Nr. 1585

 

Eine Leiche nach Akkartil

 

Eine unheimliche Begegnung – in der parallelen Wirklichkeit

 

Kurt Mahr

 

 

Seit dem Tag, da ES die prominentesten Friedensstifter der Linguiden mit den Zellaktivatoren ausstattete, die einst Perry Rhodan und seinen Gefährten zur relativen Unsterblichkeit verhalfen, ist das Volk der Linguiden aus dem Dunkel der Geschichte jäh ins Rampenlicht der galaktischen Öffentlichkeit katapultiert worden.

Ob man den Linguiden, einem Volk liebenswerter Chaoten, denen Zucht und Ordnung fremde Begriffe sind, damit einen Gefallen getan hat, bleibt dahingestellt. Die neuen Aktivatorträger sind jedenfalls überzeugt davon, dass die Geschichte Großes mit ihnen vorhat. Sie fühlen sich dazu berufen, die politischen Verhältnisse in der Galaxis neu zu ordnen.

Dementsprechend beginnen sie zu handeln. Sie sind bei ihrem Vorgehen nicht gerade zimperlich, wie das Anheuern von Überschweren als Schutz- und Ordnungstruppe aufzeigt. Und wenn es um die Durchsetzung wichtiger Ziele geht, kennen weder die Friedensstifter noch ihre Helfer irgendwelche Skrupel.

Während vornehmlich Atlan Beweise für das verbrecherische Tun der neuen ZA-Träger sucht, richtet sich das Interesse der anderen ehemaligen Unsterblichen auf die Nakken, die etwas Wichtiges über das Superwesen ES herausgefunden zu haben scheinen. Der Pararealist Sato Ambush macht sich deshalb auf den Weg. Er fliegt EINE LEICHE NACH AKKARTIL ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Sato Ambush – Der Pararealist transportiert eine Leiche.

Nikki Frickel – Kommandantin der TABATINGA.

Prentice Galway und Galla Campos – Angehörige von Nikkis Crew.

Sellash – Ein freundlicher Biont.

Paunaro – Leiter der nakkischen Station auf Akkartil.

1.

 

Der kleine Mann mit dem großen Kopf machte, der Sitte seiner Vorfahren gehorchend, eine Verbeugung vor dem gläsernen Behältnis, in dem die sterblichen Überreste des Fremdwesens ruhten. Dann setzte er sich an die Kontrollen des computergesteuerten Analysesystems und vergewisserte sich, dass die Anlage betriebsbereit war.

Er machte sich nicht sofort an die Arbeit. Er musterte die armselige, fast formlose Masse organischer Substanz, die bis vor kurzem den Körper eines intelligenten Geschöpfs ausgemacht hatte. Er empfand reichlich Mitleid mit Balinor, der auf so unwürdige Art und Weise ums Leben gekommen war. Zum einhundertsten Mal fragte er sich, welch eigenartigem Schicksal der Nakk zum Opfer gefallen sein mochte.

Man konnte Sato Ambush nicht vorwerfen, dass er ein übereifriger Sympathisant der Nakken wäre. Dazu war er auf Akkartil zu lange mit ihnen zusammen gewesen. Er hatte Verständnis dafür, wenn eine Kreatur aus einem anderen Teil des Universums eine von der seinen völlig verschiedene Mentalität besaß. Die Natur hatte keinen Grund gesehen, die ungeheure Vielfalt ihrer Geschöpfe, eines wie das andere, mit identischen Denk-, Empfindungs- und Verhaltensmechanismen auszustatten. Wenn zwei, die in ungleichen Bahnen dachten, aufeinander trafen und die Notwendigkeit sahen, miteinander auszukommen, dann gaben sie sich üblicherweise Mühe, dass der eine des anderen Denkweise begreifen lernt. Üblicherweise hatten solche Bemühungen Erfolg.

Mit den Nakken jedoch war in dieser Hinsicht überhaupt nichts anzufangen. Sie bestanden auf ihrem Recht, fremdartig zu sein und von niemand verstanden zu werden. Sie gaben sich ihrerseits auch keinerlei Mühe, andere Wesen zu verstehen. Und wenn andere, die sich mit ihnen verständigen wollten, etwaige Anstrengungen unternahmen, die Kommunikationsbarriere zu überwinden, dann empfanden die Schneckenwesen dies als Zumutung, als Einmischung in ihre Privatangelegenheiten. Das Wort stur gehörte eigentlich nicht zu Sato Ambushs Vokabular. Aber wenn es darum ging, die Verhaltensweise der Gastropoiden gegenüber Andersdenkenden zu beschreiben, dann fiel auch ihm keine bessere Bezeichnung ein.

Dennoch bedauerte er Balinor. Der Nakk war vor gut einem Monat unversehens auf der Siedlerwelt Nobim im Gaunlin-System, Raumsektor Gladors Stern, aufgetaucht. Er materialisierte aus dem Nichts, und der Verdacht war geäußert worden, er sei wahrscheinlich aus einer Raumzeitverfaltung, wie sie von den Nakken für vielerlei Zwecke benützt wurde, zum Vorschein gekommen.

Balinor befand sich in desolatem Zustand. Sein Verstand war zerrüttet. Wo immer er gewesen war, er musste dort Entsetzliches erlebt und durchgemacht haben. Kaum hatte er Nobims Boden unter den Kriechfüßen gespürt, da hatte er sich seines Exoskeletts und aller technischen Geräte entledigt, die ihm bisher dazu verholfen hatten, seine Umwelt wenigstens fragmentarisch zu verstehen. Als körperliches und geistiges Wrack war er durch den Dschungel von Nobim geirrt. Das Siedlermädchen Anjannin Tish hatte sich seiner angenommen. Aber auch sie hatte nicht verhindern können, dass der Nakk nach kurzer Zeit starb. Julian Tifflor und seine Suchmannschaft von der PERSEUS hatten nur noch den toten Balinor bergen können.

Die Sache hatte viel Staub aufgewirbelt. Auf irgendeine bisher unerklärte Weise war Balinor dafür verantwortlich, dass das Galaktische Ortungssystem Wanderer-Alarm gegeben hatte. Von dem Nakken ging offenbar ein Einfluss aus, der GALORS zu der Annahme veranlasste, der Kunstplanet Wanderer sei wieder einmal im Realuniversum materialisiert. Als bekannt wurde, dass das Suchteam der PERSEUS weiter nichts hatte finden können als die Leiche eines Nakken, da hatte Sato Ambush darum gebeten, dass Balinors Überreste auf dem schnellsten Weg nach Terra überstellt würden.

Der Pararealist hatte vorläufig keine genaue Vorstellung, welche Untersuchungen er an der Leiche des Nakken vornehmen sollte. Er wollte den Effekt lokalisieren, auf den GALORS angesprochen hatte. Für seine Experimentierzwecke hatte er im Waringer-Building in Terrania in aller Eile ein Speziallabor herrichten lassen. In der ersten Untersuchungsphase würde er die körperlichen Überreste des Nakken mit Mikrosonden absuchen. Die Sonden waren auf hyperenergetische Strahlung ausgerichtet. Viel sprach dafür, dass Balinor, als er aus der Raumzeitfalte auftauchte, Signale auf Hyperenergie-Basis von sich gegeben hatte, die den Emissionen ähnelten, die von der Kunstwelt Wanderer ausgingen, wenn sie aus dem Hyperraum zum Vorschein kam.

Bei allem, was mit der Suche nach der verschwundenen Superintelligenz ES zu tun hatte, arbeitete Sato Ambush eng mit Myles Kantor zusammen. Der junge Wissenschaftler hatte nicht nur seine Arbeitsräume, sondern auch sein Wohnquartier im Waringer-Building. Myles stand den Versuchen, die der Pararealist mit den Überresten des Nakken anstellen wollte, eher skeptisch gegenüber.

»Kann sein, dass er auf Hyperenergie-Basis gestrahlt hat, als er noch lebte«, hatte er gesagt. »Aber die Leiche gibt doch gewiss keine Signale mehr von sich.«

Das Argument war aber nicht von der Hand zu weisen. Sato Ambush selbst war nicht übermäßig optimistisch, was die Erfolgsaussichten seiner Experimente anging. Eines jedoch war ihm klar: Mit Balinor verband sich ein Geheimnis, das zu dem Überwesen ES Bezug hatte. Was immer getan werden konnte, um diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, das musste getan werden.

Er schaltete die Anlage ein. Projektoren, die unter der Decke des Laborraums installiert waren, erzeugten mikroskopische Strukturfelder, die mühelos die Glassitwände des sargähnlichen Behälters durchdrangen und sich auf ihren vorprogrammierten Kurs begaben. Die Strukturfelder als solche waren unsichtbar. Aber Sato Ambush hatte Vorkehrungen getroffen, dass sie elektromagnetische Strahlung aussandten, durch die die Moleküle des Helium-Stickstoff-Gemischs, in dem die Leiche ruhte, zur Abgabe sichtbaren Lichts angeregt wurden. Daher erschien jedes Mikrostrukturfeld als ein winziger, aber leuchtstarker Funke, dessen Bewegung das Auge mühelos zu folgen vermochte.

Bildflächen leuchteten auf. Reihen von Ziffern und Zeichen erschienen, dazu graphische Darstellungen. Die Mikrosonden – es waren insgesamt acht, die wie winzige Leuchtkäfer über die zerfallende Körpermaterie des Nakken dahinglitten – waren auf unterschiedliche Frequenzbereiche des hyperenergetischen Spektrums geeicht.

Die Anzeigen waren negativ. Die Striche auf den graphischen Darstellungen verliefen flach und eben. Die Ziffern waren Nullen. Balinor war so tot, wie er aussah.

Minuten vergingen. Der Pararealist hatte sich schon damit abgefunden, dass er auf diese Weise das Geheimnis, das den Nakken mit der Superintelligenz ES verband, nicht würde enthüllen können. Da glitt einer der acht Mikrosonden über jenen Teil der Leiche, der einst Balinors Schädel dargestellt hatte – wenn man bei einem Nakken überhaupt von einem Schädel sprechen konnte und nicht lieber »das obere Körperende« dazu sagen wollte.

Plötzlich bekam einer der Striche auf den Diagrammen einen scharfen Knick und stieg steil nach oben. Es bildete sich ein kleines Plateau. Dann sank der Strich wieder ab. In mehreren Zahlenkolonnen erschienen von null verschiedene Werte.

Sato Ambush notierte aufmerksam: Die Sonde arbeitete im ultrahochfrequenten Bereich des Hyperspektrums. 341 GHef war der Punkt, an dem die Anzeige eingesetzt hatte.

Er wiederholte den Versuch. Das Ergebnis war reproduzierbar. Es gab keinen Zweifel: Was immer an Balinors ehemaliger Mentalsubstanz noch vorhanden sein mochte, emittierte hyperenergetische Strahlung im Frequenzbereich 341 bis 356 GHef. Die Emission war nicht intensiv. Sie war in der Tat trotz der bedeutenden Sensitivität der Mikrofeldsonden nur eben noch nachweisbar. Wundern durfte man sich darüber nicht. Balinor war tot. Die Strahlung musste wesentlich kräftiger gewesen sein, als er aus der Raumzeitverfaltung herauskam. Stark genug wenigstens, um GALORS zum Ansprechen zu bringen.

Der Pararealist vergewisserte sich, dass alle von der Messung erfassten Daten aufgezeichnet und gespeichert worden waren. Er war mit dem Ergebnis des Experiments zufrieden. Die Auswertung der Informationen würde ihn einige Zeit beschäftigen und ihm hoffentlich Hinweise dafür liefern, in welcher Richtung er nun seine Untersuchungen fortzusetzen hatte.

Ein halblauter Glockenton ließ ihn aufhorchen. Der Interkom hatte angesprochen. Der Servo, der als matt leuchtendes, etwa faustgroßes Energiegebilde irgendwo unter der Decke schwebte, gab Myles Kantors Stimme wieder.

»Hast du Zeit, Mann aus der anderen Realität?«, fragte der junge Wissenschaftler.

»Im Augenblick, ja«, antwortete Sato Ambush.

»Im Humanidrom ist der Teufel los. Das musst du dir ansehen!«

Von Neuem materialisierte eine Bildfläche. Eine Sekunde lang war Myles Kantor zu sehen, der bequem in dem auf der Transportfläche des Kantormobils montierten Sessel ruhte. Er grinste.

»Ich schalte um auf Intergalac!«, rief er.

 

*

 

Das Bild wechselte. Der Nachrichtensprecher von Intergalac, einer der bestrenommierten interstellaren Informationsagenturen, war selbstverständlich eine synthetische Computerkreation. Er legte jedoch das Gehabe einer echten Person an den Tag. Er war ernst, was darauf hinwies, dass er wichtige und nicht auf die leichte Schulter zu nehmende Neuigkeiten anzusagen hatte.

Die Projektion des Sprechers rückte ein wenig zur Seite. Die Videofläche wurde aufgeteilt. Auf der linken Seite erschien die geometrisch verschrobene, in sich verdrehte Form der riesigen Raumstation über dem Planeten Lokvorth, die man das Humanidrom nannte.

»... am vierten September elfhundertdreiundsiebzig. Bei der Tagung des Galaktikums im Humanidrom von Lokvorth kommt es zu immer neuen Sensationen.« Das Bild zur Linken blendete ins Innere der Raumstation und zeigte einen Sitzungssaal, in dem eine erregte Debatte stattfand. Die Stimmen der Debattierenden waren im Hintergrund zu hören. »Vor kurzem haben die Nationen der Topsider, der Überschweren, der Tentra-Blues und der Springer ihren Austritt aus der Gemeinschaft der galaktischen Völker erklärt. Dieser Schritt kam nicht unerwartet. Als er dann aber tatsächlich getan wurde, bedeutete er dennoch für die übrigen Mitglieder des Galaktikums einen schweren Schock.«

Am unteren Bildrand erschienen Symbole. Der Betrachter der Nachrichtensendung konnte, wenn er wollte, die Stimme des Sprechers ausblenden und sich stattdessen das anhören, was auf der linken Bildseite an Akustischem dargeboten wurde. Es bestand überdies die Möglichkeit, die akustische Übertragung völlig auszuschalten und sich den Inhalt der Nachrichten durch eine Kombination von optischen Eindrücken und Sensodyne vermitteln zu lassen. Sensodyne war eine auf der Grundlage des Simusense entwickelte, für menschliche Bewusstseine jedoch völlig ungefährliche Methode der Informationsübertragung. Sie arbeitete mit Mitteln der hypnosuggestiven Beeinflussung und prägte all das, was an Informationen präsentiert wurde, dem Bewusstsein des Zuhörers mit besonderem Nachdruck ein.

Sato Ambush wollte von all diesem neumodischen Firlefanz, wie er ihn nannte, nichts wissen. Er zog es vor, seine Nachrichten auf die althergebrachte Weise vorgesetzt zu bekommen. Er amüsierte sich über den Nachrichtensprecher, der sich überaus ernst nahm und nicht den geringsten Sinn für Humor zu besitzen schien – ganz so, als wäre er ein echter Mensch und nicht nur das Produkt einer Computersimulation.

»Hatte der Austritt der vier Nationen aus dem Galaktikum schon wie eine Bombe eingeschlagen, so kam es heute zu einem Eklat ganz besonderer Art. Der arkonidische Sonderbeauftragte, Atlan, legte dem Gremium Informationsmaterial vor, aus dem, wie er behauptete, eindeutig hervorginge, dass zumindest einer der linguidischen Friedensstifter falsches Spiel treibe. In diesem besonderen Fall geht es um Aramus Shaenor. Atlans Informationen zufolge hat Shaenor die Rassenkonflikte auf der Siedlerwelt Ascullo, von denen in den vergangenen Wochen ausführlich berichtet wurde, selbst angezettelt, um sich danach als Vermittler des Friedens in Szene setzen zu können.«

In der linken Bildhälfte war Atlan zu sehen. Man hörte seine Stimme. Er sprach ruhig und scheinbar ohne Erregung. Man sah die Bilder, die auf sein Geheiß projiziert wurden. Der Sprecher der Nachrichten fuhr fort:

»Das arkonidische Informationsmaterial wirkte überzeugend. Es gibt kaum einen unter den Abgeordneten, der nicht überzeugt ist, dass Aramus Shaenor das Geschäft der Friedensstifterei tatsächlich um des eigenen Vorteils willen betreibt. Atlans Antrag, die Angelegenheit dem Galaktischen Gerichtshof vorzulegen und Strafantrag gegen den linguidischen Friedensstifter zu stellen, wurde ohne Gegenstimmen bei nur wenigen Stimmenthaltungen angenommen.«

Die Bildfläche wurde blass. Als sie wieder aufleuchtete, war Myles Kantor zu sehen.

»Was hältst du davon?«, fragte er, und seine Augen leuchteten vor Begeisterung. »Endlich zeigen die so genannten Friedensstifter, aus welchem Holz sie geschnitzt sind.«

»Ich kann mir kein Urteil erlauben«, antwortete Sato Ambush und lächelte dazu, wie es seine Art war. »Mir fehlen die Informationen. Aber wenn einer wie Atlan Beweise dafür zu haben glaubt, dass Aramus Shaenor falsch spielt, dann muss man das wohl ernst nehmen.«

»Das meine ich auch«, lachte Myles Kantor. »Du weißt, was auf Ascullo geschehen ist, nicht wahr?«

»Nicht wirklich. In dieser Hinsicht muss ich dich enttäuschen«, sagte der Pararealist in seiner üblichen zurückhaltenden Art. »Ich war während der vergangenen Tage so in meine Arbeit vertieft, dass ich kaum etwas zur Kenntnis genommen habe, was sich außerhalb des Waringer-Buildings zutrug.«

 

*

 

Am 4. September 1173 hatten Sato Ambush und Myles Kantor die Nachrichtensendung von Intergalac gehört, in der von den Vorwürfen die Rede war, die Atlan im Humanidrom gegen den linguidischen Friedensstifter Aramus Shaenor erhoben hatte.

Drei Tage zuvor, am 1. September, hatte sich auf dem Planeten Ferrol im Wega-System Folgendes ereignet:

Der Thort von Ferrol hatte hohen Besuch, gleich aus zwei verschiedenen Richtungen. Die linguidische Friedensstifterin Hagea Scoffy weilte auf der Welt der Ferronen, und soeben war auch Atlan, der Arkonide, eingetroffen. Der Thort hatte den beiden illustren Gästen jeweils die Hälfte eines der großen, regierungseigenen und in unmittelbarer Nähe des Roten Palasts gelegenen Gästehäuser zur Verfügung gestellt.