Almudena Grandes

DER FEIND
MEINES VATERS

Roman

Aus dem Spanischen von
Roberto de Hollanda

Carl Hanser Verlag

Die spanische Originalausgabe erschien 2012
unter dem Titel El lector de Julio Verne bei Tusquets in Barcelona.

ISBN 978-3-446-24268-5

© Almudena Grandes 2012

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2013

© Susanne Lange 2012 für Luis Cernuda,
»Spanisches Diptychon II« (Auszug)

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

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Episoden aus einem endlosen Krieg

DER FEIND MEINES VATERS

Für Luis.

Wieder einmal und doch nie oft genug.

Heute ist dir dein Land nicht mehr notwendig,

doch bleibt es dir in diesen Büchern lieb und nötig,

wirklicher und traumgleicher als das andere:

nicht jenes, sondern dieses ist heute dein Land,

das, welches Galdós dich kennen lehrte,

tolerant wie er selbst, loyal im Widerspruch,

weltumfassend nach dem Vorbild des Cervantes,

heldenhaft lebend, heldenhaft kämpfend

für die Zukunft, die die seine war,

nicht für das unheilvolle Gestern, dem das andere erneut
verfiel.

Wirklich ist für dich nicht dieses Spanien, obszön und
erdrückend,

in dem heute der Pöbel regiert,

sondern das lebendige, von jeher edle Spanien,

das Galdós in seinen Büchern schuf.

Dieses heilt und tröstet uns hinweg über das andere.

Luis Cernuda, »Spanisches Diptychon II« (Auszug),

Desolación de la Quimera (1956–1962)

INHALT

I. TEIL / 1947

II.TEIL / 1948

III. TEIL / 1949

IV. TEIL / Ein Krieg, der nie enden wird

Ninos Geschichte
Anmerkung der Autorin

Meinem Freund Cristino Pérez Meléndez,

der als Kind in der Kaserne von Fuensanta de Martos

wohnte und ein echter Knirps war,

doch als Erwachsener seinen Mann stand,

ohne zur Guardia Civil zu gehen.

Und meiner Freundin Ángela Aguilera Moya,

die aus Alcalá la Real stammt,

und nicht zufällig fast denselben Nachnamen hat

wie Pepe, der Portugiese.

4

(Interpretation des Pessimisten)

Nichts ist dasselbe. Nichts

überdauert. Bis auf die

Geschichte und die Blutwurst aus meinem Land:

Beide werden aus Blut gemacht und wiederholen sich.

Ángel González, »Glosas a Heráclito« (1976)

I. TEIL

1947

Die Leute sagen, in Andalusien sei es immer warm; in meinem Dorf aber froren wir uns im Winter zu Tode.

Vor dem Schnee kam der heimtückische Frost. Wenn die Tage noch lang waren, die Mittagssonne noch wärmte und wir nachmittags zum Spielen an den Fluss hinuntergingen, wurde die Luft mit einem Mal klar und schneidend. Und dann pfiff von den Bergen ein feiner, grausamer Wind, so hell wie Glas, der in den Straßen keinen Staub aufwirbelte. An der Schwelle zu einem Abend im Oktober, oder November, wenn wir Glück hatten, holte uns der Wind ein, noch ehe wir zu Hause waren, und wir wussten, dass die guten Zeiten vorbei waren. Es spielte keine Rolle, dass wir auf den alten bunten Plakaten, die Don Eusebio so gern in der Schule aufhängte, jeden Morgen lesen konnten, dass der Winter am 21. Dezember beginnt. Vielleicht in Madrid. In meinem Dorf begann der Winter, wenn es dem Wind passte, wenn er uns durch die kleinen Gassen verfolgte und unsere Gesichter mit seinen gläsernen Krallen zerkratzte, als hätte er noch eine alte Rechnung mit uns offen. Erst in den frühen Morgenstunden wäre sie beglichen, denn er blies ununterbrochen draußen vor den geschlossenen Türen und Fenstern, um dann in der Stunde, in der selbst die Schlaflosen Ruhe finden, plötzlich innezuhalten, als hätte er sich an der eigenen Wut den Magen verdorben. In dieser trügerischen, unheimlichen Stille senkte sich der erste Frost über uns, ungeachtet der Bücher und Kalender und obwohl es auf keinem Plakat geschrieben stand. Danach war alles Winter.

Das Eis überzog den Hof mit einer schmutzig weißlichen Schicht, die wie altes Verbandszeug auf den verkümmerten Baumstämmen am Brunnen lag. Im diesigen Morgenlicht verlieh es den Steinen, die sich scharf auf dem zu einer Gänsehaut erstarrten Boden abhoben, eine geheimnisvolle Aura. So auch meiner Nase, die noch vor mir erwachte wie ein eisiges, fast fremdes Anhängsel im Gesicht. Dann streckte ich die Hand unter der Decke hervor und berührte sie, als wäre ich verwundert, sie zwischen Augen und Mund wiederzufinden. Der Temperaturunterschied schmerzte in der Nase und den Fingerspitzen gleichermaßen. Deshalb zog ich mir die warme, weiche Decke über den Kopf und schlief wieder ein. Der anschließende Traum war schöner als der zuvor, doch zu kurz, wie alles Gute im Leben. Ich teilte mir ein Zimmer mit meinen Schwestern, die Tür war hinter einem grünen Vorhang versteckt, und da ich den Fensterplatz hatte, weckte mich meine Mutter immer vor meinen Schwestern. Das Licht strömte herein, und im gleichen Augenblick hörte ich ihre Stimme, los, Nino, aufstehen, und spürte kurz darauf den leichten, raschen Kuss auf der Stirn, der unweigerlich den Morgen ankündigte.

Alle Tage begannen gleich: dieselben Schritte, dieselben Worte, das leise Geräusch, wenn sie die Fensterläden öffnete, und der ebenso zarte Kuss, die Haut meiner Mutter, die meine berührte, eine Zärtlichkeit, die aus der Eile geboren war und nichts mit den geräuschvollen, wiederholten Küssen gemein hatte, mit denen sie mir gute Nacht sagte, als wollte sie für immer eine Spur auf meinen Wangen hinterlassen. Die Tage begannen gleich, doch der erste Frost verwandelte alles, ohne es zu verändern. In den anderen Häusern des Dorfes betrachteten die Menschen mit gerunzelter Stirn die Berge, und auf vielen unterschiedlichen Gesichtern lag derselbe Ausdruck von Besorgnis. In meinem Haus, eigentlich kein richtiges Haus, sondern drei Zimmer im Wohnbereich der Kaserne der Guardia Civil von Fuensanta de Martos, benahmen wir uns besser als sonst, weil wir wussten, dass meine Mutter nicht zu Scherzen aufgelegt war, wenn der Winter begann.

»Warum musste ich ausgerechnet diesen Kerl heiraten, warum bloß, dabei hatte ich es in meinem Dorf so gut, verdammt …«

Das stimmte, und es stimmte auch wieder nicht. Sie stammte von der Küste, aus einem Fischerdorf, so nah an Almería, dass es praktisch ein Vorort der Stadt war. Dort wurde es nie kalt. Das wusste ich, weil Anfang März ihre jüngere Schwester geheiratet und uns zur Hochzeit eingeladen hatte. Anfangs schenkte ich der Nachricht keine große Bedeutung, wir hatten ähnliche Angebote erhalten und nie wahrgenommen, doch dieses Mal war es anders. Erstens, weil Mutter beschloss, hinzufahren und nach zehn Jahren zum ersten Mal ihr Dorf zu besuchen. Und zweitens, weil sie uns mitnahm. 1947 war eine solche Reise für jede Familie der Sierra Sur ein besonderes Ereignis.

»Und Vater? Warum kommt er nicht mit?«, traute ich mich zu fragen, als wir bereits in dem Bus saßen, der uns von Fuensanta nach der größeren Ortschaft Martos bringen würde. Ich schaute aus dem Fenster, wo mein Vater auf dem Bürgersteig stand und uns zum Abschied winkte.

»Darum.«

»Warum nicht?«

»Er kann nicht kommen.«

»Weil er arbeiten muss?«

»Das weißt du doch.«

An diesem Morgen war mein Dorf unter einer zentimeterdicken Schneeschicht aufgewacht. In Martos war der Schnee nicht liegen geblieben, trotzdem war es sehr kalt. Das weiß ich, weil uns der Bus mit zwanzig Minuten Verspätung am Bahnhof absetzte und wir zum Zug rennen mussten. Trotz der Hast und des schweren Gepäcks, in dem sich die Geschenke für die Braut und ihre Familie befanden, wurde uns nicht warm; dabei waren wir schweißgebadet.

Mutter trieb uns wie Schafe durch die Gänge des Zuges, während sie mit einem mit der Maschine getippten Schreiben in der Hand nach den zwei Männern der Guardia Civil Ausschau hielt, die ihn begleiten würden. Es war das erste Mal, dass ich ohne meinen Vater mit dem Zug fuhr; deshalb war ich plötzlich der einzige Mann in der Familie, und all das machte mir Angst, obwohl ich es zu verbergen versuchte. Mit ihm war es anders. Wenn er mit seiner Uniform, dem Dreispitz und seiner Dienstwaffe voranging, machten uns die Passagiere Platz, und die Schaffner fragten uns nicht nach den Fahrkarten, sondern forderten, falls nötig, die Fahrgäste zum Aufstehen auf, damit wir alle zusammensitzen konnten. Doch dieses Mal war mein Vater nicht dabei, und ich traute den beiden schreibmaschinengeschriebenen Blättern nicht, die er uns in einem Umschlag mitgegeben hatte, bevor er sich an der Bustür von uns verabschiedete. Trotzdem ging alles gut aus. Mutter kannte einen der Männer der Guardia Civil, die den Zug begleiteten, einen Gefreiten, der in Fuensanta stationiert gewesen war, bevor man ihn in die Kommandantur von Jaén versetzt hatte. Ohne sich das Schreiben durchzulesen, rief er den Schaffner, erklärte ihm, wir seien die Familie eines Kollegen, und brachte uns zu unseren Plätzen. Außerdem schenkte er mir eine Handvoll Pfefferminzbonbons, von den scharfen, die auf der Zunge und am Gaumen brennen.

»Gib deinen Schwestern auch welche ab«, sagte er lächelnd, aber Dulce spuckte ihres sofort wieder aus, und Pepa war bereits auf dem Arm meiner Mutter eingeschlafen, als ich ihr eins geben wollte, sodass ich sie am Ende allein aß.

Es war eine angenehme, ruhige Reise, ganz anders als die Rückfahrt, aber als der Zug anfuhr, zitterte ich immer noch vor Kälte. Eine Stunde später war der Himmel blau, die Sonne schien, und ich knöpfte mir unbewusst den Mantel auf. Kurz danach musste ich ihn ausziehen.

»Ich schwitze, Mutter«, sagte ich, während ich auch den Pullover auszog. »Der Kessel der Lokomotive, oder?«

»Nein«, lächelte sie, als wäre etwas Schweres von ihr abgefallen.

»Es ist aber heiß.«

»Und es wird noch heißer werden.«

Dann entdeckten wir Blumen, mitten im Winter, weite grüne Felder, übersät mit roten, rosa, weißen und violetten Flecken, schöne große Blüten wie die in den Geschäften, aber hier wuchsen sie von allein gleich neben den Bahngleisen. Mutter zeigte mit dem Finger darauf und zählte uns ihre geheimnisvoll sonnigen Namen auf. Während ich zuhörte, Oleander, Hibiskus, Bougainvillea, dachte ich an den Klatschmohn, die Margeriten und diese anderen blauen Blumen, die so klein sind, dass sie nicht einmal einen Namen haben – die einzigen, die in unserem Dorf wuchsen, und auch nur im Frühling. In den Bahnhöfen waren die Menschen leicht bekleidet und liefen kurzärmelig oder mit offenen Jacken herum. Ich betrachtete sie, betrachtete diesen Garten Eden, diesen ewigen Sommer, und plötzlich wurde mir alles klar, die schlechte Laune meiner Mutter, die Flüche einer Abtrünnigen ohne Hoffnung und die bittere Verwunderung, mit der sie sich jedes Jahr, wenn der Frost kam und mit ihm die beschwerlichen Tage des Lebens, laut fragte, was sie bloß in Fuensanta de Martos verloren hätte. Doch die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen, und auch das fand ich auf dieser Reise heraus.

Oleander, Hibiskus und Bougainvillea. Als ich sie drei Tage später so schön und unnütz neben den Bahngleisen wiedersah, die mich nach Jaén, Martos und zum Schnee in den Bergen zurückführen würden, hatte ich gelernt, dass man Namen nicht kauen und Blumen nicht essen kann. Ich hatte das Meer gesehen, aber auch wie die Wellen, eine nach der anderen, die Freude meiner Mutter hinweggespült hatten. Ich hatte entdeckt, dass sie nicht übertrieb, wenn sie sagte, ein Mann in ihrem Dorf müsse mit einer Tomate und ein paar Weintrauben am Tag auskommen und es gebe dort Arme, die noch viel ärmer waren als wir. Auf dem Bahnsteig wartete Vater in seinem dicken Mantel auf uns. Ich freute mich so, ihn zu sehen, dass ich das Fenster herunterschob, seinen Namen rief und heftig mit den Armen fuchtelte, ohne den Willkommensgruß der Kälte zu spüren, die in meine Nase und Ohren drang, um meine Rückkehr zu feiern. Mutter fragte nicht einmal, wieso er da sei, statt wie verabredet an der Bushaltestelle im Dorf zu warten. Er erklärte, er habe uns so vermisst, und sie umarmte ihn, als wären sie verliebt, als hätten sie noch nicht geheiratet, als wären wir noch nicht geboren, stünden nicht vor ihnen, sähen sie an und hörten, wie Mutter sagte, nie wieder, niemals fahre ich dorthin zurück, Antonino, das kannst du mir glauben …

»Und was ist mit dir, Nino?« Vater stellte meine Schwester Pepa auf den Boden, legte mir die Hände auf die Schultern und gab mir einen Kuss. »Hat dir das Meer gefallen?«

»Ja, sehr, Vater, es ist so groß … riesig.«

Das antwortete ich, und er lächelte, als hätte er genau das erwartet. Da wusste ich, dass ich ihm sonst nichts sagen würde. Ich würde ihm nicht erzählen, dass meine Cousins mir die Schuhe gestohlen hatten, als ich sie auszog, um wie sie barfuß am Strand zu spielen, und ich sie nicht wiedergefunden hatte, bis Mutter davon erfuhr und, statt mich auszuschimpfen, wutentbrannt auf die Straße lief und sie mir wenig später zurückbrachte. In beiden Schuhen steckten noch die Socken, genauso wie ich sie neben einem Boot liegen gelassen hatte. Ich würde ihm nicht erzählen, dass Tante María die Eier, die ihre Hühner legten, verkaufte, weil sie zu viel Geld einbrachten, als dass man sie ihren Kindern hätte geben können, und auch nicht, dass Mutter uns heimlich Brot und Käse zugesteckt hatte, damit wir bei Großmutter nicht um einen Imbiss bettelten. Ich würde ihm nicht erzählen, dass mich am Tag der Hochzeit ein hagerer Mann, der wie alle Männer dort braungebrannt war, vor der Kirche fragte, ob ich der Sohn des Guardia-Civil-Beamten sei, und mir dann erklärte, er habe mich nur gefragt, weil er froh sei, nicht mein Vater zu sein. Dieser Mann, ein alter Verehrer meiner Mutter, hatte mich mit einem schiefen, angespannten Lächeln angesehen, das mir Angst einflößte, aber auch das erzählte ich niemandem.

Der Mann, der auf der Rückfahrt mit uns im Zug fuhr, war ebenfalls braungebrannt und hager, aber auch sehr schmutzig. Sein Hemd war auf einer Seite zerrissen, und an der Stirn klaffte eine alte Wunde mit einem Rinnsal aus verkrustetem Blut. Er stand da und sah zu Boden; gelegentlich warf er mit einem Ausdruck stummer Traurigkeit einen Blick aus dem Fenster, verstohlen, als verabschiedete er sich von der Landschaft und wollte nicht, dass die anderen es bemerkten. Manchmal nahm er mit der linken Hand eine Zigarette aus der Hosentasche, steckte sie in den Mund und bat den Beamten der Guardia Civil, der neben Mutter saß, mit einer Kopfbewegung um Feuer. Wenn er an der Zigarette zog, sah ich, wie er am ganzen Leib zitterte, die Hand, der Arm, die Lippen. Während der ganzen Fahrt sagte er kein Wort. Und den anderen Guardia-Civil-Beamten, an dessen linke, unter dem olivgrünen Ärmel hervorlugende Hand er mit seiner rechten gefesselt war, würdigte er keines Blickes.

Er war ein Häftling, oder vielleicht noch nicht, vielleicht hatten sie ihn gerade erst festgenommen und überstellten ihn jetzt ins Gefängnis. Das wusste ich, weil ich eine ähnliche Szene schon einmal erlebt hatte, als ich mit Vater nach Jaén fuhr; damals war der Häftling eine Frau gewesen, die nur dasaß, den Kopf in den Händen vergraben, und leise vor sich hin weinte. Deshalb hatte sie mich nicht so sehr beeindruckt wie dieser Mann. Und damals hatte auch niemand pinkeln müssen.

»Ich muss ganz dringend, Macario, ich halte es nicht länger aus.«

Der Beamte der Guardia Civil, an den der Mann mit Handschellen gefesselt war, unterbrach seinen Kollegen, der sich gerade mit meiner Mutter unterhielt, woraufhin dieser mit einer lustlosen Kopfbewegung, die ich nicht begriff, seinem Unmut Luft machte.

»Kannst du nicht noch ein bisschen anhalten, Mann?« Es klang fast wie eine Bitte. »Bis zum nächsten Bahnhof.«

»Unmöglich, Macario. Ich mache mir gleich in die Hose.«

»Verdammt nochmal. Wenn man auch ständig Wasser trinkt!«

»Was soll ich machen? Der Arzt will es so.« Er war ein junger, sympathischer Mann der Guardia Civil, und man sah seinem beklommenen Gesicht an, dass seine Not nicht gespielt war. »Ich muss wegen meiner Nierensteine so viel trinken.«

»Ach ja? Am liebsten würde ich dir einen davon an den Kopf werfen.« Macario dagegen war etwa so alt wie der Leutnant in Fuensanta, kahl und dickbäuchig, dabei trug er nicht einmal die Abzeichen eines Gefreiten. »Dann sag mir, wie wir das anstellen sollen. Es sei denn, du nimmst ihn mit aufs …«

»Was? Niemals. Das fehlte noch, dass ich dem Kerl meine Klöten zeige.«

Macario sah sich um, und sein Blick blieb an mir hängen.

»Ich kann dich nicht ablösen«, erklärte er seinem Kollegen. »Du kennst ja die Vorschriften, höchstens … Wenn du wirklich nicht mehr anhalten kannst und es dem Jungen nichts ausmacht …«

»Warum sollte es ihm etwas ausmachen?« Mutter sah mich lächelnd an, und ich verstand weder ihre Worte noch ihr Lächeln. »Nachdem Sie so freundlich zu uns waren. Na los, Nino, mach schon …«

»Was denn?«, fragte ich, doch sie schubste mich vor, ohne ein Wort zu sagen, und ehe ich mich versah, hatte der ältere Guardia-Civil-Beamte seinem Kollegen die Handschellen abgenommen und mich an den Mann gefesselt, der so zitterte.

»Ich dürfte das eigentlich nicht, wissen Sie«, sagte Macario zu meiner Mutter, und ich begann so heftig zu schwitzen wie noch nie zuvor. »Aber, wenn der so dringend muss …«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Sie brauchen uns nichts zu erklären.« Mutter lächelte immer noch, und ich schwitzte, ich hörte den Gefangenen atmen und schwitzte, ich spürte die Berührung seiner Hand, seines Hemdsärmels und schwitzte. Ich hatte das Gefühl, seinen Herzschlag hören zu können, und schwitzte, als würde ich von innen her austrocknen. »Mein Sohn ist in einer Kaserne aufgewachsen und hat nie etwas anderes gekannt.«

»Das sieht man, ja wirklich, er ist so gut erzogen und gehorsam … das härtet einen ab, was?« Erst jetzt sprach Macario mich an. »Du willst doch später bestimmt mal zur Guardia Civil wie dein Vater, nicht wahr?«

Wenn ich groß bin, gehe ich zur Guardia Civil, sagte Paquito immer, Romeros Sohn. Stell dir nur vor, alles ist umsonst, du brauchst im Zug nicht zu bezahlen, du kannst ins Kino, ohne eine Eintrittskarte zu kaufen, ja sogar ins Fußballstadion. Was meinst du? Und beim Stierkampf sitzt du wie die hohen Tiere auf der Tribüne, ohne einen Céntimo zu zahlen … Ich jedenfalls werde zur Guardia Civil gehen, und er nickte so selbstsicher, als trüge er den Dreispitz bereits auf dem Kopf. Dann kann ich meiner Frau hin und wieder Kartoffeln bringen oder ein paar Melonen, die die Nachbarn vor der Tür der Kaserne stellen, damit sie sich genauso freut wie meine Mutter. Und auf der Kirmes muss ich kein Geld ausgeben, weil meine Kinder überall umsonst fahren und ich zum Essen und Trinken eingeladen werde. So lässt sich eine Menge sparen, sagt mein Vater immer …

»Ich weiß noch nicht, was ich später werden will«, erwiderte ich Macario an diesem Tag und merkte, dass etwas an der Art, wie ich es sagte, vielleicht der Tonfall oder die Lautstärke, sehr leise, fast ein Murmeln, den Mann links von mir dazu bewegte, mich anzusehen. Ich wandte den Kopf und blickte ihn an. Er war genauso jung wie der Guardia-Civil-Beamte, der zur Toilette gegangen war, mit dunklen Augen, Adlernase, schmalen, angespannten Lippen, und am Finger der Hand, mit der er an meine gefesselt war, trug er einen Ehering, der funkelte wie neu.

»Na, du kommst zur Guardia Civil, Mensch!« Macario lachte, sein Gefangener schloss die Augen, blickte dann erneut verstohlen aus dem Fenster, und ich betrachtete das Profil seines Kopfes. Sein Haar war schlammverschmutzt und klebte an seinem Nacken; der Kragen des weißen Hemdes war speckig und grau. »Nirgendwo wirst du es besser haben.«

Sein Kollege kehrte von der Toilette zurück; einen Augenblick später saß ich wieder zwischen meinen Schwestern, und der Gefangene war erneut an den Mann der Guardia Civil gefesselt, als wäre nichts. Natürlich war etwas geschehen, aber das war jetzt nicht mehr wichtig, denn wir waren in Jaén, wieder zu Hause, und deshalb erzählte ich auch das meinem Vater nicht.

In Almeria hatte ich herausgefunden, dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie scheinen, und in den ersten Ausläufern der Sierra, als die Landschaft allmählich anstieg und ein Olivenbaum nach dem anderen sich der Übermacht der Berge im Hintergrund beugte, fiel es mir wieder ein. Der Linienbus fuhr stetig bergauf. Ich blickte aus dem Fenster und erinnerte mich an die überwältigende Schönheit der Blumen am Rand einer flachen Steinwüste, wo sonst nichts gedieh, und war froh, so weit weg vom Meer auf die Welt gekommen zu sein. Von der Straße aus schien das Gebirge nur aus Stein und Sträuchern zu bestehen, eine felsige Einöde unter einem unbarmherzigen Himmel, doch wir, die hier geboren waren, kannten sie gut und wussten, welchen Reichtum sie für die Fündigen barg.

In den Bergen wächst kein Oleander, kein tropischer Hibiskus und auch keine Bougainvillea mit roten, rosa oder violetten Blüten, dafür gibt es hier Rebhühner, Kaninchen, Hasen, Wachteln und Enten, die auf den Seen schwimmen. In den Bächen, die von den Gipfeln herabstürzen, als sei der Schnee hinter ihnen her, leben Forellen, die im kalten Süßwasser fett werden, und an den tiefen Stellen, wo die Strömung nachlässt, tummeln sich gelegentlich ganze Kolonien von Krebsen. An den Ufern gedeihen Schnecken in den Kräutern, mit denen man Krankheiten heilt; am Ende des Frühlings sprießt überall wilder Spargel, und im Sommer gibt es Brombeeren, ehe im Herbst wieder Pilze aus dem Boden schießen. Der Winter ist schlimm, aber im Winter kommen die Wildschweine auf der Flucht vor dem Frost aus den Bergen herab, die Hirsche verlieren die Orientierung, entfernen sich von der Herde, und wenn die Jäger Glück haben, laufen sie ihnen vor die Flinte. In den Bergen gibt es Höhlen, in denen man Zuflucht vor der Kälte findet, schattige Haine, die Schutz vor der Hitze bieten, Bienenstöcke voller Honig in den Astlöchern der Bäume und Wasser so viel man will zum Trinken, Waschen und sogar zum Baden. Es gibt so vieles da oben, man muss nur wissen, wo. Uns allen war klar, dass die Berge in der Umgebung unseres Dorfes voller Menschen waren, auch wenn aus dem einen oder anderen Grund das niemand laut sagte.

Fuensanta de Martos war viel kleiner als das Dorf meiner Mutter, trotzdem gab es dort nur einen Gefreiten und zwei einfache Guardia-Civil-Beamte, die besser lebten als wir, weil sie mehr Platz hatten. Unsere Kaserne war nicht viel größer als ihre, aber das Oberkommando hatte immer neue Wände ziehen lassen, sodass der Wohnraum zunehmend kleiner geworden war, ebenso das Wachbüro, die Zellen der Gefangenen und der Fahnensaal. So hatte man für acht Familien Platz geschafft sowie für fünf einfache Beamte der Guardia Civil, einen Gefreiten, einen Feldwebel und einen Leutnant. Diesem unterstanden alle, auch die Guardia-Civil-Beamten in Los Villares und Valdepeñas de Jaén, denn mein Dorf war zwar nicht das größte und auch nicht das wichtigste in der Sierra, aber es lag genau im Zentrum des Landkreises.

Auf dem Papier war Don Salvador eine Persönlichkeit, eine der höchsten Obrigkeiten des Militärs in der Sierra Sur, aber in Fuensanta nahm niemand ihn wirklich ernst. Seine Frau spielte sich gern auf und nutzte jede Gelegenheit, um klarzustellen, dass ihr Mann kein Beamter der Guardia Civil war, sondern Leutnant im Heer, und dass man ihn nur hierher versetzt hatte, um Ordnung zu schaffen. »Sobald er mit den Straßenräubern fertig ist, kehren wir nach Málaga zurück, in unsere Villa mit Garten und Blick aufs Meer.« Niemand wagte, ihr ins Gesicht zu lachen, aber ihr Größenwahn hinderte Cuelloduro auch nicht daran, ihrem Mann den Spitznamen Michelin-Männchen zu verpassen, weil er so klein und rund war wie das Maskottchen des Reifenherstellers. All das wusste ich bereits, doch dass in meinem Dorf auf zweihundert Einwohner ein Guardia-Civil-Beamter kam, wurde mir erst bewusst, als ich das Dorf meiner Mutter besuchte, und nicht einmal das konnte meine Freude darüber trüben, wieder zu Hause zu sein.

Als ich aus dem Bus stieg, war ich hungrig und müde von der langen Fahrt, trotzdem fiel mir sofort der schmutzige Schnee auf. Von der vollkommenen, blendend weißen Weite, die mich nur wenige Tage zuvor verabschiedet hatte, waren nur einige dunkle Flecken im Schatten der nördlichen Mauern übrig geblieben, wo die Sonne nie hinkam, und auch sie würden sich bald in Matsch verwandeln. Es sollte noch einige Male schneien, aber die Kälte nahm schon stetig ab. Mit einer Milde, die sie uns bei ihrer Rückkehr nicht zugestehen würde, wich sie einem langen, heißen und trockenen Sommer. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, so wie an alle Ereignisse des Jahres 1947. Es markierte den Beginn einer Epoche, die für lange Zeit die wichtigste meines Lebens sein sollte. Doch wie als Entschuldigung dafür, dass es mich so früh mit den grausamen Widersprüchen des Lebens konfrontierte, machte das Jahr mir noch ein Geschenk, bevor es sich an der Grenze des Kalenders verlor.

Der Frost wartete nicht bis zum Dezember, doch meine Mutter erwartete ihn bereits. Als ich, weniger vor Kälte zitternd als von der Wucht seines ersten Prankenhiebs benommen, in die Küche trat, saß Mutter mit gerunzelter Stirn und wie üblich leise vor sich hin grummelnd neben dem Ofen. Sie hatte sich in einen alten Umhang meines Vaters gehüllt, sodass ich nicht sehen konnte, was sie machte, aber als ich neben ihr stand, lächelte sie mir zu. In den Händen hielt sie einen neuen Bezug, zwei aufeinandergelegte Stücke einer Decke, gerade so groß wie eine Sprudelflasche, die sie mit sauberen, festen Stichen und einem Wollfaden zusammengenäht hatte. An einem Ende hing ein rundes Teil, das wie ein Pfropf aussah und mit dem man die Flasche verschloss, um die Wärme zu bewahren und zu verhindern, dass das Wasser auslief.

»Sieh mal – gefällt sie dir?« Mutters Lächeln wurde breiter und bahnte sich einen Weg in ihre Augen.

»Ja, sehr.« Und da begriff ich. »Ist sie für mich?«

Als ich sah, wie sie nickte, empfand ich ein wildes Glücksgefühl, in das sich auch Stolz mischte, Dankbarkeit und Vorfreude bei der Vorstellung, dass ich mit meiner eigenen Wärmflasche in die Schule gehen würde. Ich fand keine Worte, um meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, deshalb stürzte ich mich auf sie, umarmte sie mit ganzer Kraft und küsste sie so heftig, dass der Stuhl mit uns beiden beinahe umgekippt wäre.

»Lass mich los, Nino, sonst fallen wir noch um!«, sagte sie und lachte.

»Danke, Mutter«, brachte ich schließlich heraus. »Danke, hunderttausendmal danke.«

»Schon gut. Im Januar wirst du zehn, nicht? Du bist erwachsen und viel verantwortungsbewusster als deine Schwester, und sie hat auch eine bekommen, als sie so alt war wie du. Aber du musst mir versprechen, dass du gut auf sie aufpasst. Lass sie beim Spielen nicht irgendwo liegen und stell sie nicht so hin, dass sie herunterfallen könnte. Wenn du sie kaputt machst oder jemand sie dir stiehlt, gibt es erst nächstes Jahr eine neue. Wir kriegen ja diese Pfandflaschen nicht geschenkt.«

»Mach dir keine Sorgen, Mutter, ich pass schon auf sie auf. Wo ist sie denn?«

»Ich habe sie noch nicht gekauft, außerdem hatte ich nicht einmal Zeit, um den Bezug fertig zu nähen. Ich muss noch das Knopfloch machen und den Verschluss anbringen, aber wenn du willst, kannst du sie heute Abend einweihen. Und heute, für die Schule …«

Sie zeigte auf den Kamin, und ich blickte ein letztes Mal ohne Groll oder Wehmut auf den glatten schwarzen Stein, der das offizielle Ende meiner Kindheit bescheinigte.

»Nein, das lohnt sich nicht. Heute wird es bestimmt nicht mehr so kalt.«

In meinem Dorf kannten wir in der Schule nur zwei Gruppen von Schülern, die Kleinen und die Großen, unterteilt nach einem Kriterium, das nichts mit denen von Don Eusebio zu tun hatte, wenn er uns in Kurse und Jahrgänge einteilte. Steine und Flaschen, das war das oberste Gesetz und rangierte noch vor Alter, Größe oder Wissen. Die Kleinen waren all jene, die mit einem heißen, in Lumpen gewickelten Stein, den man sich an die Brust drückte, das Haus verließen. Den Großen dagegen vertraute man eine mit kochendem Wasser gefüllte Sprudelflasche an, die der hausgemachte Bezug aus dem Stück einer dicken, abgenutzten Decke in eine Quelle angenehmer Wärme verwandelte. Die Flaschen hielten die Temperatur viel länger als die Steine, und man rollte sie gern auf den Schenkeln hin und her, wenn man in der Schulbank saß, oder legte sie auf den Boden, um sie zwischen den Knöcheln festzuhalten. Ich hatte es oft gesehen, wenn ich vergebens versuchte, mehr Wärme aus dem lauen Stein herauszuholen, den ich nach der Schule wieder mit nach Hause nahm und den Mutter auf den Kaminsims legte. Bevor sie mich ins Bett schickte, jenen anderen Ort, an dem das Gesetz der Steine und Flaschen die Großen von den Kleinen unterschied, wickelte sie ihn in Streifen aus alten Laken und gab ihn mir mit.

Die Aussicht, meinen Status zu verändern, hatte mich an jenem Tag mit solcher Aufregung erfüllt, dass ich mit den Händen in den Taschen aus dem Haus ging und in der Schule nicht fror. Und das, obwohl Don Eusebio meinte, es wäre höchste Zeit, den einzigen kleinen Ofen anzuwerfen, den wir besaßen. Wie üblich setzte er sich daneben und bemerkte, wir sollten ihn nicht für einen Egoisten halten, egoistisch seien nur seine Knochen, die das nahende Alter erahnten und nicht mehr warm wurden. An jenem Abend freute ich mich zum ersten Mal im Leben, die paradiesische Küche zu verlassen, die Mutter wie sonst kein anderer mit Hilfe des Kamins, der glimmenden Asche im Ofen und des Kohlenbeckens unter dem Tisch zu wärmen gelernt hatte, denn ich hielt meine neue Flasche in den Händen. Sie hatte sie mit einem Trichter gefüllt und mit dem Korken verschlossen, den Vater mit seinem Taschenmesser zurechtgeschnitzt hatte, bis er perfekt passte, und anschließend mit dem Wachs einer brennenden Kerze versiegelt. Als das Wachs weiß und fest geworden war, steckte sie die Flasche in den Bezug, knöpfte ihn zu und reichte sie mir. Fast hätte ich sie fallen lassen, so heiß war sie. Noch ehe ich mich ausgezogen hatte, schob ich sie unter die Decke, und als ich zu ihr kroch, war das ganze Bett warm.

Trotzdem konnte ich an diesem Abend nicht einschlafen. Vielleicht lag es an den Nerven oder daran, dass meine Füße zum ersten Mal nicht vor Kälte schmerzten, vielleicht war es Schicksal, aber als meine Eltern von dem Tisch mit dem Kohlenbecken aufstanden, war ich noch wach. Ich hörte, wie sie das Licht ausmachten, die Tür schlossen und in ihr Schlafzimmer gingen, das neben unserem Kinderzimmer lag. Die neuen Wände waren dünn und porös wie ein Schwamm und behielten keine Geheimnisse für sich. Ich hörte, wie sich Mutter mit allen Kleidern ins Bett legte und Vater resigniert ihre verwirrenden Anweisungen befolgte, ehe er etwas sagte, das ich nicht hätte hören sollen.

»Leg dich auf den Rücken, Antonino, damit ich dich … Nein, doch nicht so. Ja, so ist es besser … Hast du ein Glück, mein Lieber! Du bist immer warm wie ein Ofen. Jetzt die Füße … Nein, stell die Beine auf.«

»Au! Deine Füße sind eiskalt, Mercedes.«

»Klar! Was glaubst du wohl, warum ich so viel Gymnastik mache? Warte ein bisschen … Gut, jetzt ziehe ich mich aus.«

»Wurde auch Zeit.«

»Was erwartest du, Antonino? Ich komme aus Almería, hier friere ich mich zu Tode. Wenn dir das nicht passt, hättest du es dir vorher überlegen sollen.«

»Und? Kann ich jetzt das Licht ausmachen?«

»Ja, mach es aus.«

In der Stille, die folgte, wurde die Matratze weicher, und ich spürte, wie ich darin versank, als wäre mein Körper in lauwarmen rosa Schaum gebettet. Meine geschlossenen Augen kamen nun auch innerlich zur Ruhe, doch noch ehe ich ganz einschlief, sagte mein Vater wieder etwas, und ich hörte zu.

»Mercedes.« Er klang ganz wach.

»Was ist?«, antwortete sie schläfrig, mit belegter Zunge.

»Ich mache mir Sorgen um Nino.« Von da an konnte keiner von uns dreien mehr schlafen.

»Nino? Warum? Don Eusebio meint, er sei sehr gut in der Schule.«

»Nein, nein, der Junge ist klug und aufgeweckt, das weiß ich. Aber er wächst so langsam.«

»Das kommt schon noch.«

»Vielleicht auch nicht. Und das macht mir Angst. Wenn das so weitergeht, könnte er durch die Musterung fallen. Und dann kann er nicht zur Guardia Civil.«

»Was redest du da, Antonino? Muss ich dich etwa daran erinnern, dass dein Sohn gerade mal neun ist?«

»Na und? Vorsicht ist besser als Nachsicht, heißt es. Wenn er als Erwachsener über eins sechzig groß ist, kann er zur Guardia Civil, wenn aber nicht … Ich habe mir deshalb gedacht, es wäre für ihn das Beste, wenn er Schreibmaschine lernt.«

»Was sagst du da?«

»Ja, Schreibmaschine, Mercedes, und danach soll er Französisch lernen und die Schule zu Ende machen … Und später, ich weiß nicht, Buchhaltung vielleicht oder etwas Ähnliches. Dann könnte er sich um eine Stelle in der Verwaltung bewerben. Wenn er klein ist, aber klug, wird niemand ihn auslachen, weil er untauglich war, und er wäre besser dran als ich, oder?«

»Hör mal, Antonino, ich weiß nicht, wer dir diesen Floh ins Ohr gesetzt hat, aber eins will ich dir sagen …«

»Sag gar nichts, Mercedes. Hör auf mich und rede mir nicht rein.«

Diese Art kategorisch zu entscheiden, mit der mein Vater jede Diskussion vorzeitig beendete, zwang dem Schlafzimmer eine Stille auf, die noch lange brauchte, um mich zu erobern und ein halbes Dutzend widersprüchlicher Vorstellungen zu vertreiben. Die kalten Handschellen um meine linke Hand und unweit davon der Atem eines hageren, braungebrannten Mannes, der schmutzig und verletzt war, an der Stirn ein Rinnsal aus verkrustetem Blut und an der rechten Hand der Ring eines frisch Vermählten.

In schwierigen Zeiten werden Kinder schneller erwachsen. Die Jahre meiner Kindheit waren die schwierigsten überhaupt, sodass ich mit neun bereits wusste, dass ich nicht zur Guardia Civil wollte. Ich wollte nicht wieder mit einem gefesselten Häftling im Zug reisen müssen, ich wollte nicht in der Kaserne wohnen, ich wollte weder anderen Menschen Angst einjagen noch wissen, dass sie auf den Boden spuckten, sobald ich ihnen den Rücken zudrehte, ich wollte nicht, dass der Gemeindediener und der Apotheker vor mir krochen und auch selber nicht vor Don Justino und dem Bürgermeister kriechen, ich wollte nicht die Angeberei eines beschränkten und schlecht erzogenen Feldwebels ertragen müssen, geschweige, dass meine Frau die Überheblichkeit der Frau eines dicken Leutnants mit Schweißfüßen aushalten müsste. Ich wollte kein Guardia-Civil-Beamter werden, der sich das einzige Klo mit den Hintern von sieben anderen Familien teilen musste, der seine Nachbarn verhaftete und in Handschellen durch die Straße führte, oder am nächsten Tag meine Kinder fragen, wie es in der Schule war, und hören, sehr gut, alles in Ordnung, obwohl es überhaupt nicht stimmte.

Mit neun wollte ich Rennwagen fahren, nach Granada oder Madrid ziehen oder wie Pepe, der Portugiese, leben, am Fuß der Sierra in einem kleinen Haus mit einem Gemüsegarten, einem Pferd, ein paar Tieren und ein paar Freunden, weit weg vom Dorf, dem Leutnant und seiner Frau, dem Bürgermeister und Don Justino, dem Gemeindediener und dem Apotheker. So würde ich, wann immer ich Lust hatte, den Berg besteigen können, um am helllichten Tag Forellen zu fangen oder Pilze zu sammeln, statt im Morgengrauen mit einer Eisschicht auf dem Umhang, gefrorenem Schnurrbart und einem ganzen Katalog von Flüchen auf den Lippen nach Hause zurückzukehren oder auch gar nicht mehr zurückzukehren. Das wollte ich, doch nie war mir in den Sinn gekommen, dass ich nicht einmal die Wahl haben könnte, ob ich zur Guardia Civil wollte oder nicht.

Romero, der Kollege meines Vaters, war Sohn eines Guardia-Civil-Beamten. Sanchís, der Feldwebel, der die Abteilung leiten würde, wenn das Michelin-Männchen nach Málaga zurückkehrte, und den ich nicht mochte, weil er ein böser Mensch war und Spaß daran hatte, anderen Angst einzujagen, war ebenfalls in einer Kaserne groß geworden. Genauso wie Curro, der erst zweiundzwanzig und unverheiratet war, sodass er viel Platz in seiner Dreizimmerwohnung neben uns hatte und mich dort lernen ließ. Mein Vater dagegen hatte eine andere Vergangenheit.

Er war in Valdepeñas de Jaén zur Welt gekommen, in unmittelbarer Nähe von Fuensanta de Martos, und hatte sich nicht vom Fleck gerührt, bis er in Melilla seinen Militärdienst antreten musste. Damals begann er eine Korrespondenz mit der Schwester eines anderen Rekruten, der fast genauso hieß wie er: Antonio. Sie hatte aufgrund eines Missverständnisses Gefallen an ihm gefunden. Sie nahm an, es gäbe nur ein Dorf mit dem Namen Valdepeñas auf der Welt, und dort würde es wegen der vielen Weinberge und Weinkellereien nie an Arbeit mangeln. Dieser Mann konnte also keine schlechte Partie sein, obwohl er ihr von Anfang an nicht verhehlt hatte, dass er ein Landarbeiter ohne Land war, genau wie sein Vater, sein Großvater, sein Urgroßvater und weiter zurück bis zu Adam und Eva. Nach dem Militärdienst kehrte mein Vater auf der Melillero zum Festland zurück, und meine Mutter ging unter dem Vorwand, ihren Bruder abzuholen, der auf demselben Schiff reiste, zum Hafen von Almería, um ihn kennenzulernen. Als sie die Wahrheit erfuhr und dass sich das Dorf bei Jaén und nicht Ciudad Real befand, wo es Olivenbäume statt Weinstöcke und Ölmühlen statt Weinkellereien gab, hatte er sie bereits geküsst. Das hatte ihr gefallen, also heirateten sie, und um sich nicht zwischen den Bergen und dem Meer entscheiden zu müssen, zogen sie an einen fremden Ort, der von beiden gleich weit entfernt und für beide gleich neu war.

Bis dahin kannte ich die Geschichte. Wie oft hatte ich das Foto gesehen, das meine Mutter in der Kommode aufbewahrte, Vater und sie in Sonntagskleidern, beide sehr jung, sehr glücklich, mit meiner erstgeborenen Schwester Dulce, die trotz der Sonnenstrahlen, die durch die Weinreben in den sauberen kleinen Patio fielen, in Wickeltücher gehüllt war. Als Mutter es mir zum ersten Mal zeigte, beschrieb sie mir das Haus, das sie in Valderrubio gemietet hatten, einem kleinen Dorf in der Nähe von Granada. Es war von Rübenplantagen und Zuckerfabriken umgeben, wo fleißige und pflichtbewusste Arbeiter besser bezahlt wurden als von den Großgrundbesitzern in Valdepeñas. Es kam auch nicht jeden Tag ein Vorarbeiter zum Dorfplatz, um die Männer zu demütigen, mit dem Finger auf sie zu zeigen, heute arbeitest du, aber du nicht. Als ich das Foto zum ersten Mal betrachtete, erklärte mir Mutter alles ganz genau, und sie sagte auch, dass sie dort glücklicher gewesen seien als überall sonst und zu allen anderen Zeiten davor. Vielleicht deshalb und weil das Glück nur kurz anhielt, knapp zwei Jahre, erzählte sie mir nie wieder Einzelheiten, und wenn sie das Foto herausholte, sagte sie nur, wie gut wir es dort hatten, wie glücklich wir damals waren, dann schloss sie einen Moment die Augen, als wollte sie die Erinnerung auskosten oder als wäre die Zeit danach allzu schmerzhaft gewesen.

Bis dahin kannte ich die Geschichte. Was später geschah, wusste ich nur aus Andeutungen, aus abgebrochenen Sätzen, die zwar nicht unbedingt ein Rätsel bildeten, für deren Aufklärung mir aber das notwendige Wissen fehlte. Ein Krieg war ausgebrochen, der Spanien in zwei Hälften geteilt hatte, und meine Eltern befanden sich in einer dieser Hälften und ihre beiden Familien in der anderen. Vater meldete sich freiwillig zur Armee, damit seiner Frau und Tochter nichts geschah, wurde Beamter der Guardia Civil und blieb anschließend bei der Truppe. Inmitten des Krieges wurde ich in diesem Haus nahe Granada geboren, an das ich keine Erinnerungen hatte, zufällige, ungelegene Frucht eines kurzen Urlaubs. Vater, der mich zum ersten Mal sah, als ich bereits ein Jahr alt war, hätte alles dafür gegeben, an einen Ort weit weg von seinem Dorf versetzt zu werden, hatte aber nicht verhindern können, dass seine Vorgesetzten erfuhren, wie gut er sich in der Sierra Sur auskannte. Deshalb hatten sie ihn nach Fuensanta de Martos geschickt, einen Steinwurf von Valdepeñas de Jaén entfernt, wo der Krieg noch lange nicht zu Ende war, auch wenn Don Eusebio an bestimmten, festgelegten Tagen laut aufzählte, wie viele Jahre wir bereits Frieden hatten.

Vater war nur durch Zufall zur Guardia Civil gekommen, nicht weil sein Großvater vor ihm dort gewesen wäre, und deshalb war mir nie in den Sinn gekommen, er könnte erwarten, dass ich in seine Fußstapfen trat, allerdings auch nicht, dass er sich solche Sorgen um mich machte. Seine Unruhe, die rührend und beängstigend zugleich war, verwirrte mich zutiefst. Es war, als beiße man in einen süßen Kuchen mit einer sauren Füllung oder in den verfaulten Kern einer unreifen Frucht. Er konnte nicht schlafen, weil er an mich dachte, und ich schlief nicht, weil seine Schlaflosigkeit aus der Enttäuschung rührte, mein Vater zu sein, einen Sohn gezeugt zu haben, der nur ganz langsam wuchs, jedenfalls langsamer als seine Schwester, langsamer als die Kinder seiner Guardia-Civil-Kollegen, langsamer als seine Mitschüler.

Es war nicht meine Schuld. Ich wäre gern so groß wie Paquito gewesen, der am Ende des letzten Sommers in einer zweifarbigen Hose herumgelaufen war, weil seine Mutter sie Mitte August mit dem Stück eines alten Umhangs verlängert hatte, damit sie ihm weiter bis an die Knie reichte. Meine behielt während der ganzen Ferien ihre ursprüngliche Länge. Mutter sagte, zum Glück, und lächelte, trotzdem wussten wir beide, dass sie liebend gern ein Stück grünen Stoff an meine graue Hose angenäht hätte und ich wie Paquito als zweifarbige Vogelscheuche herumgelaufen wäre.

Es war nicht meine Schuld, aber in dieser Nacht fühlte ich mich schuldig. So wie die Großartigkeit des Meeres mich in meiner Freude, eine Landratte zu sein, bestätigt hatte, so war die Verbitterung darüber, meinem Vater Kummer zu bereiten, von der Gewissheit geprägt, alle Liebe zu besitzen, die in diesem ernsten, wortkargen Mann Platz hatte. Er war kein Mensch wie seine Frau, die Küsse und Umarmungen ununterbrochen verteilte, ohne dass sie ihr je ausgehen würden; er lächelte selten und nie so wie auf jener Aufnahme, die in glücklicheren Zeiten entstanden war.

Die verwirrende Entdeckung, dass Vater mich liebte, diese geheime Flamme, die im Nebel der Sorge um meine Größe brannte, wärmte mein Bett, als die Flasche abgekühlt war. Da schlief ich endlich ein, und als ich wieder aufwachte, stellte ich fest, dass es in der Nacht erneut gefroren hatte. Ich hatte nicht einmal Zeit, mein Frühstück zu beenden, als Paquito ins Haus stürmte, um mir seine Flasche zu zeigen, die in einem grau melierten Bezug steckte und nicht halb so schön war wie meine blau-weiß gestreifte. Hätte ich diese Szene einen Tag zuvor durch ein Schlüsselloch beobachten können und gesehen, dass ich in dem Augenblick, als Paquito mich herausforderte, meine eigene Flasche herausholte, wie ein arroganter Revolverheld, der schneller zieht als sein Gegner, ich wäre vor Stolz und Freude erschauert. Doch in der Nacht zuvor hatte ich etwas gehört, das ich niemals hätte hören dürfen, und deshalb war an diesem Morgen alles, was zuvor gerade gewesen war, plötzlich schief.

Ich war klein, sehr klein, ein Knirps, wie meine Cousins in Almería gesagt hatten, ehe sie mir die Schuhe klauten, ohne zu wissen, dass auch meine Freunde mich so nannten. Sogar sie waren größer als ich, obwohl sie nie Fleisch zu essen bekamen. Mein Vater wusste es, ohne dass es ihm jemand erzählen musste, und auch meine Mutter, die mich großzügig von den Wärmesteinen zu den Flaschen hatte aufsteigen lassen, als ich nicht damit rechnete. Doch so sehr ich mir auch einzureden versuchte, dass seine Befürchtungen nur zufällig mit der Entscheidung meiner Mutter zusammengefallen waren: Einen unbequemen, erniedrigenden Verdacht wurde ich nicht los. Als ich mit Paquito in die Schule ging, war ich sicher, dass die Flasche, die ich fest unter dem Arm hielt, kein Preis war, den ich mir verdient hatte, sondern ein liebevoller Trick meiner Mutter, damit ich mich nicht minderwertiger fühlte als die anderen.

Bis zu diesem Tag hatte die Zukunft für mich nicht existiert. Jetzt aber nahm sie die Gestalt einer Messlatte mit einem rechtwinkligen Stab an, der sich nach oben oder unten verschob, wenn die Wehrpflichtigen in der Kaserne gemustert wurden. »Was ist denn heute los mit dir, Nino?«, fragte mich der Lehrer an diesem Tag mehrmals. Dann richtete ich mich wieder auf, hob den Kopf, schaute auf die Wandtafel und entschuldigte mich für meine Zerstreutheit, aber ich traute mich nicht, ihm den Grund zu verraten, ihm zu sagen, dass ich mich hoffnungslos in der Zukunft verfangen hatte.

»Don Francisco Romero, stehen Sie auf.« Der weiseste Mann in Fuensanta de Martos siezte uns nur, wenn er spürte, dass wir uns nicht mit ihm messen konnten. »Sieben mal fünf?«

»Dreißig.«

»Falsch.«

»Sechsunddreißig?«

»Ungenügend, setzen.«

»Nein, nein, warten Sie, dann muss es fünfunddreißig sein.«

»Na schön … Und sieben mal sechs? … Sieben mal sechs?« Don Eusebio wurde ungeduldig, verlor seine Haltung und schlug ärgerlich die Faust auf den Tisch. »Du sollst es nicht an den Fingern abzählen, du Esel, ich sehe es doch! Hände auf den Tisch. Sieben mal sechs? Don Antonino Pérez, hören Sie auf, Ihrem Mitschüler vorzusagen! Raus damit: Wie viel ist sieben mal sechs?«

»Zweiundvierzig.«

»Sieben mal sieben?«

»Neunundvierzig, sieben mal acht sechsundfünfzig, sieben mal neun dreiundsechzig und sieben mal zehn siebzig.«

»Sehr gut. Aber glauben Sie ja nicht, mir wäre nicht aufgefallen, dass Sie schon den ganzen Morgen mit Ihren Gedanken woanders sind. Oder werden wir nur wach, wenn wir was im Schilde führen? Nun, Sie bekommen von mir ein Ausreichend, damit Sie es endlich kapieren …«

Paquito beherrschte nicht einmal das Einmaleins, doch das war egal, weil er sehr groß war und wie sein Vater und Großvater in der Guardia Civil dienen wollte. Miguel, der Sohn des Apothekers, war weder so dumm noch so groß wie er, auch nicht so fleißig wie ich, aber er würde die Apotheke erben, man würde ihn Don Miguel nennen, und er würde mit dem Verkauf von Aspirin ein angenehmes Leben führen. Und ich … ich wollte weder in der Verwaltung Schreibarbeiten verrichten noch im Rathaus Bürogehilfe spielen, ich wollte Rennwagen fahren oder wie der Portugiese eine Mühle pachten, einen Gemüsegarten anlegen und weitab vom Dorf leben, um, wann immer ich wollte, auf den Berg zu steigen, um Pilze zu sammeln oder Forellen zu fangen, und trotzdem würde ich Schreibmaschine und Französisch lernen müssen. Obwohl ich in Mathematik, Grammatik und Naturkunde gut war, wusste ich nicht, ob es ich schaffen würde, Schreibmaschine zu lernen, nur, dass ich meinen Vater nicht ein weiteres Mal enttäuschen durfte. Hätte ich die Musterung bestanden und mich danach geweigert, zur Guardia Civil zu gehen, wäre wahrscheinlich nichts passiert. Da ich aber durchfallen würde, blieb mir nichts anderes übrig, als in einem Büro zu arbeiten, obgleich ich es nicht wollte, und vielleicht würde man mich Don Antonino nennen, und Vater wäre stolz, dass ich das Leben besser meisterte als er, doch es sollte anders kommen, denn die Dinge sind niemals so, wie sie scheinen.

Als ich an diesem Tag aus der Schule kam, hatte ich ein Gefühl, als platzte mir der Kopf, so viele Stunden hatte ich darüber gegrübelt. Ich war sicher, dass Mutter mir zulächeln und wie immer einen Kuss geben würde, vielleicht sogar etwas inniger als sonst, um mir anschließend zu eröffnen, dass Vater eine Idee gehabt hätte. Später würde er kommen, mir alles mit ein paar Sätzen erklären, und ich würde so tun, als wüsste ich von nichts und fände es sehr gut, ich würde mich bei ihm bedanken und ehe ich mich versah vor einer Schreibmaschine sitzen. All das stellte ich mir vor, doch in Wirklichkeit geschah nichts davon, denn plötzlich stand die ganze Welt kopf.