ersten Blätter einer Jungpflanze.« Ihr Stottern war wie weggeblasen.
»Richtig. Jetzt zu meinem Lieblingswort ... Wie würden Sie ein Blatt beschreiben?«
»Kitty«, sagte Laura eindringlich, »es gibt massenweise Hotels hier. Es wäre besser, Sie suchten sich eins.«
Als Jürgen endlich durchs Tor kam, die silbernen Rastalocken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, berichtete er ihnen, bis Donnerstag seien sämtliche Hotels im Dorf ausgebucht.
»Dann müssen Sie bis Donnerstag hierbleiben.« Isabel sagte das zögernd, als glaube sie es selbst nicht so ganz. »Soweit ich weiß, gibt es hinten im Haus noch ein freies Zimmer.«
Kitty runzelte die Stirn und lehnte sich in ihrem neuen Stuhl zurück.
»Also ... Ja. Danke. Geht das für alle in Ordnung? Bitte sagen Sie, wenn es Ihnen etwas ausmacht.«
Nina hatte den Eindruck, als bitte sie geradezu darum, dass es ihnen etwas ausmache. Kitty Finch lief rot an und verkrampfte gleichzeitig die Zehen. Ninas Herz raste. Es war ganz hysterisch, so heftig klopfte es in ihrer Brust. Sie blickte zu Laura und sah, dass sie die Hände rang. Laura war kurz davor zu sagen, dass es ihr durchaus etwas ausmache. Sie und Mitchell hatten ihren Laden in Euston für den ganzen Sommer dichtgemacht, wohl wissend, dass die Fenster, die in diesem Jahr bereits mindestens dreimal von Dieben und Drogenabhängigen eingeschlagen worden waren, bei ihrer Rückkehr aus dem Urlaub erneut eingeschlagen sein würden. Sie waren an die Côte d’Azur gekommen, um der Sinnlosigkeit zu entfliehen, ständig zerbrochenes Glas austauschen zu müssen. Sie merkte, wie sie sich um Worte mühte. Diese junge Frau war ein Fenster, das nur darauf wartete, dass jemand einstieg. Ein Fenster, das allem Anschein nach ohnehin einen Sprung hatte. Sie war sich nicht sicher, aber sie hatte den Eindruck, dass Joe Jacobs bereits einen Fuß in den Spalt geschoben und dass seine Frau ihm dabei geholfen hatte. Sie räusperte sich, um ihre Meinung zu sagen, aber ihre Meinung war so unaussprechlich, dass der Hausmeisterhippie ihr zuvorkam.
»Soll ich deine Reisetaschen in dein Zimmer bringen, Kitty Ket?«
Alle schauten in die Richtung, in die Jürgens nikotingelber Finger zeigte. Rechts neben der Terrassentür standen zwei blaue Stofftaschen.
»Danke, Jürgen«, entließ ihn Kitty, als sei er ihr Kammerdiener.
Er bückte sich und nahm ihre Taschen.
»Was ist das für ein Kraut?« Er hob ein Büschel Blütenpflanzen hoch, die in die zweite blaue Tasche gestopft waren.
»Ach, die hab ich auf dem Friedhof neben Claudes Café gefunden.«
Jürgen schien beeindruckt.
»Du musst sie die Kitty-Ket-Pflanze nennen. Das ist eine historische Geschichte. Pflanzensammler haben die Pflanzen, die sie entdeckt haben, oft nach sich benannt.«
»Ja.« Sie schaute an ihm vorbei in die dunklen Augen von Joe Jacobs, als wollte sie sagen: »Kitty Ket ist Jürgens Spitzname für mich.«
Isabel ging zum Poolrand und sprang kopfüber ins Wasser. Während sie knapp unter der Wasseroberfläche dahinglitt, die Arme nach vorne gestreckt, sah sie auf dem Grund des Pools ihre Armbanduhr liegen. Sie tauchte zu den grünen Fliesen hinab und holte sie herauf. Als sie wieder an die Oberfläche kam, sah sie, dass die alte englische Frau von nebenan ihr vom Balkon aus zuwinkte. Sie winkte zurück und stellte dann fest, dass Madeleine Sheridan Mitchell zuwinkte, der ihren Namen rief.
»Mad-liiin!«
Es war der dicke Waffennarr, der sie rief. Madeleine Sheridan hob, auf ihrem Strohstuhl sitzend, ihren arthrosegeschwächten Arm und winkte mit zwei schlaffen Fingern zurück. Ihr Körper war nur noch eine Ansammlung fehlerhafter Teile. Im Medizinstudium hatte sie gelernt, dass sie in jeder Hand 27 Knochen hatte, acht allein im Handgelenk, fünf im Handteller. In ihren Fingern gab es zahlreiche Nervenenden, aber jetzt bereitete es ihr schon Mühe, auch nur zwei Finger zu bewegen.
Sie hätte Jürgen, der gerade Kitty Finchs Taschen ins Haus trug, gerne daran erinnert, dass sie in sechs Tagen Geburtstag hatte, wollte vor den englischen Touristen aber nicht den Anschein erwecken, sie sei auf seine Gesellschaft angewiesen. Vielleicht war sie bereits tot und hatte das Schauspiel der Ankunft der jungen Frau vom Jenseits aus verfolgt? Vor vier Monaten, als Kitty Finch allein in der Ferienvilla gewohnt hatte (angeblich, um Bergpflanzen zu studieren), hatte sie Madeleine Sheridan mitgeteilt, eine kleine Brise würde ihren Tomaten zu kräftigeren Stämmen verhelfen, und sich angeboten, die Blätter ein wenig auszudünnen. Sie ging umgehend zu Werke, führte jedoch die ganze Zeit Selbstgespräche im Flüsterton, pah pah pah, kah kah kah, die Konsonanten harte Laute auf ihren Lippen. Madeleine Sheridan, die überzeugt war, dass Menschen große Unbill erleiden mussten, ehe sie sich um den Verstand bringen ließen, forderte sie mit stählerner Stimme auf, sie solle aufhören, diese Geräusche zu machen. Aufhören. Sofort aufhören. Heute war Samstag, und die Geräusche waren zurück nach Frankreich gekommen, um sie zu quälen. Man hatte ihnen sogar ein Zimmer in der Villa angeboten.
»Mad-liiin, ich koche heute Abend Rind. Kommen Sie doch zum Essen!«
Wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie gegen die Sonne gerade eben die rosafarbene Rundung von Mitchells nur noch spärlich behaartem Kopf erkennen. Madeleine Sheridan, die eine ziemliche Schwäche für Rind hatte und sich abends oft einsam fühlte, überlegte, ob sie sich dazu aufraffen könnte, Mitchells Einladung abzulehnen. Sie dachte, schon. Wenn Paare Einsamen und Einzelgängern Obdach oder eine Mahlzeit anbieten, dann nehmen sie sie nicht wirklich bei sich auf. Sie spielen nur mit ihnen. Spielen ihnen etwas vor. Und wenn sie fertig sind, geben sie ihrem gestrandeten Gast auf allerhand listige Weisen zu verstehen, dass es an der Zeit sei, von dannen zu ziehen. Paare hatten es immerzu eilig, sich wieder der Aufgabe zu widmen, ihren lebenslangen Partner zugrunde zu richten und dabei nach außen hin vorzugeben, sie wollten nur das Beste für ihn. Ein alleinstehender Gast war nichts anderes als eine kurze Ablenkung von dieser Aufgabe.
»Mad-liiin.«
Mitchell wirkte bemühter als sonst. Gestern erzählte er ihr, er habe Keith Richards gesehen, wie er in Villefranche-sur-Mer Pepsi getrunken habe, und ihn unbedingt um ein Autogramm bitten wollen. Am Ende habe er es jedoch sein lassen, denn, so Mitchell: »Der Dichterarsch war dabei und hat gedroht, mir einen Kopfstoß zu verpassen, weil ich so normal sei.«
Sie fand es amüsant, wenn Mitchell mit seinen schlaffen, schweinchenrosa Armen finster bemerkte, Joe Jacobs gehöre nicht zu der Sorte Dichter, die den Mond anstarre und keine Muskeln habe. Er könne wahrscheinlich mit den Zähnen einen ganzen Schrank hochheben. Vor allem, wenn eine schöne Frau drin sei. Als die englischen Touristen vor zwei Wochen ankamen, hatte Joe Jacobs (JHJ auf seinen Büchern, aber sie hatte noch nie von ihm gehört) bei ihr geklopft, um etwas Salz zu borgen. Am heißesten Tag des Jahres trug er einen Winteranzug, und als sie eine Bemerkung darüber fallen ließ, erklärte er, heute sei der Geburtstag seiner Schwester, da trage er ihr zu Ehren immer einen Anzug.
Das verwirrte sie, denn in Gedanken war sie ganz bei ihrem eigenen Geburtstag. Sein Anzug wäre eher einer Beerdigung angemessen gewesen, aber er war so charmant und aufmerksam, dass sie ihn fragte, ob er nicht die andalusische Mandelsuppe kosten wolle, die sie gerade gemacht habe. Als er »Wie zuvorkommend, meine Liebe« murmelte, servierte sie ihm eine großzügige Portion in einer ihrer Lieblingssuppentassen aus Keramik und lud ihn ein, sie auf ihrem Balkon zu schlürfen. Dann geschah etwas Schreckliches. Er nahm einen Schluck, spürte, wie sich etwas in seinen Zähnen verhedderte – und stellte fest, dass es ihr Haar war. Irgendwie war eine kleine, silberne Haarsträhne in der Suppentasse gelandet. Es war ihm in einem ihr unbegreiflichen Maße peinlich, obwohl sie sich doch entschuldigte und sagte, sie könne sich nicht erklären, wie sie da hineingelangt sei. Seine Hände zitterten, und er schob die Tasse so energisch von sich weg, dass die Suppe überall auf seinem lächerlichen Nadelstreifenanzug landete, dessen Sakko ein Futter aus geckenhafter, pinkfarbener Seide hatte. Von einem Dichter hätte ich mehr erwartet, dachte sie. Er hätte zum Beispiel sagen können: »Ihre Suppe zu essen war, wie eine Wolke zu trinken.«
»Mad-liiin.«