Nr. 2685
Der ARCHETIM-Schock
Das Solsystem erleidet die Stunde seiner höchsten Not – und der Umbrische Rat wird aktiv
Hubert Haensel
Wir schreiben das Jahr 1469 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) – das entspricht dem Jahr 5056 christlicher Zeitrechnung. Auf eine bislang ungeklärte Art und Weise verschwand das Solsystem mit seinen Planeten sowie allen Bewohnern aus dem bekannten Universum.
Die Heimat der Menschheit wurde in ein eigenes kleines Universum transferiert, wo die Terraner auf seltsame Nachbarn treffen. Die Lage spitzt sich zu, als die Planeten von fremden Raumfahrern besetzt und die Sonne Sol »verhüllt« wird. Seither kämpft die solare Menschheit um ihr Überleben.
Ein Hauptgegner sind dabei die Spenta, die sich selbst Sonnenhäusler nennen: Deren Manipulationen an Sol hätten der Menschheit beinahe den Kältetod gebracht. Ihnen geht es, nach allem, was man weiß, darum, den Leichnam ARCHETIMS aus Sol zu bergen.
Reginald Bull gelingt es, ein Abkommen mit ihnen zu schließen: ARCHETIM gegen die Freiheit Sols.
Indessen sind die Sayporaner allerdings weiterhin im Solsystem aktiv. Sie warten auf eine passende Ablenkung der Terraner. Und diese ist DER ARCHETIM-SCHOCK ...
Reginald Bull – Der Resident kehrt aus dem Reich der Sonnenhäusler zurück.
Shanda Sarmotte – Die Funkenmutantin wird von unsagbarer Trauer erfasst.
Paitäcc – Der Inspektor greift nach dem Solsystem.
Rya Pascoe – Eine künstlerische Gen-Designerin hat ihren letzten Kunden verloren.
Callis Varro – Ein Raumschiffkommandant bekommt es mit der Angst zu tun.
»Etwas tut sich im Nahbereich der Sonne. Unsere Informanten sprechen von ungewöhnlichen Schiffsbewegungen. Es hat den Anschein, als würden Flottenkontingente zusammengezogen. Was immer sich dahinter verbergen mag ...«
»Trivid aus!«, ordne ich an.
Ich habe kaum noch hingehört, fühle mich von der Übertragung sogar gestört. Was mich von Okta ablenken könnte, muss zurückstehen.
Sie hat sich zwischen den Aggregaten vor mir verkrochen. Ihre fluoreszierende Haut wird sie allerdings verraten, selbst wenn sie sich in den hintersten Winkel quetscht. Ich weiß, dass sie jeden meiner Schritte wie ein Erdbeben wahrnimmt und meine Atemzüge als halben Orkan. Ob sie auch meinen Herzschlag spürt?
Prompt halte ich die Luft an. Nicht einmal, wenn ich mich in einen Roboter verwandeln würde, wäre es für mich einfacher, mein entflohenes »Kind« einzufangen. Bestenfalls ein toter Roboter hätte eine Chance.
Doch ich bin kein Roboter ...
... und tot schon gar nicht.
Eigentlich brauche ich nur zu warten. Über kurz oder lang wird die Jungtarantel ihr Versteck wieder verlassen – und wohin sollte sie schon entkommen?
Wohin? Ich schaue zum Fenster. Der Himmel zeigt sich in ungewöhnlich tiefem Blau. Schleierwolken treiben schnell dahin, ihre Schatten huschen über die saftigen Weiden und die kargen Felshänge. Der kleine See auf der anderen Seite des Tales wirkt, als wäre er aus der Landschaft ausgestanzt wie ein unergründliches Schwarzes Loch. Während ich mich darauf konzentriere, spiegeln sich Wolken im Wasser und gleich darauf blendend hell die Sonne. Sol steht nahezu im Zenit, es ist kurz vor Mittag.
Der Servo hat meinen kurzen suchenden Blick erfasst. 16. Dezember 1469 NGZ, 18.03 Terrania-Standardzeit, erscheint die holografische Auskunft. Das sind von meiner Einsamkeit nach wie vor über sechs Stunden lokalen Unterschieds zur Metropole. Natürlich könnte ich eine Angleichung vornehmen, nur wozu? Während in Terrania der neue Tag beginnt, sehe ich die Sonne blutrot hinter den Bergen untergehen. Daran habe ich mich in all den Monaten gewöhnt, ich möchte es gar nicht mehr anders.
Zögernd gehe ich in die Hocke. Der Zirkulationsspalt zwischen dem Bioresonator und den Aufbereitungsanlagen der Zellkerntrennung ist gerade breit genug, dass ich mit den Fingerspitzen hineinlangen kann. Ganz hinten, an der Wand, glaube ich, einen fahlen hellen Schimmer zu erkennen. Das könnte Okta sein.
Ich verrenke mir fast den Hals bei dem Versuch, mit einem Auge in den Spalt zu schauen.
Hinter mir erklingt ein verhaltenes, eher hustend anmutendes Fauchen. Ein deutlicher Hauch von Ungeduld schwingt darin mit.
Jetzt nicht! Immer öfter macht mich Irp zornig. Dies ist so ein Moment. Er wird lernen müssen, dass nicht nur er im Vordergrund stehen kann. Notfalls muss ich ihm das mit Nachdruck beibringen.
Ich sperre dich nach draußen! Dabei weiß ich, dass ich genau das nicht fertigbringen werde. Und Irp weiß es auch. Zumindest bildet er sich ein, das zu wissen. Wieso kann er mich so gut einschätzen?
Was mir fehlt, sind ein paar Miniroboter, klein genug, um Okta aus ihrem Versteck hervorzuholen. Ich müsste solche Winzlinge von Terra anfordern. Und dann? Warten. Wer sollte Interesse daran haben, mir ausgerechnet in dieser Zeit zwei oder drei formvariable Minis zu liefern? Whistler baut sie ab einer Größe von vier Millimetern als Wegwerfartikel mit integrierter Energiezelle und Standardprogrammierung als Reinigungsroboter. Einzelne Exemplare gab es stets als Warenprobe gegen Erstattung der Frachtkosten. Ansonsten Tausenderpackungen für den durchschnittlichen Haushalt.
Zumindest war das so, bevor das Solsystem aus der Milchstraße herausgerissen und entführt wurde. Der Gedanke behagt mir nicht, deshalb ignoriere ich ihn. Das ist gesünder, als mich damit herumzuärgern.
Ich brauche keine Tausenderpackung. Nur einen oder zwei Minis, die Okta aus ihrem Versteck ziehen. Wobei ich mir keineswegs sicher bin, dass die Einwegroboter die Oberhand gewinnen würden. Okta ist bislang zwar nicht größer als mein halber Daumen, aber ihre Gensequenzen sind auf Stärke ausgelegt.
Das Fauchen im Hintergrund des Labors klingt aggressiver. Es kommt bereits tief aus Irps Kehle. Er versucht sich im Feuerspucken und schlägt mit den Schwingen – beides erkenne ich an den dabei entstehenden Geräuschen, während ich mir Mühe gebe, den Zirkulationsspalt in seiner ganzen Länge zu überblicken. Es hat den Anschein, als ob Okta sich weiter aus ihrem Versteck hervorwage.
Ich denke das Bild zu Ende: Die junge Tarantel löst sich vollends aus dem Hintergrund. Zögernd bewegt sie die acht Beine ... kommt näher ...
Okta, die ich ihrer acht Beine wegen so nenne, kommt tatsächlich näher. Langsam und vorsichtig, aber das muss ich ihr zugestehen.
In meiner Vorstellung verharrt sie urplötzlich.
Genau das sehe ich Sekunden später. Die Spinne hält inne und tastet mit einem Vorderbein über die Verkleidung des Bioresonators.
Reagiert Okta auf meine Gedanken? So vermessen bin ich nicht, das anzunehmen. Mein kleinstes »Kind« reagiert vielmehr auf schwache elektrische Felder. Weil ich ihr am nächsten bin und weil alle anderen elektromagnetischen Quellen perfekt abgeschirmt sind, spürt sie nur mich. Auch das ist Wahnsinn, ich ...
Das Flappen lederhäutiger Schwingen schreckt mich auf.
»Mutter!«, ruft Irp schrill. Er streicht über mich hinweg und gräbt dabei seine Fänge in mein Haar, lässt aber sofort wieder los, weil ich mit der Hand nach oben schlage. Für sein krächzendes Lachen könnte ich ihm den langen Schuppenhals umdrehen, nur ist er da schon wieder aus meiner Reichweite.
Und Okta? Erneut verschwunden, als hätte eines der Aggregate sie verschluckt.
»Bleib, wo du bist!«, herrsche ich Irp an. »Wenn du mich noch ein einziges Mal in der Arbeit störst, dann ...«
Ja, was dann?
Ich bringe es nicht fertig, einem meiner »Kinder« wehzutun. Außerdem ist Irp für mich ein kleines Vermögen wert. Nicht hier, in diesem verdammten leeren Universum, sondern in der Milchstraße.
Der Arkonide, der Irp bei mir bestellt hat, ist der durchgeknallteste Kunde, den ich jemals hatte. Hoffentlich sucht er sich nicht inzwischen einen anderen Gendesigner, denn in dem Fall werde ich das Nachsehen haben. Mein Problem: Ich hätte die Klausel mit dem Lieferverzug nicht akzeptieren dürfen.
Andererseits: Mir ist klar, dass ich die Beste in diesem Metier bin. Das war dem Arkoniden ebenso bewusst, als er zu mir kam – ich habe es gespürt. Und mich hat der Auftrag gereizt.
Es wird Zeit, dass das Solsystem in die Milchstraße zurückkehrt. Haben wir denn keine fähigen Leute, die wissen, wie sie mit Sayporanern, Fagesy und Spenta fertig werden? Was ist mit Reginald Bull, mit Homer G. Adams – wollen die beiden nicht zurück?
*
Vor knapp dreieinhalb Monaten wurden wir verschleppt, entführt, aus der Milchstraße herausgerissen – ich weiß nicht, wie ich das Geschehene anders nennen soll. Gerade deshalb fürchte ich den Tag, an dem ich zu hören bekomme, dass es kein Zurück geben kann und dass wir Terraner künftig heimatlos sein werden. Natürlich haben wir die Erde und die anderen besiedelten Planeten und Monde innerhalb des Sonnensystems. Aber alle gewachsenen Verbindungen nach außen fehlen. Ein paar Dutzend weitere Sonnensysteme in diesem uns Menschen fremden Miniaturuniversum können kein Ersatz sein.
Für mich sind sie das jedenfalls nicht. Damit ich meine Fähigkeiten einsetzen kann, brauche ich die oberen Zehntausend in der Milchstraße – zahlungskräftige Auftraggeber, die das Besondere zu schätzen wissen. Die Zeiten, in denen jemand sich mit einem Okrill schmückte, um Respekt einzufordern, sind vorbei. Nicht mehr plumpe Kraft und Stärke zählen, sondern eher das Feinsinnige und Verborgene. Ich schaue mich nach Irp um: nun ja, auch und vor allem das Verrückte, das auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Wahnsinn balanciert. Mit Irps Design habe ich ohnehin den letzten Millimeter des gesetzlichen Rahmens ausgereizt.
Ich bin Künstlerin, das lasse ich mir von niemandem nehmen, schon gar nicht von den Terra-Nostalgikern, die meinen Berufszweig verdammen. Genpanscher, schimpfen sie und verkennen dabei die Wirklichkeit. Ich bezeichne mich als Künstlerische Gendesignerin ...
»Mutter!« Irp krächzt und schlägt seine Fänge in die Scheibe Synthofleisch, die ich vor einer Stunde aus dem Brutschrank geholt habe. Eigentlich war das Fleisch als Steak für mich gedacht, doch Irp hat mich mit seinem Arkonidengesicht so treuherzig angesehen, dass ich einfach nachgeben musste.
Verrückt. Absolut verrückt, was ich da ins Leben geholt habe.
Aber Okta ist mir vorerst wichtiger. Ein bizarres, kleines, robustes Tier, das war die Grundforderung. Schnell und ein geschickter Kletterer und über elektromagnetische Impulse zu lenken.
Letzteres hielt ich für unmöglich. Trotzdem startete ich den Versuch, wenn auch ohne eine passende Lizenz anzufordern.
Nun ist es zu spät für die Einhaltung der Bürokratie. Falls die Tarantel tatsächlich auf meine Nerven- und Muskelströme reagiert, bin ich schon weit über mein eigentliches Ziel hinausgeschossen.
Komm!, denke ich intensiv.
Nichts geschieht.
Ich stelle mir vor, dass die Spinne wieder durch den schmalen Spalt läuft. Dass sie auf mich zukommt. Das wäre mein Triumph. Kein öffentlicher, sondern mein eigener, stiller, von dem außer mir niemand je erfahren würde.
Fühle ich mich erfolgreich? Die Frage überrascht mich nicht. Ich wusste immer, dass sie sich mir eines Tages stellen würde. Ebenso, dass ich sie verdrängen würde.
War der erfolgreich, der uns Menschen entstehen ließ?
Ich habe nichts Böses erschaffen, auch nichts Neues. Das könnte ich nicht. Aber wenn nach mir jemand mit meinen »Kindern« weiter experimentiert? Wenn dieser Eine Okta noch ein wenig verändert, die Erbsubstanz der ertrusischen Leuchtquallen innerhalb des Genoms neutralisiert und stattdessen die Giftdrüsen revitalisiert und verstärkt? Kein angenehmer Gedanke, plötzlich mit einer nur wenige Zentimeter großen biologischen Kampfmaschine konfrontiert zu sein, die eingesetzt werden könnte, um zu töten.
Ich zerbeiße eine Verwünschung zwischen den Zähnen. Warum denke ich nie vorher über solche Dinge nach? Weil ich dem Reiz einer neuen Aufgabe ohnehin nicht widerstehen kann?
Hat er darüber nachgedacht?
Ich spüre mein Zusammenzucken. Mit er meine ich nicht Gott, zu einer solchen Herausforderung würde ich mich nie versteigen. Gott ist für mich eine andere Institution, der Name für etwas, das wir trotz Raumfahrt und fortschrittlichster Technik nicht erfassen können. Wahrscheinlich ist auch gerade das der falsche Weg einer Annäherung.
Ich meine lediglich den unbekannten Mächtigen, der vor einer Ewigkeit mit seinem Sporenschiff Lebenskeime in unserem Bereich des Universums ausstreute. On- und Noon-Quanten, so habe ich es vor knapp fünf Jahrzehnten zum ersten Mal gelernt und später beinahe exzessiv im Grundlagenbereich der Genetik. Keine Ahnung, ob Bardioc, Kemoauc, Ganerc oder einer ihrer Brüder für die Lebensvielfalt in der Lokalen Galaxiengruppe verantwortlich sind oder ein unbekannter Mächtiger, der lange vor den Sieben aus dem Bund der Zeitlosen lebte. Bardioc und seinesgleichen waren eher für den Bau eines Sternenschwarms zuständig, mit dessen Hilfe die Intelligenz gefördert wurde. Aber auch in der Hinsicht waren die Mächtigen nur Befehlsempfänger. Die Lebenskeime haben sie jedenfalls nicht selbst erschaffen.
Ich habe ebenso wenig Neues gestaltet. Als Gendesignerin Rya Pascoe spiele ich nur Schicksal und bin in der Tat eine Spielernatur. Ich würfle mit Gensequenzen, so hat Malcolm es genannt. Malcolm, Mitstudent an der Anson-Argyris-Universität auf Olymp und Lebensabschnittsgefährte während meiner ersten Berufsjahre auf Aralon. »Im Gegensatz zu dir würfelt Gott nicht«, hat Malcolm süffisant hinzugefügt.
Okta ist wieder da. Ich vermag nicht zu sagen, wie lange ich den fahlen Schimmer ihrer Haut schon sehe, ohne es bewusst wahrzunehmen. Jedenfalls ist sie keine vierzig Zentimeter mehr vor mir.
Ich konzentriere mich darauf, sie weiter heranzulocken. Doch ein Erfolg sieht anders aus. Die Jungspinne denkt nicht daran, mir zu gehorchen, sie klettert vielmehr am Bioresonator in die Höhe.
»Mutter!«, ruft Irp schrill. »Mir ist langweilig!«
Wild flatternd landet er über mir auf dem Aggregat. Es grenzt an ein Wunder, dass sein heftiger Auftritt die Spinne nicht verscheucht. Jedenfalls bewegt sie sich unverändert aufwärts.
Irp legt den Kopf schräg und grinst. Er streckt seinen Leib und macht Bewegungen, die eindeutig dem genetischen Material des Bonobos zuzuschreiben sind. Bedauerlich, dass Irpan da Konerant das nicht sieht. Schließlich hat er auf die Bonobo-Sequenzen bestanden. Ich denke, tausend Galax zusätzlich würde der adlige Arkonide für diese Erfüllung seines besonderen Wunsches schon springen lassen.
Irp, ich habe den Drachen nach dem Auftraggeber dieser Arbeit benannt, blinzelt mir zu und speit Feuer.
Diese Fähigkeit war mein größtes Problem, das gebe ich zu. Ich habe es fabelhaft gelöst. Zu gut sogar, denn die Stichflamme zuckt weit in den Zirkulationsspalt zwischen den Aggregaten hinab.
»Ich will wieder Trivid schauen!«, krächzt Irp. »Jetzt – sofort!«
Inzwischen vermag er viele Wörter mit Nachdruck einzusetzen. Jetzt! Sofort! Dass er sich damit immer weiter in den illegalen Bereich hinein entwickelt, ignoriere ich. Was soll ich sonst tun? Ihn töten? Das könnte ich nicht. Ich erschaffe Leben, ich nehme es nicht.
Momentan ist mir ohnehin wichtiger, wo Okta steckt. Wenigstens liegt die kleine Tarantel nicht verbrannt am Boden.
»Trivid!« Kreischend schlägt Irp mit den Schwingen wie ein wild gewordener Schwan und bockt schon wieder mit dem Unterleib.
Irpan da Konerant wollte das gendesignte Drachenei vor dem Aufbrechen der Schale seiner Favoritin als Morgengabe überreichen. Ich denke, jene Arkonidin hätte ihre helle Freude an diesem besonderen Geschenk gehabt. Überrascht registriere ich den Anflug von Ironie in meinen Gedanken.
Geräuschvoll flattert Irp auf. In seinem Blick liegt ein Ausdruck, den Irpan wohl genau so haben wollte. Mir gefällt er nicht. Aber das könnte mich nicht daran hindern, perfekt alle Wünsche erfüllt als Zusatz auf die Rechnung zu schreiben.
Wovon soll ich als Gendesignerin in diesem verdammten Miniaturuniversum auf Dauer eigentlich leben? Hier gibt es niemanden, der mir neue Auftragsarbeiten erteilt.
*
Ich schrecke aus meinen Überlegungen auf. Irp lässt sich auf meiner Schulter nieder. Immerhin gibt er sich spürbar Mühe, die Klauen nicht zu fest durch meine Kleidung zu drücken.
Halb aus dem Augenwinkel sehe ich seine Grimasse, ein verzerrtes Lachen. Irp spitzt die vollen Lippen, und was nun kommt, kenne ich zur Genüge. In letzter Sekunde bekomme ich die Hand in die Höhe, und Irps Versuch, mich zu küssen, endet mit seinem schrillen Protest: »Du magst mich nicht, Mutter.«
Was soll ich dazu sagen?
»Ich bin dein Kind«, zetert er. »Du behandelst mich herzlos.«
Wenn er wenigstens den üblichen vorspringenden Drachenschädel hätte. Ein schneller Griff ... fest zugehalten ... Aber dieses Merkmal musste ich zugunsten der arkonidischen Physiognomie eliminieren. Kundenwunsch hat Priorität.
Anfangs war ich Drachenzüchterin. Weil es mir diese fast unterarmlangen Geschöpfe aus der Südseite der Milchstraße angetan haben, seit ich zum ersten Mal eines sah. Die kleine Zucht war mein erster Schritt zur Gendesignerin – und seit rund fünfundzwanzig Jahren erschaffe ich nun immer mehr Mischwesen aus dem schier endlosen Genpool, den die Milchstraße bereithält. Ich leite gezielte Veränderungen ein, sobald ich für den besonderen Zweck eine Lizenz erhalten habe. Um bei Malcolms Worten zu bleiben: Ich würfle. Das heißt, ich kenne nur in den einfachen Fällen das Ergebnis meiner Manipulationen im Voraus.
Irp reibt die Nase an meiner abwehrend gespreizten Hand. Er schnauft hastiger, als wolle er Feuer speien.
Bei ihm wusste ich bislang am wenigsten, was geschehen würde. Von achtzehn heranreifenden Dracheneiern musste ich elf in verschiedenen Entwicklungsstadien stoppen. Sechs Embryonen starben. Aber eigentlich hatte ich mit einer deutlich schlechteren Quote gerechnet, also zwangsläufig mit weiteren Versuchen.
Irp ist das, was ich als Patchwork-Leben bezeichne. Vor allem trägt er keine amtliche Kontrollnummer, die seine Einmaligkeit oder die Zugehörigkeit zu einer Kleinserie bescheinigt. Und er wird diese Zulassung niemals im Nachhinein erhalten.
Ist er intelligent?
Nein ... nein ... Wieso auch? Zumindest rede ich mir das ein. Sicher bin ich mir dessen leider nicht mehr.
Irp ist triebgesteuert. Genau so, wie der Arkonide das haben wollte. Die integrierten Abschnitte des Bonobo-Genoms waren weder zu lang noch zu kurz. Auf das Bonobo-Erbe führe ich auch seinen ausgeprägten Instinkt zurück, ebenso die Fähigkeit perfekten Nachahmens. Letzteres korrespondiert zudem mit der aus Papageien-Eiern isolierten DNS.
Aufschreiend ziehe ich die Hand zurück. Der jähe brennende Schmerz hinterlässt eine deutliche Brandblase auf der Handfläche.
»Was habe ich dir ausdrücklich verboten?«, herrsche ich Irp an.
Treuherzig legt er den Kopf schräg. Das machen die kleinen Southside-Drachen nie, das erinnert an den irdischen Papagei.
»Trivid nicht ohne meine Zustimmung einschalten«, plappert Irp drauflos.
»Nicht ohne meine Zustimmung!«, korrigiere ich ihn.
»Sage ich doch.« Irp blinzelt. Das sind diese Momente, in denen ich fürchte, dass er weit intelligenter ist, als ich ohnehin schon argwöhne. Wahrscheinlich habe ich das Bonobo-Erbgut unterschätzt.
»Mutter ...?«, fragt er zögernd.
Ich schweige. Seit Irp vor drei Monaten geschlüpft ist, erscheint mir alles anders. Abgesehen von einem halben Dutzend singenden Mäusen – sie waren vor Jahren der Nachfragerenner zu Weihnachten – habe ich nie eine meiner Arbeiten für mich zurückbehalten. Es ist besser so, das sagt jeder in der Branche.
»Mutter?«
Ich gehe zum Fenster, um mich abzulenken. Unruhig wippt Irp auf meiner Schulter vor und zurück.